Als unkultivierte Zuwanderer kamen die Azteken in die

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KAPITEL IV
AZTEKEN – KRIEGERISCHE GELEHRTE
Nabel der Welt
Als unkultivierte Zuwanderer kamen die Azteken
in die fruchtbare Seelandschaft von Mexiko.
Es gelang ihnen, ein mächtiges Reich zu errichten,
in dessen Mittelpunkt der Große Tempel stand.
Von HELENE ZUBER
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Ruinen des Templo
Mayor in MexikoStadt, im Hintergrund
die Kathedrale
dem Templo Mayor, der Palast des Azteken-Herrschers Moctezuma. Die SpaWer im Herzen der Metropole Mexiko- nier haben ihn ebenfalls geschleift und
Stadt durch die freigelegten Ruinen des aus den Trümmern eine Residenz für ihTemplo Mayor, des Großen Tempels, ren Vizekönig gebaut. Heute sitzt darin
wandert, befindet sich in drei Welten: die Regierung von Mexiko.
An dieser Schnittstelle dreier EpoDer Besucher der Ausgrabungsstätte
dringt ein in die Welt der Azteken. Er chen der mexikanischen Geschichte hat
schaut auf die Kathedrale und taucht so Eduardo Matos Moctezuma, 73, der
ab in die Welt der spanischen Eroberer, wohl bekannteste Archäologe des Landie 1521 den Tempel zerstörten und dar- des, während der besten Jahre seines
auf ihre eigene, dem christlichen Gott Berufslebens geforscht. Er ist ein Nachgeweihte Kirche errichteten. Und er fahre des großen Azteken-Herrschers.
steht in der Welt von heute, umtost vom Dass er sich als Wissenschaftler der Welt
Geschrei der Straßenhändler und dem seiner Ahnen verschrieb, sei dennoch
Gehupe der Autos am Zócalo, dem riesi- Zufall, sagt der Mann mit der runden
Brille und dem weißgrauen Bart, „ich
gen Platz vor der Kathedrale.
Schräg gegenüber liegt der National- glaube nicht an Vorsehung“. Nur einen
palast. Vor 500 Jahren prunkte da, nahe Monat, nachdem Arbeiter der Telefon-
Am Templo Mayor
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gesellschaft am 21. Februar 1978 beim
Verlegen von Kabeln hinter der Kathedrale auf ein rundes Relief von über drei
Meter Durchmesser gestoßen waren, erhielt der junge Forscher den Ruf, das
aufregende Projekt zu leiten.
Eine Schiebermütze und eine dicke
Jacke über dem Pullover schützen den
Wissenschaftler gegen die Morgenkälte.
Er führt durch das von ihm vor 26 Jahren inmitten der Ausgrabungsstätte begründete Museum und bleibt vor dem
gewaltigen Fund von damals stehen: Das
Relief ist in einen tonnenschweren Monolithen aus rosa Vulkangestein gehauen. Es zeigt die Mondgöttin Coyolxauhqui im Kriegsschmuck, erklärt Matos.
Nach einem uralten Mythos wurde sie
von ihrem Bruder, dem Sonnengott
SPIEGEL GESCHICHTE
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S. 86: LOOK-FOTO; SAMMLUNG RAUCH / INTERFOTO (L.)
Im Codex
Mendoza von
1548 ist die
aztekische Gründungslegende
dargestellt: Dort,
wo der Adler
landet, soll das
Volk seine
Hauptstadt
errichten, fortan
das Zentrum der
Welt.
AZTEKEN – KRIEGERISCHE GELEHRTE
teken, einst von den Kolonialherren zerstört, brachen sich Bahn.
Die Ausgrabungen der vergangenen
36 Jahre, bei denen bereits 13 000 Quadratmeter im Zentrum der Hauptstadt
erkundet wurden, halfen – Stein für Knochen für Schmuckstück – die Geheimnisse der Azteken zu lüften. Jeder ihrer
Herrscher überbaute und verschönerte
den Großen Tempel, siebenmal bis zu
seiner Zerstörung. Der Templo Mayor
war mehr als ein Bauwerk, so Matos. Für
die Azteken war er das Zentrum des Universums, er spiegelte ihre Welt.
