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KJug
58. Jahrgang | 3. Quartal
20183
Kinder- und
Jugendschutz
in Wissenschaft und Praxis
Psychisch kranke Kinder und Jugendliche 3|2013
Michael Kölch, Jörg M. Fegert
Psychische Störungen bei Kindern und Jugendlichen
Paul L. Plener, Rebecca C. Groschwitz, Martina Bonenberger, Jörg M. Fegert
Traumatische Lebenserfahrungen bei Jugendlichen
mit nicht-suizidalem selbstverletzendem Verhalten (NSSV)
Beate Lisofsky
»Wahnsinnskinder?«
Sabine Andresen
Auffällig in der Schule
Außerdem
Sigmar Roll
Recht und Rechtsprechung: Jugendschutzprogramme – ein Konzept mit Januskopf
KJug
www.kjug-zeitschrift.de
Neu! Onlineservice
Impressum
Herausgeber
Bundesarbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz e.V.
Prof. Dr. Bruno W. Nikles (Vorsitzender)
Redaktion
Ingrid Hillebrandt (verantwortlich)
Sigmar Roll (Recht und Rechtsprechung)
Prof. Dr. Andreas Lange (Rezensionen)
Satz und Layout
Annette Blaszczyk
Wissenschaftlicher Beirat
Prof. Dr. Jörg M. Fegert, Universitätsklinik Kinder- u. Jugendpsychiatrie/ Psychotherapie Ulm
Prof. Dr. Nadia Kutscher, Katholische Hochschule NRW Köln
Prof. Dr. Gabriele Kokott-Weidenfeld, Fachhochschule Koblenz
Prof. Dr. Andreas Lange, Hochschule Ravensburg-Weingarten
Dr. Christian Lüders, Deutsches Jugendinstitut München
Prof. Dr. Johanna Mierendorff, Martin-Luther Universität Halle-Wittenberg
Sigmar Roll, Bayerisches Landessozialgericht Schweinfurt
Prof. Dr. Ahmet Toprak, Fachhochschule Dortmund
Redaktionsanschrift
Bundesarbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz e.V.
Mühlendamm 3, 10178 Berlin
Tel. (0 30) 400 40 301, Fax (0 30) 400 40 333
E-Mail: [email protected]
Verlag
Bundesarbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz e.V. (BAJ)
Kinder- und Jugendschutz in Wissenschaft und Praxis
erscheint vierteljährlich. Jahresumfang ca. 128 Seiten.
Bezugspreis jährlich Euro 46,– zuzüglich Versandkosten/Porto, Einzelheft Euro 16,– .
Abbestellungen sind nur zum Ende eines Kalenderjahres möglich (schriftlich bis 15. November bei der Redaktion eintreffend). Studenten erhalten 20 % Nachlass auf den Abonnementpreis (Vorlage der Studienbescheinigung erforderlich).
Preisirrtum und -änderungen vorbehalten.
Druck /Auslieferung/Abo-Verwaltung
Westkreuz Druckerei Ahrens KG
Töpchiner Weg 198/200
12309 Berlin
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Internet: www.westkreuz.de
Die Zeitschrift und alle in ihr enthaltenen einzelnen Beiträge und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Herausgebers unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen in den verschiedenen Druck- und Kopierverfahren, für
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(2) UrhG und verpflichtet zur Gebührenzahlung an die VG WORT, Abteilung Wissenschaft,
Untere Weidenstraße 5, 81543 München, von der die einzelnen Zahlungsmodalitäten zu
erfragen sind.
Für unverlangt eingesandte Manuskripte und Rezensionsexemplare kann keine Gewähr
übernommen werden.
ISSN 1865-9330
Inhalt KJug 3/2013
Kurz berichtet
Liebe Leserin, lieber Leser,
bereits im 13. Kinder- und Jugendbericht stand das
Thema »Gesundheitsbezogene Prävention und Gesundheitsförderung in der Kinder- und Jugendhilfe«
im Mittelpunkt und auch in KJug haben wir uns regelmäßig mit der Gesundheit bzw. Krankheit von
Kindern und Jugendlichen beschäftigt.
Die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die wegen
psychischer, psychosomatischer oder anderer
Krankheiten in ärztlicher oder psychotherapeutischer Behandlung sind, ist in den vergangenen
Jahren kontinuierlich angestiegen. Das Spektrum
dessen, was als verhaltensauffällig bezeichnet
wird, ist dabei sehr breit und reicht von Störungen
des Sozialverhaltens, Selbstverletzendem Verhalten, Essstörungen, ADHS, Drogenmissbrauch und
Psychosen bis zu Depressionen, Erschöpfung, Ängsten und Zwängen.
Psychische Störungen bedeuten für die betroffenen
Kinder und Jugendlichen stets eine Beeinträchtigung der Lebensqualität. Dabei ist das Risiko für
eine psychische Störung im Kindes- und Jugendalter
nicht gleich verteilt, sondern es gibt Gruppen mit
einem deutlich erhöhten Risiko. Psychische Auffälligkeiten stellen aber auch für Eltern und Lehrerinnen und Lehrer eine Herausforderung für pädagogisches Handeln dar.
Neben individuellen, familiären und sozialen Risikofaktoren rücken auch immer stärker Schutzfaktoren
in den Blick von Wissenschaft und Praxis. Diese sog.
protektiven Faktoren werden in der Resilienzforschung untersucht – ein Thema, das für den Kinderund Jugendschutz von hohem Interesse ist.
Im Rahmen von Prävention ist die Aufgabe aller beteiligten Institutionen die Schaffung von günstigen
Rahmenbedingungen für das gesunde Aufwachsen
von Kindern und Jugendlichen. Ziel ist die Sicherstellung der psychischen Gesundheit und parallel
dazu die Sicherstellung der Behandlung von betroffenen Kindern und Jugendlichen sowie generell die
Schaffung des Bewusstseins für psychische Störungen (nicht nur) bei Kindern und Jugendlichen.
Mit den Beiträgen in diesem Heft wollen wir zur Sensibilisierung und Professionalisierung all jener beitragen, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten.
Ingrid Hillebrandt
74
Titelthema:
Tlt
Psychisch kranke Kinder und Jugendliche
Psychische Störungen bei Kindern und Jugendlichen
Prof. Dr. Michael Kölch, Prof. Dr. Jörg M. Fegert
75
Traumatische Lebenserfahrungen bei Jugendlichen mit
nicht-suizidalem selbstverletzendem Verhalten (NSSV)
Dr. Paul L. Plener, Rebecca C. Groschwitz,
Martina Bonenberger, Prof. Dr. Jörg M. Fegert
81
»Wahnsinnskinder?« Ein Projekt zur Unterstützung von
Familien mit psychisch auffälligen Kindern und Jugendlichen
Beate Lisofsky
86
Auffällig in der Schule
Eine schwierige Gemengelage der Pädagogik
Prof. Dr. Sabine Andresen
90
Fachbeitrag
Das Modell der Vier: Eine Klassifikation exzessiver
jugendlicher Internetnutzer in Europa
Michael Dreier, Kai W. Müller, Eva Duven,
Prof. Dr. Manfred E. Beutel, Dr. Klaus Wölfling
96
Positionen/Standpunkte
Zur Lage der Kinder in Industrieländern
Stellungnahme der DGKJP, des BKJPP, der BAG KJPP und
der gemeinsamen Stiftung »Achtung! Kinderseele«
100
Recht und Rechtsprechung
Jugendschutzprogramme – ein Konzept mit Januskopf
Sigmar Roll
102
Gesetz und Gesetzgebung/Rechtsprechung/Schrifttum
Sigmar Roll
106
Kinderschutz aktuell/ Jugendschutz aktuell
»Mein Körper gehört mir!« – Kinderparcours
Stop & Go – ein Jugendschutzparcours
108
109
Service
Literatur/ Mediendienst/ Mitteilungen/ Termine
110
Redaktion
3/2013
KJug 73
Kurz berichtet
 Sexueller Kindesmissbrauch:
»Eltern können etwas tun«
Immer mehr Fälle sexuellen Kindesmissbrauchs in öffentlichen Einrichtungen sind in
den vergangenen Jahren bekannt geworden.
Das verunsichert insbesondere Eltern. Nach
einer aktuellen Umfrage des forsa-Instituts im
Auftrag der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) fühlen sich 55 Prozent
allein gelassen, wenn es darum geht, ihre
Kinder vor Übergriffen zu schützen, von den
jüngeren Eltern (25 bis 34 Jahre) sogar 58 Prozent. In der forsa-Umfrage sehen viele Eltern,
dass die Schule sie gut unterstützen könnte:
So sagen 72 Prozent der Befragten, dass es
hilfreich sei, wenn sexueller Kindesmissbrauch im Unterricht behandelt werde. 56
Prozent wünschen sich Informationsveranstaltungen für Eltern zu dem Thema.
Die bundesweite Initiative »Trau dich!«
des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) und der
Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) bietet Kindern zwischen acht und
zwölf Jahren, Eltern und pädagogischen Fachkräften Hilfestellungen, um das Thema Kindesmissbrauch zuhause und in der Schule zu
thematisieren.
Weitere Informationen für Kinder unter
www.trau-dich.de und unter www.bzga.de.
 DJI-Kinder-Migrationsreport
Rund ein Drittel der Kinder unter 15 Jahren in
Deutschland hat einen Migrationshintergrund.
Gleichwohl sind neun von zehn von ihnen in
Deutschland geboren, sieben haben die deutsche Staatsbürgerschaft. Die meisten leben in
Familien mit hohem sowie mittlerem Berufsund Bildungsniveau. Und obwohl die Mehrheit
der Kinder mit Zuwanderungshintergrund nicht
in Armut lebt, verfügen sie deutlich häufiger als
Kinder ohne Migrationshintergrund über nur
geringe kulturelle, soziale und ökonomische
Ressourcen im Elternhaus.
Mit dem Kinder-Migrationsreport stellt das
Deutsche Jugendinstitut eine Veröffentlichung
vor, in der Ergebnisse repräsentativer Erhebungen zu den Lebenslagen und Lebenswelten
von Kindern mit Zuwanderungsgeschichte zusammengetragen wurden, ergänzt durch eigene kindbezogene bzw. altersspezifische Auswertungen von Daten des Mikrozensus sowie
des DJI-Surveys »Aufwachsen in Deutschland«
(AID:A).
Download unter: http://www.dji.de/bibs/
Kinder-Migrationsreport.pdf

 www.hilfeportal-missbrauch.de
Das neue Online-Angebot bietet Informationen zu Beratung, Hilfen und Fragen der Prävention für von sexueller Gewalt Betroffene,
deren Angehörige und Fachkräfte. Eine Datenbank unterstützt bundesweit die Suche nach
spezialisierten Beratungs- und Hilfsangeboten vor Ort. Das Angebot wendet sich nicht
explizit an Kinder, verweist aber auf entsprechende Angebote für Mädchen und Jungen. In
der Datenbank finden sich folgende Kontakte:
Beratungsstellen (Fachberatungsstellen, allgemeine Familien-, Erziehungs- und Lebensberatungsstellen), Psychotherapeutinnen
und Psychotherapeuten, Ärztinnen und Ärzte,
Traumaambulanzen und Fachkliniken, Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte (Opferanwältinnen und Opferanwälte), Telefonische Hilfsangebote, Online-Angebote, Krisendienste
(auch Kinder- und Jugendnotdienste) und Jugendämter.
74
K Jug
 Expertise »Computerspiele in der
pädagogischen Praxis«
Was spielen Jugendliche am Computer und
warum? Wie kann man dieses Thema in der
pädagogischen Praxis aufgreifen und behandeln? Welche Materialien und Ansätze gibt es
bereits? Das sind die zentralen Fragen, die die
Expertise »Computerspiele in der pädagogischen Praxis« stellt, die im Rahmen des
Projektes ›Gameslab‹ entstanden ist. Ziel der
Expertise ist es, einen Überblick über aktuell
zugängliche Materialien, Handlungsempfehlungen und gegenwärtige pädagogische Praxis zu geben, die sich mit den Umgangsweisen von Heranwachsenden in digitalen Spielwelten beschäftigen. Das Hauptaugenmerk
der Expertise liegt darauf, Zielrichtung und
Themensetzung der Handlungsansätze medienpädagogisch einzuschätzen. Die Praxisprojekte wurden vor allem hinsichtlich ihrer pädagogischen Ausrichtung und Methoden betrachtet.
Die Expertise findet sich unter http://
www.jff.de/games/gameslab-expertise
Kinder- und Jugendschutz in Bundestagsdrucksachen
Tabakprävention und Schadensminderung stärken – EU-Tabakprodukterichtlinie weiter
verbessern
Bundestagsdrucksache 17/13244, Antrag vom 24.04.2013
Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fordert ein Verbot des Verkaufs von Zigaretten an öffentlich zugänglichen Automaten. Außerdem sollen Produktpräsentation und Werbung für
Tabakprodukte im öffentlichen Raum sowie in Verkaufsstellen insbesondere an Kassen eingeschränkt werden, verlangt die Fraktion in einem Antrag (17/13244). In dem Antrag wird die
Bundesregierung aufgefordert, sich bei den Beratungen über die EU-Tabakprodukterichtlinie
für eine Beibehaltung der in dem Richtlinienvorschlag enthaltenen bildgestützten Warnhinweise für Produkte wie Zigaretten und Tabak zum Selbstdrehen einzusetzen.
Suchtprävention im Rahmen der Novelle der Spielverordnung
Bundestagsdrucksache 17/12916, Kleine Anfrage vom 20.03.2013
Bundestagsdrucksache 17/13014, Antwort der Bundesregierung vom 10.04.2013
Um die Suchtprävention im Rahmen der Novelle der Spielverordnung geht es in einer Kleinen
Anfrage der SPD-Fraktion. Die Bundesregierung soll unter anderem darlegen, wie sie sicherstellen will, dass personenungebundene Spielerkarten nicht von Erwachsenen an Minderjährige weitergegeben werden. Außerdem wird nach Kontrollen in Spielhallen und dem
Ausmaß der Spielsucht gefragt.
3/2013
Titelthema
Michael Kölch, Jörg M. Fegert
Psychische Störungen bei Kindern und Jugendlichen
Psychische Auffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen sind häufige Phänomene: nach dem Kinderund Jugendgesundheitssurvey des Robert Koch-Instituts (KiGSS), der die neueste Datengrundlage für
Deutschland darstellt, zeigen ca. 20% der Kinder und Jugendlichen Auffälligkeiten im Verhalten (Meltzer
et al. 2003, Kessler et al. 2005, Hölling et al. 2007). Die Kriterien für eine behandlungsbedürftige psychische
Störung, die z.B. nach der ICD-10 Klassifikation der WHO definiert wird, erreichen aber deutlich weniger
Kinder und Jugendliche, jedoch immerhin noch ca. 6%. Dabei ist das Risiko für eine psychische Störung
im Kindes- und Jugendalter nicht gleich verteilt, sondern es gibt Gruppen mit einem im Vergleich zur
Allgemeinbevölkerung deutlich erhöhten Risiko. Welche Störungen sind typisch im Kindes- und Jugendalter, was sind die Ursachen und wie wird behandelt? Der Beitrag wird auf einzelne typische Störungsbilder
im Kindes- und Jugendalter und auf spezielle Risikogruppen eingehen.

