Eine OP als letzter Ausweg - Caritas Krankenhaus St. Josef

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DONNERSTAG, 24. NOVEMBER 2016
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THEMA IM BLICKPUNKT
MITTELBAYERISCHE ZEITUNG
Reinhard Stummreiter bei einem Auftritt der „Altneihauser Feierwehrkapell’n“ im Februar 2013. Ein Jahr zuvor hatte er sich den Magen verkleinern lassen.
Fotos: dpa
Eine OP als letzter Ausweg
Stark übergewichtige Menschen können
sich den Magen verkleinern lassen. Doch sie
müssen auch ihre Ernährung umstellen.
MEDIZIN
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VON DAGMAR UNRECHT, MZ
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REGENSBURG. Bei der
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Altneihauser Feierwehrkapell’n füllt Reinhard Stummreiter den Platz hinter der großen
Trommel mühelos aus. Sein Bauch
wölbt sich weit hervor und spiegelt die
runde Form seines gewaltigen Instruments. Fast 300 Kilo hat Stummreiter
zu Spitzenzeiten auf die Waage gebracht, heute ist es noch die Hälfte. Für
die Auftritte lässt er sich freiwillig ausstopfen und trägt einen künstlichen
„Bühnenbauch“, weil es seine Position
hinter der Trommel so verlangt. „Nie
wieder“, denkt sich Stummreiter jedes
Mal, wenn er für die Altneihauser in
die Ausmaße seines alten Körpers
schlüpft. Eine operative Magenverkleinerung brachte für ihn die Wende im
Kampf gegen überflüssige Pfunde.
Leicht übergewichtig war Stummreiter schon als Kind. „Aber ich war
nicht fett“, erzählt der 42-Jährige. Eskaliert sei die Situation als seine Mutter
1983 starb – er war damals neun Jahre
alt. Ein „großer Schlag“ sei das gewesen und der Startschuss für die „Frustfresserei“, erzählt er. Auch bei anderen
Tiefschlägen im Leben geht bei ihm in
den folgenden Jahren das Gewicht
nach oben. Bewegung meidet er, wo es
geht – auch unbewusst, wie er heute
weiß. Wenn er Durst hat, trinkt er fast
immer Spezi oder Milch. „Außerdem
habe ich viel zu viel und zu oft gegessen“, erzählt Stummreiter. Irgendwann wollen seine Altneihauser Kollegen nicht mehr zuschauen, sie haben Angst, dass Stummreiter auf der
Bühne zusammenbricht. Kommandant Norbert Neugirg setzt ihm ein Ultimatum: Wenn er so weiter mache,
dürfe er nicht mehr mitspielen. „Dem
Norbert hab ich damals alles ans Bein
gewünscht“, erinnert sich Stummreiter. Aber seine Kollegen lassen ihn
nicht im Regen stehen. Sie suchen und
finden Hilfe: das Optifast-Programm,
eine ambulante Therapie für Übergewichtige. 2010 fährt Stummreiter dafür einmal pro Woche in die Klinik
nach Donaustauf und verliert innerhalb von 12 Monaten 80 Kilo. Doch danach fällt er in sein altes Schema zurück, legt wieder zu. Eine Gallenkolik
bringt schließlich die Wende. Das Organ soll entfernt werden, doch
Stummreiter ist für den OP-Tisch in
seinem Heimatkrankenhaus in Tirschenreuth zu schwer. Da beschließt
er, sich nicht nur an der Galle operieren zu lassen, sondern auch noch den
Magen zu verkleinern. Das war 2012.
Nach der OP fängt der Oberpfälzer an,
sich regelmäßig zu bewegen, geht spazieren, später Walken und Schwimmen. „Nach der OP habe ich ein normales Leben beginnen können“, sagt
Stummreiter, der heute 150 Kilo wiegt.
„Diesen enormen Gewichtsverlust hätte ich sonst nicht geschafft.“ Er wisse
aber auch, dass es vor allem eine
„Kopf- und Willenssache“ sei, das Gewicht im Griff zu haben.
Als übergewichtig gelten laut Weltgesundheitsorganisation WHO Erwachsene mit einem Body-Mass-Index
zwischen 25 und 30. Ab einem BMI
von über 30 ist man fettleibig, also
„adipös“. Viele Patienten haben einen
BMI von über 40 oder auch 50. Im
Durchschnitt der OECD-Länder ist jeder zweite Erwachsene übergewichtig
und jeder fünfte adipös. Auch in
Deutschland ist die Hälfte der Bevölkerung übergewichtig.
Falsche Lebensmittel
Beate Birnbaum, Ökotrophologin mit
dem Spezialgebiet Adipositas, berät im
Krankenhaus St. Josef in Regensburg
übergewichtige Patienten. Bei Menschen mit einem BMI über 40 könne
eine Operation sehr gute Erfolge erzielen, so die Expertin. Früher habe sie
noch gedacht, sie könne jeden Übergewichtigen auch ohne chirurgischen
Eingriff dazu bringen, sein Gewicht zu
reduzieren. „Den Zahn hab ich mir
selbst gezogen“, sagt Birnbaum heute.
den Darm geleitet. Die Nahrung wird
so später und schlechter verwertet.