Die große Wanderung
ART ARCHIVE / IMAGES.DE (O.); MOCKFORD & BONETTI / EYE UBIQUITOUS / GLOWIMAGES (U.)
Kultstätten am Templo Mayor: Schlangenkopf zwischen zwei
Brandopfer-Schalen (o.), in Stein gemeißelte Totenschädel
Huitzilopochtli, besiegt, enthauptet und
zerstückelt. Der Monolith mit ihrem
Abbild lag einst am Fuß der Tempelpyramide.
Erst die zufällig entdeckte Mondgöttin animierte den mexikanischen Staat,
die vorkoloniale Geschichte von México-Tenochtitlan, wie die Azteken ihre
Stadt nannten, gründlich zu erforschen.
Matos Schüler arbeiten bis heute daran.
Aus den Schriften spanischer Mönche des 16. Jahrhunderts und den wenigen geretteten Zeugnissen der Einheimischen wussten die Archäologen, wo
Tenochtitlan lag und wie der heilige Bezirk um den Templo Mayor ausgesehen
haben musste. Als die gewaltige Kathedrale vor zwei Jahrzehnten einzustürzen drohte, weil der Grundwasserspiegel abgesunken war, mussten Ingenieure
den Unterbau stabilisieren. Für Matos
und seine Leute war die Gelegenheit
günstig: Sie konnten in unbekannte Tiefen vordringen und stießen 16 Meter unter den christlichen Altären auf ein gutes
Dutzend heidnische Heiligtümer und
Bauten. „Es war die Rache der Götter“,
scherzt Matos – die Monumente der Az-
Wo kamen die Azteken her? Was veranlasste sie, gerade an dieser Stelle ihre
Stadt zu errichten? Wie gelang es ihnen,
ihren Machtbereich auszudehnen bis an
über tausend Kilometer entfernte Küsten, vom Pazifik bis zum Golf von Mexiko? Und wie konnten sie solch ein riesiges Gebiet verwalten?
Sie selbst behaupteten, sie kämen aus
Aztlán. „Aber niemand hat je eine Spur
von diesem Ort gefunden, obwohl allerhand Wissenschaftler lange danach gesucht haben“, sagt Enrique Florescano,
76. Der prominente Historiker hat wache braune Augen und trägt sein graues
Haar schulterlang. In der Zentrale der
Kulturbehörde hat Florescano, der stellvertretende Direktor, noch immer ein
kleines Büro. Hier versucht er, dem Gast
aus Deutschland die Trennlinie aufzuzeigen zwischen den überlieferten Mythen und der erforschten Realität.
Das mythische Aztlán – der Name bedeutet so viel wie Land der weißen Reiher – wird als Insel beschrieben. Im 19.
Jahrhundert brachte das den nordamerikanischen Amateurforscher Ignatius
Donnelly dazu, Aztlán mit der versunkenen Sagenstadt Atlantis gleichzusetzen. Florescano und viele andere Wissenschaftler aber glauben, dass das
Nahuatl sprechende Volk wahrscheinlich aus dem Nordwesten Mittelamerikas stammt.
Florescano stützt sich auf einheimische Kartenwerke, deren HieroglyphenTexte entziffert werden konnten, und auf
Chroniken, allesamt aus der frühen Kolonialzeit. Er vergleicht diese Quellen mit
archäologischen Erkenntnissen, wie sie
etwa das Team um Matos gesammelt hat.
Als die Kathedrale einzustürzen drohte,
kamen die alten Heiligtümer der Azteken zum Vorschein.
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AZTEKEN – KRIEGERISCHE GELEHRTE
Ruinen
dieser
„Stadt der Götter“
sind heute noch
und das Zentrum von Mexiko-Stadt
im Vergleich zu Mexiko-Stadt heute
etwa hundert Kilometer nördlich
Ausdehnung
Teotihuacan
von Mexiko-Stadt
von Tenochtitlan
Tula
zu besichtigen.
Texcoco
Nach jahrhunderSt a dt t e i l
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Texcocoehem.