Formen und Verläufe psychischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen
Kinder- und jugendpsychiatrisch hat sich eine Einteilung der psychischen Störungen bei Kindern und
Jugendlichen in externalisierende und internalisierende Störungen bewährt (Laucht et al. 2000). Externalisierende Störungen zeichnen sich durch expansives Verhalten aus, die Symptomatik wird
durch nach außen gerichtetes (und von außen beobachtbares) Verhalten wie motorische Unruhe, Unkonzentriertheit oder erhöhte Impulsivität (typische
Symptome bei hyperkinetischen Stöexternalisierende rungen oder Aufmerksamkeits-DefizitStörungen Hyperaktivitätsstörung, ADHS), dissoziale Phänomene wie Stehlen, Zündeln,
Zerstören von Dingen, Gewalt gegen andere, Substanzabusus (Symptome bei Störungen des Sozialverhaltens) gekennzeichnet. Aber auch die Ticstörung, mit ihrer motorischen (einschießende Bewegungen) oder phonetischen (nicht steuerbare
Laut-/Geräuschbildung) Symptomatik zählen zu
den externalisierenden Störungen.
Dagegen richten sich bei internalisierenden Störungen die Symptome mehr nach »innen«, sie sind
zum Teil schlechter beobachtbar und die
internalisierende Problematik ist mehr im Gefühlsbereich
Störungen lokalisiert. Beispiele sind depressive
Störungen, Angststörungen (z.B. soziale
Ängste) oder Essstörungen (Anorexia nervosa, Bulimia nervosa) etc.
Eine andere übliche Differenzierung der psychischen Störungen stellt die Einteilung in Störungen
mit dimensional vom Gesunden verschiedenem und
mit kategorial unterschiedlichem Symptommuster
3/2013
KJug, 58. Jg., 75 – 80 (2013)
© Bundesarbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz e. V.
dar. Ein Beispiel für dimensionale Störungen sind
Angststörungen, deren Symptome auf einem Kontinuum physiologischer Gefühle und Reaktionen, wie
sie Angst darstellt, dimensional nur überstark ausgeprägt sind. Ein Beispiel für eine Störung mit kategorial unterschiedlicher Phänomenologie sind schizophrene Störungen, deren qualitative Veränderungen des Erlebens mit Wahn, Halluzinationen etc.
kategorial verschieden sind vom gesunden Erleben.
Während bei Kindern und Jugendlichen fast alle
psychischen Störungen, wie sie auch Erwachsene
betreffen können, auftreten (wie z.B. Zwangsstörungen, Angststörungen, Psychosen etc.), gibt es
einige kinder- oder jugendspezifische Störungen,
die sich (beinahe) ausschließlich in dieser Altersgruppe manifestieren: Beispiele hierfür sind Bindungsstörungen (gestörte Bindung an
die primäre Bezugsperson mit deutlicher kinder- oder
Störung in der Mutter-Kind-Interaktion jugendspezifische
im frühesten Alter oder Fehlen einer pri- Störungen
mären Bezugsperson in diesem Altersabschnitt und daraus folgend massiv auffälligem Verhalten z.B. mit Überaktivität, Weglaufen, Distanzlosigkeit etc.), Ausscheidungsstörungen (Einnässen,
Einkoten), bestimmte Angststörungen wie die emotionale Störung mit Trennungsangst (also einer
Angst sich von den Bezugspersonen zu trennen und
deswegen z.B. den Schulbesuch zu verweigern),
(s)elektiver Mutismus (trotz prinzipieller Fähigkeit
zu Sprechen keine sprachliche Kommunikation mit
anderen Menschen oder nur mit ausgewählten Personen), hyperkinetische Störungen oder Störungen
des Sozialverhaltens.
Psychische Störungen zeichnen sich dadurch
aus, dass sie Auswirkungen auf das Denken, Fühlen
KJug
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Kölch, Fegert • Psychische Störungen bei Kindern und Jugendlichen
und Handeln der Patienten haben, dies meist nicht
nur kurzdauernd, sondern eher länger anhaltend:
Sie beeinträchtigen die Lebensqualität der Betroffenen und ihrer Familien. Sowohl die Schwere der
Ausprägung, als auch die Auswirkung auf das Funktionsniveau wie die Dauer einer Symptomatik sind
also konstitutiv für eine Diagnose. Einzelne Symptome, wie sie passager bei Kindern oder Jugendlichen auftreten können, wie z.B. Traurigkeit, Ängstlichkeit oder selbstverletzendes Verhalten (Plener
et al. 2009), können zwar stark beeinträchtigend
sein, müssen aber nicht die Kriterien für eine Diagnose erfüllen, wenn sie nur zeitlich sehr kurz, oder
ohne weitere zusätzliche Symptome oder Phänomene auftreten. Damit sind den diagnostizierten
Störungen ein klinischer Schweregrad und eine daraus folgende Beeinträchtigung immanent, und es
liegen bei einer diagnostizierten Störung nicht nur
»Befindlichkeitsvarianten« vor.
Einige der in der Kinder- und Jugendpsychiatrie
bekannten Störungen remittieren auch wieder im
Kindes- oder Jugendalter, so verliert sich
Dauer einer z.B. bei einem Großteil der Patienten mit
Symptomatik Störung des Sozialverhaltens die Symptomatik am Ende der Pubertät (Moffit et
al. 2002), Ausscheidungsstörungen persistieren
kaum ins Erwachsenenalter. Störungen wie Autismus (deutliche qualitative Beeinträchtigung in der
sozialen Interaktion und Kommunikation mit Entwicklungsstörungen und Stereotypien, bzw. eingeengten Sonderinteressen) oder ein Teil der Ticstörungen sind jedoch als chronische Beeinträchtigungen anzusehen, deren Symptomatik auch noch
im Erwachsenenalter fortbesteht. Dies gilt meist
auch für diejenigen schizophrenen Psychosen, die
sich im Jugendalter erstmanifestieren (»early onset
schizophrenia«, EOS): oftmals sind Beeinträchtigungen auch noch im jungen Erwachsenenalter gegeben, einige Erkrankte sind ihr ganzes Leben durch
die Symptomatik beeinträchtigt.
Titelthema
verfahren etc. und auch, welche diagnostischen
Kriterien angelegt wurden, d.h. ob z.B. das DSM
oder die ICD als Grundlage genommen
wurden. Im Falle der ADHS können sich DSM=Diagnostic
so deutlich unterschiedliche Zahlen er- Statistic Manual of
geben. Verwendet man die DSM-Krite- Mental Disoders der
rien, wie sie in den USA üblich sind, wird American Psychiatric
eine weitaus niedrigere Schwelle zur Er- Association
füllung des Störungskriteriums ange- ICD=International
setzt und die Prävalenz wird höher aus- Classification of
fallen.
Diseases
Nach den epidemiologischen Untersuchungen (Meltzer et al. 2002, Kessler et al. 2005,
Hölling et al. 2007) zählen zu den sehr häufigen psychischen Störungen bei Minderjährigen die hyperkinetischen Störungen, also die ADHS, die bis zu
4 bis 6% der Kinder betreffen sollen und Störungen
des Sozialverhaltens, die 4 bis 16% aller Kinder betreffen. Beide Störungen werden bis zu 6-mal häufiger bei Jungen diagnostiziert. Angststörungen, wie
internalisierende Störungen generell, treten dagegen bei Mädchen häufiger auf, die Prävalenzangaben schwanken zwischen 6% und 20%, wobei die
Zahl der Kinder, die tatsächlich die Diagnosekriterien erfüllen niedriger liegt. Für andere Störungen,
wie Zwangsstörungen, Ticstörungen, Essstörungen
wie Anorexia und Bulimia nervosa liegen die Angaben für die Prävalenz um 0,5 bis 3%. Schmerzstörungen, insbesondere im Kindes- und Jugendalter
als Kopf- und Bauchschmerzen auftretend, sind
häufigere Phänomene und zählen zu den somatoformen Störungen. Die Zahl der diagnostizierten
Fälle von Autismus hat in den letzten Jahren zugenommen (von 3/10.000 in den 1970iger Jahren auf
mehr als 30/10.000 in den 1990iger Jahren) und
führte zur Diskussion, ob tatsächlich die Störung
zunimmt, oder diese nur vermehrt diagnostiziert
wird (Kölch, Fegert 2013).

Entwicklungsaspekte

Epidemiologie: Häufigkeit einzelner
Störungsbilder
Genaue Angaben zur Häufigkeit psychischer Störungen sind deshalb oft schwer zu treffen, da epidemiologische Studien sehr variable Ergebnisse
berichten. Dies hat methodische Ursachen. Unter
anderem hängt das Ergebnis davon ab, welche Population in die Untersuchung eingeschlossen wurde, z.B. ob eine Untersuchung in klinischen Populationen (mit erwartbar höheren Raten an Symptomen)
oder in der Allgemeinbevölkerung durchgeführt
wurde; welche diagnostischen Instrumente verwendet wurden, z.B. klinische Interviews, Fragebogen-
76
K Jug
Die kindliche Entwicklung läuft nicht vollkommen
linear ab und die Entwicklungsmeilensteine werden
nicht vollkommen normiert zu festen Zeitpunkten
absolviert. Eine verfrühte oder verzögerte Meisterung eines Entwicklungsschritts hat an sich nichts
unmittelbar Pathologisches an sich. Erst wenn ein
Kind deutlich abweicht von nach dem biologischen
Alter erwartbaren Kompetenzen oder sich eine deutliche Einschränkung des Funktionsniveaus aufgrund einer psychischen Störung ergibt, wird die
Schwelle zur Pathologie und damit zur definierten
Störung überschritten. Hinsichtlich der starken Abhängigkeit von der Entwicklung unterscheiden sich
kinder- und jugendpsychiatrische Störungsbilder
3/2013
Titelthema
Kölch, Fegert • Psychische Störungen bei Kindern und Jugendlichen
auch von erwachsenpsychiatrischen Störungen.
Manche Phänomene, die in einem anderen Lebensabschnitt als pathologisch zu werten wären, können
als typische Phänomene oder Entwicklungsschritte
von Kindern gelten: die Dunkelangst ist
Entwicklungsschritte bei kleineren Kindern physiologisch und
von Kindern und keine Erkrankung, tritt sie dagegen bei
Jugendlichen Jugendlichen auf, wäre sie pathologisch.
Eine im Vergleich zu Erwachsenen erhöhte motorische Unruhe und geringere Konzentrationsfähigkeit ist im Kleinkindalter normal, bei
einem 10-Jährigen ist eine Kontrolle der motorischen
Funktionen über die Dauer einer Schulstunde dagegen zu erwarten. Stimmungsschwankungen in der
Pubertät sind physiologisch, behindern diese jedoch die soziale Integration, da ein sozialer Rückzug von der Umwelt erfolgt, oder sind so stark, dass
den Alltagsanforderungen nicht mehr genügt wird,
werden sie zur Krankheit oder Störung.
Psychische Störungen bei Minderjährigen sind
neben dem akuten subjektiven Leid, das sie für die
Betroffenen, oder aber auch für die Familie bedeuten, große Entwicklungsrisiken für die Weiterentwicklung des Kindes. In keiner Altersspanne liegen
so viele Entwicklungsaufgaben vor einem Menschen, wie in der Zeit vom Kleinstkind bis zum jungen Erwachsenen. Damit kann auch jede Entwicklungsaufgabe aufgrund einer psychischen Störung
scheitern und langfristig fatale Auswirkungen haben, wenn eine psychische Störung in dieser Phase
auftritt und Auswirkungen auf das Funktionsniveau
des Kindes oder Jugendlichen hat.
Gleichzeitig stellen eben jene Entwicklungsaufgaben auch Risiken für die Ausbildung einer psychischen Störung dar: das Nichtgelingen eines Entwicklungsschritts, wie z.B. das Knüpfen erster
Freundschaften, kann wiederum zur Ausbildung
einer psychischen Störung, wie z.B. einer Depression führen. Problematisch an dieser Zeitphase ist,
dass sie in sehr kurzen Zeitabschnitten
Zeitfaktor bei weitreichende Auswirkungen haben
Erkennung und kann: ein Misslingen der SchulintegratiBehandlung von on bei einem 7-jährigen Kind, kann zur
psychischen Folge haben, dass damit die gesamte
Störungen Schullaufbahn fehlgebahnt wird, und
ihm Möglichkeiten für das gesamte Leben vorenthalten sind.
Insofern spielt bei psychischen Störungen im
Kindes- und Jugendalter der Zeitfaktor eine entscheidende Rolle, sowohl bei Erkennung, als auch
bei der Behandlung. Ziel ist immer, das Kind oder
den Jugendlichen möglichst rasch zu befähigen einen altersgerechten Alltag zu meistern und ein angemessenes psychosoziales Funktionsniveau zu
erreichen.
3/2013

Typische Erkrankungsalter – zum Teil
abhängig von Umweltanforderungen
Bestimmte psychische Störungen manifestieren
sich erstmalig in typischen Altersphasen. Im Kleinkindalter fallen Fütterstörungen, exzessives Schreien und Bindungsstörungen auf. Im Übergang vom
Kleinkindalter zum Schulkindalter treten typischerweise emotionale Störungen mit Trennungsangst
auf, die Unfähigkeit sich von der primären Bezugsperson zu trennen. Auch autistische Störungen fallen oft erstmals im Kindergar- typische
tenalter auf, da die Kinder nicht mit ande- Altersphasen
ren Kindern in Kontakt treten und sich für
die Umwelt sonderbar verhalten. Ein ADHS wird
zwar oft bereits im Kindergartenalter beobachtet,
extrem auffällig werden die Kinder aber mit Schuleintritt, wenn die Anforderungen an Konzentration,
Kontrolle der motorischen Funktionen und der Impulsivität schlagartig ansteigen. Es ist also bei manchen Störungen ein Zusammenhang mit den Entwicklungsaufgaben evident: die Anforderungen in
der Schulsituation sind neue Herausforderungen, in
denen bisher nicht oder nur geringer als problematisches Verhalten manifeste Probleme bereitet. TicStörungen zeigen im Alter von 6 bis 7 Jahren einen
Häufigkeitsgipfel in der Erstmanifestation. Allerdings ist bei dieser Störung ein Zusammenhang mit
externen Anforderungen kaum zu konstruieren.
Ebenfalls im Schulalter werden Störungen des Sozialverhaltens meist apparent, je früher sie beginnen, desto größer ist die Gefahr, dass aus diesem
Verhalten ein chronisches Verhaltensmuster wird.
Typische Erkrankungen der Pubertät sind Essstörungen. Auch selbstverletzendes Verhalten, bei
dem in nicht suizidaler Absicht – oft zur Emotionsregulation – dem eigenen Körper Verletzungen zugefügt werden, ist ein Phänomen der Pubertät. Depressive Störungen, ebenso wie die seltenen bipolaren Erkrankungen zeigen in dieser Altersperiode
ein gehäuftes Auftreten. Im Übergang zur Adoleszenz treten Substanzabusus und auch Phänomene
von Persönlichkeitsstörungen, insbesondere vom
Typus der emotional instabilen, der sogenannten
»Borderline«-Störung auf. Eine seltene Erkrankung
in diesem Alter ist die Schizophrenie, die gleichwohl, wenn sie sich in diesem Lebensabschnitt erstmanifestiert, eine besonders schwere Ausprägung
und schwere langfristige Auswirkungen zeigt.
Relativ unabhängig vom Alter können
sich Störungen wie posttraumatische Be- posttraumatische
lastungsstörungen manifestieren, hier Belastungsstörungen
ist das auslösende Ereignis der Trigger
für das Auftreten. Besonders dramatisch ist, dass
sich die Folgen oft noch viele Jahre später nachwei-
KJug 77
Kölch, Fegert • Psychische Störungen bei Kindern und Jugendlichen
sen lassen (Mills et al. 2011). Sequentielle Traumatisierungen, wie frühe Vernachlässigung und multiple Misshandlung, zeigen oft nicht unmittelbar ein
typisches Traumasymptommuster, sondern maskieren sich z.B. als Störungen des Sozialverhaltens
und werden erst später als Traumaentwicklungsstörung mit multiplen Symptomen auffällig (Schmid et
al. 2010).

