Das Ende des ewigen Eises

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Umwelt
Das Ende des ewigen Eises
In der eisigen Landschaft der Arktis stösst der Mensch rasch an seine Grenzen. Trotzdem hat er sich aufgemacht, sie zu erobern. Denn in den Tiefen des Nordpolarmeers gibt es viel zu gewinnen – und viel zu verlieren.
Text:
Stefanie Pfändler
Fotos: Alfred-Wegener-Institut
August 2007. Zwei U-Boote tauchen tief
­unter das arktische Eis und rammen in
4261 Metern Tiefe die russische Flagge in den
Meeresboden. Da steht sie nun, exakt am geo­
grafischen Nordpol. Juristisch hat Moskaus
Machtdemonstration nichts zu bedeuten, die
Symbolik jedoch ist unmissverständlich. Das
Nordpolarmeer, so argumentierte Premier
Putin, sei für die militärische Sicherheit des
Landes unverzichtbar. Man muss kein Experte sein, um zu verstehen, dass es Russland
primär um etwas ganz anderes geht: Der ark68
tische Ozean ist unter seinen Anrainerstaaten
seit Jahren heftig umkämpft. Wissenschaftler schätzen, dass bis zu 30 Prozent der noch
unentdeckten globalen Öl- und Gasreserven
in der Polarregion zu finden sind. Die exakte
Zahl ­variiert je nach Studie, gross ist sie
­allerdings immer: Das US Geological Survey
vermutet, dass in der Arktis etwa 50 Billionen
Kubikmeter Gas und rund 90 Milliarden
­Barrel Öl verborgen liegen. Das wären mehr
als die Ressourcen von Nigeria, Kasachstan
und Mexiko zusammen. Und das ist noch
längst nicht alles: Auch Kohlenwasserstoff,
Gold, Zink, Kupfer und Diamanten sollen
­unter dem Meeresgrund zu holen sein.
Wer also, fragen die Herren in dunkeln An­
zügen nervös, hat das Recht, die umständliche Rohstoffgewinnung voranzutreiben? Die
Antwort ist alles andere als einfach, denn der
politische Status der Arktis ist bis heute ungeklärt. Unter den dicken Eismassen liegt nur
der tiefe Ozean und somit fällt das Gebiet
­juristisch unter die Bestimmungen des UNSeerechtsübereinkommens von 1982 (siehe
«marina.ch» 31, Mai 2010). Dies wiederum
­be­deutet, dass die fünf Anrainerstaaten
des Nordpolarmeers – Norwegen, Dänemark,
Russland, Kanada und die USA – das ­Gewässer
innerhalb von 200 Meilen rund um ihre ­Küste
als exklusive Wirtschaftszone beanspruchen
marina.ch september 10
Alaska
Ostsibirische See
Laptewsee
Mendelejewrücken
Kanada
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Russland
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dürfen. Das hilft ihnen allerdings wenig:
­Dänemark ist dem Nordpol dank Grönland
am nächsten, doch auch hier überschreitet die
Distanz bis zum Pol 200 Meilen bei weitem.
Ebenfalls auf dem Tisch liegt deshalb die so
genannte Sektorenlösung. Die Idee wird in
­erster Linie von Kanada und Russland befürwortet – den beiden Staaten, die dadurch am
meisten gewinnen würden. Die Arktis würde
dabei nach Sektoren unterteilt, die vom Nordpol entlang der Längengrade bis zu den äussersten Grenzpunkten an den Nordküsten der
Anrainerstaaten verlaufen würden (s. Grafik
rechts). Russland erhielte auf diese Weise
­beinahe die Hälfte des Polarmeeres, Kanada
rund einen Viertel, Dänemark etwas weniger
und Norwegen sowie die USA bloss ein
kleines Stück des «Kuchens». Die Forderungen der einzelnen Staaten wandeln sich
ständig und jede Regierung versucht, ihre
­Ansprüche wissenschaftlich zu untermauern:
Russland etwa ist schon lange dabei zu beweisen, dass es grösser ist, als es auf den ers­
ten Blick scheinen mag: So sei der Festlandsockel unter dem Eismeer die natürliche
Fortsetzung der eurasischen Landmasse
und somit – Nordpol inklusive – Russland zugehörig. Um solcherlei zu belegen, werden
regelmässig Wissenschaftler aus allen An­
rainerstaaten in die weisse Einöde geschickt,
um dort Bodenproben zu sammeln – oder
eben auch Flaggen in den Meeresboden zu
stecken.
Karasee
Barentssee
Grönland
(zu Dänemark)
Norwegen
Keine internationale Regelung
Eine bindende internationale Entscheidung
bezüglich der Gebietszuteilung gab es nie. Bis
zur Jahrtausendwende wurden der Nordpol
und grosse Teile des Nordpolarmeeres von
den meisten Staaten als internationales Gebiet anerkannt. Seither sind die Diskussionen
jedoch neu entflammt, denn die Aufteilung
der Arktis, so schrieb die russische Regierungs­
zeitung Rossijskaja Gaseta vor kurzem, sei
«der Beginn einer neuen Aufteilung der Welt».