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Zentren der
Colhuacan
Re g i e r u n g s STADT
Region erlangte
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Tula besondere
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Bedeutung, für
Chapult
etwa 200 Jahre
Xoximilco
ZENTRUM
nach der Jahrtausendwende. Die
Ausdehnung
Stadt im heutigen
von Mexiko-Stadt
Bundesstaat Hi15 km
dalgo war zwar bei
1 km
*heute
Xoximilco
ausgetrocknet
weitem nicht so
grandios wir TeoIm Codex Boturini, einer aztekischen „Heuschreckenberg“ am Westufer des tihuacan, aber anscheinend haben die
Bilderhandschrift, wird der Aufbruch damals weit ausgedehnten Texcoco- Bewohner vieles vom alten Wissen aus
von Aztlán mit einer Hieroglyphe auf Sees (siehe Karte). Heute ist der See fast der „Stadt der Götter“ bewahrt und weiden ersten Tag des Jahres 1168 gelegt. vollständig ausgetrocknet und Chapul- tergegeben. Und als Tula selbst wieder
Dieses Werk und Chroniken von spa- tepec ein Viertel der mexikanischen Geschichte war, wanderten die Kenntnischer Hand beschreiben den langen Hauptstadt. Die Chroniken berichten, nisse weiter nach Colhuacan.
Als die Azteken dort eintrafen, kaWeg von Aztlán bis zur Gründung dass die Zuwanderer dort eine schwere
der Stadt Tenochtitlan im Becken von Niederlage erlitten, beinahe wurden sie men sie aus dem Staunen wahrscheinaufgerieben. Vom späteren Glanz eines lich kaum heraus. Bibliotheken, eine
Mexiko.
Florescano erzählt es so: Im 10. Jahr- Herrschervolkes war noch nichts zu hochentwickelte Landwirtschaft, blühende Künste – für die Migranten aus
hundert, als weiter im Süden die Maya- spüren.
Die geschlagenen Azteken fanden dem Norden waren das Wunderdinge.
Königreiche zerfallen, strömen Migranten aus dem Norden nach – eine Art Aufnahme in Colhuacan auf der südöst- Jedenfalls habe der Aufenthalt dort, so
Völkerwanderung. Die Azteken sind nur lichen Seite des Sees. Es folgten Jahr- Florescano, die Azteken in ihrem kuldie letzten in einer längeren Kette, die zehnte der Unterwerfung und Ausbeu- turellen Fortschritt wohl am stärksten
in dem fruchtbaren, mehr als 2000 Qua- tung. Die Neuankömmlinge mussten geprägt: In Colhuacan hätten sich „die
dratkilometer großen Seengebiet an- Tribut entrichten, Sklaven- und Kriegs- primitiven Wilden“ zu militärischen
Strategen gewandelt und begriffen, wie
kommen. An den Ufern steigen überall dienste leisten.
Colhuacan war damals nach dem Ur- man kluge Heiratspolitik betreibt. Als
Rauchsäulen auf, denn das üppig mit
Mais bepflanzte Talbecken ist dichtbe- teil des Historikers Florescano „das sie später ein Imperium zu organisieren
siedelt. Bauern leben seit Jahrhunderten größte kulturelle Zentrum der Region“. hatten, griffen sie auf Kenntnisse zuhier, im Schutz schneebedeckter Berg- Dort pflegten die Bewohner die Wert- rück, die sie in Colhuacan erworben
gipfel, als dieses Volk der Jäger und vorstellungen, Traditionen und Überlie- hatten.
Doch zunächst wurden sie auch aus
Sammler, das die Azteken damals sind, ferungen der Ahnen.
Sie reichten weit zurück in eine Ver- dieser Stadt vertrieben. Auf der nächsten
eintrifft und sich niederlässt.
Die legendäre Reiseroute der Azteken gangenheit, die nur Schicht um Schicht Etappe ihrer Wanderschaft waren sie
hat allerdings unterschiedliche Statio- erschlossen werden kann. Lange Zeit gezwungen, tief ins Sumpfgebiet des
nen, je nachdem, wer darüber berichtet. war Teotihuacan die dominierende Me- Texcoco-Sees vorzudringen. Auf einer
Übereinstimmend wird jedenfalls Cha- tropole der mexikanischen Hochebene. kleinen Insel gründeten die Azteken ein
pultepec als wichtiger Ort genannt, der Die beeindruckenden, gut erhaltenen Dorf, in dessen Mitte sie sofort ihrem
Die Azteken-Metropole Tenochtitlan
Eje 2. Oriente
Der Dreistädtebund um 1520
Am „Heuschreckenberg“ erlitten die Zuwanderer
aus dem Norden eine schwere Niederlage.