Ursachen
Insgesamt sind psychische Störungen in ihrer Entstehung hochkomplex, so dass nicht von einer monokausalen Entstehungsbedingung ausgegangen
werden kann. Etabliert ist als Erklärungsmodell das
sogenannte »bio-psycho-soziale Modell«, wonach
beim Individuum eine genetische Vulnerabilität vorhanden sein kann; wichtig sind aber auch psychische Faktoren (etwa einem erlernten negativen
Denkstil, wie z.B. »ich kann nichts verändern«) und
soziale Faktoren (Arbeitslosigkeit, soziale Isolierung) hinsichtlich des Risikos, ob eine Störung auftritt, bzw. wie stark ihre Auswirkungen auf das Funktionsniveau eines Menschen sind. Einen wichtigen
Hinweis auf individuelle Faktoren, die das Risiko für
psychische Störungen erhöhen, liefert die, insgesamt noch wenig ausgeprägte, Resilienzforschung.
Inhalt dieser Forschung ist, welche Faktoren dazu
führen, dass manche Menschen trotz gleicher Umweltbedingungen und Einwirkungen krank werden
und manche nicht (Rutter 2006, Kölch, Fegert 2013).
Wenn auch ein Teil der psychischen Störungen im
Kindesalter reaktiv bedingt ist, also aufgrund äußerer Einflüsse, wie z.B. Scheidung, Streit zwischen
den Bezugspersonen, Vernachlässigung, Mobbing
in der Schule, ist dennoch bekannt, dass selbst bei
diesen reaktiven Störungen eine geneprotektive tische Vulnerabilität bestehen kann und
Resilienzfaktoren das Auftreten der Störung stark vom Vorhandensein protektiver Resilienzfaktoren abhängt. Eine gute Einbindung in eine stabilisierende Peergroup kann beispielsweise ungünstige familiäre Einflussfaktoren oder Belastungen
neutralisieren. Die Bedeutung der Bindung in der
frühen Kindheit für die Vermeidung bzw. Entstehung
von psychischen Störungen wurde in vielen Studien
bestätigt (Ziegenhain, Fegert 2004). Beispielsweise
spielen genetische Varianten in Zusammenhang mit
Umweltfaktoren, wie etwa dem Erleiden eines
Traumas eine Rolle bei der Entstehung von posttraumatischen Belastungsstörungen (PTSD) und anderen Störungen in der Kindheit und Jugend (KimCohen et al. 2006). Frodl et al. (2010) konnten zeigen, dass Stress in der Kindheit spätere Veränderungen in der weißen Substanz des Hippokampus
78
K Jug
Titelthema
vorhersagen kann, unabhängig davon, welcher Genotyp vorliegt. Generell findet in der Zeit der Kindheit und Jugend ein immenser Umbauprozess im
Gehirn statt, der es auch äußerst vulnerabel macht
für Fehlentwicklungen (Markham et al. 2007, Shaw
et al. 2008, Tau, Peterson 2010).
Gerade im frühen Kindesalter kann es eine
Wechselwirkung zwischen Auffälligkeiten des Kindes und der Reaktion der Umwelt geben, die wiederum Krankheitssymptome verstärkt. Ein Kind mit
einem schwierigen Temperament, wie z.B. ein
Schreikind, kann entsprechend bei den Eltern Verunsicherung hervorrufen und eine pathologische
Interaktion einleiten, die das schwierige Temperament verstärkt (Ziegenhain, Fegert 2004). Andererseits sind gerade im Kleinkindalter die Eltern-KindInteraktion, die Bindung der primären Bezugsperson und die Berücksichtigung der kindlichen
Bedürfnisse im Sinne der Feinfühligkeit der Eltern
entscheidend, damit sich das Kind gesund entwickeln kann.
So sehr auch im Kindesalter Umweltfaktoren bei
der Ausbildung von Störungen eine Rolle spielen, so
haben doch einige Störungen eine eindeutig neurobiologische oder genetische Komponente und sind
von äußeren Faktoren relativ unabhängig, wie z.B.
autistische Störungen (Freitag 2007) oder schizophrene Störungen.
Als soziale Risikofaktoren für die Ausbildung
einer psychischen Störung konnten mehrere epidemiologische Studien intrafamiliäre Belastungen identifizieren. Bereits die epi- soziale
demiologischen Studien von Meltzer et Risikofaktoren
al. (2002) in Großbritannien konnten
zeigen, dass das Risiko für eine psychische Störung
bei Kindern und Jugendlichen von sozialen Faktoren
abhängt, wie dem sozialen Status der Familie, dem
Bildungsgrad der Eltern etc. Die Bella-Studie (Ravens-Sieberer et al. 2007) und der KiGGS (Hölling et
al. 2007) bestätigten die Befunde von Meltzer auch
für Deutschland. Ein doppeltes Risiko für das Auftreten einer psychischen Störung besteht bei Kindern von Alleinerziehenden, aktuelle Familienkonflikte oder Unzufriedenheit der Eltern in der Partnerschaft potenzieren das Risiko noch mehr. Auch ein
höheres Risiko für externalisierende Störungen, wie
ADHS, bei schwächerem sozioökonomischem Status der Eltern konnte aufgezeigt werden.
3/2013
Titelthema
Kölch, Fegert • Psychische Störungen bei Kindern und Jugendlichen

Hochrisikogruppen:
Heimkinder – Pflegekinder –
Kinder psychisch kranker Eltern
In den letzten Jahren konnten bestimmte Hochrisikogruppen für psychische Störungen identifiziert
werden. Besonders bedrückend ist, dass diese
Gruppen keineswegs am besten psychiatrisch versorgt sind, sondern eher Stiefkinder in
Heimkinder der Versorgung sind. Insbesondere Kinder in institutioneller Erziehung (»Heimkinder«), Kinder in Pflegeverhältnissen und Kinder
psychisch kranker Eltern stellen diese Hochrisikogruppe dar. Schmid et al. (2008) konnten nachweisen, dass z.B. bei Heimkindern bei bis zu 60% der
Kinder eine psychische Störung diagnostizierbar
ist, und zwar nicht nur externalisierende Störungen,
sondern auch internalisierende Störungen. Heimkinder zeigen eine hohe Komorbidität (es liegt also
nicht nur eine Störung vor) und eine sehr komplexe
Psychopathologie (Tarren-Sweeney 2008). Unbehandelt führen diese Störungen aufgrund der Verhaltensauffälligkeiten oft zum Scheitern von Jugendhilfemaßnahmen, mit der Folge, dass mit jedem weiteren Beziehungsabbruch und jeder
weiteren gescheiterten Hilfe die Wirksamkeit einer
neuen Jugendhilfemaßnahme sinkt
Kinder in (Macscenaere, Knab 2004). Analoges gilt
Pflegeverhältnissen für Kinder in Pflegeverhältnissen, die oftmals ein erhöhtes genetisches Risiko
mitbringen und z.B. ein deutlich erhöhtes Risiko für
Bindungsstörungen aufweisen.
In Populationen von Kindern und Jugendlichen
in institutioneller Betreuung (Heimkinder, Kinder in
Pflegefamilien) ist die Belastung durch vielfache
Kindheitstraumata besonders hoch (Fegert, Besier
2010). Es bestehen hochsignifikante Zusammenhänge unterschiedlicher Misshandlungsformen
(Wetzels 1997, Fegert 2001).
Vostanis et al. (2006) zeigte auf, dass Kinder von
psychisch kranken Eltern ein viermal höheres Risiko
aufweisen, selbst an einer psychischen
Kinder von psychisch Störung, zu erkranken. Gleichzeitig ist
kranken Eltern das Stressempfinden psychisch kranker
Eltern erhöht und sie empfinden die Elternschaft signifikant weniger beglückend als nicht
erkrankte Eltern (Stadelmann et al. 2010). Die Inanspruchnahme von Hilfen für die Kinder ist in dieser
Gruppe besonders niedrig, was durchaus einen Teufelskreis initiieren kann, an dessen Ende aus Kinderschutzaspekten die Herausnahme des Kindes
aus der Familie steht, weil zu spät interveniert wurde (Schmid et al. 2008).
3/2013

Behandlung
Kinder- und jugendpsychiatrische Behandlung ist
multimodal ausgelegt und findet in enger Kooperation mit komplementären Systemen, wie der Jugendhilfe und der Schule statt. Nach heutigem Forschungsstand sind bei vielen Störungen verhaltenstherapeutische Maßnahmen und Ansätze am
meisten evidenzbasiert. Zusätzlich bestehen gute Wirkhinweise für einige psy- Verhaltenstherapie
chopharmakotherapeutische Interventi- Psychotherapie
onen, wie beim ADHS, Ticstörungen, de- Psychopharmaka
pressiven Störungen, oder Störungen
der Impulskontrolle, Zwangsstörungen und Psychosen. Andere Störungen, wie Essstörungen, Mutismus, PTSD, Ausscheidungsstörungen, aber auch
Störungen des Sozialverhaltens werden hauptsächlich psychotherapeutisch, oder letztere pädagogisch, behandelt (für einen Überblick siehe Fegert,
Kölch 2012). Die Indikation für eine teil- oder vollstationäre Aufnahme ergibt sich aus der Funktionseinschränkung der Patienten, oder in Einzelfällen, wie bei Essstörungen oder schizophrenen Psychosen, aus der vitalen Gefährdung.

