Hinduismus/Indien – der Milchozean

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DEUTSCH • Kosmologien –
Weltentstehungsgeschichten (Thiel)
Seite 1
Hinduismus/Indien – der Milchozean
Der Milchozean ist ein Urmeer der hinduistischen Mythologie. Danach besteht die mittlere Ebene des Kosmos aus konzentrisch angeordneten Kontinenten, von riesigen Ozeanen
aus verschiedenen Flüssigkeiten getrennt. Der
innerste Ozean enthält Salzwasser, der äußerste ist der Milchozean.
Damit verbunden ist der beliebte hinduistische Schöpfungsmythos „Das Quirlen des
Milchozeans“, der in vielen Schriften in verschiedenen Versionen vorkommt, in den großen Epen Mahabharata und Ramayana
ebenso wie in einigen Puranas. Er liefert
Grundlage und Erklärung für unzählige weitere Mythen. Vielfach wurde er verändert,
ergänzt oder nur in Auszügen wiedergegeben. In jedem Fall jedoch ist Vishnu die
zentrale Gottheit und immer wieder Retter.
Von ihm berichtet die Überlieferung, dass er
im Milchozean während einer Weltnacht,
der Zeit zwischen zwei Schöpfungen, auf der
Schlange Shesha im kosmischen Schlaf ruht.
Auf der aus seinem Nabel entstehenden
Lotosblüte thront der vierköpfige Brahma,
der in seinem Auftrag eine neue Schöpfung
hervor bringt.
Thema der Geschichte vom „Quirlen des
Milchozeans“ ist die Suche nach dem
Unsterblichkeitstrank, Amrita, den Götter
ebenso wie Dämonen begehren, der aber für
alle unerreichbar im Milchozean verborgen
liegt. Erst das gemeinsame Quirlen des
Urwassers, dass eintausend Götterjahre
gedauert haben soll, lässt das ersehnte Elixier
nach vielen Hindernissen auftauchen.
Die Butter spielt deswegen eine so große Rolle, weil sie an den alten Schöpfungsmythos vom im großen Milchozean als Schildkröte lebenden Vishnu
rührt. Als Brahma, der Schöpfergott, die Schildkröte bewegt, wird die Milch
allmählich fest, ein Butterberg entsteht, aus dem später die Welt hervorgehen
wird. Der wohlgenährte Bauch des Bu-Dai Buddha, auch „Happy Buddha“
genannt, findet seine Entsprechung im weiterem Attribut des prall gefüllten
Stoffbeutels. Beide stehen sie für Wohlstand und Potenz. Das Streichen über
den Bauch einer Buddhastatue gilt vielen Gläubigen als glücksverheißend.
Vishnu auf der Schlange Shesha im Urmeer und Gemahlin Lakshmi, die als
Verehrungsgeste seine Füße massiert, während aus seinem Nabel auf einer
Lotosblüte sitzend der vierköpfige Schöpfergott Brahma erscheint.
Vishnu ist eine der wichtigsten Formen des Göttlichen im Hinduismus, kommt
jedoch bereits in den Veden vor. Im Vishnuismus gilt er als die Manifestation
des Höchsten. Seine Shakti, die weiblich gedachte Seite des Göttlichen, ist
die Göttin Lakshmi, die als seine Gattin gilt. Vishnu ist Teil der Trimurti, einer im
Hinduismus sehr bekannten Konzeption der „drei Gestalten“. Diese besteht aus
drei Aspekten des Göttlichen, die mit den fundamentalen Prinzipien des Kosmos in Verbindung stehen: • die Schöpfung: Brahma • die Erhaltung: Vishnu
• die Kraft der Zerstörung: Shiva
Ravi_Varma-Lakshmi
Lakshmi ist die hinduistische Göttin des Glücks und der Schönheit, nicht nur
Spenderin von Reichtum, sondern auch von geistigem Wohlbefinden, von Harmonie, von Fülle und Überfluss, Beschützerin der Pflanzen. Sie ist die Shakti,
die erhaltende Kraft des Vishnu, und dessen Gemahlin.
Lakshmi wird auch Shri-Lakshmi genannt, und als Shri ist sie ein Attribut des Vishnu, an dessen Körper sie als Symbol z. B. in Form eines Dreieckes erscheint.
