Kescher - Jüdische Liberale Gemeinde Köln

Werbung
Kescher
A B R A H A M G E I G E R KO L L E G
… hat sich einer der Rabbinerstudenten, die am
14. September in Dresden ihre Smicha erhalten
haben, zum Motto gewählt. Hillels Appell aus den
„Sprüchen der Väter“ bekam bei der ersten
Rabbinerordination hier zu Lande seit 1940, zu
der wir zusammen mit dem Zentralrat der Juden
in Deutschland und der Dresdner Jüdischen
Gemeinde eingeladen hatten, eine ganz eigene
Bedeutung. „Religion wie überhaupt Traditionen
sind für die mentale Verfasstheit unserer Gemeinschaft unerlässliche Quellen der Lebensenergie“,
sagte Charlotte Knobloch, die Präsidentin des
Zentralrats. „Und Dank der Ordination kommen
wir unserem Ziel wieder ein Stück näher, jüdisches Leben in all seinen Facetten in den jüdi-
schen Gemeinden zu etablieren.“ Das genau war
auch das Anliegen Abraham Geigers (1810-1874):
„Aus dem Judentum heraus die Judenheit neu
und frisch belebt zu gestalten.“ Seine Hoffnung,
die er schon als Student um 1830 formulierte,
kann unser Kolleg erfüllen: "Wenn doch einst ein
jüdisches Seminar an einer Universität errichtet
würde, wo Exegese, Homiletik und für jetzt noch
Talmud und jüdische Geschichte in echt religiösem Geiste vorgetragen würde; es wäre die
fruchtbarste und belehrendste Anstalt!“- es
braucht aber weiteres Engagement, um durchzusetzen, was für Geiger das Ziel aller seiner
Bemühungen war: „Die Gleichberechtigung des
Judentums mit den anderen Konfessionen.“
1
KKesche r
Informationen über liberales Judentum
im deutschsprachigen Raum
Wenn nicht jetzt,
wann dann?
1
4. Jahrgang | H e r b s t 2 0 0 6 | Tischri 5767
Kescher
2
4. Jahrgang | Ausgabe 1
ABRAHAM
GEIGER
KOLLEG
Durch Erforschung des Einzelnen
zur Erkenntnis des Allgemeinen,
durch Kenntnis der Vergangenheit
zum Verständnis der Gegenwart,
durch Wissen zum Glauben
Abraham Geiger (1810 - 1874)
Präsident
Oberrabbiner Prof. Dr. Walter Jacob
Senat
Prof. Dr. Ernst Ludwig Ehrlich
Prof. Dr. Paul Mendes-Flohr
Prof. Dr. Wolfgang Loschelder
Rabbiner Dr. W. Gunther Plaut
Rabbiner Dr. John D. Rayner CBE*
Kuratorium
Dr. Josef Joffe (Vorsitzender)
Adina Ben-Chorin
Leslie F. Bergman
Rabbiner Dr. Albert H. Friedlander OBE*
Rabbiner Dr. David J. Goldberg OBE
Rabbiner Prof. Dr. Arthur Hertzberg*
Rabbiner David Hoffmann
Lord Joffe CBE
György Konrád
Stuart Matlins
Baroness Neuberger DBE
Wolfgang M. Nossen
Prof. Dr. Elizabeth Petuchowski
Harold Sandak-Lewin
Prof. Dr. Julius H. Schoeps
Max Warburg
Rabbiner Dr. Mark L. Winer
Direktorium
Rabbiner Dr. Walter Homolka
Prof. Dr. Admiel Kosman
Rabbiner Drs. Edward van Voolen
Rabbiner Dr. Tovia Ben-Chorin
IMPRESSUM
Kescher: Informationen über liberales Judentum
im deutschsprachigen Raum
Newsletter des Abraham Geiger Kollegs
Kescher: hebräisch: Verbindung, Kontakt
Titelbild: Julius Kornick, Porträt Abraham Geiger
(1874), © Stiftung Stadtmuseum Berlin
Herausgeber
Abraham Geiger Kolleg gGmbH
Postfach 120852, 10598 Berlin
Tel: (030) 31800 587, Fax: (030) 31800 586
[email protected]
www.abraham-geiger-kolleg.de
Redaktion / V.i.S.P.
Hartmut G. Bomhoff
Gestaltung: Thomas Regensburger
Druck: Oktoberdruck AG,
Rudolfstraße 1-8, 10245 Berlin
Auflage: 1.000 Exemplare
ISSN-Nr.: 1861-4469
Grußbotschaft
ZUM JÜDISCHEN NEUJAHRSFEST ROSCH HASCHANA
23. UND 24. SEPTEMBER 2006
Berlin, im September 2006
In diesen Tagen begehen unsere jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger das Neujahrfest.
Dazu sende ich von Herzen alle meine guten
Wünsche.
Beim Jahreswechsel gehen die Gedanken zurück
und man lässt noch einmal das Geschehene
Revue passieren.
Ein trauriges Ereignis hat die ganze jüdische
Gemeinschaft in Deutschland getroffen: Der Tod
Paul Spiegels, des geschätzten und liebenswürdigen Präsidenten des Zentralrats der Juden, hat
eine große Lücke gerissen. Mit Paul Spiegel ist
eine markante und unverwechselbare Stimme
verstummt, eine Stimme der Vernunft und der
Zivilcourage. Bei der Trauerfeier in Düsseldorf
habe ich seine Entscheidung, nach dem Krieg
wieder nach Deutschland zu gehen und hier zu
leben, als einen Ausdruck des Vertrauens und der
Hoffnung bezeichnet. Dieses Vertrauen bleibt
auch ein immerwährender Auftrag, jüdisches
Leben in Deutschland zu schützen und zu
stärken.
Ein schönes und bewegendes Zeichen der Hoffnung ist für mich, dass vor einigen Tagen in
Dresden die erste Rabbinerordination in
Deutschland seit 1942 stattfand. Das ist ein
bedeutendes Ereignis – und das ist ein wichtiger
Schritt auf dem Weg zu mehr Selbstverständlichkeit und zu einer größeren Unbefangenheit
jüdischen Lebens in Deutschland.
Wenn wir jetzt unseren Blick nach vorn richten,
dann denke ich vor allem an die bevorstehende
Einweihung der neuen Synagoge in München am
kommenden 9. November. Die neuen jüdischen
Gebetshäuser, die einen Platz im Herzen unserer
Städte einnehmen, sind für die ganze jüdische
Gemeinschaft ein Fest und ein deutliches Signal
dafür, dass die jüdischen Gemeinden lebendig
sind, dass sie wachsen und gedeihen.
Ich weiß, dass viele jüdische Mitbürger mit Sorge
nach Israel schauen und sich bang fragen, wie
die politische Entwicklung weitergeht. Mit Sorge
aber beobachten sie auch manche Reaktionen in
Deutschland. Für mich und für alle, die Verantwortung tragen in unserem Land, bleibt klar,
dass Deutschland um seine besondere Verantwortung für Israel weiß, dass wir an der Seite
Israels stehen. Ministerpräsident Olmert hat ausdrücklich darum gebeten, dass sich deutsche
Soldaten an der Friedensmission im Südlibanon
beteiligen. Wir werden das tun – und wir werden
das als Freunde Israels tun.
Ich wünsche allen Bürgern, die das jüdische
Neujahrsfest begehen, Tage der Besinnung und
der Freude. Gesundheit und Glück sollen sie
durch das Jahr 5767 begleiten.
Horst Köhler
Bundespräsident
Kescher
3
Foto © Ralf Bäcker | Zentralrat
„Das Wunder von Potsdam“ titelten die Zeitungen im In- und Ausland, als sie über unsere
ersten drei Absolventen berichteten. Ein
Wunder? „Nach dem Holocaust war es für viele
nicht vorstellbar, dass in Deutschland jemals wieder jüdisches Leben aufblühen würde." So urteilt
Bundespräsident Horst Köhler in seinem Grußwort anlässlich der Ordination des Abraham
Geiger Kollegs am 14. September 2006. Mehr als
sechs Jahrzehnte nach der Zerschlagung der
Berliner Hochschule für die Wissenschaft des
Judentums sind jetzt kurz vor den Hohen Feiertagen wieder die ersten Rabbiner in Deutschland
ordiniert worden. An der Feier des Zentralrats der
Juden in Deutschland und des Abraham Geiger
Kollegs in der Dresdner Synagoge nahmen hochrangige Vertreter aus Politik, Gesellschaft und
den Religionsgemeinschaften teil. Brandenburgs
Ministerpräsident Platzeck (SPD) würdigte die
Amtseinführung als „Meilenstein in der deutschjüdischen Geschichte“. Die Rabbiner-Ausbildung
am Potsdamer Abraham Geiger Kolleg sei „ein
wichtiger Schritt für die Renaissance des
Judentums in Deutschland“.
„Ein starkes Zeichen für jüdisches Leben in
Deutschland“ nannte die Bundesbildungsministerin Dr.Annette Schavan (CDU) den bewegenden
Gottesdienst direkt im Anschluss. „Es ist aber
auch ein Signal für glaubende Menschen in unserem Land generell. Wir Juden, Muslime und
Christen sind alle Mitglieder der großen abrahamitischen Religion und in solch einem Gottes-
„Das Wunder von Potsdam“
DIE ERSTE RABBINERORDINATION SEIT DER SCHOA IST EIN
ZEICHEN FÜR DIE ERNEUERUNG JÜDISCHEN LEBENS
uns froh“, sagte der Vizepräsident des Zentralrats, Dr. Dieter Graumann, bei der Pressekonferenz in Dresden. „Wir dürfen aber nicht den
Boden unter den Füßen verlieren“. „Die Gemeinden hungern nach Rabbinern“, so Graumann
weiter.
dienst wird einem deutlich, was das heute
bedeutet. Ein neues Kapitel wird aufgeschlagen:
Die jüdischen Gemeinden können aus ihren
Reihen heraus Seelsorger motivieren, sich einem
neuen Auftrag zu stellen.“
Unsere ersten drei Absolventen stammen aus
Deutschland, Tschechien und Südafrika. Der
Präsident des Abraham Geiger Kollegs, Rabbiner
Walter Jacob, sprach bei der Ordination von
einem „wunderbaren Tag“, über den sich
Deutschland und Europa freue. Er hoffe, dass die
Rabbinerausbildung zum Aufbau eines neuen
Judentums in Deutschland beitrage. Die
Ordinationsfeier sei ein „Festtag“ und „macht
Wir haben also einen großen Schritt nach vorne
getan, und das aus eigener Kraft. Ob die Hoffnungen berechtigt sind oder trügen, wird
wesentlich von zwei Faktoren abhängen: zum
einen müssen sich die strukturellen Beziehungen
zur Universität Potsdam konsolidieren, zum
anderen benötigen wir dringend die Unterstützung des Sitzlandes Brandenburg und der
Kultusministerkonferenz. Erst eine institutionelle Förderung kann das Abraham Geiger Kolleg in
seinem Bestehen sichern. Sonst war es nur ein
Traum.
„L'shana tova u'mevorechet“
Rabbiner Dr. Walter Homolka
Rektor des Abraham Geiger Kollegs
an der Universität Potsdam
4
Kescher
4. Jahrgang | Ausgabe 1
JÜDISCHES LEBEN
Streiter für ein
großes Judentum
„Wir wollen
positive
ZUM 200. GEBURTSTAG VON SAMUEL HOLDHEIM
EINE NEUE GEDENKTAFEL ERINNERT AN DIE
Samuel Holdheim (Kempen bei Posen 1806 Berlin 1860) brillierte früh in seinen talmudischen Studien, fand aber erst allmählich Zugang
zur allgemeinen Bildung. Nach Studien in Prag
und Berlin war er zunächst als Rabbiner in
Frankfurt/Oder tätig, bevor er im August 1840
Generalsuperintendent beziehungsweise
Landesrabbiner von Mecklenburg-Schwerin
wurde. Währens seiner siebenjährigen Amtszeit
dort machte er sich mit Schriften wie Über die
Autonomie der Rabbinen und das Princip der jüdi-
schen Ehe (1843) und Über die Beschneidung
Zunächst in Religiös-Dogmatischer Beziehung
(Schwerin and Berlin, 1844) einen Namen.
Holdheim sprach sich für eine entschiedene
Umgestaltung der religiösen Praxis aus, indem er
die Halacha von ihren nationalen und rechtlichpolitischen Elementen zu befreien suchte, also
von jenen Bestimmungen, die über den religiösen Bereich hinausgehen und eine vollständige
Integration der Juden in das jeweilige Staatswesen verhindern. Holdheim hatte und nahm
Anteil an der rechtlichen Emanzipation der Juden
und predigte am 14. November 1846 am Schabbat
Chaije Sarah zu „Die religiöse Aufgabe in dem
neuen Vaterland bei Gelegenheit der Befreiung
der Israeliten Mecklenburg-Schwerins von der
Abgabe des Schutzgeldes“.
1847 folgte Dr. Samuel Holdheim dem Ruf der
neugegründeten Jüdischen Reform-Gemeinde zu
Berlin, deren Mitglieder 1845 ihren Ruf nach
positiver Religion formuliert hatten. In Berlin
versuchte Holdheim den Schabbat als Ruhetag
auf den Sonntag zu legen. Während er im
deutschsprachigen Raum außerhalb seiner
Berliner Gemeinde nur begrenztem Einfluss
hatte, im moderateren liberalen deutschen
Judentum umstritten war und bald zum Zerrbild
geriet und als Häretiker abgestempelt wurde
(laut Heinrich Graetz hatte „das Judentum seit
Paulus von Tarsus nicht einen solchen inneren
Feind erlebt“), hat das klassische Reformjuden–
tum in Nordamerika viele seiner Vorschläge zur
Kultusreform in die Tat umgesetzt - dort gilt er
bis heute als „our Holdheim“. Er wurde im
August 1860 in der Ehrenreihe des Jüdischen
Friedhofes in der Schönhauser Allee in Berlin
bestattet; die Trauerrede hielt Rabbiner
Dr. Abraham Geiger.
Im April 2001 hat eine internationale Fachtagung sich auf Einladung des Duisburger
Salomon Ludwig Steinheim-Instituts jenseits von
Apolgetik und Polemik mit dem Leben, dem Werk
und Wirken von Samuel Holdheim befasst und
bewiesen, dass sein tief wirkender Geist auch
heute noch Stoff zur fruchtbaren Auseinandersetzung bietet, vielleicht auch zur Neuaufnahme
dessen, was er einst so radikal verfocht. Es gilt,
Holdheim auch als Katechet, Prediger und
Ethiker in seiner Auseinandersetzung mit dem
Zeremonialgesetz und der Gottesdienstreform
neu zu lesen. Seine Gedanken zu Der Religiöse
Fortschritt im Deutschen Judenthume (Leipzig,
1840), Vorträge über die Mosaische Religion für
Denkende Israeliten (Schwerin, 1844) oder
Vorschläge zu einer Zeitgemässen Reform der
Jüdischen Ehegesetze (Schwerin, 1845), bieten
nach wie vor Diskussionsstoff und belegen, dass
Holdheim kein Häretiker war, sondern ein verständiger Erneuerer des Judentums. Noch rechtzeitig zum Ende des Holdheim-Jahres 2006 soll
im November beim Verlagshaus Brill in Leiden
und Boston der Tagungsband Redefining Judaism
in an Age of Emancipation. Comparative
Perspectives on Samuel Holdheim (1806-1860)
erscheinen, herausgegeben von Christian Wiese.
Hartmut Bomhoff
„Misstraut den Grünanlagen!“, mahnte der
Journalist Heinz Knobloch immer wieder mit
Blick auf die Leerstellen im Berliner Stadtbild, an
denen einst Synagogen standen und jüdisches
Leben pulsierte. In der Johannisstraße in BerlinMitte fehlt es sogar an diesem Grün, und auf dem
weiten Parkplatz erinnerte bislang nichts daran,
dass sich hier von 1854 an die Synagoge der
Jüdischen Reformgemeinde zu Berlin befand: ein
klassizistischer Bau mit über tausend Plätzen,
der noch vor der nahen Neuen Synagoge als zweites jüdisches Gotteshaus in Berlin errichtet worden war. Auch das 150jährige Jubiläum verstrich
letztes Jahr unbemerkt von Öffentlichkeit und
Feuilletons, und es ist der Initiative des
Reiseunternehmens milk & honey tours um
Gabriele Noa Lerner zu verdanken, dass seit dem
22. Januar ein Denkzeichen samt Foto, Bauzeichnungen und zweisprachigen Informationen auf
die im zweiten Weltkrieg zerstörte Synagoge aufmerksam macht. Dass der für das Gedenktafelprogramm zuständige Bezirksverordnete Volker
Hobrack trotz eisiger Kälte gut achtzig Gäste
begrüßen konnte, zeigt, wie lebendig die
Erinnerung an den sogenannten Tempel ist, dessen reiche Musiktradition Professor Andor Izsák
(Europäisches Zentrum für Jüdische Musik in
Hannover) auf anschauliche Weise am Flügel vergegenwärtigte. Die eigentliche Gedenktafel übergab dann der Bezirksbürgermeister Joachim
Zeller zusammen mit dem 85jährigen Peter
Galliner der Öffentlichkeit. Sein Vater Dr. Moritz
Galliner war einer der Repräsentanten der Re–
formgemeinde gewesen und hatte sich 1942
zusammen mit seiner Ehefrau angesichts der
bevorstehenden Deportation das Leben genommen.
Zeitgemäßes Judentum
Rabbiner Dr. Walter Homolka, Vorstandsmitglied
der World Union for Progressive Judaism, erinnerte an die Anfänge der Reformgemeinde, an
den von dreißig Mitgliedern der Jüdischen
Gemeinde unterzeichneten Aufruf vom April
Kescher
5
Religion!”
JÜDISCHE REFORM-GEMEINDE ZU BERLIN
Foto © privat
1845: „Die erstarrte Lehre des alten Judentums
und unser Leben sind für immer auseinander
gewichen. Mit den veralteten Formen droht auch
der ewige, heilige Kern des wahren Judentums
verloren zu gehen. Wir aber wollen Glauben im
Einklang mit der Empfindung unseres Herzens,
wollen positive Religion, wir wollen Judentum im Geist der Heiligen Schrift als Zeugnis göttlicher Offenbarung.“
Die Historikerin Dr. Simone Ladwig-Winters hat
in ihrer Monographie Freiheit und Bindung, die
Foto © Milk & Honey Tours
2004 beim Berliner Verlag Hentrich & Hentrich
erschien, die Geschichte der Reformgemeinde
nachgezeichnet. Unter den über zweitausend
Gemeindemitgliedern fanden sich viele
Angehörige der besseren Berliner Gesellschaft,
darunter die Verlegerfamilie Mosse; zu ihren
Rabbinern beziehungsweise Predigern zählten so
bedeutende Persönlichkeiten wie Sigismund
Stern und Samuel Holdheim, Julius Oppenheimer
oder Wilhelm Klemperer. Studiendirektorin Jael
Botsch-Fitterling sprach in ihrem Grußwort als
Repräsentantin der Jüdischen Gemeinde zu
Berlin auch davon, dass die Reformgemeinde
stets Schrittmacherin bei der Emanzipation der
Frau innerhalb der jüdischen Gemeinde war. Frau
Stadtrat Bianca Hamburger war spätestens ab
1928 gewähltes Vorstandsmitglied der Gemeinde,
und am 19. August 1928 stand in der Johannisstraße mit Lily H.Montagu, der damaligen
Londoner Präsidentin der World Union for
Progressive Judaism, erstmals in Deutschland
eine Frau auf der Bimah
gener Verein gelöscht und in die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland eingegliedert.
Andreas Nachama erinnerte auch an den beschämenden Umgang mit den verbleibenden
Angehörigen der Reformgemeinde: Als die Neue
Synagoge in der Oranienburger Straße 1940 von
der Wehrmacht requiriert worden war, wurde der
Tempel in der Johannisstraße renoviert und zu
Pessach 1942 als liberale Synagoge geweiht. Der
zionistisch orientierte Rabbiner Dr. Max Nussbaum setzte mit seiner Predigt den Schlussstrich
unter die Geschichte der Reformgemeinde, in
dem er feststellte, dass in dieser feierlichen
Stunde die „Umwandlung eines Gotteshauses in
eine Synagoge“ vollzogen werde. „Wer den Faden
der Tradition zerreißt, stellt sich außerhalb des
Stroms jüdischen Lebens“, hielt er den
Reformern, die auf eine bald hundertjährige
Tradition zurücksahen, in ihrem eigenen Haus
vor. Nachama endete mit der deutschsprachigen
Übertragung des „El Male Rachamim“, das sein
Sohn Alexander dann in der herkömmlichen
Weise vortrug.
Selbstbehauptung
Homolka gab ebenso wir Rabbiner Dr. Andreas
Nachama zu bedenken, dass das Programm der
Reformgemeinde und ihre liturgischen Neue–
rungen nicht immer auf die Gegenliebe jüdischer
Zeitgenossen stiess. Die Gemeinde erstrebte „die
Entwicklung des Judentums und die Ausgestal–
tung seiner Einrichtungen im Geiste der heutigen
Kultur und im Einklang mit den Ergebnissen wissenschaftlicher Erkenntnis“ und zeigte damit, so
Nachama, vielen eine Alternative zum Abfall vom
Judentum auf.
Von 1933 an bemühte sich die Reformgemeinde
ganz bewusst um Solidarität mit allen Verfolgten
jüdischer Herkunft, leistete noch mehr Sozialarbeit als zuvor und bot mit Schulgründungen all
den Lehrern und Kindern Obhut, die aus den
staatlichen Schulen entlassen wurde. Ende
November 1939 wurde die Gemeinde als eingetra-
Dass diese Gedenkfeier im Media Center stattfinden konnte, ist Investorenvertreter Karl Heinz
Marschmeier von der Johannishof Projektentwicklung GmbH zu verdanken. Das Tochterunternehmen der FUNDUS-Gruppe erschließt das
Areal; wie es allerdings Eigentum von FUNDUSChef Anno August Jagdfeld geworden ist, bleibt
offen. Simone Ladwig-Winters geht davon aus,
dass sich nach Krieg und Schoa kein formaler
Rechtsnachfolger mit Ansprüchen auf das
Grundstück fand; die Grundbücher waren aber
auch für sie nicht einsehbar, und so nimmt die
neue Bebauung ihren Lauf. Der zweihundertste
Geburtstag des Reformers Samuel Holdheim
(1806 - 1860) aber dürfte dieses Jahr noch manchen Anlass zur Auseinandersetzung mit der
Geschichte der Jüdischen Reformgemeinde zu
Berlin geben.
Hartmut Bomhoff
6
Kescher
4. Jahrgang | Ausgabe 1
links: S.E. William R. Timken Jr., Botschafter der
Vereinigten Staaten von Amerika
Fotos unten:
Rabbiner Dr. Homolka mit Dr. Gideon Joffe und Peter
Sauerbaum (Jüdische Gemeinde zu Berlin)
Botschafter Timken mit Nicholas Werner und Natalia
Huneke
Rabbiner Dr. Chaim Z. Rozwaski im Gespräch
Der östereichische Botschafter, Dr. Christian Prosl,
mit Sue Timken und Francis Karsh
Fotos © Margrit Schmidt
“Diversity and Pluralism”
Mr. Ambassador, Dear Mrs Timken,
Dear Miss Karsh,
I extend a most cordial welcome to you to this
reception which we give in your honour. We are
very glad that you and your family took the time
to meet representatives from various walks of
life related to the religious diversity of our country.