Fazit
Psychische Störungen bei Kindern und Jugendlichen
treten oft entwicklungsabhängig auf. Je nach Erkrankungsalter bei Erstmanifestation können die
Störungen massive Auswirkungen auf die weitere
Entwicklung eines Kindes haben. Psychische Störungen sind, wenn sie die Diagnosekriterien der
ICD-10 erreichen, keine Befindlichkeitsstörungen,
die sich von selbst bessern und als »Pubertätskrisen« qualifiziert werden können, sondern Krankheiten. Diese bedürfen einer sorgfältigen Diagnostik und daraus abgeleiteten – meist multimodalen
– Therapie, die im Einzelfall auch eine Psychopharmakotherapie einschließt. Für viele Störungen liegt
inzwischen eine ausreichende Evidenz zu einzelnen
Interventionen vor, so dass gut eingeschätzt werden kann, was wirkt und was eher unnötige Therapiebausteine sind. Da sich aufgrund vieler Störungen auch Defizite in der Teilha- Maßnahmen
be der Kinder und Jugendlichen ergeben, der Jugendhilfe
können ein wichtiges Element der Behandlung auch Maßnahmen der Jugendhilfe sein
(nach §35a SGB VIII). Trotz inzwischen besserer
kinder- und jugendpsychiatrischer Versorgung sind
einzelne Gruppen schlecht versorgt, bzw. benötigen
eine besonders intensive und Schnittstellen zwischen den Sozialsystemen überwindende Versorgung. Typische Beispiele sind Kinder/Jugendliche in
KJug 79
Kölch, Fegert • Psychische Störungen bei Kindern und Jugendlichen
Einrichtungen der Jugendhilfe, aber auch in Schulen
mit Sonderförderschwerpunkten, wie für Erziehungshilfe oder geistige Behinderung, Kinder in
Pflegeverhältnissen, Kinder aus Risikofamilien, wie
Kinder psychisch kranker Eltern oder KinRisikokonstellationen der jugendlicher Mütter. Risikokonstellationen wie sie für Misshandlung und Vernachlässigung typisch sind, müssen besondere
Präventionsbemühungen gelten. Die Fortentwicklung früher Interventionen, niedrigschwelliger Zugangswege zu den Hilfesystemen und komplexer
kooperativer Interventionen seitens Kinder- und
Jugendpsychiatrie, Erwachsenenpsychiatrie, anderer medizinischer Disziplinen und der Jugendhilfe,
aber auch der Schule, sind insbesondere für die
Hochrisikogruppen von Bedeutung, um deren Versorgung indiziert zu verbessern.
Nachdem eine indizierte Prävention sich als besonders wirksam erwiesen hat, gab es in den vergangenen Jahren auch Bemühungen, für einige Störungsbilder, die eine langwährende Beeinträchtigung auch im Erwachsenenalter nach sich ziehen,
wie schizophrene Störungen, Früherkennungsprogramme zu implementieren. Ziel wäre es die unbehandelte Phase, wenn leichte Symptome bereits
vorhanden sind, aber noch nicht zu einer starken
klinischen Einschränkung geführt haben, zu verkürzen und damit die Heilungschancen zu erhöhen.
Allerdings haben sich diese sogenannten Psychose
Risk Syndrome (PRS) nicht als ausreichend stabil
und spezifisch erwiesen, so dass hier aktuell noch
weitere Forschung notwendig ist, um spezifisch intervenieren zu können (Corell et al. 2010). Ähnliche
Bestrebungen bestehen inzwischen auch im Bereich der bipolaren Erkrankungen.
Eine andere Tendenz zeichnet sich in den letzten
Jahren im Rahmen der Entwicklung des DSM-5 als
Fortentwicklung des DSM-IV ab: sollen Schwellen
für einzelne Störungen erniedrigt werden, um damit
früher, bzw. bereits bei leichteren Störungen behandeln zu können und damit eine schwere Ausprägung
einer Erkrankung verhindern zu können? Dies würde
durch eine Definitionsänderung auch einen deutlichen Anstieg der Prävalenz einzelner Störungen
zur Folge haben. Unter der oben geschilderten
starken Entwicklungsvarianz einzelner Symptome
im Kindes- und Jugendalter ist eine solche Bestre-
80
K Jug
Titelthema
bung kritisch zu sehen, da die Gefahr bestünde,
einen Großteil passagerer Symptome, die im eigentlichen nie einen funktionseinschränkenden Schweregrad erreichen würden, als Krankheit zu definieren. Da es große Defizite gibt in der Versorgung
schwer beeinträchtigter Patienten und bei Risikopopulationen erscheinen Anstrengungen für eine
verbesserte Versorgung dieser, bereits eindeutig
identifizierter Patientengruppen dringender.
Die Literaturliste zum Beitrag kann bei der Redaktion
([email protected]) angefordert werden.
Prof. Dr. Michael Kölch
Kliniken für Kinder- und Jugendpsychiatrie,
Psychotherapie und Psychosomatik
Vivantes Netzwerk für Gesundheit GmbH
Landsberger Allee 49
12149 Berlin
Mail: [email protected]
Autoren
Prof. Dr. Jörg M. Fegert
Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/
Psychotherapie, Universitätsklinikum Ulm
Steinhövelstr. 5
89075 Ulm
Mail: [email protected]
Prof. Dr. med. Michael Kölch, Ärztlicher Leiter der
Kliniken für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, Vivantes Netzwerk für Gesundheit GmbH, Forschungsgruppenleiter Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie, Universitätsklinikum Ulm
Prof. Dr. med. Jörg M. Fegert, Ärztlicher Direktor
der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie, Universitätsklinikum Ulm
3/2013
Titelthema
Paul L. Plener, Rebecca C. Groschwitz, Martina Bonenberger, Jörg M. Fegert
Traumatische Lebenserfahrungen bei Jugendlichen mit
nicht-suizidalem selbstverletzendem Verhalten (NSSV)
In internationalen Studien wurde mehrfach ein Zusammenhang zwischen traumatischen Lebensereignissen, nicht-suizidalem selbstverletzendem Verhalten (NSSV) und Suizidalität diskutiert.
Die vorliegende Studie untersucht diese Zusammenhänge in einer Schulstichprobe bei 665 Schülerinnen und Schülern (mittleres Alter: 14,8, SD: 0,66). Dabei zeigt sich ein deutlicher Zusammenhang
zwischen NSSV und dem Erleben interpersoneller, wie auch nicht-interpersoneller traumatischer Ereignisse. Damit konnte erstmals auch in einer deutschen jugendlichen Schulpopulation ein Hinweis für eine
Assoziation zwischen traumatischen Ereignissen und NSSV beschrieben werden. Dies unterstreicht die
klinische Relevanz einer differenzierten Traumadiagnostik bei Kindern und Jugendlichen mit NSSV.
Nicht-suizidales selbstverletzendes Verhalten
(NSSV), definiert als repetitive, sozial nicht akzeptierte Schädigung des Körpergewebes ohne suizidale Absicht (Plener et al. 2010) ist ein häufiges
Phänomen im Jugendalter. In einem systematischen
Review der vorliegenden Arbeiten zur Prävalenz im
Jugendalter wurde eine mittlere Lebenszeitprävalenz von 18% beschrieben (Muehlenkamp et al.
2012), wobei aus Deutschland eine höhere Lebenszeitprävalenz von ca. einem Viertel der Jugendlichen
in einer Studie berichtet wurde (Plener et al. 2009)
und Deutschland im Vergleich mit den deutschsprachigen Nachbarländern die höchste Prävalenzrate
an NSSV bei Jugendlichen aufweist (Plener et al.
2013). In dem im Mai erschienenen amerikanischen
Klassifikationssystem DSM-5 wird in der Sektion
drei, auch ein »NSSV Syndrom« aufgeführt (vgl.
Plener et al. 2012), wobei dies damit noch nicht als
im amerikanischen Gesundheitswesen
Faktoren zur abrechenbare Diagnose anerkannt wird,
Entstehung und aber für weitere Forschungszwecke einAufrechterhaltung heitlich definiert zur Verfügung steht. In
von selbstverlet- der Entstehung und Aufrechterhaltung
zendem Verhalten von NSSV wurden multiple Faktoren diskutiert, wie etwa die Beeinflussung affektiver negativer Zustände oder auch NSSV als
Mittel der sozialen Kommunikation (Nock 2010).
Immer wieder wurden auch Misshandlungs- und
Missbrauchserlebnisse im Zusammenhang mit der
Ätiologie von NSSV erwähnt. Von Madge et al. (2011)
wurde in einer großen europäischen Studie (sieben
Länder, n=30.477, 14-17jährige Jugendliche) zum
»Deliberate Self Harm« (das neben NSSV auch suizidale Verhaltensweisen miteinschließt) beschrieben, dass körperliche Misshandlungen und sexuel-
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KJug, 58. Jg., S. 81 – 85 (2013)
© Bundesarbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz e. V.
ler Missbrauch Risikofaktoren darstellen, die dazu
führen, dass Jugendliche vom Gedanken an Selbstschädigung zu den entsprechenden Handlungen
übergehen. Von Yates und Kollegen (2008) wurden
körperliche Misshandlungen als Risikofaktor zur
Entstehung von gelegentlichem NSSV beschrieben,
während sexueller Missbrauch als Risikofaktor für
repetitives NSSV berichtet wurde. Aus Deutschland
sind Daten zu dem Zusammenhang zwischen NSSV
und traumatischen Erlebnissen bislang
nur aus einer klinischen Stichprobe von Risikofaktor
125 kinder- und jugendpsychiatrischen sexueller Missbrauch
Patienten (13-25 Jahre) berichtet worden
(Kaess et al. 2013), wobei 64% der Patienten mit
NSSV von traumatischen Ereignissen in ihrer Lebensgeschichte berichteten. Es zeigt sich hier u.a.
ein deutlicher Zusammenhang mit körperlichen
Misshandlungen und sexuellem Missbrauch (odds
ratio:3,9). Demgegenüber berichteten zwei MetaAnalysen zum Zusammenhang zwischen sexuellem
Missbrauch und NSSV nur von kleinen bis moderaten Effekten von sexuellem Missbrauch auf die Entstehung von NSSV (Klonsky & Moyer 2008, Maniglio
2011) und führten aus, dass es sich um einen eher
unspezifischen Risikofaktor handeln dürfte, der
auch andere psychische Erkrankungen beeinflusst.
In einer Online Studie an 1.417 12-18jährigen Jugendlichen wurde von Baetens et al. (2011) der Unterschied zwischen suizidal und nicht-suizidal intendierter Selbstverletzung untersucht, wobei sich
zeigte, dass die Jugendlichen mit suizidal intendierter Selbstverletzung mehr körperliche Misshandlungen und häufiger sexuellen Missbrauch
berichteten (wobei letzterer Unterschied nicht signifikant war), sodass hier überlegt werden kann, ob
KJug
81
Plener u.a. • Traumatische Lebenserfahrungen bei Jugendlichen
nicht ein Schwelleneffekt vorliegt, in dem Sinn,
dass eine höhere Belastung an traumatischen Lebenserfahrungen auch zu einem Wechsel von nichtsuizidalem zu suizidalem Verhalten führen kann. So
wurde etwa auch beschrieben, dass Jugendliche mit
Suizidversuchen in der Vorgeschichte von signifikant mehr traumatischen Lebensereignissen berichten (und auch hier von mehr sexuellen Übergriffen), als Jugendliche, die Suizidgedanken, jedoch
keine Suizidversuche schildern (Plener et al. 2011).
Da mehrfach NSSV als Risikofaktor für späteres suizidales Verhalten beschrieben wurde (vgl. etwa
Wilkinson et al. 2011), fokussiert die hier präsentierte Arbeit auf beide Bereiche.

Methoden
Teilnehmer
Die Daten wurden im Rahmen einer anonymen Fragebogenerhebung in einer Stichprobe von 670
Schülerinnen und Schülern der 9. Klasse in Hauptund Realschulen, sowie in Gymnasien in Ulm und
dem Alb-Donau Kreis erhoben (vgl. Plener et al.
2009, Plener et al. 2011). Eine Teilnahme an der Studie war nur mit vorliegender unterschriebener Einverständniserklärung der Sorgeberechtigten, sowie
der Jugendlichen selbst möglich. Von 1.100 Schülern, die an den Erfassungstagen in der
Erhebung von NSSV, Schule zugegen waren, nahmen 65% an
Suizidgedanken und der Erhebung teil. Aufgrund von offenSuizidversuchen sichtlichen falschen Antworten mussten
nach Plausibilitätsprüfung fünf Fragebogensets verworfen werden, sodass sich die hier
beschriebene Auswertung auf die Daten von 665
Schülern bezieht (w: 380, mittleres Alter: 14,8, SD:
0,66). Die Teilnehmer wurden in einem ersten Termin über die Zielsetzung der Studie (Erfassung zu
NSSV und Suizidalität) aufgeklärt, wobei Ihnen Anonymität zugesichert wurde. Für den Fall, dass sich
ein Schüler/eine Schülerin mit einem Hilfewunsch
an die Studienleiter wenden wollte, wurden einerseits Karten mit Kontaktadressen, sowie andererseits Karten, auf denen Kontaktwünsche eingetragen werden konnten, ausgegeben. Für die Durchführung der Studie bestand ein positives Votum der
Ethikkommission der Universität Ulm, sowie die
Zustimmung des zuständigen Regierungspräsidiums, sowie der zuständigen Schulleitung.
Instrumente
Die Erhebung von NSSV, Suizidgedanken und Suizidversuchen erfolgte mittels der deutschen Version des »Self Harm Behavior Questionnaire« (SHBQ;
Gutierrez et al. 2001). Der SHBQ erfasst die Lebenszeitprävalenz von NSSV, Suizidgedanken, Suizid-
82
K Jug
Titelthema
drohungen und Suizidversuchen in vier separaten
Bereichen, die nach Bejahung der jeweiligen Eingangsfrage näher exploriert werden. Der SHBQ wurde in den USA bereits bei mehreren Schulstudien
bei Jugendlichen angewandt (z.B. Muehlenkamp &
Gutierrez 2007, Muehlenkamp et al. 2010a). Bei der
Validierung der Originalversion zeigte sich eine gute interne Konsistenz (Cronbachs α zwischen 0,89
und 0,96 für die vier Bereiche). Die deutsche Übersetzung des SHBQ (Fliege et al. 2006) zeigte ebenfalls eine gute interne Konsistenz (Cronbachs α
zwischen 0,87 und 0,96 für die vier Bereiche). In der
deutschen Version wird bei Vorhandensein von Suizidgedanken, Suiziddrohungen oder Suizidversuchen eine Liste von traumatischen Ereignissen abgefragt, die im Zeitraum von sechs Monaten vor dem
Auftreten suizidaler Handlungen vorgelegen hat.
Die Liste der traumatischen Ereignisse
basiert auf Ereignissen aus der Posttrau- traumatische
matic Diagnostic Scale (Foa et al. 1996) Ereignisse
und beinhaltet:
1. Schwerer Unfall, Feuer oder Explosion, 2. Naturkatastrophe, 3. Gewalttätiger Angriff durch jemanden aus dem Familien- oder Bekanntenkreis, 4.
Gewalttätiger Angriff durch fremde Person, 5. Sexueller Angriff durch jemanden aus dem Familien- oder
Bekanntenkreis, 6. Sexueller Angriff durch fremde
Person, 7. Kampfeinsatz im Krieg oder Aufenthalt in
einem Kriegsgebiet, 8. Sexueller Kontakt im Alter
von unter 18 Jahren mit einer Person, die mindestens
fünf Jahre älter war, 9. Gefangenschaft, 10. Folter,
11. Lebensbedrohliche Krankheit, 12. Anderes traumatisches Ereignis.
Datenanalyse
Da in der deutschen Version nach Fliege et al. (2006)
nach NSSV spezifisch auf dieses Verhalten bezogen
diese Items nicht abgefragt werden, muss sich die
Analyse auf die Zahl der Personen beschränken, die
neben NSSV (n=170, 25,6%) auch Suizidgedanken
(insgesamt n=239, davon mit NSSV: n=118), Suiziddrohungen (insgesamt: n= 104, davon mit NSSV:
n=64) und/oder Suizidversuche (insgesamt: n=43,
davon mit NSSV: n=33) angegeben haben, da die
Fragen zum Vorliegen traumatischer Ereignisse nur
im Zusammenhang mit suizidalen Verhaltensweisen
und nach Bejahung der entsprechenden Eingangsfrage erhoben worden waren. Da sich diese Fälle
häufig überschneiden, wurde eine Variable gebildet, die die einzelnen Ereignisse aus der Posttraumatic Diagnostic Scale bei Mehrfachnennungen
einer Person in verschiedenen Bereichen innerhalb
des Fragebogens zu einer Nennung zusammenfasste. Insgesamt waren unter diesem Vorgehen
von 124 der 170 Personen mit NSSV (73%) Daten zu
traumatischen Ereignisse vorhanden. Neben einer
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Titelthema
Plener u.a. • Traumatische Lebenserfahrungen bei Jugendlichen
deskriptiven Darstellung erfolgte eine Berechnung
der Korrelationen zwischen NSSV, Suizidgedanken
und Suizidversuchen mit den traumatischen Ereignissen. Die Berechnung erfolgte mit SPSS 20 (IBM,
SPSS Statistics).