Nicht so häufig sind Magenband, Magenballon und Magenschrittmacher.
Deutschlandweit werden jährlich
knapp 10 000 solcher Operationen
durchgeführt – Tendenz steigend. Einem OECD-Bericht zufolge ist die Zahl
dieser gewichtsreduzierenden Operationen europaweit sehr unterschiedlich.
„Deutschland ist leider Schlusslicht“,
bedauert Professor Alois Fürst, Chefarzt der Chirurgie im Krankenhaus St.
Betroffene würden oft die falschen Lebensmittel zur falschen Zeit zu schnell
essen. Eine Ernährungsumstellung
brauche viel Zeit. Eine OP sei für Patienten, die es alleine nicht schaffen, eine sinnvolle Krücke: „Gedankenloses
In-sich-rein-Stopfen geht dann nicht
mehr.“
Die häufigste gewichtsreduzierende OP ist der Schlauchmagen, die
zweithäufigste ein Magen-Bypass. Dabei wird der Magen nicht nur verkleinert, sondern auch weiter unten in
Ein Arzt kontrolliert nach einer „Schlauchmagen“-OP den Zustand des einstigen 200-Kilo-Mannes.
VORBEHALTE GEGEN FETTLEIBIGE MENSCHEN
Die große Mehrheit der Deutschen empfindet stark Übergewichtige als unästhetisch.
In Deutschland ist jeder vierte Erwachsene adipös.
So viel Prozent der Befragten stimmen
den Aussagen zu fettleibigen Menschen …
… eher zu
… weiß nicht
71 %
Ich finde fettleibige Menschen unästhetisch.
Ich frage mich, warum derjenige es so weit hat
kommen lassen, dass er fettleibig ist.
41
Fettleibige sind selbst daran schuld, wie sie sind.
15
Fettleibige Menschen sind meist lustig.
13
Fettleibige Menschen strahlen Geselligkeit aus.
13
5
38
11
74
55
64
72
19
Ich finde fettleibige Menschen schön. 3 10
Ergebnisse einer Befragung von 1 006 Personen ab
18 Jahren im Juli/August 2016 mit vorgegebenen Antworten
26
23
14
24
44
32
9
18
15
15
36
Ich vermeide den Kontakt mit
fettleibigen Menschen.
Fettleibig sein ist auch ein Ausdruck
von Lebensfreude.
11
61
Ich habe Mitleid mit fettleibigen Menschen.
Lieber viel zu dick als viel zu dünn.
… eher nicht zu
81
87
Quelle: DAK
MZ-Infografik
Josef in Regensburg. Dabei biete eine
Operation stark übergewichtigen Patienten die Chance, wieder gesund zu
werden. „Für diese Menschen ist es oft
der einzige Ausweg“, so Fürst. Werde
nicht operiert, würden diese Patienten
früher sterben. „Adipositas muss in
Deutschland endlich als Krankheit anerkannt werden“, fordert der Mediziner. Insbesondere Diabetiker können
laut Fürst von einer Magenverkleinerung profitieren.
Wer sich zu einer Operation entschließt, muss bestimmte Voraussetzung erfüllen, damit die Krankenkasse
die Behandlungskosten übernimmt.
Dazu gehören mindestens ein BMI
über 35 und erhebliche Begleiterkrankungen, aber keine psychiatrische Erkrankung, die Bereitschaft zur lebenslangen Nachsorge und eine ausreichende Motivation – und sie müssen
ein Jahr lang nachweislich versucht
haben, „konservativ“ abzunehmen
und ihre Ernährung umzustellen. „Die
Kassen sind leider sehr restriktiv“, bedauert Beate Birnbaum.
Allein bei den Versicherten der
Krankenkasse DAK-Gesundheit hat
sich die Zahl der Magen-OPs bei fettleibigen Menschen in den vergangenen
zehn Jahren verdreifacht, wie aus dem
„Versorgungsreport Adipositas“ hervorgeht. Einem OECD-Bericht zufolge
verursacht ein fettleibiger Mensch
rund 25 Prozent mehr Kosten im Gesundheitswesen, vor allem wegen der
Folgeerkrankungen.
Nicht den ganzen Plätzchenteller
Ihre Last loszuwerden, das wünschen
sich alle Übergewichtigen. Wer es
schafft, bekommt neuen Lebensmut.
Das erleben die Adipositas-Experten
im Josefs-Krankenhaus immer wieder
bei ihren Schützlingen. Auch der Altneihauser Trommler ist froh, heute
„alles machen zu können“ – zum Beispiel Radlfahren oder sein Haus umbauen. Er hat sein Gewicht im Blick
und weiß, worauf es beim Essen ankommt. So kann er auch die Vorweihnachtszeit gelassen angehen: „Ich nehme mir schon mal ein Plätzchen, aber
ich verschwinde nicht mehr mit dem
ganzen Teller.“
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