The World Union for Progressive Judaism is proud
to host this reception in your honour. We represent some 2 Million Jews around the globe. 1.5
Million of those are U.S. citizens and members of
the Union of Reform Judaism in America.
After the Nazi years in Germany we owe it largely
to the United States of America that Germany is a
democratic member of the world family. Judaism
in general and Progressive Judaism in particular
are grateful for the religious freedom which enabled Jews in America to develop and flourish
under the wings of the U.S. constitution.
You, Mrs. Timken have - I believe - grown up in
Cincinnati. This city is closely connected to the
Hebrew Union College, our renowned rabbinical
school which has given refuge to many European
Jewish scholars during World War II. Leo Baeck,
the great German Jewish leader, has lived and
taught in Cincinnati.
He learnt to appreciate the particular relationship between a neutral government and the
various religious faiths of U.S. citizens. Division
of State and religions have been the ultimate
creed of Leo Baeck who saw Judaism as the victim of a Germany that had long thought of itself
as a „Christian State”.
Today, you will still find traces of this history in
our society. However, we are well on the way to
accept diversity and pluralism as a great asset
rather than a strenuous demand. I may thank the
U.S. embassy for having always given its support
to our claim that all strands of Judaism have to
be treated equally here in this country. It is your
success that we are well into the process of
achieving this.
So many different representatives are here this
afternoon to personally welcome you in our
country and get to know your wife and daughter:
members of parliament, representatives of
Judaism, the Evangelical Church of Germany and
Islam, officials of the federal administration, the
media and last but not least the American Jewish
Committee as an organization which should make
you feel at home. I will introduce you to all of
them a little later. For now please feel welcome.
You are among friends.
Ansprache von Rabbiner Dr. Walter Homolka
(Executive Board Member, World Union for
Progressive Judaism) anlässlich des Empfangs der
WUPJ zu Ehren des amerikanischen Botschafters
William R. Timken Jr. im Hotel Kempinski Bristol in
Berlin.
Kescher
7
Aufbruch ins 21. Jahrhundert
EUROPA-TAGUNG DER LIBERALEN JUDEN IN HANNOVER
von Hartmut Bomhoff
„Das liberale Judentum ist wieder in Deutschland
angekommen“, sagt Dr. Jan Mühlstein (München),
der Vorsitzender der Union progressiver Juden in
Deutschland, am Rande der Europa-Tagung der
vor achtzig Jahren gegründeten World Union for
Progressive Judaism (WUPJ) Mitte März in
Hannover. Als diese weltweit größte religiöse
Organisation im Judentum, die heute bald zwei
Millionen Mitglieder in über vierzig Ländern vertritt, 1997 erstmals nach fast siebzig Jahren wieder zu einer Konferenz in Deutschland lud, fand
dieses Treffen in München im Schatten der
Geschichte statt: Hitler, Dachau und Leni
Riefenstahl kamen den ausländischen Teilnehmern in den Sinn, und für die damalige Vorsitzende der European Region der WUPJ, Ruth Cohen,
war das gemeinsame Kaddisch einer der
berührendsten Momente der Tagung. Das wieder
auflebende liberale Judentum in Deutschland
war seinerzeit noch ein zartes Pflänzchen und
vielen Anfeindungen ausgesetzt, und wenngleich
die Tagung damals auch einen Akzent gegen das
viel beschworenen „Ende der Diaspora“ setzen
wollte, so schien jüdisches Leben schien viel
Historie und wenig Zukunft zu haben.
Inzwischen hat sich die jüdische Gemeinschaft
hierzulande konsolidiert: es geht längst nicht
mehr um die Frage, wie Juden denn trotz Diskriminierung und Schoa wieder in Deutschland
leben können, nein, es geht darum, was zu tun
ist, damit die jüdische Gemeinschaft hier ihr
Judentum leben Mendelssohn Zentrum in
Potsdam zu danken, dass er mit seinem Eröffnungsvortrag über „Das (nicht) angenommene
Erbe“ auch Licht in dieses Dunkel gebracht hat.
Sein eigentliches Thema war die Debatte zur
deutsch-jüdischen Erinnerungskultur; sein
Vortrag wurde aber zum Psychogramm der jüdischen Gemeinschaft hierzulande. „Ob Reste des
deutsch-jüdischen Erbes in Deutschland fortexistieren können“, fragt Schoeps, „hängt sicher
auch davon ab, ob die Deutschen in ihrer Mehrzahl bereits sind, sich dieses Erbes anzuneh-
men.“ In den USA ist das in Deutschland entstandenen liberale Judentum mit Namen wie
Abraham Geiger und Leopold Zunz sowie der
Synagogalmusik von Louis Lewandowski und
einer bestimmten Synagogalarchitektur als angenommenes Erbe Bestandteil der deutsch-amerikanischen Kultur der Gegenwart geworden; in
Deutschland ist der Einfluss der „Union progressiver Juden“, die in der Tradition von Abraham
Geiger und Leo Baeck steht, zur Zeit noch gering,
schließt Schoeps, „was sich aber in der Zukunft
sehr schnell ändern könnte.“ Baecks gern zitiertes Verdikt aus der Nachkriegszeit, „Für uns
Juden aus Deutschland ist eine Geschichtsepoche
zu Ende gegegangen“, auf das auch Schoeps zu
sprechen kam, muss also revidiert kann. Die
Union progressiver Juden hat bereits zwanzig
Mitgliedsgemeinden und ist seit kurzem mit zwei
liberalen Landesverbänden im Zentralrat der
Juden in Deutschland vertreten. Die Integration
russischsprachiger jüdischer Zuwanderer ist
eines ihrer größten Anliegen, und ihre Aufbruchstimmung und ihr Selbstbewusstsein kamen auch
im Motto der hannoverschen Europa-Tagung zum
Ausdruck: „Building Progressive Jewish
Communities in the 21st Century“.
Dass einhundertsiebzig Delegierte aus ganz
Europa, aus Kanada und den USA, Südafrika und
Israel - unter ihnen der neue Vorsitzende der
World Union, Steven M. Bauman aus Kalifornien,
und ihr Präsident Rabbiner Uri Regev aus
Jerusalem - nach Hannover gekommen waren,
spricht für Neugier und Wertschätzung, aber
auch für Gemeinschaftssinn. In Workshops,
Vorträgen und Schiurim wurde diskutiert; wie
jüdische Tradition mit moderner Weltanschauung in Einklang zu bringen ist Besonderes
Augenmerk galt dabei zeitgemäßem Marketing,
Fundraising und internationaler Vernetzung,
Jugendarbeit und religiöser Erziehung. „Eine
anregende Mischung aus Familientreffen,
Kontaktbörse und Gremienarbeit“, befand die
Vorsitzende der hannoverschen Liberalen Jüdischen Gemeinde, Ingrid Wettberg, als Gastgeberin der Tagung und bedauerte lediglich, dass
viele Themen mangels Zeit nur angerissen werden konnten und dass die Teilnehmergebühren
für junge Erwachsene und finanziell schlechter
gestellte Zuwanderer einfach zu hoch waren.
Aber auch trotz dieser Hürden war die Resonanz
so groß wie nie.
Eine ganz eigene Atmosphäre erlebten die
Delegierten beim Kabbalat Schabbat in den
Räumen der vor gut zehn Jahren gegründeten
hannoverschen Gemeinde, die inzwischen über
fünfhundertdreißig Mitglieder aus vierzehn
Ländern zählt - eine Vielfalt, die sich im Gottes–
dienst in einer Melange aus ganz unterschiedlichen Traditionen und Melodien widerspiegelt.
„Zeh Hayom Asah Adonay, Nagilah Venismechah
Voh“, rief der charismatische Landesrabbiner von
Mecklenburg-Vorpommern, der inzwischen 79jährige Rabbiner William Wolff, in seiner mitreißenden Predigt aus, „Dies ist der Tag, den Gott
uns zum Feiern geschaffen hat!“. Wolff spannte
einen Bogen von der Geschichte zur Zukunft und
formulierte die Rahmenbedingungen für ein
lebendiges liberales Judentum in Deutschland,
für ein Judentum jenseits der Friedhöfe; er verwies insbesondere auf die anstehende Rabbiner–
ordination des Abraham Geiger Kollegs im Herbst
als „ein Ereignis, das Geschichte für viele kommende Generationen schreibt“. Dass der
Schabbatmorgengottesdienst den Gemeinde–
mitgliedern stets präsent bleiben wird, ist dem
fast neunzigjährigen Rabbiner Hermann E.
Schaalman aus Chicago zu verdanken. Der gebürtige Münchner war nach Hannover gekommen,
um der Gemeinde eine kostbare Torarolle zu
übergeben, die über zweihundert Jahre alt sein
dürfte und ursprünglich wohl aus Bayern oder
Böhmen stammt.
Foto © Johannes A. Seidler
8
Kescher
4. Jahrgang | Ausgabe 1
ANGELA MERKEL TRAF DIE SPITZE DER WUPJ IM BUNDESKANZLERAMT
Der Vorsitzende der World Union for Progressive
Judaism, Steven M. Bauman (Kalifornien) traf am
4. April 2006 in Berlin mit Bundeskanzlerin
Dr. Angela Merkel zusammengetroffen.
Mr. Bauman wurde begleitet von den Rabbinern
Uri Regev (President) und Dr. Walter Homolka
(Member of the Executive Board). Der Generalsekretär des Zentralrats der Juden, Stephan J.
Kramer, und Katarina Seidler vom Vorstand der
Union progressiver Juden in Deutschland nahmen
ebenfalls an der Begegnung teil.
Das Gespräch fand in guter Atmosphäre statt. Im
Mittelpunkt des Austausches standen das liberale
Judentum weltweit und seine Situation in
Deutschland. Die Bundeskanzlerin unterstrich das
Anliegen der Bundesregierung, dass wieder jüdisches Leben mit seinen vielfältigen Traditionen
und Strömungen in Deutschland wächst. Die
Bundeskanzlerin drückte ihre Freude darüber aus,
dass am 14.9.2006 in der Neuen Synagoge Dresden
durch das Abraham Geiger Kolleg die ersten drei
Rabbiner seit 1942 in Deutschland ordiniert würden. Dies sei ein bedeutsames Zeichen des
Vertrauens in die deutsche Gesellschaft.
Die Gesprächspartner waren sich darin einig, dass
die 2005 begonnene Integration des liberalen
Judentums in den Zentralrat der Juden wesentliche Erfolge erzielt hat. Steven Bauman und
Stephan Kramer bedankten sich bei der Bundeskanzlerin für ihre klare Haltung in der Iran-
TREFFEN IM LEO-BAECK-HAUS Zu einem ersten intensiven Gedankenaustausch kamen am 19. März
Spitzenvertreter des Zentralrats der Juden in Deutschland und der World Union for Progressive Judaism in
Berlin zusammen. Am Gespräch nahmen Rabbiner Uri Regev als geschäftsführende Direktor der Union, die
damalige Zentralrats-Vizepräsidentin Charlotte Knobloch, der neue Vorsitzende der Union, Steven M. Bauman,
und Zentralrats-Vizepräsident Dr. Salomon Korn (v.l.) teil. „Ich kam mit der Hoffnung nach Deutschland, auf
Verständnis für die Probleme und Sorgen der liberalen Juden zu stoßen. Diese Hoffnung hat sich mehr als
erfüllt. Ich verlasse Deutschland mit neuen Freunden", fasste Bauman die Begegnung zusammen. Die Vielfalt
in der Einheit sei für das jüdische Leben in Deutschland heute wichtiger denn je, waren sich die Teilnehmer am
Ende einig.
Foto © privat
Kontroverse und bestärkten sie in ihrer partnerschaftlichen Unterstützung für den Staat Israel.
Vorangegangen waren Ende März bereits Gespräche
der WUPJ mit Mitgliedern des Bundeskabinetts,
darunter Bundesinnenminister Dr. Wolfgang
Schäuble, und Bundesaußenminister Dr. FrankWalter Steinmeier, sowie Mitgliedern des
Deutschen Bundestags und dem Bundesvorsitzenden der SPD, Matthias Platzeck. Thema war
hier die finanzielle Absicherung des Abraham
Geiger Kollegs als einzige Rabbinerausbildungsstätte im deutschsprachigen Raum. Die World
Union und der Zentralrat der Juden vertreten ein
Modell der Mischfinanzierung zwischen Bund,
Ländern, Zentralrat und der Leo Baeck
Foto © Bundespresseamt
Foundation.
Kescher
9
Foto © Margrit Schmidt
„Berufen, Segen für
die Welt zu sein“
ABRAHAM GEIGER PREIS 2006 AN
KARL KARDINAL LEHMANN
Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Karl Kardinal Lehmann, erhielt am 20. März
den Abraham Geiger Preis 2006. Offenheit, Mut,
Toleranz und Gedankenfreiheit als Ertrag der
Aufklärung sollen damit als Grundlage für den
Umgang von Juden miteinander ebenso gewürdigt werden wie in den Beziehungen mit dem
nicht-jüdischen Umfeld. Der Abraham Geiger
Preis wurde im Jahre 1999 anlässlich der
Gründung des Abraham Geiger Kollegs und ist
mit 5.000 Euro dotiert - dieses Jahr wurde der
Betrag von Frau Lotte Schwarz Kardinal Lehmann
spontan verdoppelt. Mit Karl Kardinal Lehmann
setzt sich die Reihe großer Preisträger fort. Im
Jahr 2000 erhielt Susannah Heschel den
Abraham Geiger Preis für ihr Buch „Der jüdische
Jesus und das Christentum“. Im Jahre 2002
wurde der jüdische Religionsphilosoph Emil
Fackenheim der Preis für sein philosophisches
Lebenswerk verliehen. 2004 wurde Alfred Grosser
als Verteidiger des Erbes der Aufklärung geehrt.
Kardinal Lehmann stiftete sein Preisgeld der neu
gegründeten Leo Baeck Foundation.
In der Begründung der Jury hieß es zur Auszeichnung: „Wir wollen damit im Geiste von
Nostra Aetate und eingedenk des 40. Jahrestages einen vorbildlichen katholischen Kirchenführer auszeichnen und damit die Erfolge des
katholisch-jüdischen Gespräches hervorheben.
Vor allem gilt es, Kardinal Lehmanns langjähriges Eintreten für Toleranz und Freiheit des
Denkens zu würdigen, ebenso wie seine Entschlossenheit für das Gespräch mit dem Judentum: im intellektuellen Austausch als Hochschullehrer, aber auch durch ein religiöses Miteinander über Jahrzehnte hinweg. Mit Kardinal
Lehmann wünschen wir uns, „dass wir uns gelassener kritische Dinge sagen lassen können, die
bisher nicht in dieser Form möglich waren. Wir
wünschen uns gegenüber wachsender Säkularisierung eine gemeinsame intensive Auseinandersetzung zur Gottesfrage.“
Die Preisverleihung fand in der Bayerischen
Vertretung statt. Gastgeberin war Staatsministerin Emilia Müller. Wir bringen an dieser Stelle
Auszüge aus der Laudatio von Professor Ernst
Ludwig Ehrlich (Basel).
Wenn das Abraham Geiger Kolleg Kardinal Karl
Lehmann den diesjährigen Preis verleiht, so ist
dies in der Beziehung zwischen dem Judentum
und der katholischen Kirche weit mehr als ein
äußeres Zeichen mit Bedeutung. Ein solches
Ereignis geht für beide Religionen in die Tiefe
ihrer jeweils eigenen Existenz. Kardinal Lehmann
hat in zahlreichen Äußerungen eine Verbundenheit mit dem Judentum bezeugt, wie sie auch
nach dem Konzil nicht überall zu finden ist,
weder auf jüdischer noch auf katholischer Seite.
Der Kardinal hat wiederholt mit großer Klarheit
festgestellt, dass das Judentum das Fundament
des Christentums darstellt, denn so heißt es bei
ihm: „Die Kirche hat ihre Wurzeln im Judentum
und ist mit dem Judentum bleibend innerlich
verbunden, wie keine andere Religion. Wenn
Christen die Treue Gottes zu seinem auserwählten Volk bestreiten, zerstören sie die Grundlage
ihres eigenen Glaubens, der auf die Treue des
Vaters Jesu Christi, des Gottes Israels, baut.“
Daher ist es für Kardinal Lehmann selbstverständlich, dass die Mission nicht auf Juden angewandt werden kann. Es wäre wichtig, dass Juden
erkennen, dass es heute keine judenmissionarischen Aktivitäten der katholischen Kirche mehr
gibt. Diese waren früher ein Hindernis im Dialog
zwischen den beiden Religionen. Inzwischen
wurden diese Texte einer differenzierten
Betrachtung unterzogen und in den historischen
Entstehungskontext eingeordnet. […] Als einer
der ganz wenigen katholischen Persönlichkeiten
von Rang ist es Kardinal Lehmann, der über das
Versagen und die Schuld der damaligen Kirche
deutliche Worte gefunden hat. Ich verhehle nicht
zu sagen, dass Kardinal Lehmann nicht nur das
Versagen einzelner Christen beklagt, sondern
auch der Kirche als Institution. Das mag für viele
schmerzlich sein zu hören, aber es ist die leidvolle Wahrheit, die Juden erfahren haben, als sie
dem Untergang geweiht waren. Im Übrigen sieht
er in der Vorstellung von der: ‘Absolutheit des
Christentums’ eine Gefahr, weil dadurch einerseits ein Dialog verhindert wird und anderseits
die Gefahr einer zeitlosen Systematisierung
erhöht wird. […] Zu den Aufgaben, die uns
gemeinsam gestellt sind, gehört auch die
Gottesfrage nach Auschwitz. Kardinal Lehmann
sagt dazu: „Gerade so kommen wir auch gemeinsam zu einem Gespräch über den Sinn von
Religion heute.“ Wir leben gemeinsam in Europa.
In seiner Rede über die Grundlagen Europas stellt
der Kardinal fest: „Es braucht eine neue Identität
Europas.“ Sie darf nicht nur im politischen
Bereich oder in der Übereinstimmung wirtschaftlicher Interessen bestehen. Diese mögen gewiss
wichtig sein und dem Zusammenwachsen in der
politischen und ökonomischen Dimension dienen, dennoch darf die geistig-spirituelle und
ethische Identität Europas nicht vernachlässigt
werden. Wir haben nämlich die Quellen für eine
ethische Gestaltung Europas. Sie finden sich in
der biblischen Ethik unserer beiden Religionen.
Diese ist stets die geistige Grundlage gewesen,
auf der in den Jahrhunderten weiter gebaut
wurde. Keine unserer beiden Religionen kann
ohne eine, wie auch immer entwickelte, biblische
Ethik leben: Abgesehen davon, ist der Humanismus Europas durch diese Ethik inspiriert worden.
Es ist ein hoffnungsvolles Zeichen - gerade für
die Juden, für die die Ethik in ihrem religiösen
Mittelpunkt steht -, dass die katholische Kirche
heute eine moderne Soziallehre anbietet, die,
wie es scheint, auch ein Mittel gegen die
Säkularisierung ist. Jüdische Ethik und katholische Soziallehre können dem kommenden Europa
eine Hilfe sein, weil sie konkret die Menschen
ansprechen und auf diese Weise etwas für ein
neues, würdiges Europa beitragen.
Lassen Sie mich mit einem Text schließen, den
das Zentralkomitee der deutschen Katholiken im
Jahr 2005 veröffentlicht hat: „Dabei müssen wir
zum einen das Gedenken an die Schoa wach halten und es in der vierten Generation nach dem
zweiten Weltkrieg einwurzeln. Wir haben an die
Ursachen, auch an den innerkirchlichen
Antijudaismus, zu erinnern, die zur Schoa führten. Zum anderen wird sich unsere Arbeit stärker
darauf richten, die Bewegung von Christen und
Juden aufeinander zu in Zukunft stärker auf die
gemeinsame Verantwortung für unsere gefährdete Gesellschaft und Welt zu konzentrieren. Dafür
nimmt uns auch die nachdrückliche Einladung
von Papst Johannes Paul II. in Pflicht, die er vor
25 Jahren in Mainz ausgesprochen hat: ‚Juden
und Christen sind als Söhne (und Töchter)
Abrahams berufen, Segen für die Welt zu sein'.
Wir hoffen, auch die Muslime, die sich ebenfalls
auf die Abrahamskindschaft berufen, für diese
Verpflichtung zu gewinnen. Möge der Herr der
Geschichte unser Vorhaben segnen!“
10
Kescher
4. Jahrgang | Ausgabe 1
„Wie Sterne
in der Nacht”
ABRAHAM GEIGER UND LEO BAECK ALS
WEGBEREITER DES JÜDISCH-KATHOLISCHEN
DIALOGS
von Karl Kardinal Lehmann
„Noch nie hat mich eine Anerkennung und Auszeichnung so überrascht, wie die Verleihung des
Abraham-Geiger-Preises. Um so größer ist mein
Dank an alle, die diese Entscheidung getroffen
haben. Ich denke in erster Linie an das AbrahamGeiger-Kolleg an der Universität Potsdam und
ihren Rektor, Rabbiner Dr. Walter Homolka. Was
diese Verleihung für mich bedeutet, will ich
gerne in dem hier vorgesehenen Rahmen zur
Sprache bringen.
I. An erster Stelle steht der Name des Mannes,
nach dem der Preis benannt ist. Abraham Geiger,
geboren am 24. Mai 1810 in Frankfurt a.M. und
gestorben am 23. Oktober 1874 in Berlin, ist vor
allem für seine Bemühungen bekannt, dem im 19.
Jahrhundert entstehenden Reformjudentum
Gestalt zu verleihen. Aufgewachsen in einer
orthodoxen Familie erhielt er eine traditionelle
talmudische Ausbildung. Während seiner Ausbildungszeit, vor allem an der Universität Bonn,
verstärkte sich bei ihm eine Tendenz zur stärkeren Auseinandersetzung des Judentums mit der
Moderne. Dies bedeutete für ihn keine Zurückweisung des vorausgegangenen Judentums, sondern eine Wiederentdeckung ursprünglicher
Tendenzen. Diese sah er im Monotheismus und in
seiner Ethik. Während der Grieche den Geist der
Philosophie in die westliche Zivilisation eingebracht habe, hätten die Juden dem Abendland
den „religiösen Geist“ geschenkt, der dem Ethos
eine feste Grundlage gegeben habe. Zugleich war
er der Überzeugung, dieser lebendige Glaube
habe im Lauf der Jahrhunderte durch die Strenge
der talmudischen Konzentration auf das Gesetz
an Kraft eingebüßt. Das Getto, das durch die
Intoleranz der Christen den Juden auferlegt
wurde, habe diese Grundhaltung fixiert. Es ist
bekannt, wie Abraham Geiger entsprechende
Grundhaltungen bereits in der Auseinandersetzung zwischen den Pharisäern und den Sadduzäern erblickt hatte. Geiger war überzeugt, dass
die Pharisäer die Bibel im Geist ihrer Zeit ausge-
legt, die Sadduzäer aber sich im Buchstaben der
Bibel verfangen hätten.