Resultate
Von den 124 Schülerinnen und Schülern mit NSSV
(w=91, 73,4%; p<.001), von denen Daten zu traumatischen Ereignissen vorhanden waren, wurden mul-
tiple traumatische Ereignisse berichtet, wobei die
häufigste Nennung »andere traumatische Ereignisse« betraf (s. Tabelle 1). Signifikante Korrelationen zwischen einem traumatischen Ereignis und
dem Bericht von NSSV, Suizidgedanken oder Suizidversuchen zeigten sich für fast alle traumatischen
Ereignisse (s. Tabelle 1).
Nach Kontrolle für Suizidversuche und Suizidgedanken zeigte sich ein signifikanter Zusammenhang
zwischen NSSV und den Items »Schwerer Unfall,
Feuer oder Explosion« (r=0,11, p=0,004), »Gewalttätiger Angriff durch jemanden aus dem Familien-
Tabelle 1: Traumatische Ereignisse bei Teilnehmer/inne/n mit NSSV (n=124),
Korrelation mit NSSV, Suizidgedanken und Suizidversuchen
Ereignis
Schwerer Unfall, Feuer oder Explosion
n (%)
Korrelation Korrelation mit
Korrelation mit
mit NSSV (r) Suizidgedanken (r) Suizidversuchen (r)
16 (12.9)
,13**
,21**
Naturkatastrophe
10 (8,1)
,09*
,23**
,05
Gewalttätiger Angriff aus Familienoder Bekanntenkreis
20 (16,1)
,2**
,25**
,28**
Gewalttätiger Angriff durch fremde Person
12 (9,7)
,15**
,2*
,19**
Sexueller Angriff aus Familien- oder
Bekanntenkreis
7 (5,6)
,17**
,13*
,32**
Sexueller Angriff durch fremde Person
7 (5,6)
,13**
,18*
,12**
Kampfeinsatz im Krieg oder Aufenthalt
in einem Kriegsgebiet
1 (0,8)
,03
,07
-,14
18 (14,5)
,26**
,2*
,34**
Gefangenschaft
2 (1,6)
,09*
,07
,1*
Folter
3 (2,4)
,11**
,08*
,18**
Lebensbedrohliche Krankheit
11 (8,9)
,14**
,2**
,14**
Anderes traumatisches Ereignis
76 (61,3)
,36**
,57**
,34**
Sexueller Kontakt im Alter von unter
18 Jahren mit einer Person, die
mindestens 5 Jahre älter war
,11**
NSSV: Nicht-suizidales selbstverletzendes Verhalten, *: p0,05, **: p0,001
oder Bekanntenkreis« (r=0,13, p=0,01), »Gewalttätiger Angriff durch fremde Person« (r=0,9. P=0,02),
»Sexueller Angriff durch jemanden aus dem Familien- oder Bekanntenkreis« (r=0,82, p=0,35), »Sexueller Kontakt mit Alter von unter 18 Jahren mit einer Person, die mindestens fünf Jahre älter war«
(r=0,18, p<0,001), »Lebensbedrohliche Krankheit
(r=0,12, p=0,02) « und »Anderes traumatisches Ereignis« (r=0,3, p<0,001). Eine positive Korrelation
zwischen der Häufigkeit von NSSV und traumatischen Ereignissen zeigte sich nur beim Item »Gewalttätiger Angriff durch jemanden aus dem Familien- oder Bekanntenkreis« (r=0,35, p=0,05)
3/2013

Diskussion
Die präsentierte Studie beschäftigt sich mit dem
Vorliegen traumatischer Ereignisse bei Jugendlichen aus einer deutschen Schulpopulation, die
sich zumindest einmalig absichtlich selbst verletzt
haben. Als häufigste spezifisch genannte traumatische Ereignisse wurden von diesen Jugendlichen
(in absteigender Reihenfolge) »Gewalttätiger Angriff aus Familien- oder Bekanntenkreis«, »Sexueller Kontakt im Alter von unter 18 Jahren mit einer
Person, die mindestens fünf Jahre älter war« und
»Schwerer Unfall, Feuer oder Explosion« genannt.
KJug 83
Plener u.a. • Traumatische Lebenserfahrungen bei Jugendlichen
Nach Kontrolle für Suizidgedanken und Suizidversuche zeigten sich weiterhin signifikante positive
Korrelationen zwischen NSSV, gewalttätigen und
sexuellen Übergriffen sowie Unfällen und Krankheiten, wobei sich ein Zusammenhang mit der Häufigkeit von NSSV nur im Bereich der gewalttätigen
Übergriffe aus dem Familien- oder Bekanntenkreis
zeigen ließ. Unsere Ergebnisse decken sich hier mit
denen aus einer deutschen Stichprobe kinder- und
jugendpsychiatrischer Patienten, die ebenfalls gehäuft körperliche Misshandlungen und sexuellen
Missbrauch bei Patienten mit NSSV berichteten (Kaess et al. 2013). Im Gegensatz zu Yates et al. (2008),
die repetitives NSSV bei Patienten mit einer Vorgeschichte eines sexuellen Missbrauchs berichteten,
während gelegentliches NSSV bei Jugendlichen mit
der Vorgeschichte körperlicher Misshandlungen
deutlicher ausgeprägt war, zeigte sich eine Assoziation mit der Frequenz von NSSV in unserer Studie
nur im Zusammenhang mit körperlichen Misshandlungen. Interessanterweise wurden diese Phänomene auch aus einer großen Stichprobe von Collegestudenten in den USA (n=2.238) berichtet (Muehlenkamp et al. 2010b). In dieser Studie wurden die
Implikationen verschiedener Subtypen
Emotionsregulations- von traumatischen Ereignissen unterschwierigkeiten sucht. Während sowohl bei jungen Erwachsenen, die körperliche Misshandlungen erlebt hatten, als auch bei solchen die sexuellen Missbrauch erlebt hatten, generell Emotionsregulationsschwierigkeiten berichtet wurden,
zeigten in der differenzierten Analyse junge Erwachsene mit einer Vorgeschichte körperlicher Misshandlungen Schwierigkeiten mit der Identifikation
und Wahrnehmung emotionaler Zustände, vergleichbar einem Alexithymie-Konzept, während junge Erwachsene mit der Vorgeschichte eines sexuellen Missbrauchs und einer körperlichen Misshandlung Schwierigkeiten in der Emotionsregulation
berichteten (Muehlenkamp et al. 2010b). Der Zusammenhang zwischen traumatischen Ereignissen
und NSSV bzw. suizidalem Verhalten wurde in einer
aktuellen schwedischen Studie bei 2.964 Jugendlichen zwischen 15 und 17 Jahren untersucht (Zetterqvist et al. 2012). Hierbei zeigte sich, dass Jugendliche mit einer Kombination von NSSV und suizidalem Verhalten signifikant mehr traumatische
Ereignisse berichteten, als Jugendliche, die »nur«
NSSV zeigten. Teilnehmer ohne NSSV oder suizidalem Verhalten berichteten am wenigsten traumatische Ereignisse. Bezüglich der Spezifität einzelner
traumatischer Ereignisse für Suizidversuche und
NSSV kann aufgrund des Designs unsere Studie, in
der eine Population untersucht wurde, die sowohl
NSSV als auch Suizidalität angab, keine Aussage
getroffen werden und es wird weiterer Studien be-
84
K Jug
Titelthema
dürfen, die diesen Zusammenhang auch in einer
deutschen Stichprobe systematisch erheben. Für
die Praxis bedeutet dies, dass man auf selbstverletzendes Verhalten z.B. bei Schülerinnen oder Schülern weder überreagieren sollte, noch es einfach als
jugendtypisches Verhalten ignorieren sollte. Mittlerweile ist selbstverletzendes Verhalten in Deutschland sehr verbreitet und Für die Praxis bedeukommt in jeder Schulklasse bei Jugend- tet dies, dass man
lichen in erheblichem Umfang vor. Bei auf selbstverletzeneinem Teil dieser Jugendlichen gehört es des Verhalten weder
also fast zur Jugendsubkultur, während überreagieren sollte,
bei einem anderen Teil, bei denen offen- noch es als jugendsichtlich das Risiko tatsächlich dann typisches Verhalten
auch zu suizidalem Verhalten überzuge- ignorieren sollte.
hen höher ist, für frühere Belastungen
aus Traumatisierungen steht und der Emotionsregulation dient. Nicht Beachten des »Ritzens« kann
deshalb mit Blick auf Kinderschutz und Unterstützung von Kindern und Jugendlichen keine pädagogische Lösung sein, sondern es geht darum im Einzelfall Gespräche anzubieten, um differenzierte
Lösungen zu finden.
Limitationen
Die Ergebnisse dieser Untersuchung unterliegen
mehreren Einschränkungen. Zunächst müssen die,
einer Fragebogenuntersuchung dieser Art immanenten, Limitationen beachtet werden. Dies ist zum
einen die querschnittliche Erhebung retrospektiver
Daten, die einem Erinnerungsbias unterliegen kann.
Auch kann aufgrund der anonymen Datenerhebung
keine Gewähr für die Richtigkeit der gemachten Angaben gegeben werden. Diese Methodik wurde jedoch gewählt, um die Verzerrung durch sozial erwünschte Angaben gering zu halten. Es wurde versucht durch eine Plausibilitätsprüfung eine Verbesserung der Datenqualität zu erreichen (etwa
wurden fünf Teilnehmer, welche alle traumatischen
Ereignisse bejahten oder widersprüchliche Angaben innerhalb des Fragebogens machten, ausgeschlossen). Des Weiteren muss als wichtige Einschränkung beachtet werden, dass durch die Struktur des Fragebogens traumatische Ereignisse nicht
direkt in Bezug auf NSSV abgefragt wurden, sondern ein Rückschluss nur bei jenen Teilnehmern
möglich war, die ebenfalls von begleitender Suizidalität berichteten. Auf diese Weise konnten nur die
Angaben von 124 der 170 Teilnehmer mit NSSV analysiert werden. Da es sich jedoch momentan um die
einzige Beschreibung von traumatischen Ereignissen im Zusammenhang mit NSSV aus einer Schülerstichprobe handelt, wurde dieser Kompromiss eingegangen, um eine erste Datenbasis zu liefern.
Zusammenfassend kann festgehalten werden,
dass sich in der vorgelegten Studie erstmals in einer
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Titelthema
Plener u.a. • Traumatische Lebenserfahrungen bei Jugendlichen
Stichprobe an deutschen Schülerinnen und Schülern ein Zusammenhang zwischen NSSV, Suizidalität und traumatischen Lebensereignissen beschreiben lässt, wobei hier vor allem interpersonelle Ereignisse im Vordergrund stehen. Dies
Notwendigkeit einer unterstreicht die Notwendigkeit einer
differenzierten differenzierten Traumadiagnostik bei
Traumadiagnostik Kindern und Jugendlichen die sich mit
NSSV und/oder suizidalem Verhalten im
Kontext von Schule, Jugendhilfe oder auch im klinischen Kontext der Kinder- und Jugendpsychiatrie
und Psychotherapie präsentieren.
Plener, P.L.; Singer, H.; Goldbeck, L. (2011): Traumatic
events and suicidality in a German adolescent community sample. Journal of Traumatic Stress, Jg. 24,
S. 121-124.
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Zetterqvist, M.; Lundh, L.G.; Svedin, C.G. (Epub 2012):
A comparison of adolescents engaging in self-injurious behaviors with an without suicidal intent:
self-reported experiences of adverse life events
and trauma symptoms. Journal of Youth and Adolescence, doi: 10.1007/s10964-012-9872-6

Literatur (Auszug)
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Die gesamte Literaturliste zum Beitrag kann bei der
Redaktion ([email protected]) angefordert
werden.
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des DSM-5 Vorschlages für Forschung und Klinik
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Psychotherapie, Jg. 40, S. 113-120.
3/2013
Autoren
Dr. Paul L. Plener
Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie
und Psychotherapie, Universitätsklinikum Ulm
Steinhövelstr. 5
80975 Ulm
Mail: [email protected]
1, 2
1
Dr. Paul L. Plener , Rebecca C. Groschwitz ,
1
1, 2
Martina Bonenberger , Prof. Dr. Jörg M. Fegert
1
Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und
Psychotherapie, Universitätsklinikum Ulm
2 Kompetenzzentrum Kinderschutz in der
Medizin, Baden-Württemberg
KJug 85
Beate Lisofsky
»Wahnsinnskinder?«
Ein Projekt zur Unterstützung von Familien
mit psychisch auffälligen Kindern und Jugendlichen
Familien mit psychisch auffälligen Kindern und Jugendlichen benötigen Unterstützung in
vielfältiger Art und Weise und haben einen hohen Informationsbedarf. Der Bundesverband
der Angehörigen psychisch Kranker (BApK) hat eine Elternbefragung durchgeführt und auf
der Grundlage der Ergebnisse ein Angebot für betroffene Eltern entwickelt.
»… Ich bin im Moment völlig verzweifelt und nervlich
am Ende. Sitze hier verheult und suche im Internet
nach Hilfe... Ich bin 37 Jahre alt, verheiratet, habe
zwei Töchter 10 und 6 Jahre alt. Mein Problem: Meine
Tochter Leonie bringt mich zur Weißglut!!! Sie steht
schlecht auf, obwohl sie früh schlafen geht. Sitzt eine Viertelstunde auf dem Klo, trödelt beim Zähneputzen, Haare kämmen und Anziehen nur herum...
Nach der Schule sitzt sie völlig lustlos an den Hausaufgaben, total unkonzentriert halb unter dem Tisch
und weiß nicht was sie machen soll... Was soll ich
bloß tun??? Habt ihr Ratschläge für mich??? Wo ist
ihr Problem??? Wie kann ich ihr helfen, mir aber
auch, denn ich bin im Dauerstress …!«
(aus der Internetanfrage einer Mutter)
In Deutschland liegen nach aktuellen Untersuchungen bei jedem fünften Kind oder Jugendlichen
im Alter von sieben bis 17 Jahren Hinweise für psychische Auffälligkeiten vor. Bei Vorliegen mehrerer
Risikofaktoren kann sich die WahrscheinVerhaltensprobleme, lichkeit einer psychischen Auffälligkeit
Funktionsniveau der um ein Vielfaches erhöhen. Zu den RisiFamilie, Stress- kofaktoren mit den stärksten Auswirerleben, psychische kungen gehören Familienkonflikte, PartGesundheit der Eltern nerprobleme der Eltern, psychische Erkrankungen der Eltern oder das Aufwachsen in einem Ein-Eltern-Haushalt. Untersuchungen belegen einen Zusammenhang zwischen
Verhaltensproblemen der Kinder und dem Funktionsniveau der Familie sowie dem Stresserleben und
der psychischen Gesundheit der Eltern.
Eine gute Versorgung von psychisch auffälligen
Kindern und Jugendlichen wird also nur gelingen,
wenn die Familien von Anfang an einbezogen und
mit ihrem spezifischen Unterstützungs- und Informationsbedarf wahrgenommen werden. Und obwohl »Elternarbeit« vielfach integraler Bestandteil
86
K Jug
therapeutischer Angebote ist, gibt es hier aus Sicht
der Angehörigen Defizite, vor allem auch in der
Phase vor dem Stellen einer Diagnose. Deshalb befasst sich der Bundesverband der Angehörigen psychisch Kranker in einem Projekt mit den Problemen
und Bedürfnissen von Familien mit psychisch auffälligen Kindern und Jugendlichen und entwickelt
ein Angebot für diese Familien.
Um einen ersten Überblick über die Bedürfnislage der betroffenen Familien zu erhalten, wurde in
Zusammenarbeit mit der Universität Marburg eine
Online-Elternbefragung von Oktober 2010 bis Februar 2011 durchgeführt. Ziel der Untersuchung war
es, herauszufinden, welche Unterstützung Eltern
mit psychisch auffälligen Kindern benötigen, mit
welchen Merkmalen der Unterstützungsbedarf zusammenhängt und welche Probleme den Eltern den
Zugang zu Angeboten erschweren.
Insgesamt nahmen 136 Familien an der Befragung teil. Meist wurde der Online-Bogen von den
Müttern ausgefüllt. Drei Viertel der befragten Elternteile waren verheiratet. In den Familien lebten
durchschnittlich 2,29 Kinder. Die Hälfte der Befragten hatte einen höheren Bildungsabschluss und
ca. 60% hatten mindestens eine Halbtagsstelle, nur
18,4% übten keinerlei berufliche Tätigkeit aus. Im
Durchschnitt verfügten die Familien über ein Nettoeinkommen von 2001€ bis 3000€ im Monat.

