6386 SEITE 2 DONNERSTAG, 24. NOVEMBER 2016 P2 THEMA IM BLICKPUNKT MITTELBAYERISCHE ZEITUNG Reinhard Stummreiter bei einem Auftritt der „Altneihauser Feierwehrkapell’n“ im Februar 2013. Ein Jahr zuvor hatte er sich den Magen verkleinern lassen. Fotos: dpa Eine OP als letzter Ausweg Stark übergewichtige Menschen können sich den Magen verkleinern lassen. Doch sie müssen auch ihre Ernährung umstellen. MEDIZIN ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● VON DAGMAR UNRECHT, MZ ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● REGENSBURG. Bei der ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● Altneihauser Feierwehrkapell’n füllt Reinhard Stummreiter den Platz hinter der großen Trommel mühelos aus. Sein Bauch wölbt sich weit hervor und spiegelt die runde Form seines gewaltigen Instruments. Fast 300 Kilo hat Stummreiter zu Spitzenzeiten auf die Waage gebracht, heute ist es noch die Hälfte. Für die Auftritte lässt er sich freiwillig ausstopfen und trägt einen künstlichen „Bühnenbauch“, weil es seine Position hinter der Trommel so verlangt. „Nie wieder“, denkt sich Stummreiter jedes Mal, wenn er für die Altneihauser in die Ausmaße seines alten Körpers schlüpft. Eine operative Magenverkleinerung brachte für ihn die Wende im Kampf gegen überflüssige Pfunde. Leicht übergewichtig war Stummreiter schon als Kind. „Aber ich war nicht fett“, erzählt der 42-Jährige. Eskaliert sei die Situation als seine Mutter 1983 starb – er war damals neun Jahre alt. Ein „großer Schlag“ sei das gewesen und der Startschuss für die „Frustfresserei“, erzählt er. Auch bei anderen Tiefschlägen im Leben geht bei ihm in den folgenden Jahren das Gewicht nach oben. Bewegung meidet er, wo es geht – auch unbewusst, wie er heute weiß. Wenn er Durst hat, trinkt er fast immer Spezi oder Milch. „Außerdem habe ich viel zu viel und zu oft gegessen“, erzählt Stummreiter. Irgendwann wollen seine Altneihauser Kollegen nicht mehr zuschauen, sie haben Angst, dass Stummreiter auf der Bühne zusammenbricht. Kommandant Norbert Neugirg setzt ihm ein Ultimatum: Wenn er so weiter mache, dürfe er nicht mehr mitspielen. „Dem Norbert hab ich damals alles ans Bein gewünscht“, erinnert sich Stummreiter. Aber seine Kollegen lassen ihn nicht im Regen stehen. Sie suchen und finden Hilfe: das Optifast-Programm, eine ambulante Therapie für Übergewichtige. 2010 fährt Stummreiter dafür einmal pro Woche in die Klinik nach Donaustauf und verliert innerhalb von 12 Monaten 80 Kilo. Doch danach fällt er in sein altes Schema zurück, legt wieder zu. Eine Gallenkolik bringt schließlich die Wende. Das Organ soll entfernt werden, doch Stummreiter ist für den OP-Tisch in seinem Heimatkrankenhaus in Tirschenreuth zu schwer. Da beschließt er, sich nicht nur an der Galle operieren zu lassen, sondern auch noch den Magen zu verkleinern. Das war 2012. Nach der OP fängt der Oberpfälzer an, sich regelmäßig zu bewegen, geht spazieren, später Walken und Schwimmen. „Nach der OP habe ich ein normales Leben beginnen können“, sagt Stummreiter, der heute 150 Kilo wiegt. „Diesen enormen Gewichtsverlust hätte ich sonst nicht geschafft.“ Er wisse aber auch, dass es vor allem eine „Kopf- und Willenssache“ sei, das Gewicht im Griff zu haben. Als übergewichtig gelten laut Weltgesundheitsorganisation WHO Erwachsene mit einem Body-Mass-Index zwischen 25 und 30. Ab einem BMI von über 30 ist man fettleibig, also „adipös“. Viele Patienten haben einen BMI von über 40 oder auch 50. Im Durchschnitt der OECD-Länder ist jeder zweite Erwachsene übergewichtig und jeder fünfte adipös. Auch in Deutschland ist die Hälfte der Bevölkerung übergewichtig. Falsche Lebensmittel Beate Birnbaum, Ökotrophologin mit dem Spezialgebiet Adipositas, berät im Krankenhaus St. Josef in Regensburg übergewichtige Patienten. Bei Menschen mit einem BMI über 40 könne eine Operation sehr gute Erfolge erzielen, so die Expertin. Früher habe sie noch gedacht, sie könne jeden Übergewichtigen auch ohne chirurgischen Eingriff dazu