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SPIEGEL GESCHICHTE
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Gott Huitzilopochtli einen Tempel bauten. Gleich daneben setzten sie ein Heiligtum für die traditionelle Schutzmacht
von Teotihuacan, Tlaloc, Gottheit des
Wassers und der Fruchtbarkeit.
Huitzilopochtli, so die Legende, habe
den Azteken einst das Zeichen genannt,
an dem sie das Ziel ihres langen Weges
erkennen würden. So beschrieb es Hernando de Alvarado Tezozomoc, ein
Nachfahre der Herrscherfamilie, in seiner Chronik Ende des 16. Jahrhunderts:
„Hier wird unsere Siedlung México-Tenochtitlan sein, der Ort, wo der Adler
schreit, seine Flügel ausbreitet und
frisst, der Ort, wo der Fisch schwimmt,
wo die Schlange zerrissen wird.“ Nach
ihrem Anführer nannten sie die Gründung „Ort des Tenoch“. Das trug sich
laut verschiedener Quellen 1325 zu, in
ANDREW WINNING / REUTERS
Archäologe Matos Moctezuma
einem Jahr, das schon wegen einer Sonnenfinsternis für die Einheimischen ein
denkwürdiges war.
51 Jahre später wählten sich die Azteken in Tenochtitlan erstmals einen
Mann aus dem Adel von Colhuacan zum
Tlatoani, ihrem „großen Sprecher“. Dem
neuen Herrscher gelang es, die Rivalität
der Clan-Chefs zu beenden.
Nun also waren die Azteken bereit
für die nächste Stufe ihres mühsamen
Aufstiegs. Noch waren sie Vasallen; sie
dienten den Herren von Azcapotzalco,
inzwischen größte Macht im Becken
von Mexiko. Aus eigener Kraft schafften
sie die Befreiung nicht. Aber ihrem vierten Tlatoani Itzcoatl (Obsidian-Schlange) gelang es, sich mit den Städten Texcoco und Tlacopan zu verbünden. Und
so schüttelten die Azteken um 1430 endgültig die Knechtschaft ab.
Dieser Drei-Städte-Bund hatte außerordentliche Bedeutung für den Aufstieg der Azteken zu einer Macht, deren
Ruhm bis heute strahlt. Mit dem militä-
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rischen und wirtschaftlichen Pakt begann die Blütezeit Tenochtitlans.
Itzcoatl, erfolgreich und selbstbewusst, ordnete eine Bücherverbrennung
an, um die Erinnerung an die unrühmliche Vergangenheit zu tilgen. Historiker
Florescano erläutert: „Alle Völker erfinden einen Gründungsmythos, um im
Nachhinein die eigene Geschichte zu
glorifizieren.“ Die machtbewussten Azteken erfanden sich neu und stilisierten
sich zu Erben von Teotihuacan und
Tula. Leistungen anderer Völker vereinnahmten sie kurzerhand für sich.
Im Kreislauf des Mythos
In der aztekischen Legende ist die Migration nicht mehr eine angstvolle Suche
nach Siedlungsraum in einer feindlichen
Gegend, sondern die Reise des auserwählten Volkes an ein versprochenes
Ziel. Aus den Stämmen, die tatsächlich
schon vor den Azteken in der fruchtbaren Hochebene lebten, wurden bloße
Begleiter auf dem langen Weg.
Um die mythische Zeit mit der wirklichen Ankunft am See in Einklang zu
bringen, erfanden die Azteken einen
Befehl ihres Gottes: Sie sollten sich von
ihren Begleitern trennen und allein ins
verheißene Land ziehen. Diese Geschichte übernahmen auch die spanischen Mönche. Im Codex Aubin, dessen
Niederschrift vermutlich 1576 begann,
gebietet ihr Gott Huitzilopochtli den
Wanderern „am Ort der sieben Höhlen“,
dass sie sich umbenennen sollen: „Von
jetzt an ist euer Name nicht mehr Azteken, ihr seid schon Mexicas.“ Mexica
nannten sie sich selbst, und von Mexica
sprechen bis heute lateinamerikanische
Wissenschaftler. Die in Deutschland und
anderen Ländern übliche Bezeichnung
Azteken hat sich erst durch die Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts
verfestigt.