Ergebnisse der Elternbefragung
Psychische Auffälligkeiten
In 26,5% der befragten Familien lebte mehr als ein
psychisch auffälliges Kind. Die Kinder, auf die sich
die Angaben bezogen, waren im Schnitt 12,55 Jahre
alt. Die häufigsten genannten psychischen Auffälligkeiten waren Angst/Depression (38,2%), Aggres-
KJug, 58. Jg., S. 86 – 89 (2013)
© Bundesarbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz e. V.
3/2013
Titelthema
Lisofsky • »Wahnsinnskinder?«
sives Verhalten (36,0%) und Aufmerksamkeitsprobleme (24,3%). In ca. der Hälfte der Fälle wurde in
der Vergangenheit bereits eine kinderpsychiatrische Diagnose gestellt.
Unterstützungsbedarf
Nur 11,0% der befragten Elternteile gab an, mit der
Unterstützung, die sie allgemein erhalten, zufrieden
zu sein. Auch beim Grad der InformiertInformiertheit heit und der sozialen Unterstützung beund soziale richteten die Eltern Defizite: Nur 16,6%
Unterstützung der Elternteile gab an, über den Umgang
mit einem psychisch auffälligen Kind gut
oder sehr gut informiert zu sein und nur 14,7% der
Eltern erlebten die Menschen in ihrem Umfeld als
unterstützend. Informiertheit und soziale Unterstützung hingen mit dem Einkommen zusammen, Informiertheit auch mit dem Schulabschluss der Eltern.
Wobei eine hohe Informiertheit bzw. eine hohe soziale Unterstützung mit einem höheren Schulabschluss bzw. einem höheren Einkommen einhergingen.
Ein großer Teil der Eltern wünschte sich mehr
Information über den Umgang mit einem psychisch
auffälligen Kind. Dabei schienen Eltern besonderen
Informationsbedarf zu haben, wenn ihr Kind zwanghaftes/schizoides Verhalten zeigte. Dazu gehören
Verhaltensweisen wie Zwangsgedanken und -handlungen, ins Leere Starren, Abwesenheit, Scheinwelten erfinden etc. Eventuell wirken diese Verhaltensweisen auf Eltern befremdlich und sie können
sich nicht erklären weshalb sich ihr Kind so verhält.
Informationen, die solche Verhaltensweisen einordnen (Was ist normal/entwicklungsbedingt? Was ist
pathologisch?) könnten hilfreich sein. Eltern von
Kindern mit Aufmerksamkeitsproblemen fühlten
sich hingegen besser informiert. Es zeigte sich
auch, dass Eltern, die weniger Beeinträchtigungen
im Alltag berichteten, sich besser über den Umgang
mit einem psychisch auffälligen Kind informiert
fühlten.
Der Unterstützungsbedarf der Eltern wurde nach
den Bereichen Erziehung allgemein, Schule und Lernen, Freizeitaktivitäten, eigene Kraft stärken sowie
Umgang mit Familie und Verwandten abgefragt.
Drei Viertel der befragten Eltern wünschte sich
Unterstützung, um die eigene Kraft zu stärken. Neben der Belastung durch die Auffälligkeiten ihres
Kindes und der zeitlichen Belastung durch die Therapien schien hier eine Rolle zu spielen, ob die Eltern
Unterstützung in der Erziehung hatten: Alleinerziehende geben hier einen höheren Unterstützungsbedarf an als Elternteile mit Partner.
Eltern von Kindern mit Aufmerksamkeitsproblemen berichteten von bedeutsam geringerem Unterstützungsbedarf in der Erziehung allgemein und
3/2013
höherem Unterstützungsbedarf im Bereich Schule
und Lernen im Vergleich zu den übrigen Eltern.
Schließlich ging es um die Einschätzung der Eltern wie hilfreich sie eine Reihe vorgegebener Unterstützungsangebote erachten. Hier hatten die Eltern die Möglichkeit ihre Beurteilung zusätzlich in
einem freien Antwortformat zu begründen. Hilfen
für Geschwister wurden dann als hilfreich eingestuft, wenn sie zur Aufklärung Hilfen für
beitragen und den Kindern helfen, das Geschwister
Verhalten ihrer auffälligen Geschwister
einzuordnen (Warum verhalten sie sich so? Wie
kommt es zu diesem Konflikt? Was ist eine psychische Erkrankung?). Zudem kommen die Geschwister oft zu kurz, da die Eltern viel mit dem
auffälligen Kind beschäftigt sind. Die Eltern nennen
in den freien Antworten als Bedenken gegenüber
einem solchen Angebot, dass die Geschwister zu
jung sind oder an einem solchen Angebot nicht teilnehmen würden.
Ein Austausch zwischen den betroffenen Kindern und Jugendlichen wird vor allem als hilfreich
angesehen, wenn die Betroffenen älter sind und/
oder internalisierende Probleme haben. Viele Eltern
begründen den Nutzen eines solchen Angebotes
wie folgt: Die Kinder und Jugendlichen
erfahren, dass es anderen ähnlich geht Austausch zwischen
wie ihnen selbst und lernen wie andere betroffenen Kindern
Kinder und Jugendliche mit ihren Proble- und Jugendlichen
men umgehen. Sie können aus ihrer Außenseiterrolle herauskommen und Freunde finden.
Geringes Alter, mangelnde Reife und fehlende Problemeinsicht wurden vor allem als Kritikpunkte der
Eltern aufgeführt. Zudem bestanden bei einigen
Eltern Bedenken, ob die Kinder an einem solchen
Angebot teilnehmen und offen über ihre Probleme
sprechen würden.
Als sehr hilfreich wird der Austausch mit anderen betroffenen Eltern eingeschätzt. An einem solchen Austausch wäre vor allem hilfreich, zu erfahren, dass andere Eltern ähnliche Probleme haben, dass andere Eltern bereits Austausch mit
wissen, wie man mit einem auffälligen betroffenen Eltern
Kind umgeht und man Tipps im Umgang
mit auffälligen Kindern erhält. Als Bedenken bezüglich eines solchen Angebotes äußerten die Eltern,
dass sie keine Zeit für ein solches Angebot hätten,
dass sie sich von anderen Eltern nicht verstanden
fühlen würden, dass sie sich selbst helfen wollen
und Angst hätten zu sehen, dass es in anderen Familien besser klappt als in der eigenen.
Praktische Hilfen im Alltag wünschten sich die
Eltern, da sie aufgrund der Belastungen in der Familie erschöpft seien und ihnen aufgrund vieler Termine (Klinik, Schule) die Zeit fehle, da viele Krisensituationen (Konflikte, Streit, Hausaufgaben) auf-
KJug 87
Lisofsky • »Wahnsinnskinder?«
Titelthema
treten und da wenig Zeit für die Kinder und
Geschwister übrig bleibt. Häufig wurden hier auch
psychologische Hilfen, wie die eigene
Praktische Hilfen Kraft stärken, und Hilfen im Umgang mit
im Alltag den Auffälligkeiten genannt, im Gegensatz zu praktischen Hilfen im Haushalt.
Neben einigen Unterstützungsangeboten, die
den meisten Eltern bekannt sind, bestand bezüglich
anderer Angebote ein Informationsdefizit (siehe Tabelle 1). Die bekanntesten Angebote sind Bücher/
Broschüren (bekannt bei 83,1% der Befragten), Erziehungsberatungsstellen (79,4%) und Internetsei-
ten/Onlineforen (73,5%). Am unbekanntesten sind
Selbsthilfegruppen (40,4%), Elternkurse (41,2%)
und tagesklinische Angebote (47,1%). Aus der relativen Unwissenheit über Angebote von Selbsthilfegruppen ergibt sich ein Informationsbedarf, da der
Austausch mit anderen betroffenen Eltern als sehr
hilfreich eingeschätzt wurde. Das Wissen von Hilfsund Behandlungsangeboten hing zum Teil mit dem
Bildungsniveau der Eltern zusammen. So wussten
deutlich mehr Eltern mit (Fach-)Abitur von Tageskliniken und Selbsthilfegruppen als Eltern mit Haupt-/
Volksschulabschluss und Realschulabschluss.
Tabelle 1: Inanspruchnahme von Hilfs-, Informations- und Behandlungsmöglichkeiten
1
bekannt (%)
bereits in Anspruch
2
genommen (%)
Zugangsschwierigkeit (M)
Erziehungsberatungsstellen
79,4
37,5
2,85
Hilfen zur Erziehung vom Jugendamt
61,8
33,8
3,59
Elternkurse
41,2
18,4
2,71
Bücher/Broschüren
83,1
70,0
1,46
Internet/Onlineforen
73,5
52,2
1,69
Selbsthilfegruppen
40,4
17,6
2,88
ambulante Psychotherapie
61,0
27,2
3,02
Tagesklinik
47,1
11,0
3,72
stationäre Behandlung
55,1
23,5
4,03
medikamentöse Behandlung
58,8
20,6
3,64
3
1
Welche der folgenden Hilfs-, Informations- und Behandlungsmöglichkeiten kennen Sie?
Welche der folgenden Hilfs-, Informations- und Behandlungsmöglichkeiten haben Sie bereits in Anspruch
genommen?
3 Wie schwierig finden Sie es, folgende Hilfs-, Informations- und Behandlungsmöglichkeiten in Anspruch zu
nehmen?
1=überhaupt nicht schwierig bis 5=sehr schwierig; M=Mittelwert
2
Inanspruchnahmeverhalten
Über die Hälfte der befragten Eltern gab an, dass
ihre Kinder bereits in ärztlicher oder therapeutischer Behandlung waren. Unter den nichttherapeutischen Hilfs- und Informationsangeboten wurden vor allem Bücher und Broschüren sowie Informationen aus Internetseiten und Onlineforen von
den Eltern genutzt. Bei Büchern/Broschüren, Internetseiten/Onlineforen und Selbsthilfegruppen
zeigten sich wieder Unterschiede zwischen den
Bildungsgruppen: Je höher die Bildung der Eltern,
desto häufiger hatten sie entsprechende Angebote
genutzt. Gleichzeitig berichteten Eltern, denen das
Internet als Informationsquelle weniger gebräuchlich war bzw. denen der Zugang zu Internetseiten
und Onlineforen schwer fiel, dass mangelnde Information ein Grund für Zugangsschwierigkeiten zu
Unterstützungsangeboten war.
88
K Jug
Viele Eltern nutzten die Gelegenheit zu beschreiben, wie man ihnen den Zugang zu Unterstützungsangeboten erleichtern könnte. Sehr häufig genannt
wurde von den Befragten der Wunsch
nach einer leicht zugänglichen Übersicht Übersicht über
über regionale Unterstützungsangebote, regionale Unterstütdie Informationen über Spezialisierung zungsangebote
und Qualität der Anbieter enthält. Eine
Befragte sprach von einem »Lotsen im Dschungel
der Angebote«. Zudem sollte der Zugang leicht und
zeitlich flexibel sein, um nicht mit Arbeitszeiten
oder Betreuungszeiten der Geschwister zu kollidieren.
3/2013
Titelthema
Lisofsky • »Wahnsinnskinder?«
Tabelle 2: Gründe für Zugangsschwierigkeiten
%
Wartezeiten
23,5
Misstrauen gegenüber Verantwortlichen
21,6
Schamgefühle und Angst
19,6
Informationsmangel
17,6
keine Stellen in der Nähe
16,7
keine Zeit/ keine Kraft
9,8
Kind verweigert
5,9
sonstige Gründe
31,4
Mehrfachnennungen möglich
Aus den berichteten Ergebnissen der Online-Befragung lassen sich einige wichtige Hinweise auf den
Unterstützungsbedarf von Eltern psychisch auffälliger Kinder ableiten. Neben den psychischen Belastungen der Eltern durch vermehrten Stress und Erziehungsschwierigkeiten berichteten die Eltern vor
allem von zeitlichen Schwierigkeiten durch berufliche Tätigkeit und therapeutische Termine. Dies
trifft vor allem zu, wenn weitere Geschwister betreut
werden müssen. Viele Eltern wünschen sich ein besonders niederschwelliges Unterstütniederschwellige zungsangebot, das vor allem in akuten
Notfallhilfe Krisen- oder Konfliktsituationen die Möglichkeit bietet, Notfallhilfe zu leisten und
so den Alltag zu entlasten. Diese Hilfe sollte möglichst gut mit ihren alltäglichen und beruflichen Anforderungen und Terminen vereinbar sein. Zudem
befürchten viele Eltern, dass die Schuld für die Auffälligkeiten der Kinder in der Familie gesucht wird
und sie als Schuldige stigmatisiert werden. Als entlastende Angebote, die die genannten Bedenken
auffangen, werden vor allem Selbsthilfegruppen
und eine Art Krisentelefon genannt. Im Wust der Informationen und Angebote erscheint es zudem sinnvoll, eine Art Leitfaden oder niederschwelliges Beratungsangebot für belastete Eltern bereitzustellen,
welches ihnen die Möglichkeit bietet die vorhandenen Angebote für die Probleme ihrer Kinder zu
überblicken und deren Qualität zu beurteilen.