Abraham Geiger hat mit Entschiedenheit in der
Liturgie die deutsche Sprache bevorzugt. Bei
aller schroffen Art, z.B. in der Kritik der Speisegesetze, hat er jedoch immer auch wieder eine
maßvolle Haltung zur eigenen Tradition eingenommen. „Innerhalb der Reformbewegung war
Geigers Position gemäßigt, vermittelnd zwischen
den radikaleren Bestrebungen Samuel Holdheims
und Kaufmann Kohlers einerseits und den von
Zacharias Frankl und Heinrich Graetz vertretenen
konservativen, protonationalistischen Gruppierungen andererseits.“ 1
Schließlich aber war Abraham Geiger ein überaus
fähiger Historiker, der neue Impulse in die Erforschung des rabbinischen Judentums, aber
auch für die Anfänge des Christentums brachte.
Seine Bedeutung geht jedoch noch darüber hinaus. Erst kürzlich sind die Arbeiten, die den Einfluss der rabbinischen Literatur auf den Text des
Korans nachweisen, neu veröffentlicht worden.2
Nach seiner Überzeugung war der Islam nicht das
Produkt christlich-häretischer Gruppen, sondern
ein Produkt des Judentums. Das Judentum und
nicht das Christentum stellt das Fundament der
westlichen Zivilisation dar.
Jesus war für Abraham Geiger ein liberaler
Pharisäer. Nach seiner Überzeugung hat Jesus
keinen neuen Gedanken ausgesprochen. Er hob
nichts aus dem Judentum auf. Das Christentum
begann erst, als Paulus den vorbildlichen Monotheismus in Jesu Wort und Werk durch die Übernahme des hellenistischen Denkens verdunkelte.
Wie immer man heute diese Aussagen beurteilt,
jedenfalls hat Abraham Geiger der Jesusforschung, gerade auch im Zusammenhang des
zeitgenössischen Judentums, große Impulse
gegeben, an denen nicht nur die Forschung
heute, sondern auch der jüdisch-christliche
Dialog3 zu arbeiten hat.
Abraham Geiger ist eine ausgesprochene Gründerfigur, die viele Anstöße gegeben hat. Dies gilt
besonders auch für die Wirkung seines Gebetbuches, das weltweit zur Grundlage für die Liturgie der Reformgemeinden wurde. Er war fest
davon überzeugt, dass das Judentum sich voll der
Auseinandersetzung besonders mit der Moderne
stellen muss, um überleben zu können. Ganz
gewiss hat ihn dieser Mut zur Bewahrung durch
schöpferische Auseinandersetzung zu einem
großen Gestalter des Reformjudentums gemacht.
So war es konsequent, dass er nach langen
Schwierigkeiten,Verdächtigungen und Hindernissen 1871 einen Ruf an die Hochschule für die
Wissenschaft des Judentums in Berlin erhielt.
Heute gibt er dem Nachfolge-Kolleg mit Recht
seinen Namen. Abschließend möchte ich
Rabbiner Leo Trepp zitieren: „Es muss betont
werden, dass Geiger voll und ganz hinter seinen
Reformen steht, die er für die Juden als (über)
lebensnotwendig ansieht … Geiger ist ein begeisterter Jude, seine Reformen sollen dem Ziel dienen, die Kraft des Judentums zu erneuern und
Juden von Übertritten zurückzuhalten.“4
II. Das Abraham Geiger-Kolleg und der Abraham
Geiger-Preis sind vielfältig mit dem Namen eines
der größten Rabbiner und Gelehrten verbunden,
nämlich Leo Baeck, geboren am 23. Mai 1873 in
Lissa (Provinz Posen) und gestorben am 2.
November 1956 in London. Albert Friedlander hat
ihn als „Paradigma des deutschen Judentums im
20. Jahrhundert“ bezeichnet. Es kommt ihm in
seiner Zeit zwischen dem Wilhelminischen
Kaiserreich und der Nazi-Diktatur in vieler
Hinsicht eine überragende Bedeutung zu, und
zwar als Rabbiner, Wissenschaftler und schließlich auch als ein Seelsorger in der politischen
Verfolgung vieler Menschen. Sein Werk „Das
Wesen des Judentums“ hat ihn, vor allem durch
die Auseinandersetzung mit Adolf von Harnacks
„Das Wesen des Christentums“, zu einem herausragenden Interpreten und Vermittler eines
modernen, selbstbewussten Judentums gemacht.
Die glänzende Apologie des jüdischen Glaubens
Kescher
Unten: Rabbiner Uri Regev (Jerusalem), Präsident
der WUPJ, bei seiner bewegenden Ansprache.
Karl Kardinal Lehmann mit der Bayerischen Staatsministerin und Gastgeberin Emilia Müller und der
Staatsministerin im Bundeskanzleramt Hildegard
Müller.
Dr. Josef Joffe, Kuratoriumsvorsitzender des AGKs,
mit Stifter Karl-Hermann Blickle.
Der Vizepräsident des Zentralrat der Juden in
Deutschland, Dr. Dieter Graumann, bei seinem
Grußwort.
Fotos © Margrit Schmidt
hat der jüdischen Minderheit - gegen die Versuchung zur Konversion und den Druck des Antisemitismus nicht nur kulturelles Selbstbewusstsein vermittelt, sondern das Judentum auch
durch den Hinweis auf seine religiöse wie ethische Überlegenheit zur „Religion der Zukunft“
erklärt. Dieser Grundtext des jüdisch-liberalen
Selbstverständnisses im 20. Jahrhundert will
begründen, warum das Judentum so eine große
geschichtliche Macht in der Weltgeschichte
geworden ist und daraus nicht mehr wegzudenken ist. Es ist keine partikularistische so genannte Gesetzesreligion, sondern ein zutiefst universalistischer Glaube. „Im Zentrum der jüdischen
Religion steht weder das Dogma noch die religiöse Innerlichkeit, sondern die sittliche Tat als
Antwort auf Gottes im Gebot offenbarten Willen,
der auf Gerechtigkeit in der Welt zielt.“ Man hat
manchmal die Konzentration des Judentums auf
die Bewährung im Leben bei Leo Baeck zu sehr
als eine Ausblendung des Spirituellen missdeutet. Er weiß aber sehr wohl um die notwendigen
Dimensionen der Andacht und des Gebetes, die
Beachtung des Schabbats und der Feiertage und
um alle Formen gelebter Religiosität. Er war freilich vom Vertrauen auf die Erfüllbarkeit des
Willens Gottes geprägt. Darum endet „Das Wesen
des Judentums“ mit einem flammenden Aufruf
zu seiner „Erhaltung“. Es geht um die Bewahrung
jüdischer Identität, aber auch um das exemplarische Vorleben des sittlich-religiösen Ideals, auf
dem allein diese Identität beruht. „Und so war in
der Tat das Judentum gewesen, um so allein weiterhin zu sein: das Unantike in der antiken Welt,
das Unmoderne in der modernen Welt. So sollte
der Jude als Jude sein: der große Nonkonformist
in der Geschichte, ihr großer Dissenter. Dazu war
er da. Um dessentwillen musste der Kampf für die
Religion ein Kampf um diese Selbsterhaltung
sein. Kein Gedanke der Macht war darin, er wäre
der Widerspruch dazu gewesen - nicht Macht,
sondern Individualität, Persönlichkeit um des
Ewigen Willens, nicht Macht, sondern Kraft. Als
Kraft in der Welt lebt das jüdische Dasein und
Kraft ist Größe.“5
Diese Größe hat Leo Baeck in ganz besonderer
Weise bewiesen, als die dunkelste Zeit der deutschen Geschichte kam. Im Januar 1943 wurde Leo
Baeck selbst nach Theresienstadt deportiert, wo
er sich ganz auf seine seelsorglichen Aufgaben
konzentrierte. Bis zur Befreiung 1945 half er
durch zahlreiche Vorträge zur Stärkung des Überlebenswillens der Häftlinge. Es war eine einzigartige Form des Widerstands gegen die Inhumanität der Nazis. Dort schrieb er auch - immer wieder überarbeitet, darum erst 1955 veröffentlicht
- das Buch „Dieses Volk. Jüdische Existenz“. Es
11
handelt sich um eine Erzählung des Weges des
jüdischen Volkes durch die Geschichte, die sich
des erlittenen Leides schmerzlich bewusst ist
und dennoch mit einem Kapitel endet, das den
Titel trägt „Die Hoffnung“. Diese Aussage ist für
ihn nur möglich, weil er glaubt, dass der Bund
Gottes mit seinem erwählten Volk kraftvoll fortdauerte. Sein Leitmotiv lautete: „In einem
Bunde, der alle Völker in sich schließt, steht dieses Volk auf Erden“. Es ist darum konsequent,
dass Leo Baeck eine kaum überschätzbare Bedeutung hat in der Geschichte des Judentums im 20.
Jahrhundert. Dabei habe ich hier gar nicht von
seinen zahlreichen repräsentativen Aufgaben
nach dem Krieg gesprochen, als er bis zu seinem
Tod in London lebte. Sein großer Biograf Albert
H. Friedlander schreibt: „Leo Baeck war für mich
von Anfang an die zentrale Gestalt, die mein
Verständnis vom Judentum entscheidend beeinflusste … Zeuge geworden, wie die deutschen
Juden in die tiefste Hölle hinabstiegen. Mehr als
nur Lehrer und Akademiker …“7 Er war und blieb
ein Stern in der Nacht. So kann Leo Trepp schreiben: „Leo Baeck (1873-1956) hat sich durch seine
Standhaftigkeit und seinen Mut in der Nazizeit
einen unvergänglichen Platz in der jüdischen
Geschichte erworben.“8 So ist es auch konsequent, dass der Zentralrat der Juden in Deutschland seit 50 Jahren den Leo Baeck-Preis vergibt,
der Sitz des Zentralrates „Leo Baeck-Haus“ heißt
und wir nun auch die Errichtung der Leo BaeckStiftung begehen, die wesentlich zur Stützung
des Abraham Geiger-Kollegs beitragen soll.“
1 Susanna Heschel, Der jüdische Jesus und das Christentum.
Abraham Geigers Herausforderung an die christliche
Theologie, Berlin 2001, S. 246
2 Vgl. Was hat Mohammed aus dem Judenthum aufgenommen? Mit einem Vorwort hrsg. von F. Niwöhner, Berlin
2005 (Original: Wiesbaden 1833); vgl. dazu die ausführliche Besprechung „Jüdische Quellen des Korans. Eine philologische Pionierarbeit aus dem 19. Jhd.“ von A. Kilcher,
in: Neue Züricher Zeitung, Nr. 193 (20.8.2005), S. 47
3 Vgl. dazu seit den Anfängen: E. L. Ehrlich, Und der christlich-jüdische Dialog, hrsg. von R. Vogel, Frankfurt 1984
4 Leo Trepp, Geschichte der dtsch. Juden, Stuttg. 1996, S. 153
5 Christia Wiese, „Leo Baeck“, in: Lexikon jüdischer Philosophen, Stuttgart 2003, S. 330
6 Leo Baeck, Das Wesen des Judentums, Wiesb. o.J., S. 291 f.
7 A. H. Friedlander, Das Ende der Nacht. Jüdische und christliche Denker nach dem Holocaust, Gütersloh 1995, S. 137 f.
8 Leo Trepp, a.a.O., S. 216
Die vollständige Rede des Vorsitzenden der Deutschen Bischofkonferenz, Karl Kardinal Lehmann, ist
mit Unterstützung des Zentralrats der Juden in
Deutschland gedruckt worden. Die 36seitige Broschüre (deutsch/englisch) kann gegen Zusendung
eines frankierten Briefumschlages DIN B5 (Euro
1,45) kostenlos beim Abraham Geiger Kolleg angefordert werden.
Kescher
12
Für lebendiges
Judentum
Brandenburgs Innenminister Jörg Schönbohm bei
der Übergabe der Stiftungsurkunde an Rabbiner
Dr. Walter Homolka
Die Leo Baeck Foundation konnte dank der enormen
Großzügigkeit einer aus Berlin stammenden jüdischen Stifterin, die heute in Liechtenstein zu Hause
ist, eingerichtet werden. Inzwischen gibt es
Zustiftungen unter anderem vom Zentralrat der
Juden in Deutschland. Weitere Informationen unter
www.leo-baeck-foundation.org.
4. Jahrgang | Ausgabe 1
Im November 2006 jährt sich der fünfzigste
Todestag von Leo Baeck (1873 - 1956), eines der
bedeutendsten Vertreter des deutschen Judentums. Leo Baeck hat sich zeit seines Lebens stets
um ein der Tradition verbundenes Judentum in
der Moderne, die Ausbildung von Rabbinernachwuchs an der Berliner Hochschule für die
Wissenschaft des Judentums und um den Dialog
mit dem Christentum, dem Islam und den anderen Religionen bemüht.
Die Leo Baeck Foundation wird aus Anlass seines
50. Todestages errichtet. Sie soll durch die Förderung des Abraham Geiger Kollegs als Nachfolgerin der Hochschule für die Wissenschaft des
Judentums in Berlin das Judentum in Europa
festigen und ausbauen sowie eine Perspektive
des interreligiösen Dialogs schaffen.
Der Stiftungszweck wird insbesondere verwirklicht durch die Beschaffung von Mitteln für das
Abraham Geiger Kolleg in Potsdam zur Verwirklichung seiner steuerbegünstigten Zwecke, durch
die Vergabe von Stipendien und die Förderung
interreligiöser Projekte und Aktivitäten.
Die Leo Baeck Foundation ist eine rechtsfähige
Stiftung des Bürgerlichen Rechts nach dem Stiftungsgesetz für das Land Brandenburg (StiftGBbg)
vom 20. 4. 2004 (GVBl. I S. 150) mit Sitz in Potsdam.
Die Stiftung verfolgt ausschließlich und unmittelbar gemeinnützige Zwecke im Sinne des Abschnitts „Steuerbegünstigte Zwecke“ der Abgabenordnung.
“I am impressed with the creation of the Leo
Baeck Foundation dedicated to supporting rabbinical training in Germany and interfaith work. I
hope your endeavours meet with success. My
husband and I look forward to hearing more
about the progress of the Leo Baeck Foundation”,
schreibt Baecks Enkelin Marianne Dreyfus.
Der Stiftungsrat
wurde durch Stiftungsbeschluss vom 16.12.2005
als Organ der Stiftung errichtet. Er berät und
unterstützt den Vorstand.
Volker Beck MdB . Generalleutnant Johann Georg
Dora, Stv. Inspekteur der Bundeswehr . Prof. Dr. Ernst
Ludwig Ehrlich, Ehrenvizepräsident B'nai B'rith
Dr. Dieter Graumann, Vizepräsident des Zentralrats
der Juden in Deutschland . Dr. Friedemann Greiner,
Direktor der Evangelischen Akademie Tutzing . Ioan
Holender, Direktor der Wiener Staatsoper . Rabbiner
Prof. Dr. Walter Jacob, Pittsburgh . Rabbiner Harry
Jacobi, London . Karl Kardinal Lehmann, Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz . Landesrabbiner a.D. Prof. Dr. Nathan Peter Levinson . Prof. Dr.
Wolfgang Loschelder, Rektor der Universität Potsdam
Prof. Dr. Christoph Markschies, Präsident der Humboldt Universität Berlin . Dr. Jan Mühlstein, München
Studiendirektor Heinrich Olmer, Mitglied des Direktoriums des Zentralrates der Juden in Deutschland
Thomas Rachel, Parlamentarischer Staatssekretär im
Bundesministerium für Bildung und Forschung
Prälat Dr. Stephan Reimers, Bevollmächtigter der
EKD bei Bund und Europa . Fürstlicher Justizrat Dr.
Peter Ritter, Vaduz . RA Katarina Seidler, Mitglied
des Direktoriums des Zentralrats der Juden in
Deutschland . Prof. Dr. Shimon Shetreet, Hebrew
University of Jerusalem, Israelisches Kabinettsmitglied von 1992 - 1996 . Dr. Max Stadler MdB
Max Warburg, M.M.Warburg & CO, Hamburg
Dr. Dieter Wiefelspütz, MdB . Rabbiner William
Wolff, Landesrabbiner von Mecklenburg-Vorpommern
Leo Baeck Werke – Sonderausgabe
Hrsg. von Albert H. Friedlander,
Bertold Klappert, Werner Licharz
und Michael A. Meyer
Walter Homolka und
Elias H. Füllenbach OP
Leo Baeck –
Eine Skizze seines Lebens
6 Bände mit insgesamt
ca. 2.865 Seiten / kartoniert
im Schuber
96 Seiten / zahlreiche
sw-Fotos / gebunden mit
Schutzumschlag
€ 198,00 (D) / € 203,60 (A) / SFr 313,00
ISBN-10: 3-579-08008-3 / ISBN-13: 978-3-579-08008-6
Preisgünstige Sonderausgabe
zum 50.Todestag von Leo Baeck
GÜTERSLOHER
VERLAGSHAUS
€ 15,95 (D) / € 16,40 (A) / SFr 29,10
ISBN-10: 3-579-06429-0/ISBN-13: 978-3-579-06429-1
Kescher
„Ich bin der Ewige,
Dein Gott, Du sollst“
LEO BAECK ZU EHREN: STUDIENTAGE DES ABRAHAM GEIGER KOLLEGS 2006
Am 2. November 1956 starb in London Rabbiner
Leo Baeck, einer der bedeutendsten Denker des
deutschsprachigen Judentums im 20. Jahrhundert. Sein intellektueller Rang, seine moralische
Integrität und sein hohes Ethos machen ihn bis
heute zum Vorbild. Baeck wird insbesondere für
sein beispielhaftes Auftreten während der nationalsozialistischen Verfolgung erst in Berlin und
dann in Theresienstadt, aber auch für seine versöhnliche Haltung gegenüber Nachkriegsdeutschland verehrt. Sein theologisches Werk
tritt dabei leicht in den Hintergrund. Leo Baeck
(1873 - 1956) hat nicht nur das „Wesen des Judentum“ in Abgrenzung zum Christentum definiert, sondern sich als liberaler Gemeinderabbiner und als Midrasch-Dozent an der Berliner
Hochschule für die Wissenschaft des Judentums
immer wieder mit Fragen jüdischer Existenz befasst, mit jüdischer Erziehung ebenso wie mit halachischen Details.
Das Abraham Geiger Kolleg lud bereits zu Baecks
Geburtstag am 23. Mai zu einer internationalen
Tagung in die Europäische Akademie in BerlinGrunewald ein. Mit Unterstützung der Leo Baeck
Foundation und des Bundesministeriums des
Inneren wurde vier Tage lang über Werk und
Wirkung des großen Rabbiners diskutiert, der
schon 1933 befunden hatte, dass die Geschichte
der Juden in Deutschland im Sinne eines kulturellen Miteinanders zu Ende wäre, von 1948 an
aber mehrfach die Bundesrepublik und die wieder erstehenden jüdische Gemeinschaft besuchte.
Baeck betonte auch nach der Katastrophe immer
wieder, dass hier jüdische Gemeinden bestehen
müssten, solange Juden in Deutschland leben
würden. Diese Gemeinden sollten so gut wie
möglich sein und dürften sich nicht von der jüdischen Welt draußen abgeschrieben betrachten.
„Die Idee bleibt, um in neuen Formen weiterzuwirken“, schreibt Baeck 1946. Bei den Berliner
Studientagen zum Thema Leo Baeck: Rabbinical
and Philosophical Approaches diskutierten Rabbiner und Historiker, Religionswissenschaftler
und Philosophiedozenten über Baecks Werk und
seine Impulse für unsere Zeit. Unter den
Tagungsteilnehmer fanden sich neben Mitgliedern der Allgemeinen Rabbinerkonferenz und
Studenten des AGKs auch Mitglieder der jüdischen Gemeinde zu Berlin, darunter Ernst Cramer.
Den Konferenzauftakt der Tagung mache ein
Vortrag des Baeck-Schülers Ernst Ludwig Ehrlich
(Basel): „Leo Baeck, der Mensch und sein Werk.“
13
„So wie Rabbi Abraham Geiger, nach dem dieses
Kolleg benannt ist, bezog Leo Baeck seine religiöse
Inspiration besonders von den hebräischen Propheten. Dem Juden, der sich an die prophetische Tradition hielt, so glaubte Baeck, ist es unmöglich, mit
dem Bösen Kompromisse zu schließen. Das göttliche
Gebot räumt ethischem Opportunismus keinen Platz
ein. Baecks Gott gebietet; sein Gott, so schrieb er,
gäbe keine Ratschläge. Der Jude ist immer zuerst
seinem Gott verantwortlich und erst danach seinen
Mitmenschen.“ Michael A. Meyer Foto © Margrit Schmidt
„Wir sind fortschrittliche, liberale Juden“, sagte
Baeck einmal,“ nicht um des liberalen Judentums
willen, sondern um des Judentums als einem großen
Ganzen willen. Liberales Judentum kann seine
Stärke nur inmitten des ganzen Judentums haben,
inmitten klal Jisrael. Wir wollen keine Partei sein,
keine große oder kleine, sondern eine Bewegung;
keine Sekte, sondern eine Kraft innerhalb des
Judentums. Das liberale Judentum sollte das lebendige Gewissen des Judentums sein. Aber wir müssen
auch immer wissen, dass der jüdische Standpunkt
erst durch die große Geschichte geworden ist, die
Geschichte der Offenbarung und des Geistes.
Judentum hat seine geschichtlichen Wurzeln, es ruht
auf der Tradition. […] Verständnis und Ehrfurcht
sollen das Wesen des Liberalen Judentums ausmachen. Jüdisches Lernen und das Wissen um den
Bund zwischen Israel und seinem Gott sind die beiden Aufgaben, die dem Judentum unserer Tage
gestellt sind.“ Ernst Ludwig Ehrlich
Foto © Marianne Dreyfus
Rabbiner Dr. Walter Homolka begrüßt
Professor Dr. Ernst Ludwig Ehrlich
Foto © Margrit Schmidt
14
Kescher
4. Jahrgang | Ausgabe 1
Dr. Eric Jacobson, Senior Lecturer an der
Roehampton University in London, sprach über
Baeck und die Frage „Was ist das Eigene?“.
An seiner Seite Professor Dr. Michael A. Meyer
(Cincinnati), Dr. Carsten Wilke (Düseldorf) und
Hella Schapiro (Berlin).
Rabbinerin Dr. Dalia S. Marx (Jerusalem) verglich in
ihrem Vortrag „Liturgy Composed on the Brink of
Catastrophe“ Leo Baecks Kol Nidre-Aufruf von 1935
mit einem Gebet von Rabbi Meir Ben Yitzhak von
1095. Rechts: Dr. Esther Seidel, Dozentin für
Jüdische Philosophie am AGK. Sie befasste sich mit
Baecks Überlegungen zu Offenbarung und
Individualität: „Ich bin, der ich bin. Du sollst!“.