Schon die Veden berichten über Lakshmi, die Göttin der Schönheit. Nach der
Mythologie entstieg sie dem Milchozean, als dieser durch die Devas (Götter)
und Asuras (Dämonen) auf der Suche nach Amrita (Trank, der unsterblich
macht, Ambrosia) aufgeschäumt wurde. Dieser Mythos berichtet weiter, wie
sie, dem Wasser entstiegen, Vishnu als Gatten erwählte.
Kumbh Mela (links) ist das größte Fest im Hinduismus, eine rituelle Waschung
an einem besonders Heiligen Ort. Kumbh („Krug“) und Mela („Fest“) ist die
Übersetzung dazu. Die Kumbh Mela wird nur alle 12 Jahre gefeiert und folgt
dem Zyklus des Jupiters. Dieses religiöse Fest findet nur in vier verschiedenen
Orten Indiens statt: Prayag (Allahabad), Haridwar, Ujjain und Nashik.
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Hinduismus/Indien – der Milchozean
Viele mythologische Vorstellungen des Hinduismus basieren auf der populären Geschichte vom „Quirlen des
Milchozeans“: Sie erklärt nicht nur wichtige Attribute
vieler Götterdarstellungen, wie Vishnus Brustjuwel, den
Mond an Shivas Stirn, den Elefanten Indras sowie die
Darstellung der Lakshmi mit den vier Elefanten. Die
Erzählung enthält auch die Überlieferung vom zweiten
Avatar Vishnus, Kurma, die Schildkröte, welche die Welt
vor ihrem Untergang rettet. Ebenso findet Nilakanta,
eine populäre Form Shivas als Helfer, hier ihren
Ausgangspunkt.
Eine der verschiedenen Ursprungsmythen zum größten
Badefest der Welt, der Kumbha Mela, begründet die
Entstehung gleichfalls mit einer Begebenheit in diesem
Mythos: Als Götter und Dämonen um den Krug (kumbha)
mit dem Amrita stritten, verschütteten sie vier dieser kostbaren Tropfen. Wo sie zur Erde fielen entstanden heilswirksame Orte, an denen die Feste noch heute stattfinden. Der dem Milchozean entstiegene Dhanvantari, laut
Puranas wiederum eine Form Vishnus, gilt als Quelle des
Ayurveda, der traditionellen indischen Heilkunst.
Wie in anderen Erzählungen der indischen Überlieferung
lässt die reiche Symbolik der Bildsprache des Mythos
unzählige Erklärungsmodelle zu.
Der Stupa
Mit Stupa war in uralten Zeiten der Erdhügel gemeint,
der über den Überresten einer toten Person errichtet
wurde (aus dem Sanskrit stup: aufhäufen, ansammeln).
Dieser Hügel hatte die Form einer Halbkugel und war
meist aus Erde oder auch aus Stein gemacht: die Inder
setzten einen Stab in den Mittelpunkt der Halbkugel und
beerdigten die Gebeine unter ihm. Der Stab wurde als
Verbindung zum Zentrum des Universums angesehen,
welches alle Energie sammelte und die Geburt allen
Lebens beeinflusste. Die (Halb-)Kugel als Symbol für
Vollständigkeit zeigte die Balance von Energie im
Universum, wurde zum Symbol des Universums.
Götter und Dämonen stritten ständig miteinander und viele von ihnen kamen in
den Kämpfen um. So baten sie Vishnu um Rat und dieser schlug den Göttern
ein Bündnis mit den Dämonen vor, um Amrita, das Getränk der Unsterblichkeit,
zu erlangen. Um den Berg Mandara (in anderen Versionen Meru genannt)
wanden sie als Seil die Schlange Vasuki und machten ihn so zum Quirl. Mit
dem Einverständnis von Ozean und Vasuki konnte das Rühren beginnen. Die
Götter zogen am Schwanz, die Dämonen am Kopf. Lange zeichnete sich kein
Erfolg ab, der Berg drohte sogar im Ozean zu versinken. Da nahm Vishnu die
Form einer riesigen Schildkröte an, kroch unter den Berg um ihn auf dem
Rücken langsam aus dem Wasser zu heben und zu stützen.