Information kann helfen, Unsicherheiten zu beseitigen
Um Informationsdefizite zu verringern, entwickelte
der Angehörigenverband in Zusammenarbeit mit
dem Kinder- und Jugendtherapeut und Fachbuchautor Martin Baierl die Broschüre »Wahnsinnskinder?«. Diese Broschüre bietet betroffenen Eltern
3/2013
eine erste Orientierung über psychische Störungen
im Kinder- und Jugendalter, Behandlungsmöglichkeiten und mögliche Anlaufstellen für Hilfe und Unterstützung. Hier finden betroffene Eltern u.a. Antwort auf die Fragen:
• Worauf muss ich achten, wenn mein Kind auffällig ist?
• Ist das Verhalten überhaupt auffällig oder ist es
»ganz normal«?
• Wann und wo ist die Grenze erreicht?
• Wie kann ich zwischen ernsthaften psychischen
Erkrankungen und pubertären Entwicklungserscheinungen unterscheiden?
• An wen wende ich mich?
• Wo finde ich Unterstützung?
• Was passiert, wenn ich erfahre, dass mein Kind
psychisch krank sein könnte?
• Wie gehe ich mit den Fachleuten um, wenn die
immer alles besser wissen wollen?
• Was kann ich tun, wenn mein Kind sich nicht behandeln lassen möchte – wann ist eine Zwangsbehandlung zulässig?
• Wie gehe ich mit den Geschwistern um?
Die Informationsbroschüre steht auf der Homepage
www.bapk.de zum Herunterladen auch in türkischer
und russischer Sprache zur Verfügung. In 2013 wird
eine Broschüre zur Information für Geschwisterkinder und Freunde entwickelt, die auch für diese
Zielgruppen eine angepasste, niederschwellige Information verfügbar machen soll.
Autorin
Beate Lisofsky
Bundesverband der Angehörigen
psychisch Kranker (BApK)
Oppelner Str. 130
53119 Bonn
E-Mail: [email protected]
Diplom-Journalistin, Pressereferentin BApK e.V.
KJug 89
Titelthema
Sabine Andresen
Auffällig in der Schule
1
Eine schwierige Gemengelage der Pädagogik
Schule ist für Kinder und Jugendliche ein wesentlicher Lebens- und Sozialraum. (Verhaltens-)Auffällige
Kinder und Jugendliche stellen für Lehrerinnen und Lehrer eine Herausforderung dar, denn aggressives
Verhalten, Aufmerksamkeitsprobleme, Ängste und Stress machen sich im Unterricht und Umgang
miteinander bemerkbar. Wenngleich Lern- und Entwicklungsstörungen ein Grenzbereich pädagogischen
Handelns sind, bedarf es der Sensibilisierung und Qualifizierung von Lehrkräften.
Jede Schule produziert ihre auffällige Schülerschaft. Es gehört zu einer Institution, dass ihre Regeln nicht von allen befolgt werden, Abweichungen
den Raum mit prägen und Reaktionen auf Auffälligkeiten innerhalb der Institution zum Repertoire der
darin Tätigen gehören. Der Blick in die Geschichte
der Schule und der Pädagogik generell zeigt, auffällige Schülerinnen und Schüler bildeten oft den Stein
des Anstoßes, etwa über Methoden zu reflektieren,
Lernarrangements zu verändern, Lehrerinnen und
Lehrer besser zu qualifizieren oder aber Eltern zu
disziplinieren. Man könnte diesen Sachverhalt auch
folgendermaßen formulieren: Was als auffälliges
Verhalten aufgefasst, wer dafür maßgeblich verantwortlich gemacht und mit welchen Strategien darauf reagiert wurde, gehört zur Gestaltung von Kindheit und Jugend als Teil der gesellschaftlichen Reaktion auf die Entwicklungstatsache. Eine weitere
Frage sei hier gestellt: Wie korrespondiert auffälliges Verhalten mit Fragen der Bewertung? Darauf
soll hier bewusst eingegangen werden, weil die
Bewertung gewissermaßen als leistungsbezogenes
Pendent zum Bestrafen verstanden werden kann.
Diesen historischen Blick einnehmend, bieten
folglich auffällige Kinder und Jugendliche stets auch
ein Potenzial zur Verbesserung der Qualität in Schulen und zur Professionalisierung von Pädagoginnen
und Pädagogen. Eine erste Problematik
auffälliges ist die, auffälliges Verhalten verstehen
Verhalten verstehen zu müssen und auch zu wollen sowie den
möglicherweise eigenen Anteil zu bedenken. Hierzu wird im zweiten Abschnitt auf eine Geschichte des polnisch jüdischen Kinderarztes und
Pädagogen Janusz Korczak zurückgegriffen. Im dritten Abschnitt geht es um die Frage, was in der Pädagogik als auffälliges Verhalten und damit als
schwieriges Kind gilt. Daran anschließend soll der
Frage nachgegangen werden, warum es in einer In-
90
K Jug
stitution wie der Schule auch darum gehen muss,
einen zentralen Maßstab der Interaktion und des
Machtverhältnisses, nämlich das Bewerten kritisch
zu reflektieren und als einen Ausgangspunkt zur
Neubewertung von »schwierigen Kindern« und auffälligem Verhalten zu sehen.

Auffälliges Verhalten verstehen wollen
Janusz Korczak erzählt eindrucksvoll, wie ein Kind
zu einem auffälligen und schließlich als schwierig
eingestuften Kind gemacht wird. In der Geschichte,
»Ein gehorsamer Sohn«, wird der Teufelskreis von
Erklären, Missverstehen und Verurteilen eindrucksvoll beschrieben:
»Ein netter und lieber Bub ist dieser Icek. Solche wie
er sollten auf den Bäumen wachsen. Es ist nur schade, dass er schüchtern ist und kein Glück im Leben
hat. Er ist ein guter, stiller, gehorsamer Bub. Aber
die Leute wollen ihn nicht verstehen und gebührend
schätzen.
In der Schule stand Icek in der Ecke. Der Lehrer stellte ihn in die Ecke. Der Lehrer regte sich über ihn auf.
Warum? Was ließ Icek sich zu Schulden kommen?
Die Mutter stellte den Teller vor ihn hin und sagte:
›Iß Icek. Na, wie war das? Warum hat der Lehrer dich
in die Ecke gestellt?‹
Icek isst und sagt: ›Der Lehrer hat laut genießt, und
ich habe gelacht.‹
›Warum hast du gelacht?‹
›Alle Buben haben gelacht.‹
›Was ist so lächerlich daran, daß der Lehrer genießt
hat?‹
1
Teile des Beitrags basieren auf dem Artikel »Der ZappelPhilipp – Schwierige Kinder und die Pädagogik«, erschienen in Frühe Kindheit 6/2012
KJug, 58. Jg., 90 – 95 (2013)
© Bundesarbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz e. V.
3/2013
Titelthema
Andresen • Auffällig in der Schule
›Ich weiß es nicht.‹
Die Mutter schiebt ihm den Teller hin und sagt: ›Iß,
Icek. Gleich erkläre ich es dir, damit du das nächste
Mal weißt wie du dich verhalten musst. Wenn also
der Lehrer niest, gehört es sich nicht, dass man
lacht, sondern man sagt: Gesundheit.‹
Aber warum hat der Lehrer nur Icek in die Ecke gestellt, wenn doch alle gelacht haben?
Keine Ahnung.
Icek ist ein gehorsamer Sohn, und er weiß jetzt, wie
er sich in Zukunft verhalten muss. Er fegte den Teller
leer, machte seine Schulaufgaben, spielte ein bisschen und ging schlafen; dann wachte er auf und ging
zur Schule. Aber der Lehrer warf ihn aus der Klasse
hinaus auf den Korridor. Weswegen? Was ist passiert? Na eben das, daß er ›Gesundheit‹ gesagt hat.
Der Lehrer kam in die Klasse herein, aber auf dem
Boden lag ein Kürbiskern (Korczak 1938, S. 208).
Der Lehrer rutsche darauf aus und während er sich
wieder hochrappelte, glaubte Icek, nun müsse er
Gesundheit sagen.
Janusz Korczak, der Mediziner und Pädagoge
erzählt in seiner Publizistik für Kinder und Jugendliche diese Geschichte von Icek, dem gehorsamen
Sohn. Sie ist eine traurige Geschichte, denn Icek ist
willig, sich von der Mutter erziehen zu lassen, aber
die Situationen passen nie recht zu dem, was er gelernt hat. Am Küchentisch, angesichts eines vollen
Tellers, scheint es leicht, doch am nächsten Morgen
in der Schule, sieht die Welt für Icek jeweils ganz
anders aus.
Zwar erklärt die Mutter Icek, was er dem Lehrer nach
dessen Sturz hätte sagen müssen: ›Es ist Ihnen
doch um Gottes Willen nichts passiert.‹ Doch diese
Lektion passt wieder nicht in die nächste Herausforderung, vor der der willige Icek steht: Gleich am
nächsten Tag, gibt ihm der Lehrer eins hinter die
Ohren und schimpft ihn aus.
Warum? Die lärmenden Kinder hatten den Lehrer
aus der Fassung gebracht und Jakub war der
Schlimmste. Ihn legt der Lehrer übers Knie und versohlt ihn tüchtig. Jakub versucht sich loszureißen
und der Lehrer bekommt vor Anstrengung einen
roten Kopf. In die Stille hinein stellt Icek seine Frage:
›Es ist Ihnen doch um Gottes Willen nichts passiert‹
Beim Mittagessen wird wieder alles der Mutter berichtet und sie rät ihm ›Sag nichts. Das wird am besten sein‹.
Doch man ahnt den schlechten Verlauf der Geschichte, am nächsten Morgen wird Icek an die Tafel
gerufen, er könnte die Aufgabe bewältigen, aber er
schweigt.
»Der Lehrer schrie: Esel, Tölpel‚ Dummkopf« (ebd.).
So geht es weiter in Korczaks Geschichte, die Ratschläge der Mutter kommen stets zu spät und die
Umsetzung des Kindes misslingt. Icek wird in den
3/2013
Augen des Lehrers und in denen seiner Mitschüler
zu einem schwierigen Kind, zu einem Kind, das auffällt und nicht zu den Erwartungen passt.
Mit Iceks Schicksal führt Korczak vor Augen, wie
in der und durch die Pädagogik ein Kind schwierig
wird, weil es in Situationen kommt, für die es noch
kein angemessenes Verhaltensrepertoire hat. Er
zeigt ferner, dass die Erziehungsanstrengungen der
Mutter nicht automatisch zu den Erwartungen des
Lehrers passen. Und es gibt die anderen Kinder,
zwischen denen sich jedes Kind möglichst passend
bewegen muss. Korczak sensibilisiert zudem dafür,
dass Situationen in pädagogischen Handlungsfeldern nicht nur für die Fachkräfte häufig unübersichtlich sind, sondern mehr noch für die Kinder.
Icek jedenfalls interpretiert das, was er sieht und
erlebt augenscheinlich falsch und versteht nicht,
was vor sich geht.
Auch wenn der Text 1938 verfasst wurde, macht er
den bis heute zentralen Sachverhalt deutlich, die
Pädagogik selbst bringt schwierige Kinder mit hervor. Zu »schwierigen Kindern« gehören in der Regel
auch »schwierige Erwachsene«, andere »schwierige
Kinder« und vor allem »schwierige Situationen« im
Alltag und »schwierige Rahmenbedingungen« des
Aufwachsens.