Rabbiner Dr. Samuel K. Joseph (Mitte) schlug in seinem Vortrag „Contemporary Challenges to Liberal
Jewish Education in the Diaspora“ einen Bogen von
Baecks Wirken in unsere Gegenwart. Der Professor
für Jüdische Erziehung und Leadership Development
am Hebrew Union College war diesen Jahr als „2006
Walter Jacob Jubilee Fellow“ Gastdozent des AGKs
und zusammen mit seiner Ehefrau Dori in Berlin.
Shana tova - Happy New Year
American Friends of the Union of Progressive Jews in Germany, Austria, and Switzerland Supporting the Abraham Geiger College - A Rabbinic Seminary for Central and Eastern Europe
Walter Jacob, President, Pittsburgh, PA - Hanna Gruen, Secretary, Pittsburgh, PA - Mahnaz Harrison, Treasurer,
Pittsburgh, PA
Fae Asher, San Francisco, CA - Raphael Asher, Walnut Creek, CA - A. Stanley Dreyfus, New York, NY - Alfred
Gottschalk, Cincinnati, OH - Joshua Haberman, Washington, DC - Robert A. Jacobs, Havre de Grace, MD - Wolli
Kaelter, Long Beach, CA - Ralph P. Kingsley, Adventura, FL - Selene Letichevsky, Pittsburgh, PA - Peter Loewenberg,
Los Angeles, CA - Michael A. Meyer, Cincinbati, OH - Lore Metzger, Coconut Creek, FL - Ruth Nussbaum, Sherman Oaks,
CA - Elizabeth Petuchowski, Cincinnati, OH - W. Gunther Plaut, Toronto, ON, Canada - Herman Schaalman, Chicago, IL
15
„Die Pflicht und die Kraft
des Suchens“
LEO BAECK ÜBER DIE ROLLE DES
RABBINERS IN SEINER GEMEINDE
„Es ist eine bedeutungsvolle Stunde, in der hier
ein neuer Abschnitt in der Geschichte einer
Gemeinde, ein neuer Abschnitt im Leben eines
Mannes beginnt. Wohl in keinem Berufe und auf
keinem Platze wird durch die Verbindung des
Mannes mit dem Lebensgebiete seiner Arbeit so
sehr eine Schicksalsgemeinschaft geschaffen,
wie durch die Verbindung, welche diese Stunde
einleiten will. Das Schicksal des Rabbiners ist
seine Gemeinde, und ein Geschick der Gemeinde
wird ihr Rabbiner. Es ist eines Geschickesgemeinschaft, weil sie beide, Rabbiner und Gemeinde,
auf dem gleichen Boden stehen, nebeneinander
und nicht unter- oder übergeordnet und darum
ineinandergeordnet, füreinander verantwortlich.
Unsere Religion, wie sie in unseren Gemeinden
verwirklicht werden soll, kennt nicht den Unter–
schied zwischen Geistlichen und Laien, sie
gewährt niemandem eine höhere Stellung im
Gotteshaus. Stufen führen zur Kanzel hinauf,
doch sie führen nicht über die Gemeinde empor.
Der Rabiner steht nicht über der Gemeinde und
auch nicht neben ihr, sondern er steht in ihr. Es
ist das Ideal unserer Religion, daß - um mit den
Propheten zu sprechen - die ganze Gemeinde aus
Gottesgelehrten bestände, die Gemeinde gewissermaßen eine Gemeinde von Rabbinern.
Es st so das Ideal. Aber bis diese verheißenen,
diese paradiesischen Tage kommen, ist es das
Erfordernis, - hier, wie ja in anderem auch - dass
das, was alle sein und leisten sollen, sein besonderes Amt auch habe. Und in dieser Berufsbil–
dung liegt dann ei Problem, von dem diese
Stunde eindringlich zu dem Nachdenkenden
spricht, das Problem, welches darin gegeben ist,
dass leicht ein Zwiefaches geschehen könnte.
Zunächst, dass der Rabbiner sich als der Vertreter
der Religion fühlen könnte und nicht bloß als
der, der er sein soll, als den immer lernenden
Lehrer, als den durch das Lernen Lehrenden, dass
er wie von einem hohen Platze und darum mit
beruhigtem Herzen zur Gemeinde spräche und
sein Herz ihm nicht mehr in Sorgen und Fragen
pochte, dass er den Abstand zwischen Ideal und
Wirklichkeit nicht mehr ganz empfände. Und das
andere, das Problem für die Gemeinde, dass sie,
wenn ein Rabbiner in ihrer Mitte ist, nun meine,
dass die Sorge für die Religion erfüllt sei, weil
einer da sein, welcher den Aufgaben und Lehren
der Religion seine Tage widmen solle, dass das
Amt des einen allen den anderen ihre Pflicht
abnehme, diese Pflicht, Stunden der Andacht und
Weihe zu haben, diese Pflicht, die Offenbarung
der Daseinstiefen, die der Alltag überdeckt, zu
vernehmen.
Hiervon will diese Stunde sprechen. Sie will
daran mahnen, dass Gemeinde und Rabbiner
immer wieder einander finden, indem sie ihre
Aufgaben als eine gemeinsame begreifen. Dass
sie diese Gemeinsamkeit erkennen, um einander
zu finden. Das ist die Schicksalsgemeinschaft, in
der sie verbunden sind. Doppelt gilt dies - wenn
dieses Wort gesagt werden darf - in einer liberalen Gemeinde. In unserem Judentum ist immer
wieder die Pflicht und die Kraft des Suchen er–
fahren worden. Wir haben nie fertige Menschen
sein wollen, mit fertigen Antworten. Zumal in
dem Jahrhundert, das hinter uns liegt, in dem
unsere Gemeinschaft aus einer alten Enge in eine
neue Weite geführt worden ist, ist dieses Gebot
des Suchens eine Aufgabe geworden Und in der
Geschichte dieses Suchens hat der Liberalismus
und hat in ihm dieses Gemeinde den besonderen
Platz. Wir stehen hier auf historischem Boden.
Männer der Vorhur, Männer des Mutes zu neuen
Wegen haben diese Gemeinde geschaffen.
Neue Formen der alten Andacht
Wir wissen, wie tief wir mit dem Geschichtlichen
verwachsen sind. Wir wissen es, dass unsere
Jahrtausende mehr bedeuten als die Jahrzehnte.
Wir wissen es, dass wir diese Jahrtausende nicht
hingeben dürfen für die Jahre und Tage. Aber
gerade aus dieser Kraft der Verwurzeltheit in den
Jahrtausenden darf das Suchen erwachsen, das
Suchen insbesondere auch nach neuen Formen
der alten Andacht, nach neuer Gestaltung unseres alten Gottesdienstes, ein Suchen, wie es
durch diese Gemeinde geschichtliche Bedeutung
gewonnen hatte. Aber es ist doch so - und in
jeder Stunde, in der hiervon gesprochen wird, ist
auch das auszusprechen - es ist doch so, dass das
Wort „Liberalismus“ bisweilen einen ironischen
Klang gewinnt. Denn auch die Gleichgültigsten,
Fernsten und Fremdesten nennen sich, sofern sie
überhaupt etwas sein wollen, „Freisinnige“ und
„Liberale“. Aber das ist dann der Freisinn, der
mit Unfruchtbarkeit geschlagen ist, weil er
immer nur weiß, was er nicht glaubt, nicht tut
und nicht besitzen und nicht leisten will, aber
nie die stetige Kraft und die Treue verwirklicht,
die allein im „Ja“, in der Verwirklichung der
Ideale und der Pflichten sich offenbart und
dadurch allein sich zu bewähren vermag.
Es ist schwerer, weit schwerer, Rabbiner in einer
liberalen Gemeinde zu sein, als einer konservativ
gerichteten zuzugehören. Es ist viel schwieriger,
weil das Suchen meist schwieriger ist als das
ruhige Festhalten, die Frage an die Geschichte
und aus dem Geschichtlichen hervor meist
schwieriger als die Antwort aus der geschichtlichen Habe und aus dem Besitzesbewusstsein
heraus.
Schicksalsgemeinschaft in ganz besonderem
Sinne ist es daher, wenn hier heute Gemeinde
und Rabbiner den Bund miteiander schließen.
Ein neuer Abschnitt einer Geschichte,, der
Verwirklichung einer Aufgabe will beginnen. Ein
„Ja“ soll gesprochen sein in dem Willen zu schaffenden Suchen, zur opferfähigen Arbeit des
Weges, zu unserem lebendigen, starken Juden–
tum, zu der Thora und den Geboten, ein „Ja“, in
welchem Gemeinde und Rabbiner immer wieder
zueinander gelangen werden. Nicht von Verspre–
chungen und Verheißungen sollte darum diese
Stunde erfüllt sein. Nur Gott, der Ewige, darf verheißen, - er, der Ewige, weil er ewig ist. Für uns
vergängliche Menschen, für uns Wesen der kurzen Jahre bedeutet versprechen: beginnen, und
beginnen heißt schaffen, und schaffen heißt sich
einsetzen, sich selber hingeben. Eine Stunde solchen Beginnens und dadurch eine geschichtliche
soll diese Stunde sein. Möge darum diese Stunde
eine gesegnete sein! […]“
Aus: „Feier der Amtseinführumg des Herrn
Rabbiners Dr. Benno Italiener im Israelitischen
Tempel zu Hamburg am 8. Januar 1928“
Foto @ Bernd Neumann
16
4. Jahrgang | Ausgabe 1
A LETTER FROM AMERICA
Foto © HUC
An Out-Of-Touch
Chief Rabbinate
by Rabbi David Ellenson
Since its inception, the State of Israel has invested the Orthodox Chief Rabbinate with legal
authority over all matters of personal status for
Jews. The right to be married or divorced as a
Jew in Israel has been exclusively under the control of the Chief Rabbinate. While Reform and
Conservative converts to Judaism have had certain rights extended to them as Jews under the
secular Law of Return, the privilege of marriage
in Israel is not one of them because the Chief
Rabbinate has always refused to recognize conversion to Judaism conducted under nonOrthodox rabbinic auspices as legitimate.
Controversy has now flared up over the recent
decision of the Chief Rabbinate to expand this
policy by refusing to extend recognition of conversions conducted even under Orthodox auspices to all but a select few Orthodox rabbinical
courts in the United States. While the Orthodox
Rabbinical Council of America has responded
with alarm to this decision and has entered into
discussion with the Chief Rabbinate for a reversal
of this stance, the fervently Orthodox newspaper
The Jewish Press has hailed the decision of the
Chief Rabbinate as an attempt to establish a
“gold standard” for conversion. Some observers
might look upon this whole episode as nothing
more than another chapter in the history of
internecine struggles for hegemony within the
Orthodox world. After all, the stance of the Chief
Rabbinate towards persons converted by
Orthodox rabbis is hardly unprecedented in
modern Jewish history. Early in the 20th century,
Eastern and Central European Orthodox authorities ranging from Rabbis Nathan Widenfeld and
Chaim Ozer Gordzinski to Rabbi Dov Baer Kahana
Shapiro retroactively annulled the conversions of
a number of individuals converted to Judaism
under Orthodox rabbinical auspices. The rationale that supported this stance is reflected in a
ruling that Rabbi Moshe Feinstein issued in 1950
concerning the Jewish status of a woman converted under Orthodox auspices. Rabbi Feinstein
underscored the importance of classical Jewish
law attached to the demand that all converts to
Judaism affirm an “acceptance of the yoke of the
commandments.” This last requirement indicated
that conversion to Judaism meant that a gentile
who was formerly obligated to observe the Seven
Noahide Commandments (basic laws of morality
that Jewish tradition holds are incumbent upon
all human beings) alone was now required to
observe the 613 commandments imposed upon
every Jew. For Rabbi Feinstein, this last stricture
not only served as the sine qua non that defined
the authenticity of a conversion; it constituted
the sole substantive definition of conversion to
Judaism. Rabbi Feinstein therefore contended
that the non-observance of the mitzvot by this
woman subsequent to her conversion meant that
she was insincere when she orally pledged to
observe the commandments. Consequently, he
stated that she was not a convert at all and that
she remained a gentile. The fact that an
Orthodox rabbinical court had presided over the
conversion was irrelevant. Rather, what was crucial was a sincere acceptance of the “yoke of the
commandments” as demonstrated by adherence
to an Orthodox way of life. If the proselyte did
not behave accordingly, even if she were converted under Orthodox auspices, “her conversion
would be as nothing.” Rabbi Feinstein was unwilling to accept any other standard for conversion.
The stance Rabbi Feinstein adopted is surely a
defensible one from the viewpoint of Jewish law.
However, it is hardly the only one that is acceptable and it does reflect a stringent expansion of
Jewish law in an area where retroactive annulment of conversions has been rare. The predominant explanation for this stringent direction in
Jewish law can be found in a sociological judgment that reflects an embattled position that
Rabbi Feinstein and other rabbis felt they occupied as they struggled to preserve Judaism from
the forces of dissolution that they regarded as
threatening their view of Jewish tradition in the
modern world. Chaim Herzog, the late former
Israeli Chief Ashkenazi rabbi, articulated the
stance that motivated these men when he wrote,
“In our day Jews are sinners. To our sorrow, many
of these sinners among the people Israel are leaders of our community, even leaders of our nation. What therefore does it mean in an era such as
ours for a gentile to pledge that he or she
accepts the commandments of Judaism when so
many born Jews do not observe. All conversions
in our day fall in a category of doubt. Converts
threaten to destroy the vineyard of the Lord - the
household of Israel.” The recent decision of the
Israeli Chief Rabbinate to reject the acceptance
of conversions performed under Modern
Orthodox auspices - even if eventually reversed must be seen as a further episode in this line of
stringent fervently Orthodox response to the
modern situation. This pronouncement reflects
an ever-increasing polarity that exists between
the Chief Rabbinate and fervently Orthodox
Judaism on the one hand and the rest of the
Jewish world on the other. These rabbis feel they
must protect Judaism against the “ destructive
elements” these forces threaten to unleash, and
they must be vigilant against these uncommitted
Jews. Due to the central role that Israel occupies
in the life of world Jewry, such an increasingly
restrictive policy direction on the part of the
Chief Rabbinate constitutes more than an episode of Orthodox denominational infighting.
Rather, this decision publicizes a state-sanctioned rabbinate that is increasingly out of touch
with the broad diversity of Jewish life as it is
lived by millions of Jews worldwide today. The
Talmud teaches that a decree should not be issued for the community that a majority of Jews
cannot abide. The Chief Rabbinate has violated
this dictum and in issuing this decision has presented a portrait of a state-supported constricted Judaism to the rest of the world. This is a disservice to us all.
Rabbi David Ellenson is president of Hebrew Union
College-Jewish Institute of Religion.
Anzeige Dresdner
Kescher
18
Durch Wissen
zum Glauben
ABRAHAM GEIGER: BEGRÜNDER DER
RABBINERAUSBILDUNG IN DEUTSCHLAND
von Hartmut Bomhoff
Die Approbation („Smicha“) eines Lehrers und
Richters mit der Verleihung des Titels „Rabbi“
erfolgte in der jüdischen Tradition ursprünglich
durch Handauflegen: dadurch sollte der Schüler
zum Teil einer von der Offenbarung am Sinai
ununterbrochenen Traditionskette werden. Eine
Rabbinerordinierung im heutigen Sinne gibt es
erst seit der Institutionalisierung der Rabbinerausbildung Mitte des 19. Jahrhunderts, die im
wesentlichen auf den Appell Abraham Geigers
(1810-1874) zurückgeht, eine jüdisch-theologische Fakultät als „dringendes Bedürfnis unserer
Zeit“ einzurichten (1836). „Es hat sich Alles
mehr nach den einzelnen Individualitäten, nach
den Umständen gebildet“ beschrieb Geiger die
damalige Situation. Tatsächlich lebte das vormoderne jüdische Bildungskonzept, wonach das
Rabbinat keine Berufskarriere sein sollte, bis zu
Geigers Zeit fort. Seine Forderung nach einer verbindlich organisierten Verbindung von rabbinischen und akademischen Studien anstelle individueller und oft autodidaktischer Bildungswege
bedeutete ein Umdenken. Das talmudische
Studium stand traditionsgemäß entweder ganz
im Dienste der religiösen Praxis (lo ha-talmud
ha-iqar, ella ha-ma'asseh, „nicht die Theorie,
sondern die Praxis ist das Wesentliche“) oder war
Selbstzweck (torah lishemah), und wer einmal
zum Rabbiner ordiniert war, durfte im Sinne
einer Traditionskette selbst Rabbiner ausbilden
und diplomieren. Geiger selbst hatte sein Doktordiplom an der Universität Marburg erworben und
sein Rabbinerzeugnis vom dortigen Rabbiner
Moses Salomon Gosen erhalten.
Zu einer Zeit, nachdem die zyklisch reproduzierbaren Curricula der Talmudschüler an der herkömmlichen Jeschiwot nicht mehr genügten und
bevor die Seminare in Breslau und Berlin neue
anboten, lernten die jungen Rabbiner voneinander die verschiedenen Lösungen ihres Bildungsproblems. Es fehlte an einer Koordination der
Bildungsgänge und Denkweisen von Jeschiwa
und Universität: "Wenn doch einst ein jüdisches
Seminar an einer Universität errichtet würde, wo
Exegese, Homiletik und für jetzt noch Talmud und
jüdische Geschichte in echt religiösem Geiste
vorgetragen würde; es wäre die fruchtbarste und
belehrendste Anstalt!“, forderte Geiger deswegen noch als Student. 1835 legte er dann den
ersten Band seiner „Wissenschaftlichen Zeitschrift für jüdische Theologie“ vor, die er mit
dem Aufsatz „Das Judentum unserer Zeit und die
Bestrebungen in ihm“ eröffnet. Aufgabe sei es,
„das Überkommene mit den Anforderungen der
Gegenwart“ zu vereinen. Bereits in diesem ersten
Band gelangt er zur Auffassung von der Entwick-
4. Jahrgang | Ausgabe 1
lungsfähigkeit des Judentums. Im zweiten Band
veröffentlicht er seinen Aufsatz „Die Gründung
einer jüdisch-theologischen Facultät, ein dringendes Bedürfnis unserer Zeit“. Geiger konstatiert, dass die herkömmliche Ausbildung in Form
kritiklosen Talmudstudiums für die neue Zeit
unzureichend sei, es den Gemeinderabbinern
aber an Muße wie an zeitgenössischen Schriften
fehle, um sich Wissen „im Geiste der jetzigen
Bildung“ anzueignen; an den Universitäten wiederum werde angehenden Rabbinern nichts
geboten, was sie auf ihren Beruf vorbereiten
könnte.
Geigers Bereitschaft, alle Texte mittels wissenschaftlicher Methoden zu lesen, also auch die
Torah, unterscheidet ihn von konservativen Zeitgenossen wie Zacharias Frankel oder Samuel
David Luzzatto. Der liberale Geiger erkennt aber
bei aller Kritik an der Orthodoxie den Wert von
Tradition und befürwortet nur diejenigen Veränderungen, die den traditionellen Rahmen wahren. Er hält die Speisegesetze ein und wendet
sich gegen den Prediger der Reform-Gemeinde zu
Berlin, Samuel Holdheim, der meint, dass auch
unbeschnittene Juden als vollwertige Mitglieder
der jüdischen Gemeinschaft zu betrachten seien.
Anders als Holdheim auf der einen und die Austrittsorthodoxie auf der anderen Seite sieht
Geiger in seiner moderaten Haltung stets die
Chance, eine Spaltung des Judentums zu verhindern.
Abraham Geiger verspricht sich von seinem
Wechsel vom engen Wiesbaden, wo er seine erste
Anstellung als Gemeinderabbiner fand, in eine
Großstadt auch wesentliche Impulse für die
Etablierung des liberalen Judentums. Am 28.
August 1837 schreibt er an Joseph Dernburg: „Es
fehlt uns ein Rabbiner in einer großen Gemeinde
mit großer persönlicher Würde und imponirender
Energie, der den intelligenten Theil der Gemeinde für sich zu gewinnen weiß und mit diesem nun
ohne Furcht Massen über den Haufen stürzt.“
Aber auch in Breslau wird Geigers Hoffnung auf
die Errichtung einer jüdisch-theologischen
Fakultät enttäuscht. Zunächst wird sein Gesuch
um einen Lehrstuhl für Jüdische Literatur an der
Philosophischen Fakultät in Breslau im Februar
1850 abgelehnt. 1854 wird das konservative
Jüdisch-Theologische Seminar unter der Leitung
von Zacharias Frankel (1801 - 1875) eröffnet. Die
konservativen Nachlassverwalter und Kuratoren
ziehen aber Geigers Kandidatur für eine leitende
Position am neu zu gründenden Seminar gar
nicht erst in Betracht, und er muss in der Breslauer Zeitung lesen, dass der Dresdner Rabbiner
Kescher
19
Foto © Margrit Schmidt
Preußen“ vom 23. Juli 1847 auch die Stellung der
Synagogengemeinden, die nun staatskirchenrechtlich anerkannt werden, neu geregelt. Mit
dem neuen Parochialzwang und der neuen Verwaltungsstruktur stehen ab 1856 Orthodoxie und
liberales Judentum innerhalb der IsraelitenGemeinde zu Breslau gleichberechtigt nebeneinander. Abraham Geiger hat so Anteil an der Ausformung der Einheitsgemeinde, die als Ortsgemeinde unter einem administrativen Dach unabhängige Kultusverbände mit eigenen Rabbinaten
und Institutionen vereint.
Foto © Stiftung Stadtmuseum Berlin
Dr. Frankel für die Anstaltsleitung gewonnen
worden ist: für Geiger „ein wirklich tiefer
Schmerz, den der Betroffene während seiner
Breslauer Tätigkeit niemals verwand“, wie sein
Sohn schreibt. Im selben Jahr erstellt Geiger das
erste wirklich liberale Gebetbuch, das der Auffassung der nichtorthodoxen Mehrheit entspricht
und in seinen Neuerungen moderat genug ist, um
für fünfundachtzig Jahre zur Grundlage aller
künftigen Siddurim zu werden, einschließlich
des so genannten Einheitsgebetbuchs von 1929.