Diese etwas gar grossspurige Vorhersage hat
gute Gründe: Bisher waren die kostbaren
Schätze des Nordens sicher in einem natürlichen Tresor aus Eis verstaut – und somit
auch für die Reichsten und Mächtigsten der
Welt weitgehend unerreichbar. Das könnte
sich allerdings schon sehr bald ändern. Denn
die Arktis schmilzt.
september 10 marina.ch
Diese Erkenntnis mag nicht neu sein, genauso
wenig wie das sich ständig wandelnde Klima
am Nordpol: Vor 40 Millionen Jahren herrschten
in der Arktis suptropische Temperaturen. Damals wuchsen dort riesige Mammutbäume
und Pflanzen, wie wir sie heute aus Reiskulturen
kennen. Im Tertiär bildeten sich erstmals Eiskappen über den Polen und vor 6000 Jahren
war die Gegend womöglich bereits periodisch
eisfrei. Was heute neu ist, ist die immense Geschwindigkeit, mit der sich die Arktis erwärmt.
Sie tut dies nicht nur schneller als bisher, sondern auch schneller als jede andere Region der
Welt. Schon bald dürfte das Nordpolarmeer
Der Eisbrecher «Polarstern»
des Alfred-Wegener-Instituts
hinter einer Eisscholle im
antarktischen Meer.
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nur noch während der Wintermonate zuge­
froren sein. Ab wann die eisfreien Sommer genau auftreten werden, ist ungewiss. Doch
sämtliche Schätzungen operieren mit Zeit­
räumen von wenigen Jahrzehnten.
Exakte Prognosen zu machen ist deshalb so
schwer, weil die klimatischen Prozesse in der
Arktis aussergewöhnlich komplex und schwer
zu modellieren sind. Viele davon reagieren gar
selbstverstärkend: Da ein dunkler Wasser­körper
weniger Licht reflektiert als weisses Eis, wird
nach dem Verschwinden des Eises viel weniger
Sonnenlicht reflektiert. Somit erwärmt sich der
arktische Ozean und die darüberliegende Luft
durch die Schmelze umso mehr. Ebenfalls eine
wichtige Rolle spielt das Treibhausgas Methan,
das etwa zwanzigmal stärker wirkt als Kohlendioxid. Bisher war es im Eis gebunden. Wird es
nun aber durch das Schmelzen freigesetzt, verstärkt es den Treibhauseffekt – und sorgt ebenfalls für eine zusätzliche Erwärmung.
Grenzen der Technologie
Paradoxerweise ist die Eisschmelze wirtschaftlich und politisch gern gesehen: Nicht
nur wird dadurch der Zugang zu den Roh-
stoffen erleichtert, sondern es entstehen auch
neue Schiffsrouten: Ist das Eis auf den Nordost- und Nordwestpassagen erst mal geschmolzen, ist der Weg frei für kurze Transportwege aus Nordwesteuropa und der USA
nach Fernost. Vergessen wird dabei allerdings
oft der geschätzte globale Meeresspiegel­
anstieg von rund sechs Metern. Auch im Hinblick auf die Natur ist das schnelle Schmelzen der Arktis keinesfalls ein Grund zur Freude:
Viele Tiere, die auf das Eis angewiesen sind,
verlieren ihren Lebensraum. Bereits jetzt
­werden bei Rentieren, Walrössern, Robben,
Eisbären und diversen Walarten Rückgänge
in den Beständen festgestellt. 40 arktische
Tierarten gelten derzeit als gefährdet.
Schlimmer als die eigentliche Klimaveränderung dürfte für die Tiere aber das wachsende
Risiko durch den Menschen sein: Die Belas­
tung durch Umweltgifte wird zunehmen und
eine Katastrophe, wie sie sich derzeit im Golf
von Mexiko abspielt, wäre in der Arktis doppelt verheerend: Kalte Ökosysteme erholen
sich nur äusserst langsam. Dies musste bereits
1994 festgestellt werden, als 100 000 Tonnen
Öl in arktische Gewässer schwappten. Eine
durch die Kälte rascher als angenommen
­porös gewordene Pipeline brach gleich an
23 Stellen. Das traurige Fazit: Nicht nur die
Natur ist im vereisten Norden unberechenbar,
sondern auch die an anderen Orten gut
­funktionierende Technologie.
Wie die Gegend auf ihre explosionsartige
Nutzung reagieren wird, weiss heute niemand,
doch der Kampf um die Schätze der Arktis ist
in vollem Gange. Schon heute stammen rund
15 Prozent der weltweiten Erdölproduktion
aus der Arktis, grösstenteils gefördert auf russischem Staatsgebiet. Und während sich die
Weltöffentlichkeit auf das sprudelnde Loch
im Golf von Mexiko konzentrierte, hatte die
schottische Firma Cairn westlich von Grönland nahezu unbemerkt zwei Bohrmeissel in
den arktischen Meeresboden geschlagen. Im
August haben weitere Bohrungen begonnen.
Letztlich ist die wirtschaftliche Eroberung der
Arktis nur eine Frage der Zeit und die deutsche
Polarforscherin Heidemarie Kassens bringt die
Machtverhältnisse zynisch auf den Punkt:
«Im Grunde geht es nur um die Frage, ob wir
auf dem Nordpol künftig Blinis oder Hotdogs
essen werden.»
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