Bei der aztekischen Geschichtserzählung fällt auf, dass ihr angeblicher Ausgangspunkt, Aztlán, ähnliche Merkmale
hat wie das Ziel México-Tenochtitlan:
Beide sind Inseln, und die Gewässer liegen in fruchtbarem Land. Nach dieser
zirkulären Sicht haben die Azteken am
Ende ihres Weges einen Ort erobert, wie
er ihnen früher schon gehörte. Soweit
der Mythos.
Die archäologischen Untersuchungen zeigen, dass die Azteken ihre Stadt
Tenochtitlan nach dem Modell von Teotihuacan anlegten: aufgeteilt in vier
Viertel, entsprechend den vier Himmelsrichtungen. Verbunden waren sie
im Mittelpunkt der Stadt, dem heiligen
Bereich, in dessen Zentrum der Templo
Mayor errichtet wurde, als Nabel der
Welt. Immer wieder pilgerten die Bauherren des Tempels zu den Ruinen der
sagenumwobenen Musterstadt Teotihuacan und verschleppten von dort
Kunstwerke für ihr eigenes Heiligtum.
Der Große Tempel symbolisierte den
göttlichen Berg, wo sich nach aztekischem Glauben Himmel, Erde und Unterwelt treffen. Den Sakralbezirk umgab
eine Mauer, die an jeder Seite von einem
Tor durchbrochen war. Von dort gingen
Dammstraßen in die vier Himmelsrichtungen ab.
So spiegelte sich die kosmische
Ordnung im Aufbau der Stadt. Entsprechend gliederten die Azteken auch
ihr Imperium in vier große Regionen,
in deren Mitte México-Tenochtitlan
herrschte.
Leben in der Hauptstadt
Seit den Zeiten von Itzcoatl waren die
Azteken eine Feudalgesellschaft. Die
Adeligen stellten die Heeresführer,
Priester, Rechnungsprüfer und auch die
Verwalter der unterworfenen Gebiete.
In eigenen Schulen wurden ihre Söhne
in Kriegskunst, Religion, Rhetorik und
Mathematik unterwiesen. Auch Astronomie, das Lesen des Kalenders und der
Codices sowie Grundzüge der Staatsführung lernte der privilegierte Nachwuchs. Ihren Rang zeigten die Edelleute
vor aller Augen durch erlesene Kleidung
aus feiner Baumwolle und besonderen
Schmuck. Sie mussten dem Herrscher
keinen Tribut leisten. Der teilte ihnen
Land zu als Belohnung für Leistungen
im Krieg und in der Verwaltung.
Ein Rat aus Adeligen, Militärs und
weisen Ältesten wählte unter den Männern der Herrscherfamilie den Geeignetsten zum Tlatoani – anders als bei
den Maya, wo die Söhne ihren Vätern
auf dem Thron folgten. Die Anführer der
beiden anderen Dreibund-Städte mussten zustimmen. Der Azteken-Herrscher
sollte ein tapferer Krieger sein, sich gut
in den religiösen Riten auskennen und
ausgewogen Recht sprechen.
Nach dem in Colhuacan erlernten
Muster schufen die Azteken einen Staat
mit straff organisierter Verwaltung. Dem
Tlatoani standen Würdenträger zur Seite, die jeweils eine Säule der Administration überwachten: das Militär, den
Handel, die Märkte, das Eintreiben von
Tribut sowie die Tempel und die Glaubenslehre.
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AZTEKEN – KRIEGERISCHE GELEHRTE
Das Imperium
Federschild aus dem Schatz
des Herrschers Moctezuma
Bauern, Händler und Handwerker
stellten die Masse der Bevölkerung – um
1519 sollen bis zu 200 000 Menschen in
Tenochtitlan und der 1473 eroberten
Schwesterstadt Tlatelolco gelebt haben.