Für Geiger klärt sich in Breslau sein Verhältnis
zur Reformbewegung. Er lehnt den Ruf der neu
gegründeten Berliner „Genossenschaft für
Reform im Judenthum“, ihr Prediger zu werden,
ab und erklärt auch mit Blick auf die Forderungen
der Breslauer Reformfreunde, dass er unter jeder
Bedingung auch nur den Schein einer Spaltung
der Gemeinde vermeiden will und sich nicht dazu
entschließen kann, als Rabbiner eines Teils zu
erscheinen; er plädiert für eine Einbindung aller
in die bestehende Gemeinde, nicht für die
Schaffung eigener Strukturen. Auftrag des liberalen Judentums ist es laut Geiger, die Glaubensgemeinschaft von den letzten Resten einer
Volksgemeinschaft loszulösen und zur sittlichen
Vernunftreligion zu machen Er wird so zum Fürsprecher einer Fortentwicklung des Judentums:
für Reformen der Gebräuche bei Wahrung des
historischen Kerns. Er verwahrt sich aber gegen
Abbau und Liquidation und ist der schärfste
Gegner des 1842 in Frankfurt am Main gegründeten „Reformvereins“ radikaler Laien. Erneuerung
bedeutet für Geiger „nicht also jenes blindes
reformatorische Treiben, durch welches das
Äußere vielleicht aufgestutzt wird, das Innere
kalt und leer bleibt, sondern das Bemühen, aus
dem Judentum heraus die Judenheit neu und
frisch belebt zu gestalten.“ Während seiner
Breslauer Amtszeit wird mit dem „Gesetz über
die Verhältnisse der Juden im Königreich
Abraham Geiger nimmt schließlich einen Ruf
nach Berlin unter Vorbehalt an. Nach wie vor
fehlt es an einer Ausbildungsstätte für Rabbiner
und Gelehrte im liberalen Geist, als Rabbiner
Joseph Aub im Oktober 1868 in der Neuen Synagoge in Berlin eine Gedenkrede zum hundertsten
Geburtstag von Israel Jacobson hält: „Heute an
dem Tage des Gedächtnisses unseres Jacobson
lasset uns den Entschluß fassen, in ernster und
warmer Theilnahme und Hingebung die Mittelaufzubringen zur Erhaltung unseres LehrerSeminars und zur Gründung einer theologischen
Pflanzschule.“ Erst nach Ende des deutsch-französischen Kriegs erfüllt sich schließlich Abraham
Geigers Lebenstraum: die Kommission zur Beratung der Lehrerwahlen tritt am 29. November
1871 an ihn heran und lädt ihn zur Mitwirkung an
der geplanten Lehranstalt ein. Am 8. Mai 1872
eröffnet die Hochschule für die Wissenschaft
dank des Engagements von Moritz Lazarus und
eines Legats von Bankier Moritz Meyer ihre
Pforten und wird so zur ersten zentralen Einrichtung des liberalen Judentums weltweit.
Geiger, der als einer der vier Dozenten zum
ersten Rektor bestimmt worden war, hält bei der
von Musikdirektor Louis Lewandowski geleiteten
Einweihungsfeier den Festvortrag. Zehn Studenten sind in der Matrikel eingetragen, und die
Vorlesungen beginnen im Haus an der Spandauer
Brücke 8. Abraham Geiger stirbt am 23. Oktober
1874 in seiner Wohnung in der Rosenthaler
Straße 40 an den Folgen eines Hirnschlags, kurz
vor Beginn seines sechsten Semesters an seiner
Hochschule, für das er bereits eine Vorlesung
über „Stellung, Lehrinhalt und Aufgabe des
Judentums in der Gegenwart“ angekündigt
hatte. Was das Ziel aller seiner Bemühungen war,
hat Geiger ein gutes Jahr vor seinem Tod formuliert: „Die Gleichberechtigung des Judentums
mit den anderen Konfessionen.“
Aus: Hartmut Bomhoff: Abraham Geiger, Durch
Wissen zum Glauben, Jüdische Miniaturen, Band
45, Verlag Hentrich & Hentrich, Teetz 2006
„Die Welt ist zu klug geworden, als dass ihr der
bloße Name der Juden gehässig sein sollte. Man
ist darin einstimmig, dass Türken, Juden, Heiden
usw. als Menschen anzusehen sind, so bald sie
nur gegen ihre Nebenmenschen rechtschaffen
handeln“ (E. Veitel Ephraim)
Lernen & Lehren
EPHRAIM-VEITEL-DOZENTUR FÜR
HOMILETIK AM ABRAHAM GEIGER KOLLEG
EINGERICHTET
Zu Ehren des Abraham Geiger-Preisträgers 2006
haben wir aus Mitteln der Ephraim-Veitel-Stiftung von 1803 eine Dozentur für Homiletik eingerichtet, die den Namen ihres Stifters tragen
soll. Mit der Wahrnehmung der Lehre ist Prof. Dr.
Heinz-Günther Schöttler, Professor für Predigtlehre an der Universität Bamberg, betraut worden.
Der Berliner Hofjuwelier und Philantroph
Ephraim Veitel Ephraim (1729 - 1803), ein früher
Vertreter der jüdischen Emanzipation, bestimmte
1795 in seinem Testament 33.333,- Taler für eine
wohltätige Stiftung. Die Ephraim-Veitel-Stiftung
von 1803 ist wahrscheinlich die älteste und vielleicht sogar einzige jüdische Stiftung in Deutschland, die trotz der Verfolgung jüdischer Institutionen im Dritten Reich bestehen blieb. Während
des Nationalsozialismus kam der - inzwischen
schon stark reduzierte - Kapitalertrag der auf
staatlichen Druck in „Stiftung von 1803“ umbenannten Einrichtung nichtjüdischen Bürgern zu
Gute, insbesondere „jungen Leuten in Ausbildung“. Inzwischen trägt die Stiftung wieder den
Namen ihres Gründers und engagiert sich in seinem Sinne.
Ziel der Stiftung nach ihrer erneuerten Satzung
ist es, „Bestrebungen und Vorhaben, die der
Verständigung und dem Zusammenleben von
Menschen jüdischer und anderer Konfession dienen“ zu unterstützen. „Dazu ist die Dozentur für
Homiletik, gehalten von einem katholischen
Professor an einem jüdischen Kolleg zur Ausbildung von Rabbinern, hervorragend geeignet“,
betonte die Bonner Rechtsanwältin Juliane
Doose (Foto li.) als Stiftungsvertreterin.
20
Kescher
4. Jahrgang | Ausgabe 1
Zur Belebung des
jüdischen Gottesdienstes
von Abraham Geiger (1860)
Im Jahre 1849 arbeitete Abraham Geiger für die
Gemeinde Breslau eine Programmschrift Grundzüge und Plan zu einem neuen Gebetbuche aus,
die er elf Jahre später unter dem Titel Notwendigkeit und Maß einer Reform des jüdischen
Gottesdienstes. Ein Wort zur Verständigung einem
weiteren Leserkreis zugänglich machte. Aus dieser Abhandlung geben wir einige Auszüge allgemeineren Inhalts wieder, beginnend mit dem
Schluß des Vorwortes, das am 13. September
1860 verfaßt wurde:
„In mir selbst hat sich auch seit der Zeit nichts
geändert; die tiefe Überzeugung von der Notwendigkeit eines entschiedenen, aber auf historischer Grundlage verbleibenden Fort–schritts
hat sich in mir nur befestigt. Die trübe Zeit hat
meine Entschiedenheit nicht gebrochen, das reifere Alter den Jugendmut nicht gelähmt, aber
auch der Fortschritt in wissenschaftlicher
Erkenntnis meine innige Anhänglichkeit an dem
ganzen reichen Entwicklungsgang des Juden–
tums, an allen Erzeugnissen der vergangenen
Jahrhunderte nicht geschwächt. Und so hoffe
ich, dass, was in mir zu einer befriedigenden
Verschmelzung und Innigkeit sich eint, auch in
die Gesamtheit als lebendige Überzeugung eindringe zur gemeinsamen Verherrlichung des einzigen Gottes. Das Bedürfnis, dem Gottesdienst nicht bloß
äußerlich eine ansprechende Gestalt zu geben,
sondern auch seinen Inhalt mit den jüdischen
Anschauungen der Gegenwart in Einklang zu
bringen, wächst von Tag zu Tag. Unser Gottes–
dienst ist - legen wir das Geständnis ab, so traurig es auch klingen mag - zum großen Teil
unwahr oder zu einem gedankenlosen Werkdienst
geworden. Die Gedanken und Gefühle, welche in
den Gebeten niedergelegt sind, finden bei den
meisten nicht denjenigen Anklang, welcher allein
die Weihe und den segenspendenden Einfluß des
Gebetes bedingt. Die Sprache, in welcher der
Gottesdienst abgehalten wird, verstehen die meisten Besucher des Gotteshauses nicht mehr, eine
oft zu lange Zeitdauer desselben ertötet die
Andacht derer, welche ihm vollständig beiwohnen, während sie den größten Teil veranlasst, das
Gotteshaus früher zu verlassen, und noch andere
Übelstände, welche, aus den Verhältnissen des
Lebens herrühren, tragen immer mehr zur
Verödung des Gotteshauses bei. Die ästhetische
Form und die Predigt können, trotzdem dass
ihnen allgemein die erbauende Kraft zuerkannt
wird, diesem Übel nicht ganz abhelfen. Es müssen umfassendere Mittel angewendet werden.
Dennoch wird die Heilung der Gebrechen nicht in
einer vollständigen Neugestaltung gesucht werden dürfen. Die Kraft der religiösen Lebensäußerung liegt nicht bloß in dem individuellen
Gefühl, sondern vorzüglich in dem lebendigen
Zusammenhang des Einzelnen mit einer auf gleicher Grundlage stehenden Gesamtheit, in dem
festen Anhalt an einer großen, erinnerungsreichen Vergangenheit, und in der Freudigkeit, mit
der aus solch einer Vergangenheit in eine frische
Zukunft hinübergeleitet wird. Jede einzelne jüdische Gemeinde ist ein Glied der gesamten
Judenheit, sie muß in ihren Einrichtungen das
Ganze in sich darstellen, wenn auch mit einzelnen, ihrer Individualität angemessenen
Nüancierungen; eine jede Zeit im Verlaufe des
Judentums bildet ein Moment in der Geschichte
desselben, und die Gegenwart kann sich ebenso
wenig von der Vergangenheit gänzlich losreißen
wie das einzelne Glied von dem ganzen jüdischen
Körper, ohne Schaden ans sich selbst u leiden.
Ein solches Wurzeln in der Vergangenheit ist
nicht die Macht der toten Gewohnheit, es ist die
Wirkung der lebendigen Idee, welche gleichmäßig alle Zeiten mit ihrem Saft durchströmt,
und wenn sie zu verschiedenartigen Entwicklungen führt, doch nicht eine voreilige Verletzung
ihrer Bildungen gestattet. Wenn auf irgendeinem
Gebiet, so ist namentlich auf dem religiösen das
Verfahren der Reform allein segenbringend, die
Revolution nur geeignet, allen Lebenskräften ein
gefährliches Siechtum beizubringen.
Wohl hat sich auch auf dem jüdisch-religiösen
Gebiet die traurige Erfahrung wiederholt, dass
die Reform zur Zeit, das sie genügt hatte, verweigert und dadurch um ihren friedlich veredelnden
Einfluß gebracht worden ist, so dass die
Gegenwart zu einer plötzlichen, unruhigen
Umgestaltung gedrängt wird; wohl kann daher
die jüdisch-religiöse Reform nicht jenen ruhigen,
gleichmäßigen Schritt wandern, der befestigt,
ohne zu erschüttern, der Befriedigung bringt,
ohne zu verletzen. Die jüdisch-religiöse Reform
muß - sie kann nicht anders, wenn sie einer
Entwicklung sich erfreuen will - mit der vollsten
Energie sich erfüllen, sie muß sich darauf gefasst
machen, dass Zögernde und Bedenkliche,
Beschränkte und bloße Gewohnheitsmenschen
sich von ihr lossagen, und sie muß es der Allgewalt des Lebens überlassen, diese erst später
zu ihr zurückzuführen. Dennoch aber und gerade
deshalb muß sie mit der größten Umsicht die
vorzunehmenden Schritte erwägen und dem
Drang der Gegenwart nicht die Verbindung mit
der Vergangenheit, den individuellen Empfindungen nicht den Zusammenhang mit der
Gesamtheit opfern.
Die Reform der Geschichte
Eine solche Reform ist keine Halbheit, wie man
so gerne alles das benennt, was nicht einseitig
einem beliebig aufgestellten Grundsatz huldigt
und alles Widerstrebende ohne Erbarmen beseitigt. Es ist die vielmehr die Reform der Geschichte, der wir alle als Organ dienen; schöpfend aus
der Vergangenheit, spenden wir Nahrung der
Zukunft, bereiten wir uns vor zum schöneren
Ziel, an den überkommenen Gütern uns erfreuend, erhöhen wir ihren Wert für die Gegenwart.
Ich verkenne nicht die schwierige Aufgabe, welche ein Wirken in diesem Sinne auferlegt; es
setzt die Innigkeit des religiösen Gefühls, die
Herrschaft der religiösen Idee und zugleich den
wirklich engen Zusammenhang mit der Geschichte des Judentums voraus. Aber sollten jene ganz
verkommen, die Klänge aus dieser ganz verklungen sein? Was die edelste Blüte nicht nur des
menschlichen Herzens, sondern auch des
menschlichen Geistes isz, kann nicht verwelkt
sein. Die Geschichte des Judentums ist so
lebensfrisch, sie hat so viele Setzlinge und
Sprösslinge auch im gegenwärtigen Leben, dass
sie, von dem Geröll gereinigt, ihre Macht nicht
eingebüßt haben kann.
Es ist unbestreitbar, dass die Überfüllung unseres
Gottesdienstes mit Gebeten, welche teils ein
schnelles Wegsprechen derselben, teils eine sehr
lange Dauer des Gottesdienstes zur Folge hat,
hauptsächlich zur Entfernung der Andacht aus
21
dem Gotteshause mitwirkt. Die Beseitigung der
ihrem Inhalt nach ungeeigneten Gebete und
Gebetstücke, so wie die Abkürzung anderer im
Ausdruck werden allerdings das Maß verringern,
aber noch immer nicht in dem wünschenswerten
Grade. Zur Befriedigung des unabweislichen
Gebotes, die Zeitdauer auf das angemessene Maß
zurückzuführen, bietet uns jedoch die Heilung
eines anderen eingeschlichenen Übelstandes das
geeignetste Mittel. Man hat nämlich die Wieder–
holung desselben Gebetstückes in demselben
Gottesdienst nicht gescheut und nicht bedacht,
dass so kurz hintereinander sich wiederholende
Aussprüche mit gleichen Worten unmöglich den
andächtigen Eindruck beim Betenden oder
Hörenden erzeugen können, dass sie vielmehr
nur ermüden und aus Kernsprüchen
Gewohnheitsformeln machen.
Bei dem Verlesen des Abschnittes aus der Thora
spricht ein jeder der dazu Gerufenen diesselben
Lobsprüche beim Hinzutreten und beim Abtreten, diese werden daher mindesten drei-, häufig
achtmal wiederholt, während in der alten zeit
bloß derjenige, welcher uerst aufgerufen wurde,
den Spruch nach dem Verlesen rezitierte
(Mischna Megilla IV, 1 und 2). Das eine Sünden–
bekenntnis am Versöhnungstage wird neunmal,
das andere gar elfmal an einem und demselben
Tage gesprochen; das Gefühl der Reue wird
dadurch nicht geweckt, vielmehr ertötet. Solche
ermüdenden Wiederholungen müssen notwendig
entfernt werden. Aber auch außerdem hat man
sich nicht erschöpfen können in der Aufnahme an
sich schöner Bibelstellen, die aber nicht in ununterbrochener Aufeinanderfolge rasch hergesprochen, sondern in zeitweiliger Abwechslung mit
Bedacht erwogen, ihre erbauliche Kraft zu
bewähren imstande sind. Ist es möglich, diese
ganze Masse nur mit einiger Andacht zu begleiten? Ein einzelnes Stück, das mit den anderen
abwechselte, mit Ruhe und Würde vorgetragen,
ist imstande, fromme Empfindungen zu wecken;
ale zusammen, sich überstürzend, ertöten eine
jede Empfänglichkeit des Gemüts. Überall, bei
jedem Anfang, jedem Schluß, jeder scheinbaren
Pause, sind ganze Psalmen oder einzelne Psalmen eingefügt worden, wohl in guter Absicht,
aber mit sehr geringer Einsicht. Bei dem Gebet
ist das Zuviel gefährlicher als das Zuwenig; in das
Wenige legt der Betende seine ganze fromme
Empfindung, sollte sie auch nicht ihren vollen
Ausdruck in den ihm entgegengebrachten Worten
finden, das Übermaß verwirrt ihn und stumpft
ihn ab. Durch die vorzunehmenden Abkürzungen
wird nicht bloß das rechte Maß erreicht, sondern
es lässt sich auch eine heilsame Mannigfaltigkeit
bewirken, indem mit diesen Bibelstücken abgewechselt, den einen Sabbat dieses, den andern
jenes vorgetragen wird.
Noch ein Moment des Gottesdienstes, welches an
sich als belehrendes von großer Wichtigkeit ist,
ist gleichfalls durch das gefährliche Übermaß nur
übermüdend und geisttötend geworden; es ist
dies der Vortrag aus der Thora. Bereits ist durch
die Einrichtung des dreijährigen Zyklus eine
angemessenere Verteilung bewirkt, doch ist auch
diese Umgestaltung noch nicht ganz ausreichend. Auch für die Festtage müssen die Ab–
schnitte verkürzt werden; sie enthalten gewöhnlich neben dem, was sich auf das bestimmte Fest
bezieht, vieles nicht mit dem Tag in Verbindung
Stehende, was daher auszuscheiden ist. Dadurch
wird die Zeitdauer verkürzt, und der Gottesdienst
gewinnt an Abrundung. Wir würden nimmer zu
einer wohlgerundeten Gestaltung desselben
gelangen, wenn wir nicht den Mut und den Willen
haben, das Störende mit fester Hand zu entfernen. Über die Form des Gottesdienstes ist im
Ganzen wenig zu sagen, die gehörige Erwägung
des Einzelnen unter Zuziehung von Sachverständigen mit Berücksichtigung der der Gemeinde zu
Gebote stehenden Mittel ist hier entscheidend.
Im allgemeinen lässt sich nur als Grundsatz aufstellen, dass den Regeln der Kunst entsprechende Choralgesänge mit einfachen Gesängen, bei
welchen die ganze Gemeinde sich beteiligt,
womöglich mit Orgelbegleitung, Rezitative von
seiten des Vorbeters, deutsche vom Rabbiner vorzutragende Gebete mit Responsorien, bei denen
die Gemeinde mit tätig ist, und stillen Gebeten
abzuwechseln haben.
Die Festtage werden sicherlich, wenn sie in
immer würdigerer Weise gefeiert werden, einen
großen Teil der Gemeinde im Gotteshaus versammeln, aber den Sabbaten traue ich diese Kraft
nicht zu, es wird immer ein verhältnismäßig kleiner Teil bleiben, der dem öffentlichen Gottes–
dienst beiwohnt, selbst wenn dieser allen
Bedürfnissen zu entsprechen geeignet ist. Hier
ist es besonders, wo der Reform das verhängnisvolle „Zu spät!“ zugerufen wird. Hätte man in
dem von uns vorangegangenen Zeitalter mehr die
Anforderungen des Geistes und des Herzens
beachtet und sich nicht an das Überlebte mit verschlossenen Augen angeklammert, hätte man
den Denkenden den Gottesdienst nicht ganz
gleichgültig gemacht, ja verleidet, es würde vielleicht der Zug des Herzens mächtig genug gewesen sein, dass man sich totz manchem Hindernis
der Teilnahme am Gottesdienst dieser Tage nicht
entschlagen hätte. Nun hat der Strom des Lebens
die Dämme überflutet. Keine Klage und kein
Tadel wird es vermögen, ihn wieder in sein altes
Bett zurückzuführen; die Erwachsenen ergeben
sich dem Geschäftsverkehr, die Jugend besucht
die Lehranstalten, und das Gotteshaus muß sich
auf einen kleinen festen kreis und zufällige
Besucher beschränken. Ich bin weit entfernt,
diese Tatsche zum Nachteil des Sabbats und seines Gottesdienstes gebrauchen zu wollen; noch
immer lebt er nicht bloß in der Geschichte des
Judentums, sondern hat auch seine mächtigen
Wurzeln in der Gegenwart, und mag er auch nicht
mehr der früheren Beachtung sich erfreuen, so
ist es darum doch nicht wohlgetan, ihn der ihm
gebliebenen Weihe zu entkleiden.
Die sprachliche Einrichtung bietet offenbar den
schwierigsten Punkt in der ganzen neuen
Behandlungsweise des öffentlichen Gottesdien–
stes und wird wahrscheinlich am wenigsten
geeignet sein, die volle Befriedigung der verschiedenen Richtungen zu erwirken. Hier ist aber
besonders die Anforderung berechtigt, dass ein
jeder etwas von seinen Gewohnheiten und
Lieblingswünschen der Förderung des Ganzen
zum Opfer bringe. Mögen die einen bedenken,
dass es ihre Pflicht ist, dahin mitzuwirken, dass
das Gotteshaus der Jugend nicht ganz verschlossen bleibe, und die anderen, dass sie das ältere
Geschlecht nicht aus demselben vertreiben.“
Foto © Bernd Neumann
22
Kescher
4. Jahrgang | Ausgabe 1
ZUM 100. GEBUR T S TAG VON ROBER T RAPHAEL GEIS
Die Stellung des Rabbiners
in der Gemeinde
von Robert Raphael Geis (München 1932)
Haben die letzten Jahre das Gesicht unserer
Gemeinde ganz wesentlich verändert, stärker
noch macht sich der Wandel der Zeit beim
Rabbiner, seinen Aufgaben und seiner Stellung in
der Gemeinde bemerkbar. Wie weit ist doch der
Weg vom alten Raw, der als Richter und Lehrer
sein Amt versah, über den „Kauscherwächter“
der jüdischen Aufklärungszeit und den am christlichen Theologen orientierten jüdischen Geist–
lichen bis zum Rabbiner unserer Tage, wieviel
Hoffnung auf Anpassung und Angleichung,
Glaube an das Ende alten Judenschicksals wirkten da bestimmend mit und erwiesen sich als
„trügerische Hoffnung“?
Der Rabbiner steht heute mitten im Gemeindeleben. Einmal wohl, weil man alles leid, das
einem widerfahren ist, als jüdisches leid empfindet, die vielen fragen, die sich einem aufdrängen
und für die man keine Lösung weiß, als jüdische
Fragen einem bewusst werden, und man in dem
Rabbiner den jüdischen Menschen sucht - oft
einen schwere Belastungsprobe für den Träger
dieses Amtes. Zum andern, weil keiner heute Zeit
für seine Mitmenschen hat, jeder mit seinen
Nöten vollauf beschäftigt ist, und man einen
Menschen sucht, der sich nicht versagt, der
bereit ist zum Hören, und das ist so selten geworden, dass es häufig von Menschen schon verwechselt wird mit Helfen. So gibt es kein Gebiet
des Lebens mehr, auf dem nicht der Rabbiner
beratend oder entscheidend zum Eingreifen veranlaßt wird: Handle es sich um Auswanderung
oder Berufswahl, um Wirtschaftsberatung oder
Schiedsgerichte, um rein menschliche Dinge oder
um Fragen, die an das Gebiet des Nervenarztes
grenzen. Es versteht sich von selbst, dem
Rabbiner fehlen sehr häufig die notwendigen
wissensmäßigen Voraussetzungen, er muß also
in ständiger Fühlung mit den Leitern der der
Wohlfahrtsarbeit, mit Wirtschaftsberatern,
Juristen und Ärzten sein. Bei einer so weitreichenden Ausdehnung der Arbeitsgebiete wird
natürlich der Rabbiner als Prediger und Kasualredner mehr in den Hintergrund treten. Aber das
bleibt gar nicht allein eine Frage des Zeitmangels, sondern der gewichtigeren Frage nach
dem Sinn der predigthaften Rede. Die Zeiten, da
der Rabbiner als Prediger den letzten meist
höchst notdürftigen Zusammenhalt zwischen
jüdischen Menschen und jüdischer Gemeinschaft
herstellte, sind vorbei. Das alte Judenschicksal,
das wieder über uns gekommen ist, hat da mehr
vermocht als die besten Kanzelreden. Und das
Reden des Rabbiners ist heute nur noch insoweit
sinnvoll, als es zum Lernen bereit macht oder
schon wieder Lernen ist. Freilich verspüren wir
gerade hier die Schwere der Rückkehr und, wie
problematisch das Lernen von entwurzelten und
sorgenvollen Menschen ist. Trotzdem verliert die
Forderung nach Lernvorträgen und Schrifterklärungen anstelle von Predigten nicht an
Bedeutung, und sie wird wohl am ehesten verstanden werden und müsste eigentlich gestützt
werden durch junge Menschen.