Mit dem Quirl aus Berg und Schlange rührten die Verbündeten das Wasser
weiter, bis dieses schließlich so weiß wie Milch wurde. Plötzlich drohte ein
schreckliches, aus dem Wasser aufsteigendes Gift alle zu vernichten. Doch
Shiva eilte zu Hilfe, er trank das Gift Halahala bis zum letzten Tropfen aus.
Seitdem ist sein Hals „nil“, d.h. blau, und darum nennt man ihn auch
„Nilakanta“, „der mit dem blauen Hals“. Das Quirlen konnte weitergehen und
nacheinander erschienen aus dem milchigweißen Ozean verschiedene
Kostbarkeiten.
Zuerst kam Chandra, der Mond, zum Vorschein, der jetzt die Stirn Shivas
schmückt. Uchchaishrava, das weiße Pferd, erhielt der Dämonenkönig, musste
es jedoch bald an Indra abtreten. Das Juwel Kaushtuba trägt nun Vishnu und
die Wunschkuh Kamadhenu wurde Eigentum der Rishis. Kalpavrksha, den
Wunschbaum, pflanzte Indra in seinen Garten. Sogar die Göttin Lakshmi stieg
strahlend schön auf einer Lotus-Blüte aus dem Ozean. Ihr Erscheinen löste
Begeisterung unter allen Anwesenden aus, und die vier Himmelselefanten
gossen segnend aus goldenen Krügen Wasser über sie. Lakshmi selbst wählte
Vishnu zu ihrem Gatten. Wieder ging das Quirlen weiter. Dann erschien
Varuni, die Göttin des Weines, welche die Dämonen für sich behielten.
Schließlich tauchte aus dem Wasser die Gestalt eines dunklen, jungen Mannes
auf, reich geschmückt mit Juwelen und mit einer Blütenkette um den Hals. Es
war Dhanvantari, der Arzt der Götter und Ursprung jeder Heilkunst. In seiner
Hand hielt er wonach sich alle sehnten, einen großen Krug mit Amrita, dem
Getränk der Unsterblichkeit. Hatten Götter und Dämonen bis jetzt zusammengearbeitet, begann nun wieder Streit. Trotz der Vereinbarung, alles zu teilen,
wollten die Dämonen das kostbare Getränk gierig an sich reißen. Da kam
Vishnu herbei, jedoch diesmal in Gestalt einer begehrendswerten jungen Frau,
Mohini. Freundlich lächelnd erbot sich die Schöne, Amrita an alle zu verteilen.
Durch einen Trick jedoch verabreichte sie nur den Göttern das Elixier, die in
ihrer Verliebtheit unaufmerksamen Dämonen dagegen gingen leer aus. Nur
einer von ihnen, Rahu, hatte sich misstrauisch unter die Götter gemischt, um
auch einen Tropfen zu erhalten. Doch Sonne und Mond verrieten ihn und
Vishnu/Mohini schlug mit der Wurfscheibe blitzschnell Rahus Kopf ab, noch
bevor das Amrita, das er gerade geschluckt hatte, den Körper erreichen konnte. Nur sein Kopf wurde damit unsterblich, der Körper fiel leblos zur Erde.
Seither will Rahu sich an Sonne und Mond rächen, indem er immer wieder
versucht, sie zu verschlucken. Auf der Erde lässt sich das als Sonnen- oder
Mondfinsternis beobachten. Die durch das Amrita gestärkten Götter aber
erhielten ihren Platz im Himmel zurück.
Die Textquellen berichten unterschiedlich, welche Gegenstände aus dem
Wasser auftauchten und in welcher Reihenfolge. Die Zahl schwankt zwischen
neun und vierzehn. Außer den genannten kommen häufig noch Airavata vor,
der Elefant, der nun als Begleittier von Indra gilt, Parijata, ein himmlischer
Baum, der mit seinen Blüten die ganze Welt parfümiert, sowie die Apsaras,
himmlische Tänzerinnen. Gelegentlich nennen die Schriften Vijaya, eine
Medizinpflanze, die gegen jede Vergiftung hilft, einen Schirm für Varuna, ein
weiteres Pferd, das die Sonne für sich beanspruchen darf, Ohrringe für die
Göttin Aditi und die als göttlich verehrte Tulsi-Pflanze.
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