bringen, sein Gewicht zu reduzieren. „Den Zahn hab ich mir selbst gezogen“, sagt Birnbaum heute. den Darm geleitet. Die Nahrung wird so später und schlechter verwertet. Nicht so häufig sind Magenband, Magenballon und Magenschrittmacher. Deutschlandweit werden jährlich knapp 10 000 solcher Operationen durchgeführt – Tendenz steigend. Einem OECD-Bericht zufolge ist die Zahl dieser gewichtsreduzierenden Operationen europaweit sehr unterschiedlich. „Deutschland ist leider Schlusslicht“, bedauert Professor Alois Fürst, Chefarzt der Chirurgie im Krankenhaus St. Betroffene würden oft die falschen Lebensmittel zur falschen Zeit zu schnell essen. Eine Ernährungsumstellung brauche viel Zeit. Eine OP sei für Patienten, die es alleine nicht schaffen, eine sinnvolle Krücke: „Gedankenloses In-sich-rein-Stopfen geht dann nicht mehr.“ Die häufigste gewichtsreduzierende OP ist der Schlauchmagen, die zweithäufigste ein Magen-Bypass. Dabei wird der Magen nicht nur verkleinert, sondern auch weiter unten in Ein Arzt kontrolliert nach einer „Schlauchmagen“-OP den Zustand des einstigen 200-Kilo-Mannes. VORBEHALTE GEGEN FETTLEIBIGE MENSCHEN Die große Mehrheit der Deutschen empfindet stark Übergewichtige als unästhetisch. In Deutschland ist jeder vierte Erwachsene adipös. So viel Prozent der Befragten stimmen den Aussagen zu fettleibigen Menschen … … eher zu … weiß nicht 71 % Ich finde fettleibige Menschen unästhetisch. Ich frage mich, warum derjenige es so weit hat kommen lassen, dass er fettleibig ist. 41 Fettleibige sind selbst daran schuld, wie sie sind. 15 Fettleibige Menschen sind meist lustig. 13 Fettleibige Menschen strahlen Geselligkeit aus. 13 5 38 11 74 55 64 72 19 Ich finde fettleibige Menschen schön. 3 10 Ergebnisse einer Befragung von 1 006 Personen ab 18 Jahren im Juli/August 2016 mit vorgegebenen Antworten 26 23 14 24 44 32 9 18 15 15 36 Ich vermeide den Kontakt mit fettleibigen Menschen. Fettleibig sein ist auch ein Ausdruck von Lebensfreude. 11 61 Ich habe Mitleid mit fettleibigen Menschen. Lieber viel zu dick als viel zu dünn. … eher nicht zu 81 87 Quelle: DAK MZ-Infografik Josef in Regensburg. Dabei biete eine Operation stark übergewichtigen Patienten die Chance, wieder gesund zu werden. „Für diese Menschen ist es oft der einzige Ausweg“, so Fürst. Werde nicht operiert, würden diese Patienten früher sterben. „Adipositas muss in Deutschland endlich als Krankheit anerkannt werden“, fordert der Mediziner. Insbesondere Diabetiker können laut Fürst von einer Magenverkleinerung profitieren. Wer sich zu einer Operation entschließt, muss bestimmte Voraussetzung erfüllen, damit die Krankenkasse die Behandlungskosten übernimmt. Dazu gehören mindestens ein BMI über 35 und erhebliche Begleiterkrankungen, aber keine psychiatrische Erkrankung, die Bereitschaft zur lebenslangen Nachsorge und eine ausreichende Motivation – und sie müssen ein Jahr lang nachweislich versucht haben, „konservativ“ abzunehmen und ihre Ernährung umzustellen. „Die Kassen sind leider sehr restriktiv“, bedauert Beate Birnbaum. Allein bei den Versicherten der Krankenkasse DAK-Gesundheit hat sich die Zahl der Magen-OPs bei fettleibigen Menschen in den vergangenen zehn Jahren verdreifacht, wie aus dem „Versorgungsreport Adipositas“ hervorgeht. Einem OECD-Bericht zufolge verursacht ein fettleibiger Mensch rund 25 Prozent mehr Kosten im Gesundheitswesen, vor allem wegen der Folgeerkrankungen. Nicht den ganzen Plätzchenteller Ihre Last loszuwerden, das wünschen sich alle Übergewichtigen. Wer es schafft, bekommt neuen Lebensmut. Das erleben die Adipositas-Experten im Josefs-Krankenhaus immer wieder bei ihren Schützlingen. Auch der Altneihauser Trommler ist froh, heute „alles machen zu können“ – zum Beispiel Radlfahren oder sein Haus umbauen. Er hat sein Gewicht im Blick und weiß, worauf es beim Essen ankommt. So kann er auch die Vorweihnachtszeit gelassen angehen: „Ich nehme mir schon mal ein Plätzchen, aber ich verschwinde nicht mehr mit dem ganzen Teller.“