Sie waren nach Berufsgruppen und
Clan-Zugehörigkeit organisiert und
mussten Abgaben leisten.
Die Landbevölkerung bearbeitete die
Felder der Gemeinschaft und musste
Tribut entrichten, entweder in Naturalien oder durch Mitarbeit beim Bau von
Straßen, Palästen und Tempeln. Ihre beachtlichen Erträge, Grundlage des aztekischen Wohlstands, erwirtschafteten
die Bauern dank einer speziellen Technik: Besonders am Südufer des Sees, bei
Xoximilco, legten sie Chinampas an,
„schwimmende Gärten“. Sie zogen Drainage-Kanäle durch die Feuchtgebiete
und bauten große, flache Kästen, die sie
mit wasserbeständigem Holz verstärkten. Dort hinein häuften sie sumpfige
Erde und säten Mais, Bohnen und anderes Gemüse.
Auf den Märkten – einer der größten
lag in Tlatelolco – konnten die Bauern
ihre Ackerprodukte verkaufen. Als die
spanischen Eroberer diesen Markt sahen, gingen ihnen die Augen über vor
Staunen – sie rühmten die Fülle der Waren „und die große Ordnung und Gesetzlichkeit“ auf dem Platz (siehe Seite
106).
Auch die Söhne der Nichtadeligen
gingen zur Schule, wo sie vor allem für
den Kriegsdienst ausgebildet wurden,
aber auch zur Teilnahme an den religiö-
Die drei Städte der Allianz, angeführt
von Tenochtitlan, führten Kriege vor allem, um sich zu bereichern. Anstatt die
eroberten Gebiete zu besetzen, gestatteten sie den lokalen Führern, an der
Macht zu bleiben und ihre Provinz zu
verwalten. Auch an ihren Göttern und
ihren Gewohnheiten durften die Unterworfenen festhalten. Denn weder hatten
die Azteken genug Krieger, um entlegene Territorien auf Dauer zu kontrollieren, noch genug Transportmittel, um eigene Leute in der Fremde zu versorgen.
Als Gegenleistung aber mussten die unterworfenen Eliten
Tribut an die Allianz Tenochtitlan-Texcoco-Tlacopan abführen. Am begehrtesten waren spezielle Lebensmittel wie
Kakaobohnen, Erdnüsse und Gewürze, Felle von Jaguaren und Pumas, Federn für den Kopfputz der Adeligen,
Baumwolle,
Tabak,
aber auch Edelsteine wie Jade,
Türkis und Lapis, dazu Silber und
Gold. Den Löwenanteil, fünf Neuntel, beanspruchte Tenochtitlan, das
kleine Tlacopan erhielt nur ein
Neuntel. Aus der Zentrale wurden
Tributeintreiber, Kontrolleure und
Rechnungsprüfer entsandt. Wenn die
Leistungen ausblieben, schickten die
Azteken Strafexpeditionen, anschließend wurde die Tributmenge erhöht.
Immer wieder mussten sich die
lokalen Machthaber für längere Zeit
in der Metropole des Imperiums
aufhalten und ihre Söhne dort er-
ziehen lassen. Die garantierten dann
quasi als Geiseln das Wohlverhalten der
Väter.
Die unerbittliche Unterwerfung unter eine absolutistische Herrschaft hatte
historisch weitreichende Folgen. Als die
Spanier ins Land kamen, fanden sie unter den Tributpflichtigen rasch Verbündete gegen den sich allmächtig dünkenden Tlatoani Moctezuma. Der Historiker Florescano und seine Kollegen nennen sie die „einheimischen Konquistadoren“. Ohne sie wäre das Imperium
von México-Tenochtitlan, das in mehr
als hundert Jahren gewachsen war, von
dem Haufen Fremder nicht in weniger
als drei Jahren zerstört worden.
Die ökonomische Notwendigkeit, immer mehr Tribut einzutreiben und das
Reich ständig zu erweitern, rechtfertigte
die aztekische Führung theologisch. Das
„militarisierte Volk“ ersann eine Glaubenslehre, so erklärt es Florescano, die
einen hohen Preis forderte, um den Zyklus des Lebens zu erhalten. Menschen
müssen sich opfern, um mit ihrem Blut
die Sonne zu nähren, damit auf die
Nacht der neue Tag folgen kann – so
verkündeten es die Priester.