Damit berühren wir das problematischste
Arbeitsgebiet des Rabbiners: die Jugendarbeit.
Man hat das Schlagwort des Jugendrabbiners zu
einer Zeit geprägt, da das Fiasko in der Jugendarbeit schon deutlich für den, der sehen wollte,
zu erkennen war. Schuld daran trägt nicht nur die
areligiöse Haltung der Mehrheit unserer Jugend,
bestimmt durch die höchst dürftige Beziehung
von Rabbiner und Jugend durch die Tatsache,
dass alles menschliche Mühen und Wirken nicht
mehr von Mensch zu Mensch geht, sondern eine
Angelegenheit von Kollektiven geworden ist, und
die Jugend-Bünde eine kollektivistische Gemeinschaft darstellen, die mit der Gemeinde, deren
Vertreter der Rabbiner bis heute geblieben ist,
sehr wenig gemein hat. Eine Annäherung ist
nicht möglich durch jugendliches Sichgebären,
sondern allein auf der Ebene gemeinsamen
Lernens, wozu die jüdische Schule neue Mög–
lichkeiten bieten könnte. Freilich dürfte der
Rabbiner dann über den vielen Aufgaben, die ihm
gestellt werden, die wichtigste Forderung, die
auch heute noch für ihn gilt, nicht vergessen: das
Lernen. Nur aus dem Lernen kann ihm jene
Sicherheit und Autorität werden, deren er für die
ständige menschliche Inanspruchnahme bedarf,
nur durch intensives Sichversenken in vergangenen Zeiten unserer Geschichte die Geduld zum
gläubigen Warten in der Wirrnis unseres Judenlebens; nur so kann er auf Dauer seiner wichtigsten und schwierigsten Aufgabe gerecht werden:
Lehrer zu sein.
Die Stellung des Rabbiners in der Gemeinde ist
wieder so umfassend geworden, dass man versucht wäre, von dem Wiedererwachen einer jüdischen Einheit, die keinen Lebensbezirk außer
acht lässt, alles und alle umfaßt, zu sprechen.
Wir dürfen uns nicht täuschen. Auch hier - wie
bei so vielem - haben wir es nicht mit einer wirklichen Umkehr, sondern mit einer menschlichen
Not und Ausweglosigkeit zu tun. Es liegt nicht
nur an dem Rabbiner, aber doch gerade angesichts der Gemeinden in Deutschland recht entscheidend bei ihm, ob aus Not wirkliche Gemein–
schaft werde, aus einer Flucht in die jüdische
Gemeinde ein Neuaufbau alter jüdischer Werte.
Nachgelassenenes Manuskript, um 1932, aus:
Dietrich Goldschmidt (Hrsg.): Leiden an der
Unerlöstheit der Welt. Robert Raphael Geis 19061972, München 1984.
Foto © Susanne Geis
Kescher
„A New Chapter in German
Jewish History“
ANSPRACHE ZUR AKADEMISCHEN
ABSCHLUSSFEIER
23
Kescher
24
4. Jahrgang | Ausgabe 1
„Intellectually Rigorous, Scholary,
And Open”
ANSPRACHE ZUR AKADEMISCHEN ABSCHLUSSFEIER
by the Reverend Rabbi and Right Honourable
Baroness Neuberger D.B.E.
Foto © Her Majesty's Stationery Office
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
Ich fühle mich tief bewegt und geehrt bei diesem
historischen Ereignis anwesend zu sein. Es ist ein
durchaus historisches Ereignis. Denn bis zum
heutigen Tag sind keine Rabbiner in Deutschland
ordiniert worden - seit mehr als sechzig Jahren.
Heute feiern wir eine Errungenschaft die bis vor
Kurzem noch unvorstellbar war: den erfolgreichen Aufbau eines neuen Rabbinerseminars in
Deutschland , and die Ordination der ersten, von
diesem Kolleg ausgebildeten Rabbiner in Anwesenheit wichtigster Vertreter eines neuen, liberalen Deutschland. Dies ist eine schillernde neue
Stufe in der Entwicklung eines neuen, und neu
fruchtbaren deutschen Judentums.
Diese Feier ist für mich um so bewegender, weil
sie auch eine ganz persönliche Bedeutung hat.
Hierzu verrate ich Ihnen etwas zu meiner Person:
ich mag Mitglied des britischen Oberhaus sein,
bin aber eigentlich von Seiten meiner beiden
Eltern deutsch-jüdischer Abstammung. Meine
Großeltern väterlicherseits stammten aus Frankfurt am Main - sie kennen ja alle den Spruch: Wie
kann ein Jud NICHT aus Frankfurt sein - und sie
gehörten beiden Flügeln der dortigen Orthodoxie
an. Der Austrittsgemeinde gegründet von Samson Raphael Hirsch, der mit seiner Touro im
Derech Eretz die ganze deutsche Orthodoxie bis
zur Vernichtung prägte, und andererseits der
hauptsächlich orthodoxen Einheitsgemeinde.
Dass ihre Enkeltochter die zweite Liberale Rabbinerin in Europa wurde, beweist, wie unberechenbar der Umgang Gottes mit seinen menschlichen Geschöpfen ist. Diese Frankfurter Großeltern sind schon im Jahre l906, kurz nach ihrer
Heirat, nach England ausgewandert, wo mein
Großvater bei einem Onkel arbeitete, der eine
Londoner Filiale der Bank seiner Familie gründete.
Obwohl keine Rothschilds, waren meine Vorfahren Frankfurter Bankiers. Als Kind hat mein
Vater, mit Nachnamen Schwab, beinahe all seine
Sommerferien bei seinen Großeltern in Frankfurt
verbracht. Viele seiner Verwandten, auch seine
Großmutter mütterlicherseits, sind dann wäh-
rend der Judenvernichtung umgekommen. Meine
Mutter ist 1937 aus Deutschland ausgewandert ohne Schulabschluss - und hatte eine Einreiseerlaubnis nach England nur als Dienstmädchen.
Dennoch ist es ihr gelungen, ihren Bruder ein
Jahr später nach England nachzuholen. Ein nichtjüdischer Lehrer ihres Bruders hatte sie in England angerufen, um ihr zu sagen, es wäre höchste
Zeit, ihren Bruder zu retten. Nur drei Tage vor
Ausbruch des Zweiten Weltkriegs sind schließlich
ihre Eltern ebenfalls in England angekommen,
nachdem meine Mutter mit Müh und Not das
nötige Geld von Freunden und Bekannten gesammelt hatte, Geld das hinterlegt werden musste,
als so genannte Garantie für ihre Eltern.
Als kleines Kind habe ich Schwäbisch mit meinen
Großeltern mütterlicherseits gesprochen. Ich
beherrsche die deutsche Sprache leider nicht
genügend, um Sie und mich, weiter damit zu
quälen, und werde das, was ich heute zu sagen
habe, auf Englisch vorbringen. Trotzdem fühle ich
mich noch immer sehr Deutsch. Und ich betrachte Teile von Süddeutschland immer noch irgendwie als meine Heimat.
When my mother was dying, five years ago, hav–
ing only been back to Heilbronn am Neckar once
since the War, she kept talking about going
home. “Mummy, you are home…” I said, as she
lay dying in her apartment in London. “Ach, no”,
she said, “I mean home, I mean Heilbronn.” She
may have left it 64 years earlier, but it was still
home. And as her school friends came one by one
in her last years to see her from Heilbronn, and
as she recalled the great kindnesses done for her
parents after they had left, she felt homesick.
For, quite unlike the norm, all her father's friends
who had been with him in prisoner of war camp
in France in the First World War had gone into
their apartment, packed everything up, and sent
it to England. After my grandparents had settled
in London, in temporary accommodation, they
were surprised to receive package after package,
large container of furniture after large container
of furniture, well after the start of the war, all
sent by grandfather's old friends and drinking
companions. No Nazis, these men, but old friends
who were appalled by the turn of events, and
remained friends of my grandparents until the
end of their lives.
So I feel quite German, though born and bred in
London. As someone who feels distinctly that I
am, in some sense, a German Jew, there can be
no greater pleasure than to see this rebirth of
Jewish life, this reaffirmation of Germany as
home to one of the world's significant Jewish
communities. It cannot be like it was before- of
course it cannot.
But we have here a college, born out of the
Enlightenment, born out of the German reform
movement, strongly affected by the scientific
study of Judaism, the Wissenschaft des
Judentums' movement- newly established, here
with its first rabbis graduating today and being
ordained tomorrow. The whole non-orthodox
movement in Judaism has its origins here in
Germany. Though it is at its peak in the United
States, Reform, Liberal and Conservative Judaism
have made great inroads in other parts of the
Jewish world, Britain, France, now Italy, Argentina, Brazil, Switzerland, Denmark, and now the
former Soviet Union and increasingly in Germany.
It was in Germany that the great phrase “Deutsche Bürger Jüdischen Glaubens” was first invented. It was the emphasis on being German citizens of the Jewish faith that led to the idea that
modern Reform congregations would use that
title- the synagogue where I grew up in London
is the West London Synagogue of British Jews …
Judaism, more than a faith, became equated with
faith. This was the contrast, almost the counter
attack, to those Jews who converted to Christianity in the late eighteenth and early nineteenth
centuries here in Germany to achieve their education and preferment in whatever field of endeavour they had chosen. The list is endless, but
Heinrich Heine is always cited as the epitome of
that, not to mention Felix Mendelssohn's father,
and I could carry on and on about these people
…
It was, of course, Moses Mendelssohn, grandfather of the composer, who had first thought Jews
should read the Bible in German and not in
Hebrew. It was of course Moses Mendelssohn who
Kescher
25
Foto © Margrit Schmidt
began that great process of the Jewish enlightenment here in Germany, translating the
Hebrew Bible into German, arguing for a new and
different approach to faith. It was that thinking,
that opening of closed doors, pulling back the
shutters, opening the curtains, letting in the
light, that led to that most creative period of all,
the one which people describe as the period of
German Jewish symbiosis, when scholarship,
both secular and religious, met, where art, literature, music and the cultural life in general flourished, German and Jewish, the one inspiring the
other- from the novels of Lion Feuchtwanger, my
forebear, to the scholarship of Gerschon Scholem.
From the philosophy of Walter Benjamin to the
great art history of Aby Warburg, Ernst Gombrich,
Fritz Saxl and Gertrude Bing. From the educational achievements of Kurt Hahn at Salem to the
extraordinary art of Lyonel Feininger or Max
Liebermann, Herman Struck and Ludwig Meidner,
to name but a few. And the list goes on and on.
There was something about the German Jewish
symbiosis which allowed talent to flourish, and a
certain form of scholarship to be established.
And then it ended, abruptly. But now we have a
new college, with its superb faculty. We have
keen students, who will serve in Germany, Central Europe and the FSU. Perhaps we will once
again see that extraordinary German Jewish symbiosis. Perhaps once again, with these new rabbis, this rebirth, we will see talent spring forth
and a capacity for cultural and intellectual endeavour to find a modus vivendi with a religious life
that is not orthodox, but is demanding. Perhaps
this time those of great talent will not simply
rebel against the strictures of orthodoxy of a narrow variety, but will come to an accommodation
with their Jewish tradition. The Judaism they
will be offered by those trained here at Abraham
Geiger College will be intellectually rigorous,
scholarly, and open. Their cultural life will perhaps be influenced by their Judaism, or even, if
we are fortunate, suffused with it. It is too early
to say... let us only recognise that this is a new
beginning, with a new generation of rabbis to
serve the new Germany and the FSU. They carry a
distinguished history, and they inherit that
German Jewish symbiosis that flowered so amazingly in the century before the last war. Can
they - in their way- reinvent it? Can they - in
their turn - make Germany's Jews great again,
and can they encourage a particular kind of
thought and experiment and excitement? The
early signs are promising.
So we need to think about what these new rabbis
will need to function in the modern world, here
in Germany, in Central Europe, in the FSU, or further afield.
First, they must be scholarly. Germany produced
some of the greatest rabbinic scholars before the
war. Amongst our own non-orthodox colleagues
there were towering figures such as John Rayner,
formerly Hans Rahmer, and the revered Ignaz
Maybaum. Scholarship- being able to stand firm
by knowing both the traditional way to read and
interpret the texts and by applying modern scholarly techniques to them, as my revered teacher
Rabbi Dr Louis Jacobs, who passed away earlier
this year, did - is essential. The modern rabbi
must know what she or he is talking about, and
must have one area of scholarly expertise at the
very least.
But that would not be enough. They also need to
have an understanding of other faiths. Here in
Germany they need to be able to work with people of other faiths, with Christians of all denominations, with Muslims in a growing Muslim community. They cannot be lazy about this, or disinterested- in the new Germany, no rabbi can possibly ignore the requests for a Jewish presence,
or in any way fail to explain, speak, be a representative, encourage, comfort and otherwise be
a mover and shaker in the interfaith world. Like
the late lamented Rabbi Dr Albert Friedlander,
like Rabbis Nathan Peter Levinson and Henry
Brandt, they need to make their interfaith work a
key part of what they do. They need to know
something of other faiths, as much as they need
to talk about Judaism, and they need to be prepared to engage with other people of different
faiths with a level of intensity and excitement
that brings insight to all involved.
But that is not enough. The modern rabbi needs
to add to that the capacity to each about Judaism
more widely. Not exactly interfaith, but speaking
on the radio, teaching in schools and colleges,
being an exponent of Jewish teaching and Jewish
values far wider than the Jewish community itself. There is a hunger 'out there' for a sense of
values, for a sense of spirituality. In Germany
particularly, where the Nazi past recedes ever
more rapidly into the distance, there is a desire
to hear from Jews. In Germany particularly, in
large parts of which there have been no Jews for
70 years or more, these new rabbis have an enormous representative role to play. These new rabbis have to teach Judaism within their communities. But they will also need to teach beyond
their communities, generalising where they can,
firm in their values, and explain to the wider
community who they are and what they stand for.
It is not an unusual thing to ask. In the United
Kingdom, Rabbi Lionel Blue has been a leading
radio personality over many years, cultivating
Jewish humour as a way into Jewish learning and
understanding. The late lamented Rabbi Hugo
Gryn was equally loved as a radio personality,
and others are joining them in explaining, representing, and rejoicing in their Judaism.
But the rabbi is not usually facing outwards. Any
rabbi worth his or her salt also has to build up
his or her congregation. And here, in Germany,
building up congregations when so many of the
members are émigrés from the FSU, knowing little about their Jewish roots, is a major task. It is
painstaking, tough work. Teaching, encouraging,
enthusing, building communities that are
vibrant and fun, where people rejoice in their
Judaism and learn much. It is hard work, and my
colleague and friend Rabbi Willy Wolff is carrying
it out in Rostock and Schwerin in north eastern
Germany, giving new communities a chance to
rebuild German Jewish life, but speaking
Russian, though German born, for the community
are all from the FSU. Yet it is growing, it has a
chance.
In the UK there are many examples, but one that
stands out is Rabbi Andrew Goldstein, in
26
Kescher
4. Jahrgang | Ausgabe 1
Foto © Margrit Schmidt
Northwood & Pinner. He started there as a student rabbi. His son is now his rabbinic colleague
there, and a tiny community has grown to be one
of London's largest and most significant, nonorthodox congregations. That's the model we
should look to. They are scholarly, enthusiastic,
welcoming, have a key role in the wider community, and they all feel, under that inspirational
rabbinic leadership, that everyone has a part to
play, some work to do, some more to learn.
Without that community building, there can be
no community. And the modern rabbi has to
learn how to do it - by charisma, of course, but
also by sheer hard work. And a part of that is
learning to be a real communal rabbi, the pastor,
who is with his community in the bad times as
well as the good. German Jewry had an extraordinary example of that in Rabbi Dr Leo Baeck, who
stood by his community and went with them to
the concentration camp. No-one is expecting
that - but a willingness to be there, to bring
comfort, to support, to enthuse, is the very minimum a modern rabbi will need.
And then there is the rabbi as politician, playing
a variety of roles. Here in Germany it lies partly
in talking about Jews, Judaism, and sometimes
Israel in the wider community. Israel and the
Middle East has led many rabbis to a form of politics they perhaps did not want to get into. In my
own country, Rabbi David Goldberg is a known
critic - though by no means always - of Israeli
attitudes and politics. He speaks and writes
publicly, against what many Jews in the community want him to say. But that is the other rabbinic political role- to be true to oneself and one's
principles, often Jewish principles. And the politics can also be about other matters- racism, for
instance, or discrimination against any particular group. Rabbis for Human Rights have stood up
for the Roma as well as for the Palestinians.
Political rabbis fight the cause of the oppressed
wherever they are, citing the Exodus from Egypt,
from oppression to freedom, as their reason for
campaigning as they do. And no modern rabbi
can neglect those skills, or the need - sometimes
- to be seen to be publicly involved in such a
campaign.
And then there's the tough, often dull business
of being the manager, running, organising, the
congregation. Often the only full time employee,
the young rabbi finds he has to do everythingfrom painting the walls to running the religion
school, from choosing the music to representing
the Jews of his town at some interfaith service.
The rabbi has to be a manager - of people, of
time, of energy. He has to work out how to make
a congregation work, and how much help he or
she needs. It is no easy task, and rabbinic training rarely prepares you for it. The rabbi has to
make everything work, and enthuse others to
help, and then manage what they do. It's a key
skill, poorly recognised, because it seems such a
small part of a rabbi's life.
And then lastly there is the role that everyone
expects a rabbi to play, the role of spiritual leader. In an increasingly secular world, for most of
us, the rabbi is seen as someone who holds timeless values, whose insight into the life of the soul
is profound, whose understanding of the spiritual life is great. And yet many young rabbis will
not really have an understanding of what is
meant by all this. It is the years of experience
working with the sick and the dying, the years of
experience managing a difficult congregation
and suddenly getting an insight into something
above and beyond, that really gives one the spiritual awareness. You cannot teach spirituality.
You can only learn to feel it. And in everything
else our young rabbis are going to have to do,
with that long list of what they will need to be,
spiritual leader is the hardest. For that spirituality is hard to define and even harder to pass on.
It comes by example, by moments of insight.
Those who knew Rabbi Dr Leo Baeck always say
that one had a sense of the spiritual in being
near him. Those who have been in the same room
as Nelson Mandela say the same. You feel touched, as if a hand has stroked you and made you
come alive. Most of our young rabbis cannot do
that. But they can give their communities the
chance to think like that and experience the spiritual. They can give people times of quiet, of
meditation. They can show them the spirituality
that comes of doing good deeds for others in the
community. They can show the insights they
acquire in their pastoral work. And that is the
most we can ask of them. For our new rabbis are
to be spiritual leaders, scholars, managers, politicians, teachers, enthusers, interfaith activists,
pastors, and community builders. We ask an
enormous amount. The amazing thing is that we
will get most of it, and we will grow to be proud
of a new generation of German rabbis, scholarly,
committed, building the new German Jewry, the
new Russian Jewry, the new eastern European
Jewry. Multi tasking, multi talented, and very
very committed.
What a great privilege it is for us to see them
take on this role here in Dresden. That role is
greater, more challenging, and more demanding
of their personal resources in intellect and character than it has ever been in Jewish history. We
ask of them that from today they pioneer a new
chapter in German Jewish history, a chapter that
will enrich the entire world Jewish community,
and also strengthen and enrich the already
vibrant liberal, integrated multicultural society
that is the new Germany. It is an awesome task,
and for it we humbly ask God's blessing upon
them and upon all of us who are pledged to support them. May they have the strength and courage to face what they are taking on, and may
they, and we, be blessed in the work they will
undoubted carry out for all of us.
Sehr geehrte Damen und Herren, ich bedanke mich
sehr herzlich für ihre gütige Aufmerksamkeit.
Kescher
27
„Erneuerung und
Versöhnung“
GRUßWORT VON RABBINER DR. ALFRED GOTTSCHALK
Demütig und mit besonderer Freude nehmen wir
an dieser historischen und tief bewegenden
Zeremonie teil. Es ist ein aufregender Moment in
dem das liberale Judentum eine Erneuerung
erfährt durch die Verleihung der Smicha, der
Weihe, einer neuen Generation von Rabbinern.
Dieses Ereignis ist ein Teil jenes Lebenselixiers,
das unseren Glauben auch in den schmerzhaftesten Momenten unserer Geschichte am Leben
erhalten hat.
denten des Hebrew Union College-Jewish-Institutes of Religion zu überbringen. Rabbiner Professor David Ellenson, ein Gelehrter der sich der
Herausforderung der Moderne für die traditionelle deutsch-jüdische Gemeinschaft widmet, empfahl, dass ich als Rektor und als ehemaliger Präsident des Hebrew Union College-Jewish-Institute of Religion anlässlich dieses historischen
Moments sein persönliches “Mazal tov“ sowie das
unserer Institutionen überbringen sollte.
schen religiösen Lebens. Einerseits sollte es
Juden erlaubt sein, an der Moderne teilzuhaben,
andererseits musste der Apostasie Einhalt geboten werden. Die Hauptaufgabe der Graduierten
des Geiger-Kollegs scheint heute darin zu liegen,
die deutschen juden zu erziehen oder umzuerziehen im Sinne der grundlegenden Normen des
jüdischen Glaubens und zwar im Kontext des aus
den Flammen entrissenen und wiedergeborenen
Volkes, „muzal mi'esh“.
In ihrem schrecklichen Ausmaß hat die Schoa die
bedeutende aschkenasische Gemeinde zerstört.
Durch diese Vernichtung wurden Institutionen,
die das jüdische Leben gefördert hatten, ausgelöscht. Eine dieser Institutionen war die
bedeutende Hochschule für die Wissenschaft des
Judentums. Sie ist wiedergeboren im heutigen
Geiger Kolleg und auf diese Weise wird an den
Geist der vergangenen Hochschule angeknüpft.
Es werden wieder Rabbiner und Gelehrte für eine
ebenso wiedergeborene jüdische Gemeinde ausgebildet, die nicht nur auf eine bedeutende
Geschichte zurückblickt, sondern ihren Blick
auch auf eine viel versprechende Zukunft richtet.
Als jemand, der 1939 aus Deutschland geflohen
ist und als Zeuge des Horrors der Kristallnacht,
fühle ich eine besondere Verbindung zu diesem
bedeutenden Versuch der Erneuerung und Versöhnung und füge meine eigenen Glückwünsche
denen von Rabbi Ellenson an. Ich hatte das Privileg, an dieser großartigen Fakultät zu studieren,
und noch als Student am Hebrew Union College
war ich Hörer bei Rabbiner Dr. Leo Baeck. Sein
Text behandelte „W'ohavto l'reachoh k'mocha“,
„Du Sollst Deinen Nächsten lieben wie Dich
selbst.“ Ich werde seine kurze, aber kraftvolle
Predigt nie vergessen. Er hatte viel zu sagen,
jedoch ohne Bitterkeit und Ärger. Trotz all dem,
was er durchlitten hatte, zeigte er ausschließlich
Liebe und Besorgtheit.
Das heutige jüdische Volk mit seiner multi-ethnischen Ausprägung von Glaubenssätzen,
Gebräuchen und Traditionen stellt eine große
Herausforderung dar. Denken wir daran, dass
Israel existiert, an seinen stetigen Einfluss auf
uns zeitgenössische Juden. Es stellt uns vor die
permanente Aufgabe, unsere besten religiösen,
ethischen und politischen Erfahrungen zu integrieren. Rabbiner werden über das „Wesen des
Judentums“ weiterdiskutieren. Was für eine
großartige Möglichkeit, die unseren neuen
Rabbinern gegeben wurde, unsere herrliche religiöse Tradition zu lehren und zu erweitern, sei es
im Speziellen oder universalistisch. Abraham
Geiger lehrte - und wir rückversichern uns heute
in seinem Geiste, - dass Israel „am segulah“ist das einzige Volk, ausgestattet mit einem
Geschenk. Durch die Religion wird es zum passenden Instrument, um das Menschliche und das
Göttliche zu vereinen. Aber dieses besondere
Geschenk, das Gott dem Volk israel gegeben hat,
bedeutet auch eine Verpflichtung, solange die
Welt nicht am Ende der Tage, „acharit ha'yamim“,
angelangt ist.
Erinnern wir uns an Rabbi Yochanan Ben Zakkai,
der kurz vor Jerusalems Zerstörung die römischen Eroberer um einen scheinbar bescheidenen
Gefallen bat: „Ten li Yavneh w'Chakmecha“. „Gebt
mir Yavneh - die Yeshiva - und ihre Gelehrten.
Verschont sie!” flehte er. Rom willigte aus eigennützigen Motiven ein. Yavneh und seine
Gelehrten bewahrten die jüdische Lehre und
gaben sie an die damals bestehenden jüdischen
Gemeinschaften weiter. Die Yeshiva gab das
Heilmittel jüdischen Lebens, die Torah, von einer
Generation an die nächste weiter. Ich bete
darum, dass das Geiger Kolleg und seine Gelehrten, Rabbiner und Lehrer, diese Yavneh weiterführen und in ihren Studenten eine Leidenschaft
und Liebe für die jüdische Lehre und den Dienst
am jüdischen Volk erwecken werden.
Ich empfinde es als eine persönliche Ehre und ich
bin stolz darauf, heute hier zu sein, um die Glückwünsche der Gemeinschaft aus Lehrern und Stu-
An den Präsidenten des Geiger-Kollegs, Rabbiner
Dr. Walter Jacob, ein von mir hoch geschätzter
großer Erbauer, ein besonderer Kollege und
Freund, an den Direktor, Rabbiner Dr. Walter
Homolka, einem brillanten Verwalter der Fakultät, an Direktorium, Senat und Kuratorium, an
alle diejenigen, die die Idee des Geiger-Kollegs
haben Wirklichkeit werden lassen, ist ein herzlicher Dank gerichtet! Es war ein schwieriger Weg
und eine große Herausforderung das GeigerKolleg bis zu diesem Punkt zu bringen - zu diesem besonderen Moment in seiner noch jungen
Geschichte. Abraham Geiger hätte dieser neuen
Aufgabe ausdrücklich entsprochen, da er in seiner Zeit das Judentum im Geist von Ben Zakkai
umgestaltete.
In Geigers Zeit kreisten die Schlüsselfragen um
eine notwendig gewordenen Reform des jüdi-
Geiger lehrte uns, dass das Christentum und der
Islam, abgesehen von grundlegenden Differenzen, viel Wesentliches aus dem Judentum in sich
aufgenommen haben. Trotzdem bleibt die Notwendigkeit eines prophetischen Israels bestehen. Israels Aufgabe besteht darin der Welt die
Doktrin vom puren Monotheismus zu predigen
mithilfe einer Gemeinde von Gläubigen, die die
Einheit Gottes preisen und die Einheit der ganzen
menschlichen Familie.
Foto © Margrit Schmidt
28
Kescher
4. Jahrgang | Ausgabe 1
„Ze Hayom Assa Adonai Nagila
w’nissmecha wo“
DIES IST DER TAG, DEN GOTT UNS ZUM
FEIERN GESCHAFFEN HAT!
Dr. Tomás Kucera (36) hat sein Studium der
Biochemie in Tschechien und Deutschland mit
Promotion abgeschlossen. Nach einem Forschungsaufenthalt in den USA ging er für zwei
Jahre an das Pardes Institut in Jerusalem. 2002
wurde er am Abraham Geiger Kolleg angenommen und kam zum Wintersemester 2003/2004
nach Berlin. Seit den Hohen Feiertagen 2005 hat
er eine halbe Stelle in der Liberalen Jüdischen
Gemeinde Beth Shalom in München inne. Zuvor
war er bereits in Göttingen, Hameln und Hannover tätig gewesen. Seine wissenschaftliche Abschlussarbeit am Abraham Geiger Kolleg befasst
sich mit „Abortion in the Jewish Sources“.
Anfang November wird er in sein Amt als Rabbiner der Liberalen Jüdischen Gemeinde Beth
Shalom in München eingeführt. Daneben wird er
künftig auch regelmässig in Prag tätig sein.
Daniel Alter (47) hatte bereits Jüdische Studien
an der Hochschule für Jüdische Studien in
Heidelberg studiert und diese Ausbildung mit
einem M.A. abgeschlossen, als er im Wintersemester 200172002 sein Studium am Abraham
Geiger Kolleg aufnahm. Im Juni 2005 hat er seinen obligatorischen Israelaufenthalt mit einem
Studienjahr am Pardes Institut in Jerusalem
beendet. Seither arbeitete er als Rabbinerstudent in den Jüdischen Gemeinden Delmenhorst und Oldenburg. Thema seiner wissenschaftlichen Abschlussarbeit ist „Tsa'ar Baalei Chajim Das Verbot der Grausamkeit zu Tieren“. Am 17.
September wurde Daniel Alter in Oldenburg in
sein Amt als Rabbiner eingeführt. Der gebürtige
Nürnberger ist zusammen mit seiner Ehefrau
Hannah und den beiden Töchtern von Berlin nach
Norddeutschland umgezogen.
Malcolm Matitiani (38) absolvierte nach der
Hochschulreife in Kapstadt das „Mechinah“Programm an der Hebräischen Universität in
Jerusalem. An der University of South Africa studierte er von 1993 bis 1996 Judaistik und
Hebräisch. Sein Studium schloss er mit einem
B.A. ab. Darauf folgte ein B.A. Honours in
Hebräischer Bibel und im Fach „Dead Sea Scrolls“
an der University of Cape Town sowie der M.A. in
Jüdischen Studien. Am Abraham Geiger Kolleg
wurde er im Wintersemester 2001/2002 zugelassen. Seine Praktika absolvierte er an der
Manchester Reform Synagogue (GB) sowie der
Northwood & Pinner Liberal Synagogue (GB). In
seiner wissenschaftlichen Abschlussarbeit hat
sich Malcolm Matitiani mit „The Rabbinic
Attitude to Intermarriage as Reflected in
Midrashic Literature“ auseinandergesetzt. Er
wird nun nach seiner Ordination vom Februar
2007 an als Rabbiner der tausend Familien
zählenden liberalen Gemeinde Temple of Israel in
Kapstadt amtieren.
Fotos © Ralf Bäcker | Zentralrat
Buchempfehlung
JÜDISCHE KUNST UND KULTUR
VON EDWARD VAN VOOLEN
Dieses reich illustrierte Buch beleuchtet den
jüdischen Beitrag zu den bildenden Künsten der
letzten 2000 Jahre. Jedes Bild erzählt eine faszinierende Geschichte über eine der ältesten Kulturen der Welt. Bilder und Texte geben dem Leser
einen einzigartigen Einblick in ein vielseitiges
und lebendiges Judentum, das unterschiedlichsten Themen oftmals mit frischem Humor begegnet. Entgegen der weit verbreiteten Ansicht, dass
den Juden die bildliche Darstellung biblischer
Szenen verboten sei, haben sie immer wieder
Kunstwerke für sakrale und weltliche Zwecke
geschaffen. Historische Wandgemälde, mittelal-
terliche Manuskripte und moderne Kunstwerke
sind aufschlussreiche Zeugen dieser von und für
Juden geschaffenen Kunst. Das Buch geht auf die
Suche nach den jüdischen Aspekten der Werke
bekannter Künstler wie Chagall, Modigliani,
Pissarro, Barnett Newman oder Richard Serra und
präsentiert diese im Kontext ihrer jüdischen
Herkunft von einer völlig neuen, überraschenden
Seite.
192 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag, 139
farbige Abbildungen, 30 x 24 cm.
ISBN: 3-7913-3653-3 | EUR 49.95
Kescher
29
Rektor der Universität
Potsdam geehrt
PROFESSOR DR. WOLFGANG LOSCHELDER
WIRD EHRENSENATOR
Foto © Margrit Schmidt
Der 1940 in Rom geborene Verwaltungsrechtler,
zu dessen Forschungsschwerpunkten das Öffentliche Dienstrecht und das Staatskirchenrecht
zählen, wurde am 13. September anlässlich der
Rabbinerordination in Dresden ausgezeichnet.
Professor Dr. Loschelder ist Mitglied des Stiftungsrates der Leo Baeck Foundation, der Trägerstiftung des Abraham Geiger Kollegs. In den
Jahren von 1999 bis 2006 hat er wesentlich dazu
beigetragen, dass sich die Zusammenarbeit zwischen unserem Rabbinerseminar und der Universität Potsdam zu einem erfolgreichen Modell entwickelte. Sichtbare Zeichen dafür sind der Kooperationsvertrag vom 23. November 2002 und die
Integration des Kollegs als An-Institut am 18.
November 2004. Bisherige Ehrensenatoren des
Abraham Geiger Kollegs sind Rabbiner Dr. W.
Gunter Plaut (Toronto), Prof. Dr. Paul MendesFlohr (Jerusalem), Prof. Dr. Ernst Ludwig Ehrlich
(Basel) und der 2005 verstorbene Rabbiner Dr.
John D. Rayner C.B.E..
30
Kescher
4. Jahrgang | Ausgabe 1
„So singet uns von Zions Sang!“
KLEINE GESCHICHTE DER SYNAGOGALMUSIK
„Wenn die Geschichte des Judentums einstens in
späteren Tagen all die Namen ihrer verdienten
Glaubensmitglieder verzeichnet, so wird in goldenen Lettern auch hell und rein erstrahlen der
Name Louis Lewandowski.“ Auch wenn sich die
Vorhersage des früheren Berliner Oberkantors
Aron Friedmann (1855 - 1936) nicht erfüllt hat:
die mehrstimmigen hebräischen Gebetsgesänge
für Orgel, Solisten und Chor, die Louis Lewan–
dowski (1821 - 1894) geschaffen hat, sind heute
in aller Welt verbreitet. Der Name dieses Kompo–
nisten mag vielen unbekannt sein, doch seine
Melodie zum „Ma towu“, also zu jenen biblischen
Versen, mit denen der tägliche und der
Schabbatgottesdienst beginnen, ist wohl allen
vertraut und hat längst auch in orthodoxen
Kreisen Einzug gehalten.
Die Synagogalmusik, für deren Erneuerung der
Name Lewandowski steht, hat ihre Wurzeln in
den liturgischen Gesängen der Leviten im
Jerusalemer Tempel; ein Nachhall ihrer Vortrags–
weise findet sich in den Tropen der Toralesung
wieder, aber auch in den gregorianischen
Gesängen und um christlichen Gebetsrezitativ.
Bis ins 19. Jahrhundert hinein wurde die psalmodierende, melismatische Vortragsweise, in der
der Chasan als Vorbeter seiner Gemeinde den
Gottesdienst gestaltete, in der Regel nur mündlich weitergegeben. In der Spätantike und im
Mittelalter finden sich somit kaum Hinweise auf
die religiöse Poesie, die in den Synagogen gesungen wurde. Einer der wenigen uns namentlich
bekannten Sänger war der syrisch-jüdische
Dichter Romanos, auch „Melodos“, der in der
zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts unserer
Zeitrechnung über tausend Lieder verfasst haben
soll, die auf Bibelversen beruhten. In den jüdischen Gemeinden, die im Mittelalter auf der iberischen Halbinsel bestanden, wurden die Pijutim
- so die hebräische Bezeichnungen für diese poetischen Einschaltungen in die Liturgie - oftmals
zu arabischen Versmaßen und Melodien gesungen. Diese Gesänge müssen auch unter Christen
so beliebt gewesen sein, dass es Priestern und
Studenten von der Kirche untersagt wurde, sich
in jüdischer Lehre und jüdischem Singen unterrichten zu lassen; einer der bedeutendsten jüdischen Gelehrten seiner Zeit, Jehuda HeChassid,
verbot wiederum seinen Glaubensgenossen, den
Christen hebräische Melodien beizubringen oder
ditionellen Melodien, die er in der Alten Synagoge in der Heidereuthergasse vorfand oder von
aus dem Osten zugewanderten Chasanim übernahm, im klassischen Stil nieder und führte
dabei eine freie Orgelbegleitung ein. Seine
Bearbeitungen für Chöre weisen Parallelen zu
den Oratorien und Chorwerken von Felix
Mendelssohn-Bartholdy auf und trugen ihm bald
die Bezeichnung „Mendelssohn der Synagogalmusik“ ein. Lewandowskis Hauptwerke sind Kol
Rina Utefilla (1871), Toda Wesimra für vier
Solisten und Orgel (1876 - 1882) sowie 18
Gottesdienst-Psalme für Kantor, Chor und Orgel letztere hatte der Königlich Preußische
Musikdirektor kurioserweise „Sr. Majestät dem
Könige von Bayern Ludwig II. in tiefster
Ehrfurcht zugeeignet“.
sich deren Gesänge anzueignen. Das früheste
Fragment eines hebräischen Pijut, das uns überliefert ist, stammt von einem normannischen
Edelmann aus Apulien, Jean Drocos, der 1102
zum Judentum übergetreten war, fortan „Obadya
ha-Ger“ hieß und sich in Bagdad niederließ.
Seine Melodie weist Anklänge an gregorianische
Gesänge und an die orientalische Mikrotonik auf.
Der erste Jude, der sich in der europäischen
Musikgeschichte einen Namen als Komponist
machte, war jedoch Salomone Rossi Ebreo (ca,
1570 - 1630), der Gründer der herzoglichen
Hofkapelle von Mantua. In seinen ganz dem italienischen Zeitgeist verpflichteten religiösen
Gesängen wollte er „die Lieder König Davids nach
allen Regeln der musikalischen Kunst verherrlichen und ausschmücken.“
Salomone Rossi, der die synagogale Tradition mit
dem Musikgeschmack seiner Epoche verband, ist
in vielfacher Weise mit den beiden großen Erneuerern der Synagogalmusik des 19. Jahrhunderts
verwandt, mit Salomon Sulzer und Louis Lewan–
dowski. Sulzer (1804 - 1891) war als Kantor der
beuen Synagoge von Wien der erste, der die bislang eindimensionalen Gesänge mit Regeln von
Tonsatz und Kadenz, Harmonik und Kontrapunkt
verband und erweiterte. Sein Ziel war es, jüdische Tradition mit zeitgenössischen Formen zu
verbinden; dabei setzte er sich der heftigen
Kritik altfrommer osteuropäischer Juden aus.
Lewandowski führte Sulzers Werk, namentlich
sein „Shir Zion“, in Berlin fort. Er schrieb die tra-
Die Reform der Synagogalmusik ging in Europa
im Zuge der Aufklärung mit der Erneuerung des
jüdischen Gottesdienstes sowie mit neuen
Formen der Synagogalarchitektur einher. Das
Bedürfnis nach mehr Erbauung und nach einer
Ästhetisierung des Gottesdienstes, das zunächst
im Königreich Westfalen, in Hamburg, Leipzig
und Berlin, bald aber auch im österreichischen
Teil von Galizien auftrat, führte zu einer neuen
Gottesdienstordnung, die sich an sefardischen
Vorbildern, aber auch am allgemeinen Zeitgeist
orientierte. Anstelle des gleichzeitigen individuellen lauten Gebetssingsangs, wie es in aschkenasischen Synagogen und Stibelach üblich war,
trat ein organisiertes Singen unter Leitung eines
geschulten Kantors, das mit Chor und Orgel
begleitet wurde; der Gemeindegesang beschränkte sich nunmehr auf einige Gebete unisono. Bis
dahin war in den meisten Synagogen mit symbolischen Bezug auf König David allenfalls Harfenmusik üblich gewesen; Orgelmusik war zwar nicht
grundsätzlich verboten, galt aber seit der Zerstörung des Tempels im Jahre 70 vielen als unstatthaft. Dem Chasan standen im Gottesdienst allenfalls ein Bass und ein Knaben–sopran, ein
„Singerl“, zur Seite, um seine Phrasen zu begleiten oder zu variieren.
Gerade weil die Einführung der Orgel mit traditionellen talmudischen Leitsätzen in Verbindung
zu bringen war, wurde sie in Mitteleuropa und in
den USA zum Gegenstand erbitterter Diskussio–
nen. Nicht die veränderte Liturgie, sondern die
Kescher
31
Kantorin Mimi Sheffer (hier bei der Havdala) leitete Anfang des Jahres ein Liturgie-Seminar des
Abraham Geiger Kollegs im neuen Gemeindezentrum der Israelitischen Kultusgemeinde
Foto © privat
Bamberg.
Orgel wurde schließlich zum Prüfstein dafür, ob
sich eine Synagogengemeinde als orthodox oder
aber liberal definierte. Reformer wie Israel
Jacobson (1768 - 1828) verwiesen zu Recht darauf, dass bereits der Tempel in Jerusalem über
eine Art Orgel verfügt hatte; im Talmud (Arachin
10b - 11 a) wird denn auch von der sogenannten
Magrepha berichtet, einem Instrument, dessen
zehn - nach anderer Lesart auch tausend - Töne
über den Ölberg hinweg bis nach Jericho zu
hören waren. In Frankreich und Italien war es im
19. Jahrhundert gar nicht erst zum Orgelstreit
gekommen, denn dort hatte das Instrument auch
in orthodox ausgerichteten Synagogen seinen
Platz: In der Rue de la Victoire, dem Sitz des französischen Großrabbiners, war Orgelbegleitung
vor vierzig Jahren noch gang und gäbe - und wer
weiß heute schon, dass der Schabbat in der
Prager Altneuschul bereits um 1678 mit Orgel–
klängen empfangen wurde? Wer sich mit der
Geschichte der Synagogalmusik beschäftigt,
muss feststellen, wie haltlos auch die Meinung
ist, Orgelmusik in der Synagoge verbiete sich
allein schon deshalb, weil es sich um unstatthafte Nachahmung christlicher Gottesdienstformen
handelte. Der Nestor der deutschen Rabbiner in
der Bundesrepublik, Peter Nathan Levinson, hat
stets darauf hingewiesen, dass der Talmud lehrt,
dass jeder würdige Brauch, wo immer er auch zu
finden ist, von Juden übernommen werden darf
(Berachot 28 b und Sanhedrin 39 b). Dazu gehört
auch das Orgel–spiel, das die „Kawanah“,
Andacht und religiöse Einkehr, fördert - so wie
auch die Übertragung vieler Gebete in die
Landessprache, die Aufgabe antiquierter oder
sinnentleerter Formeln und die regelmäßige
Predigt in liberalen Synagogen zu Verständnis,
Konzentration und Anteilnahme der Gemeinde
beitragen. Besonders in den Synagogengemein–
den der Großstädte, in denen sich Beter ganz
unterschiedlicher Herkünfte zusammenfanden,
galt der altfromme Stil schon aus akustischen
Gründen als nicht länger zeitgemäß. Man folgte
nunmehr dem liberalen Ritus und pflegte die
neue Musikkultur: so hatte die 1867 fertig
gestellte liberale Münchner Hauptsynagoge eine
besonders kompakte Orgel mit 1500 Pfeifen und
25 Registern. Das Beispiel machte auch in
Osteuropa Schule, etwa in der um 1840 samt
Orgel errichteten Brody-Synagoge von Odessa,
wo David Nowakowsky (1848 - 1921) als Kantor
und Komponist wirkte.
Im Verlauf der vergangenen zweihundert Jahre
ist jüdische liturgische Musik zu einer wirklichen
Bereicherung der Musikkultur geworden. Die
vielfältigen gegenseitigen Einflüsse und Anre–
gungen zeugen von der bürgerlichen Emanzipa–
tion der Juden ebenso wie vom Wiederaufleben
der jüdischen Kultur als gleichberechtigter
Bestandteil des europäischen Geisteslebens. Ein
frühes Beispiel für solch gegenseitige Bereiche–
rung ist Franz Liszt, der an der Orgel der Budapester Dohány-Synagoge musizierte. Die Kantate, die Beethoven zur Eröffnung des Wiener
Stadttempels schreiben komponieren sollte,
blieb noch ungeschrieben; der Protestant Max
Bruch (1838 - 1920) komponierte aber 1880 sein
bekanntes „Kol Nidre“, der Katholik Maurice
Ravel (1875 - 1937) „Kaddish“ und „Hebräische
Volkslieder“, und auch Strawinskij und Prokofjew
schufen Beiträge zur „hebräischen“ oder „jüdischen“ Musik. Der Dessauer Kantorensohn und
Busoni-Schüler Kurt Weill (1900 - 1950) wiederum schöpfte mit Kompositionen wie sein
Kiddusch gleich Ernest Bloch, Arnold Schönberg
und Leonord Bernstein aus der eigenen jüdischen
Tradition; Herbert Fromm (1905 - 1995), der aus
Kitzingen stammt und in die USA emigrieren
konnte, gilt als wichtigster Komponist für
Synagogalmusik des 20. Jahrhunderts, ist aber
hierzulande so gut wie unbekannt. Nicht nur
Komponisten, auch Kantoren haben immer wieder bewiesen, dass sie in Chasanut und allgemeiner Musikkultur gleichermaßen zu Hause sind:
der Berliner Kantor Abraham Jacob Lichtenstein
(1806 - 1880) war ein gefeierter Tenor, der auch
in christlichen Oratorien sang und Max Bruch auf
die jüdische liturgische Musik aufmerksam machte; Oberkantor Israel Alter, der bis 1935 an der
hannoverschen Synagoge tätig war, feierte auf
der Opernbühne Erfolge. Joseph Schmidt (1904 1942), der mit Arien und Schlagern wie „Ein Lied
geht um die Welt“ ein Millionenpublikum begeisterte, hatte seine Karriere als Chasan begonnen
und amtierte in der Berliner Reform-Gemeinde
und zur Eröffnung der liberalen Synagoge
Prinzregentenstraße 1930 in Berlin. Heutzutage
ist es in der mehrheitlich liberalen jüdischen
Welt selbstverständlich, dass auch Frauen als
ausgebildete Kantorinnen in Gottesdiensten wie
Konzerten Chasanut zu Gehör bringen.