Ein wichtiger Zweck von
Kriegszügen war es, Gefangene zu machen und unter
den drei Städten der Allianz
aufzuteilen; die Besiegten
sollten nicht bekehrt werden. Den größten Anteil
an der menschlichen Beute bekam
wiederum Tenochtitlan, das politische Zentrum. Mit
seinem Templo
Mayor, der immer
prachtvoller ausgebaut
wurde, war es auch zum
religiösen Mittelpunkt
aufgestiegen.
„Alle Elemente ihrer
Mythologie finden sich
hier repräsentiert“, sagt
der Archäologe Matos:
Für die Azteken symbolisierte der Große Tempel
den Heiligen Berg, auf
Skulptur des Totengottes
Mictlantecuhtli
Menschen müssen sich opfern, damit auf die Nacht
der neue Tag folgen kann.
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SPIEGEL GESCHICHTE
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FOTOS: ART ARCHIVE / IMAGES.DE
sen Ritualen. Dazu lernten sie singen
und tanzen. Obwohl sich die sozialen
Schichten klar unterschieden, bildeten
sie keine abgeschlossenen Kasten. Wer
sich etwa im Krieg bewährte oder als
Händler begehrte Waren von weit her
in die Hauptstadt schaffte, konnte aufsteigen. Andererseits konnten Adelige,
etwa durch Gerichtsurteile, ihre Privilegien verlieren. Sogar Sklaverei war als
Strafe vorgesehen. Aus dem Sklavendienst kam frei, wer seine Schuld verbüßt hatte.
dem ihr Sonnengott Huitzilopochtli
mit seiner Schwester, der Mondgöttin, kämpft und sie besiegt. Auf der
Plattform vor seinem Heiligtum
wurde in prunkvollen Zeremonien
den Opfern das Herz aus dem Leib
geschnitten. Archäologische Untersuchungen haben Spuren von Menschenblut auf den Stufen der Pyramide nachgewiesen. Paradoxerweise, so Matos, waren Menschenopfer
„dem Leben geweiht“.
Im Oktober 2006 konnten Schüler des berühmten Archäologen am
Fuße der Tempelpyramide den
größten Monolithen der AztekenZeit freilegen: Das zwölf Tonnen
schwere Kunstwerk zeigt die Erdgottheit mit gespreizten Beinen in
Gebärposition. Aus dem Mund trieft
dem Ungeheuer ein zungenförmiger Blutstrom. Der theologischen
Lehre nach gebiert diese Gottheit
die Menschen zu ihrer Bestimmung:
dem Tod.
An der Fundstelle nahe der
Kreuzung der Straßen Argentina
und Guatemala schützen Zeltplanen den Grabungsort vor Regen
und Wind. Unter dem Reliefstein
fanden die Archäologen zahlreiche
Opfergaben wie Messer aus weißem Feuerstein, Jaguar- und Adlerknochen. Sie entdeckten eine umgedrehte Pyramidenstruktur, die
gleichzeitig die Gebärmutter der
Erdgöttin und den Eingang zur Unterwelt symbolisiert. Acht versiegelte, sorgsam angeordnete Steinbehälter befanden sich dort in der
Tiefe. Darin lagen zum Beispiel Muscheln, Korallen und Meeresgetier
aus dem Golf von Mexiko. Andere
enthielten goldene Nasen- und Ohrringe, buntbemalte Holzskulpturen,
Stoffe und Kronen aus Baumrindenpapier. Über die Jahre konnten
die Forscher an die 50 000 Objekte
aus allen Teilen des Azteken-Imperiums analysieren.
Liegt hier Ahuitzotl, einer der
wohl blutrünstigsten Tlatoani, begraben? Die reichen Opfergaben
und eine Hieroglyphe deuten darauf
hin. Das aztekische Datum entspricht dem Jahr 1502, dem Todesjahr von Ahuitzotl. Eines Tages, davon ist Eduardo Matos Moctezuma
überzeugt, werden sie im Herzen
von Mexiko-Stadt, nahe der Kathedrale, auf die Asche des Despoten
von Tenochtitlan stoßen.
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