Hartmut Bomhoff
32
Zions Töchter
von A bis Z
Pauline Bebe, isha. Frau und Judentum
Kescher
nun die eher traditionelle Lesart ausmacht: dass
für die jüdische Orthodoxie beispielsweise keine
fortschreitende Offenbarung denkbar ist und die
mündliche Tora Mose bereits am Sinai gegeben
worden sein soll, wird erst auf Seite 207 in einer
Fußnote angemerkt, ist aber doch wesentlich für
die Auseinandersetzungen zwischen orthodoxen
und liberalen Juden in Folge der europäischen
1983 gab die amerikanische Religionswissenschaftlerin Susannah Heschel mit ihrer Textsammlung On Being a Jewish Feminist: A Reader
einen nachhaltigen Impuls für die Auseinandersetzung mit der Lebenswirklichkeit jüdischer
Frauen und der Ausformung einer jüdisch-feministischen Theologie. Auch Pauline Bebe Buch Isha
(hebräisch für „Frau“) hat das Ziel, „die Betrachtung der Persönlichkeiten aus Bibel und Talmud
und die Auseinandersetzung mit frauenrelevanten Themen aus einem anderen Blickwinkel vorzunehmen“. Die Rabbinerin einer liberalen jüdischen Gemeinde in der Ile-de-France setzt dem
Text- und Selbstverständnis des traditionellen
Judentums, in dem „Klal Jisrael“ (die Gemeinschaft Israels) für sie quasi die Einheit von
Männern unter Ausschluss der Frauen bedeutet,
feministische und religiös-liberale Perspektiven
entgegen. Ihr Buch ist 2001 bei Calmann-Levy als
Dictionnaire des femmes et du judaisme erschienen, und der deutschsprachige Titel Enzyklopädie
soll auf die der Toleranz und Aufklärung verpflichteten französische Schule der Enzyklopädisten verweisen. Tatsächlich ist Isha aber keine
umfassende Enzyklopädie, sondern eine lexikalisch angelegte Auswahl von knapp einhundert
alphabetisch angeordneten Artikeln, die von
„Abigail“ bis „Zippora“ reicht und Porträts von
Frauengestalten aus Bibel und Talmud, Beiträge
zu Ritus und Religionsgesetz und zeitgenössische
Fragestellungen umfasst. Zu diesen „Frauen
betreffende Themen“, wie es im Klappentext
heißt, gehören Ehe und Scheidung, lesbische
Beziehungen, Empfängnisverhütung und
Abtreibung, Erbrecht oder auch Sexismus und
Sprache.
Frankozentrischer Blick
Die begrenzte Auswahl und die alphabetische
Abfolge der Beiträge haben zur Folge, dass verwandte Begriffe wie Heirat, Ehe und Scheidung
im Buch unverbunden bleiben und auch diejenigen Frauengestalten und biblische Episoden, die
diesen Themenkreis illustrieren könnten, für sich
alleine stehen. Für Leser, die mit dem Judentum
in seiner ganzen Vielfalt nicht vertraut sind,
erschließt sich aus der liberal-feministischen
Perspektive Pauline Bebes nicht immer, was denn
Pauline Bebe kommt zugute, dass sie nicht nur
populäre Gestalten wie Königin Esther anführt,
sondern auch die eher unbekannte Prophetin
Noadja oder Zelophchads Töchter, aus deren
Geschichte sie eine„umgekehrt sexistische
Einstellung“ der Rabbinen herausliest. Die
Autorin will mit den herkömmlichen Denkmustern aufräumen, wenn sie daran erinnert,
dass die Prophetin Hulda in ihrem Lehrhaus
Männern die Tora auslegte; sie erwähnt aber
Aufklärung. Pauline Bebe schöpft aus antiken
wie aus modernen Quellen, aus der biblischen
Erzählung ebenso wie aus rabbinischen Responsen, doch wenn sie sich auf talmudische Traktate bezieht, ist für Laien nicht nachvollziehbar,
welche Textstellen aus dem Baylonischen Talmud
sie damit eigentlich zitiert. Wer sich für allgemeine Fragen des jüdischen Rechts in Zusammenhang mit Traditionskritik interessiert, findet
in Isha detaillierte Beschreibungen und interessante Denkanstöße; bei Detailfragen muss man
aber weiterhin auf die Encyclopedia Judaica oder
auf Fachliteratur zurückgreifen.
4. Jahrgang | Ausgabe 1
nicht, dass die biblische Prophetin und Richterin
Debora im französischen Mittelalter immerhin als
diejenige galt, die die Richter Israels einst in
Halacha, im Religionsgesetz, unterwiesen hatte.
Schade auch, dass sie auf die Darstellung historischer Frauengestalten verzichtet, die in der aktuellen Diskussion immer wieder als Rollenmodelle
dienen, etwa Rivka Tiktiner, Glückel von Hameln
oder Bertha Pappenheim - Frauen, die im Sinne
Susannah Heschels dazu beigetragen haben, ein
lebendiges Judentum zu schaffen und zu erhalten. Irritierend ist in der deutschen Übersetzung
der prinzipiell frankozentrische Blick der
Autorin. Mit Blick auf die Feier der religiöse
Mündigkeit von Mädchen als Bat Mizwa berichtet
Pauline Bebe etwa von Gruppenzeremonien des
französischen Konsistoriums und davon, dass die
Reformbewegung in Deutschland 1846 beschloss,
das Alter der religiösen Volljährigkeit auch für
Mädchen auf dreizehn Jahre festzulegen - „doch
eine rituelle Beteiligung der Mädchen ist höchst
unwahrscheinlich.“ Tatsächlich ist eine derartige
Zeremonie in Berlin aber bereits für 1817 belegt.
Die deutsche Übersetzerin Caroline Bechhofer
hat versucht, diesem Manko mit eigenen Ergänzungen zu begegnen, lässt es dabei aber an Sachkenntnis und Genauigkeit fehlen. Die examinierte Berliner Religionslehrerin und spätere
Rabbinerin Regina Jonas wird in ihrer Rückübersetzung aus dem Französischen beispielsweise
zur „Professorin für Religion“.
Isha weist eine recht umfangreiche Bibliographie
auf, doch die Literaturangaben bleiben leider
unausgewogen und unvollständig, und was gänzlich fehlt, ist ein Sach- und Namensregister, mit
dem dieses Buch vom Kaleidoskop zum gebräuchlichen Nachschlagewerk hätte werden können.
Fazit: ein ambitioniertes Buchprojekt, das
wissenschaftlichen Anforderungen in seiner
eklektischen Auswahl nicht genügen kann. Die
deutsche Fassung krankt deutlich daran, dass der
Verlag und seine Übersetzerin dem Projekt nicht
gewachsen waren.
Hartmut Bomhoff
Kescher
33
Fotos © Margrit Schmidt
Ein Seder mit gleich fünf liberalen Rabbinern fand dieses Jahr in der Synagoge
Hüttenweg statt: Rabbiner Dan Bridge (Seattle), Rabbiner Dr. Walter Homolka
(Berlin), Rabbiner Richard Lampert (Sidney) und Rabbiner Jeemy Milgrom
(Jeusalem) waren der Einladung der Betergemeinschaft Sukkat Schalom
gefolgt. Rabbiner Dr. Andreas Nachama leitete den Sederabend, begleitet von
Kantor Alexander Nachama.
Zum 12. Mal trafen sich Mitte Juli Mitglieder aus liberalen jüdischen Gemeinden bei
der Jahrestagung der Union progressiver Juden in Berlin-Spandau. Wie immer mit
dabei die Studenten und Dozenten des Abraham Geiger Kollegs. Kantor Dmytro
Karpenko referierte auf Russisch zu „Musik im Gottesdienst“ - die große Zahl von
Zuwanderern unter den gut 200 Tagungsteilnehmern war auch Ausdruck der erfolgreichen Integrationsarbeit und des Miteinanders in den liberalen Gemeinden.
Solidarität für Israel. Am 31. Juli hatte die Liberale Jüdische Gemeinde Hannover zu einer Spendenaktion für
das Leo Baeck Education Center in Haifa aufgerufen, um so zumindest einen kleinen Beitrag in der dramatischen Kriegssituation zu leisten. Im August waren dank des Engagements der rührigen Gemeindemitglieder
schon über EUR 5.000,- an Soforthilfe eingegangen. Die Gemeinde beteiligte sich am 10. August auch an einer
Foto © Michel Eram
Solidaritätskundgebung auf dem hannoverschen Opernplatz.
„Es gibt viele Wege, jüdisch zu sein“, lautete das
Motto des diesjährigen Sommer-Machanes von
„Jung & jüdisch junior - Netzer“. Achtzig Chanichim
aus ganz Deutschland, aber auch aus Belgien, Costa
Rica und Österreich nehmen an der zweiwöchigen
Jugendfreizeit in Tirol teil. Die rabbinische Betreuung lag bei Dr. Tom Kucera (Abraham Geiger
Kolleg). Themenschwerpunkt war: „Toleranz und
Akzeptanz“. Daneben standen wie immer Ausflüge
und Freizeitangebote auf dem Programm.
Foto © Adi Weichselbaum
LIBERALES JUDENTUM IM HERZEN JAFFAS „Durch Weisheit wird ein Haus gebaut und durch Verstand
erhalten“: das Zitat aus den Sprüchen Salomons ist auch die Devise der Initiatoren der Mishkenot Daniel in
Jaffa, die am 18. Juni unter der Schirmherrschaft von Shimon Peres der Öffentlichkeit übergeben wurden. Das
12-Millionen-Dollar-Projekt der dynamischen liberalen jüdischen Gemeinde von Tel Aviv, Beit Daniel, soll vom
Herbst an im Zeichen von Tikkun Olam als Kulturzentrum und Begegnungsstätte dienen: als Forum für Araber
und Juden, Neueinwanderer und Alteingesessene, sozial schwache und eher etablierte Israelis. Ein Gästehaus
mit 200 Betten steht auch ausländischen Besuchergruppen offen. Das Stifterehepaar Gerald und Ruth Daniel
konnte die Zeremonie, an der neben Vizepremier Peres und dem Präsidenten der amerikanischen Union for
Reform Judaism, Rabbiner Eric H. Yoffie (Photo) auch Tel Avivs Bürgermeister Ron Huldai und die Führungsspitze der World Union für Progressive Judaism teilnahmen, aus Krankheitsgründen nur per Live-Schaltung
verfolgen. Ruth Daniel, die 1922 als Ruth Feilchenfeld in Berlin geboren wurde und 1933 ins damalige Palästina
auwanderte, starb am 22. Juni in Sarasota in Florida.
Foto © Ilana Nesher
34
Kescher
I. Römische Konsultation zum
Jüdischen und Kanonischen Recht
Vom 9. - 11. Oktober findet an der Universitat
Gregoriana in Rom mit Unterstützung des Bundesinnenministeriums die erste internationale
Konferenz zum Vergleich von Jüdischem und
Kanonischem Recht statt. Bislang gab es noch
keinen Versuch, im Kontext des interreligiösen
Dialogs den für beide Religionsgemeinschaften
so bedeutenden Bereich des Rechts auf wissenschaftlicher Basis vergleichend zu bearbeiten.
An der Organisation beteiligt sind neben dem
Abraham Geiger Kolleg an der Universität Potsdam das Münchner Klaus-Mörsdorf-Studium für
Kanonistik, die Päpstliche Universität Gregoriana
sowie die Päpstliche Universität Santa Croce.
Unter den Referenten sind Prof. DDr. Joaquin
Llobell (Rom), der Primas von Ungarn, Peter
Kardinal Erdö (Budapest), Rabbiner Prof. Dr.
Shimon Shetreet (Jerusalem), Rabbiner Prof. Dr.
4. Jahrgang | Ausgabe 1
Elliott Dorff (Los Angeles) und Rabbiner Dr. Mark
Winer (London) sowie von der Tel Aviv University
die Professoren Menachem Fisch und Menahem
Lorberbaum. Von deutscher Seite nehmen u.a.
Prof. Dr. Admiel Kosman (Potsdam), Prof. Dr.
Heinz-Günther Schöttler (Bamberg) und
Rabbiner Jonah Sievers (Braunschweig) teil.
Themen sind unter anderem Gesetzgebung und
Normfindung, Rechtsinterpretationen im
Kanonischen Recht und in rabbinischen Codices
und Responsa, aber auch Fallstudien zur Feuerbestattung, zum Territorialprinzip, zum rechtlichen Status der Frau oder zum Verhältnis von
Kirche und Staat. Auf dem Programm stehen auch
eine Begegnung mit Papst Benedikt XVI., ein
Empfang in der Deutschen Botschaft beim
Vatikan sowie anlässlich des Laubhüttenfestes
ein Abend in einer römischen Sukka. Das
Tagungsprojekt, zu dessen Schirmherren auch
Karl Kardinal Lehmann, Professor Cesare
Mirabelli und Rabbiner Uri Regev zählen, soll
2007 fortgesetzt werden.
Aus Tiefen rufe
ich Dich, Ewiger
GEDANKEN ZU VERSÖHNUNGSTAG
von Prof. Dr. Ernst Ludwig Ehrlich (Riehen)
Zwei wichtige Fragen, über die erste deutsche
Rabbinerversammlung im Juni 1844 in Braunschweig abstimmte, waren das Kol Nidre-Gebet am
Vorabend des Versöhnungstages sowie der
Judeneid. Ersteres galt als rein legalistische Formel
und als Hindernis, da es von Nichtjuden oft als
Indiz dafür begriffen wurde, dass sich Juden pauschal ihrer Versprechen entziehen. Nicht nur liberale Gemeinden erklärten das Kol Nidre für unwesentlich: selbst ein so unerschüttlicher Verteidiger
der Orthodoxie wie Samson Raphael Hirsch entfernte es während seiner Amtszeit in Oldenburg
aus der Liturgie seiner Gemeinde. In vielen liberalen Gemeinden wird stattdessen bis heute zur vertrauten Kol Nidre-Melodie von Louis Lewandowski
der 130. Psalm angestimmt, der ja bereits im alten
Palästina zu Beginn des Versöhnungstages vorgetragen wurde. Wir bringen anlässlich des bevorstehenden Versöhnungstages auf S. 35 eine Betrachtung von Professor Dr. Ernst Ludwig Ehrlich zu diesem Psalm.
Kescher
Wenn wir den Psalm 130 auslegen, so wissen wir
nichts über das Schicksal des Beters. Es ist daher
ein Psalm, der auch in unsere Situation passen
oder in Zukunft uns angehen könnte.
“Aus Tiefen rufe ich Dich, Ewiger,
Ewiger, höre auf meine Stimme,
es seien Deine Ohren aufgetan, der Stimme
meines Flehens.“
Der Psalmist spricht hier in der Ichform, es ist
also kein Gebet eines Kollektivs. Wir können in
die Stimmung dieses Beters gelangen, Gott möge
unser Gebet erhören. Wenn wir überhaupt noch
beten können, beten wir so zu Gott, wie es hier
heißt. Aber unser Beten wird durch etwas beeinträchtigt, was im Psalm als “Sünden“ bezeichnet
wird.
“Wenn Sünden Du bewahrst,
wer könnte, Ewiger bestehen?“
Was ist das eigentlich “Sünde“? Es gibt Menschen, die in einem Sündenbewusstsein befangen, gefangen, verstrickt sind. Es gibt andere,
die sich ihre menschlichen Vergehen, die ja auch
ein Verschulden Gott gegenüber sind, kaum
bewusst machen. Es ist nicht leicht, die richtige
Mitte zu finden, zwischen einem Schuldbewusstsein und dieser Art, von sich jede Schuld abzuschieben, immer Recht haben zu wollen, gereizt
zu reagieren, wenn einem Schuld oder Mitschuld
vorgehalten wird.
Der Psalmist sagt es, selbst wenn manche es
nicht wahrhaben wollen: Niemand kann vor Gott
bestehen. Niemand. Mit dem Hinweis auf die allgemeine Schuld-Verfallenheit des Menschen
appelliert der Beter an Gottes Gnade und Barmherzigkeit. Er tut dies in einer scheuen, eher
indirekten Art. Er macht kein Recht geltend, bittet nicht einmal um Gnade. Nur von ferne rührt
er die Geheimnisse Gottes an. Wir alle wissen um
unsere Schuld. Die Frage des Psalmisten lautet:
“Wer könnte vor Gott bestehen?“ Das ist auch
eine politische Frage. Wir alle können vor Gott
nicht bestehen. Das kann uns vor Schwarz-WeissMalerei bewahren, auch vor Verteufelung des
jeweiligen politischen Gegners.
“Fürwahr, bei Dir ist Vergebung,
dass man Dich fürchte.“
Deshalb wollen wir etwas mit Religion zu tun
haben. Damit wir das Gefühl erhalten, wir können neu anfangen, unsere Schuld sei vergeben.
Wir werden zwar leider keine neuen Menschen,
aber eine Last sei von uns genommen. “Bei Dir
ist Vergebung.“ Der Nachsatz stört uns gewiss …
„dass man Dich fürchte“. Religion ist eine
schlechte Sache, wenn sie mit Angst zu tun hat.
Ich halte nichts davon, dass man sich vor Gott
fürchten soll. Mir scheint viel eher, es sei angebracht, dass wir uns vor unseren eigenen Untaten fürchten sollen, vor dem, von dem wir wissen,
dass es nicht gut ist, und wir tun es dennoch.
Angst in der Religion und vor Religion ist ein
altes Thema. Angst steht in Wahrheit quer zur
Religion, Angst tötet Religion. Wer aus Angst
meint, etwa eine Neuerung würde dazu führen,
dass das ganze Gebäude zusammenfiele, hat
einen sehr engen Begriff von Religion. Angst hat
mit Enge zu tun. Anderseits gilt aber was einst
Kierkegaard gesagt hat: “Wer sich mit dem Zeitgeist vermählt, wird schnell Witwer.“ Auch hier
haben wir die rechte Mitte zwischen Tradition
und dem zu finden, was wir als moderne Menschen nachvollziehen können. Angst führt in die
Neurose, Religion jedoch soll uns freimachen.
“Ich hoffe, Ewiger, es hofft meine Seele,
und seines Wortes harre ich, meine Seele auf
meinen Herrn, mehr als die Wächter auf den
Morgen, die Wächter auf den Morgen.“
Hoffnung. Wenn wir überhaupt nicht mehr hoffen könnten, vermöchten wir nicht mehr zu
leben. Unsere biblischen Religionen sind in einzigartiger Weise Religionen der Hoffnung. Wir
leben in einer Spannung zwischen der Vergangenheit und der Zukunft. Die Vergangenheit, so
schicksalsschwanger sie auch sein mag, enthält
eine ungeheure Größe. Man verfolgte Juden im
Grunde ja nicht, weil sie nichts taugten, sondern
weil die Bibel den andern die Maßstäbe gegeben
hat, nach denen sie nicht leben wollten, und wir
leider ja oft auch nicht leben. Aber wir sind
immerhin diejenigen, die einmal die Worte vom
Sinai in die Welt gesetzt und verbreitet haben die Zehn Worte -‚ mit denen die Welt von Anfang
an so viel Mühe hatte. Es sind die Lehren der
Ethik, es ist das Liebesgebot aus dem 3. Buch
Mose, Kap. 19, Vers 18. Wir haben es nicht
gepachtet, wir wünschten nur, alle würden es ein
wenig mehr anwenden, wenn sie sich schon darauf berufen. Auch wir sollten uns heute mehr
darauf berufen und es auch mehr anwenden. Das
biblische Liebesgebot hat auch etwas mit
Hoffnung zu tun und schließlich hat es dann
Jesus in die Mitte seiner Botschaft gesetzt.
“So harre Israel auf den Ewigen,
denn bei dem Herrn ist die Liebe
und viel bei ihm Erlösung.“
35
Das ist der Rat, den uns der Psalmist gibt, uns
diesem einen Gott zuzuwenden und anzuvertrauen. Was wird über ihn ausgesagt: Bei ihm ist
“chesed“, das Wort meint Gnade, Liebe, Huld.
Und etwas anderes behauptet der Beter: Gott sei
unser Erlöser. Bei Gott ist die Liebe und die
Erlösung. Was heißt hier in diesem Zusammenhang des Psalmes “Erlösung“? Doch offensichtlich die Befreiung von all dem, was uns jeweils
bedrückt. Darauf hoffen wir, und das ist das
Gebet des Psalmisten. Und dann wendet sich der
Beter an das Volk:
“Ja, er wird Israel erlösen,
von allen seinen Sünden.“
Das ist ein großes Wort. Nachdem der Beter versucht hat, mit sich selbst ins Reine zu kommen,
bittet er, nein, hat er fast die Gewissheit, Gott
möge das Volk von seinen Sünden erlösen. Und
die Erlösung ist hier und heute, das Freiwerden
von der Last der Sünden. Wenn manchmal von
der Erlösung geredet wird, so ist darin etwas
Vages enthalten, es ist ein Begriff für eine ferne
Endzeit, jedenfalls etwas, das wir nicht mehr
erleben werden. Hier wird uns hingegen sehr
deutlich gesagt, was wir heute nötig haben,
worum es eigentlich geht: Wir möchten frei werden von unserer Schuld, die jeder als Einzelner
hat. Und wir erfahren hier, dass das keine Utopie
sein muss, nichts, was in ferner Zukunft
geschieht, sondern bei dem wir zumindest helfen
können, etwas - und das ist die Paradoxie -‚ was
gewiss von der Gnade Gottes abhängt und
zugleich jedoch vom eigenen Willen, nicht mehr
zu sündigen. So nehmen wir die Gewissheit mit
uns, wir mögen Gott um Vergebung unserer
Sünden bitten. Wir schließen alle in diese Bitte
ein, entsprechend dem Gebet jenes chassidischen
Rabbis, der einmal sagte: „Herr, erlöse uns, willst
Du es nicht, erlöse die andern“; denn der chassidische Rabbi wusste, dass wenn sie erlöst sein
würden, wäre auch von uns eine Last genommen.
Sie sind leider bisher genauso wenig erlöst, wie
wir selbst. Aber wir beten in dieser Stunde in der
Gewissheit des Psalmisten:
“Denn beim Ewigen ist die Liebe
und viel Erlösung ist bei ihm.
Und er wird Israel erlösen
von allen seinen Sünden.“
anzeige sal. oppenheim
Herunterladen