Versuch einer Typologie
auffälligen Verhaltens
Die Thematisierung schwieriger Kinder in der Pädagogik konzentriert sich historisch gesehen auf das
Verhalten von Kindern einerseits und auf Störungen
andererseits. Störungen vor allem Lernund Entwicklungsstörungen sind eigent- Lern- und Entwicklich ein Grenzbereich pädagogischen lungsstörungen
Handels, weil sowohl die Diagnose als
auch die Therapie andere medizinische oder therapeutische Kompetenzen benötigt. Aber das Verhalten von Kindern trifft den Kern des Pädagogischen,
nämlich die Erziehung.
Erziehung wird – grob formuliert – übersetzt als
intentionales Handeln mit dem Ziel, Einfluss auf den
Zögling zu nehmen und ihm dabei zu helfen, seinen
Platz in der Gesellschaft zu finden. Mit Erziehung
sind Normen verbunden ebenso wie Vorstellungen
von »guter Kindheit« und Rollenzuschreibungen.
Erziehung setzt die »perfectibilité« ebenso voraus,
wie die wachsende Einsichtsfähigkeit des Kindes
und seine wachsende Kompetenz im Umgang mit
komplexen Situationen. Erziehung zielt also auf den
Körper und auf den Geist.
Festzuhalten ist in direkter Anlehnung an J.-J.
Rousseau, dass der Mensch drei Erzieher hat: die
KJug 91
Andresen • Auffällig in der Schule
Natur, die Dinge und den Menschen. Der Mensch als
Erzieher ist zum intentionalen Handeln fähig und er
kann sowohl die Natur als auch die Dinge in begrenztem Maße einsetzen oder arrangieren, um
Kinder zu erziehen. Dass ist zumindest das, was
Rousseau in seinem berühmten Werk »Emile« (1762)
und der »negativen Erziehung« beschreibt. Rousseau ging aber relativ radikal davon aus, dass alles
gut sei, wie es aus den Händen des Schöpfers
komme, alles aber unter den Händen des Menschen
entarte. Er macht also die falsche Erziehung, in einer
falschen Umgebung und mit gefährlichen
Typologie für Medien und Leidenschaften zur Unzeit
auffälliges Verhalten für auffälliges Verhalten bei Menschen
generell, aber besonders bei Kindern
und Jugendlichen verantwortlich. Mit Rousseau ließe sich auch eine Art Typologie der Pädagogik für
auffälliges Verhalten rekonstruieren.
Die Pädagogik und vor allem die Schule verstehen darunter typologisch, und hier grob skizziert,
ein Verhalten, das als nicht altersgemäß erscheint,
das dazu führt, sich und andere zu gefährden, die
Regeln nicht achtet und dem Auftrag, etwa zu lernen
und dem Unterricht zu folgen, nicht Folge leistet. In
meinem Beitrag »Der Zappel-Philipp – Schwierige
Kinder und die Pädagogik« habe ich die Typologie
anhand der Geschichten aus dem »Struwwelpeter«
des Arztes, Psychiatriereformers und Familienvaters Heinrich Hoffmann entwickelt. Darauf will ich
auch hier zurückgreifen:
Schwieriges Verhalten,
das als nicht altersgemäß gilt
Für diese Auffälligkeit steht Konrad, der an einer lieb
gewordenen Gewohnheit aus der Säuglings- und
Kleinkindzeit festhält und am Daumen lutscht, obwohl er eigentlich zu groß dafür ist. Wenn Kinder ein
»kindisches« Verhalten zeigen und dieses, sei es
absichtlich, sei es im Spiel versunken, beibehalten,
ruft dies die Notwendigkeit der Erziehung hervor.
Ebenso ist die Geschichte der Jugend geprägt durch
Gefährdungsdiskurse über abweichendes, auffälliges Verhalten von Mädchen und Jungen. Diese
Diskurse thematisierten vor allem Aktivitäten, die
den Jugendlichen untersagt waren, weil sie den Erwachsenen vorbehalten waren: Sexualität, Mobilität oder politische Aktivitäten.
Schwieriges Verhalten,
das Leib und Leben gefährdet
Hier ist Hoffmanns Geschichte von Paulinchen zu
nennen, die mit dem Feuer spielt und verbrennt,
auch der Suppen-Kaspar gehört dazu, der die Suppe
nicht isst und schließlich zu Tode kommt und der
fliegende Robert, der leichtsinnig ist und bei Sturm
hinausgeht. Das so genannte Risikoverhalten ge-
92
K Jug
Titelthema
hört zu den zentralen Dimensionen der Beschreibung von Jugend und nicht zuletzt können Lehrerinnen und Lehrer beispielsweise mit Suchtverhalten ihrer Schülerinnen und Schüler konfrontiert sein
oder mit der leichtsinnigen Preisgabe persönlicher
Daten im sozialen Netzwerk. Beide Beispiele verweisen darauf, wie wichtig die kontinuierliche Weiterbildung in der Pädagogik ist. Gerade das Risikoverhalten folgt neuen Trends und Erwachsene müssen sich hierzu auf dem Laufenden halten.
Schwieriges Verhalten,
das andere gefährdet
Der böse Friederich bei Hoffmann ärgert und quält
andere und lässt sich erst durch einen großen Hund
davon abbringen (Die Natur als Erzieher). Andere zu
gefährden ist ein Themenfeld der Schule, das heute
mit dem Begriff des Mobbing in den Blick genommen wird. Wie in der Schule Kinder und Jugendliche
vor Übergriffen und Gewalt geschützt werden, wie
man professionell mit Kindern und Jugendlichen
umgeht, die andere mobben und wie man ein Klima
schafft, in dem sich eine gewaltförmige Kultur unter
Peers nicht ausbreiten kann, wird zukünftig zu den
großen Herausforderungen zählen. Hier sind nicht
zuletzt wissenschaftliche Evaluationen über die
Wirkung von Präventions- und Interventionsprogrammen dringend nötig.
Schwieriges Verhalten,
das den häuslichen Regeln zuwiderläuft
Der Zappel-Philipp ist ein Kind, das aus pädagogischer Sicht auffällig ist, weil er gegen die Tischsitten seiner Zeit verstößt. Der Zappel-Philipp steht
auch heute für Kinder und Jugendliche mit einer
ADHS-Diagnose. Ohne hier auf die kontroversen
Diskussionen eingehen zu können, soll an dieser
Stelle nur darauf verwiesen werden, wie sehr die
Schule den Bewegungsdrang von Kindern einengt.
Zeit und Raum als Grundkategorien auch pädagogischen Handelns werden primär aus der Sicht der
Institution und ihrer Bedürfnisse und nur nachrangig aus der Situation von Kindern und Jugendlichen
betrachtet. Hier schafft sich die Institution ihre auffälligen Kinder.
Schwieriges Verhalten,
das ablenkt
Die hierfür passende Figur ist Hanns Guck-in-dieLuft, ein Kind, das sich nur für seine Perspektive
interessiert, nicht auf den Weg achtet, in der Schule
vermutlich aus dem Fenster schaut und träumt und
somit vom Unterricht nichts mitbekommt. Was also
machen mit dem Kind oder Jugendlichen, das nicht
so lernt, wie es soll und seine Potenziale nicht ausschöpfen kann im schulischen Kontext?
3/2013
Titelthema
Andresen • Auffällig in der Schule
Die hier nur knapp skizzierten Typen sind nach wie
vor für die Pädagogik relevant. Insbesondere treibt
die Erziehenden um, was Kinder machen, wenn sie
ohne Aufsicht sind. Schon zu Hoffmanns Zeiten
konnte selbst in der bürgerlichen Familie die Mutter
nicht unentwegt die Kinder überwachen, maßregeln, erziehen, Konrads Mutter geht fort und auch
Paulinchen war allein zu Haus, »die Eltern waren
beide aus«, als sie mit dem Feuer zu spielen begann.
Und Rousseau hat gute Gründe, seinen Emile unentwegt von seinem Lehrer begleiten und bewachen zu
lassen.
Einzelne Typen schwierigen Verhaltens sind
demnach pädagogisch brisant, wenn Erwachsene
abwesend sind und nicht eingreifen können, andere
Typen schwierigen Verhaltens sind dann herausfordernd, wenn Erwachsene anwesend sind, aber
nichts bewirken können. Auch deshalb kommen für
die Pädagogik der Gegenwart weitere Typen hinzu.
Schwieriges Verhalten,
das durch Respektlosigkeit gekennzeichnet ist
Die Begeisterung für das Buch »Lob der Disziplin«
von Bernhard Bueb (2006) vor einigen Jahren hat vor
Augen geführt, dass gerade Lehrkräfte viele Probleme darauf zurückführen, dass es Kindern zunehmend an Respekt und der Anerkennung von Autorität mangeln würde.
Schwieriges Verhalten
als Suchtverhalten
Auch das ein Phänomen, das Hoffmann noch nicht
im Blick hatte, das sich aber im Zuge der Ausweitung
städtischen Lebens – historisch betrachtet – seit
dem Ende des 19. Jahrhunderts ausbreitet und sich
insbesondere auf die Unkontrollierbarkeit der Jugend bezieht. Damit ist ein bis heute wachsendes
Problemfeld ebenfalls verbunden.
Schwieriges Verhalten
durch Medienkonsum
Die Problematisierung von Medienkonsum gehört
ebenfalls zur Geschichte vor allem der Jugend und
zum Themenfeld der Schule. Die Bewahrung der Jugend vor Schmutz und Schund war zu Beginn des
20. Jahrhunderts wichtig, heute geht es um exzessiven Medienkonsum, um die Wirkung von Gewaltvideos, um die Preisgabe persönlicher Daten im
sozialen Netzwerk und die Veränderungen des sozialen Miteinanders durch das Internet.

Die Kultur des Bewertens
Zum Aufwachsen gehören zwei Erfahrungen: mit
anderen verglichen und von anderen bewertet zu
3/2013
werden. Wenn der Dreijährige seine große Schwester mit dem Fahrrad beobachtet, vergleicht er ihre
Fahrkünste mit seinen eigenen. Es liegt nahe, dass
sein Ehrgeiz geweckt wird und die Motivation, es
auch zu können, aus der Beobachtung der Älteren
resultiert. Das Vorbild anderer Kinder geht nicht selten mit dem Gefühl der Konkurrenz einher. Mit dem
Moment des Wunsches, es genauso gut oder vielleicht noch besser zu können, ist für das Kind auch
sein Laufrad oder Dreirad nicht mehr attraktiv. Wenn es dann nach einer Zeit des Maßstab der
Übens, der ersten Fort- und der schmerz- Bewertung
haften Rückschritte sein Gleichgewicht
beim Fahren halten und den Gehweg entlang sausen
kann, vergleicht es sein Können nicht nur mit dem
der Schwester, sondern gerne mit dem seines
gleichaltrigen Freundes aus der Nachbarschaft und
seiner Spielkameradin in der KiTa. Ausgehend von
solchen Erfahrungen wird ein Kind zu einer Bewertung seines Könnens kommen, Handlungssicherheit und Selbstvertrauen gewinnen, aber sich auch
über- oder unterschätzen, es wird sich vielleicht oft
toll finden und immer wieder etwas Neues entdecken, was es lernen will. Kinder und Jugendliche
bewerten sich folglich selbst, doch dies geschieht
keineswegs in einem kontextfreien Raum, denn
Maßstäbe der selbstkritischen oder -verliebten
»Notengebung« werden ihnen von vielen Seiten vermittelt.
Dem Kind, das das Fahrradfahren gelernt hat,
kommen sicherlich in seinem unmittelbaren Umfeld
verschiedene Bewertungen zu Ohren: Die ältere
Schwester findet es vielleicht bemerkenswert, dass
ihr Bruder so schnell einhändig fahren kann, die
Mutter bewertet sein verkehrsgerechtes Verhalten
an der Ampel, der Vater, dass er freiwillig den
Schutzhelm aufsetzt und die Dame in der Bäckerei
gibt ihrer Bewunderung für seine Slalomkünste laut
Ausdruck. Kinder bekommen demnach ›en passent‹
unterschiedliche individuelle Maßstäbe mit und sie
machen die Erfahrung, dass sowohl der Prozess des
Erlernens und Übens selbst Gegenstand der Bewertung sein kann als auch ein einzelner
Aspekt seines Könnens. Davon unabhän- Bewertung im Alltag
gig gehören zahlreiche andere Kontexte, von Kindern und
in denen Bewertungen an der Tagesord- Jugendlichen
nung sind, zum Alltag von Kindern und
Jugendlichen. Im medial sehr präsenten Profisport
etwa geht es um die schnellsten, die besten und die
teuersten Akteure, bewundert werden die Schönsten, die Größten, manchmal die Klügsten, die Witzigsten oder die Reichsten. Bewertung findet also
ständig statt und es kommt darauf an, welche Kultur
Kinder und Jugendliche vorfinden und wie die darin
etablierten Verfahren sind.
Beobachtet man Kinder und ihre Aktivitäten, so
KJug 93
Andresen • Auffällig in der Schule
stellt sich weniger die Frage, ob ein Kind, sein Handeln, seine Leistungen oder sein Wissen überhaupt
bewertet werden sollen. Vielmehr besteht die Herausforderung für all diejenigen, die sich kritisch mit
Bewertung und Benotung, mit Leistungsmessung
und Konkurrenz befassen, erstens darin, sich als
Erwachsener der machtvollen Position des Bewertenden bewusst zu sein und stets gewahr zu werden, ob und wenn ja wann man diese Position missbraucht. Insofern hängt das Phänomen der spontanen, aber insbesondere der professionellen und
gezielten Bewertung, die zum Auftrag
Erziehungs- der Schule gehört, mit der Erziehungskompetenz kompetenz zusammen und sie ist eine
hohe Anforderung an Professionalität,
denn Bewerten ist ein entscheidendes Gestaltungsmerkmal von Beziehungen insbesondere in der
Schule. Zweitens geht es um eine kritische Auseinandersetzung mit dem System der Bewertung, also mit dem Gesamtrahmen, in dem Kinder und Jugendliche bewertet werden, mit Maßstäben bzw.
Kriterien und deren Transparenz sowie mit den Formen der Kommunikation und Repräsentation von
Bewertung. Für den Alltag von Kindern und Jugendlichen ebenso wie für ihr Selbstwertgefühl ist es
wichtig, ob sie sich angemessen bewertet und damit
(halbwegs) gerecht behandelt fühlen. Hierfür müssen sie befähigt werden, sich selbst und ihre Leistungen einzuschätzen, dazu gehören auch das Wissen und die Erfahrung, dass bestimmte Fähigkeiten
in der Regel nicht ohne Übung, also Anstrengung
erworben werden können. Wichtig ist jedoch auch,
dass sie sich im Lernprozess selbst und in der Situation der Bewertung nicht ausgeliefert, machtlos,
ohnmächtig fühlen. Darum ist grundsätzlich zu prüfen, wie transparent die Kriterien für Kinder und
Jugendliche sind und welche Verfahren es gibt, sich
zu beschweren, wenn man sich mit guten Gründen
nicht angemessen bewertet sieht. Ein kleines Beispiel lässt sich aus dem Kindergartenalltag anführen: Erzieherinnen erstellen mittlerweile für jedes
Kind eine sogenannte Bildungsdokumentation, um
die verschiedenen Lernfortschritte zu dokumentieren und dem Kind selbst, den Eltern und vielleicht
auch der künftigen Lehrkraft zu vermitteln. In manche Verfahren der Erstellung dieser Dokumentation
werden Kinder aktiv einbezogen, sie dürfen mit entscheiden, was dokumentiert wird und können so mit
Einfluss nehmen, sie erfahren im Idealfall aber
auch, worauf die Erzieherin besonderen Wert legt
und warum.
Daran anschließend sei deshalb drittens der Aspekt der Einseitigkeit problematisiert. Sieht eine
Institution wie die Familie, die KiTa oder die Schule
nur die Bewertung der einen durch die anderen vor
oder sind Formen der wechselseitigen Kritik eta-
94
K Jug
Titelthema
bliert? Zu den Aufgaben von Müttern und Vätern
gehört auch, Kindern Regeln und Werte nahezubringen und zu erklären, damit einher geht im Alltag die
Bewertung von Handlungen. Aber wünschenswert
ist ein Familienklima, in dem auch Kinder selbst die
Möglichkeit haben, elterliches Handeln zu kritisieren. Für die Entwicklung von Selbstwirksamkeit ist
die Erfahrung wichtig, dass auf die Meinung des
Kindes wert gelegt wird, dass es etwas verändern,
in Bewegung bringen kann und dass auch Vater oder
Mutter zuweilen mit ihrem Urteil falsch liegen, aber
bereit sind, etwas zu korrigieren oder sich gegebenenfalls zu entschuldigen. Vergleichbares, wenn
auch institutionell ganz anders ausgerichtet, gilt für
die Schule. Kinder und Jugendliche müssen nicht
den Wissensstand ihrer Mathelehrerin prüfen und
benoten, aber haben sie strukturelle und damit verfahrenstechnische Möglichkeiten, sich zu beschweren und gibt es angemessene Verfahren für Kinder
und Jugendliche, den Unterricht zu bewerten? Das
ist bislang kaum vorgesehen und darin liegt eine der
zentralen Herausforderungen.
All das ist nicht neu und dennoch sei am Ende
dazu angeregt, sich insbesondere in den außerfamiliären Institutionen, in denen Kinder und Jugendliche viel Zeit verbringen und wo sie ständig Erfahrungen mit Bewertungen machen, die Gefahr der
Entwertung als Stachel professionellen Handelns zu
verstehen. Nach wie vor stellen sich nämlich gerade
aus der Sicht von Kindern und Jugendlichen folgende Fragen: Wird meine Zielsetzung, meine Motivation, meine Anstrengung oder meine vollbrachte
Leistung bewertet? In welchem Verhältnis stehen die erbrachte Leistung und der Kultur der Bewertung
Weg, den ich bis dahin zurückgelegt habe? Warum habe ich bei Lehrer x und Lehrerin y das
Gefühl, ihre Kritik zielt weniger auf eine konkrete
Leistung? Warum fühle ich mich dadurch entwertet
und was kann ich dagegen unternehmen? Für die
Verantwortlichen stellen sich daran anknüpfend
folgende Fragen: Wie werden insbesondere Lehrerinnen und Lehrer dazu befähigt, zu bewerten? Woher bekommen sie in schwierigen Fällen Rat und wie
lernen sie, mit eigenen Fehlern umzugehen? Wie
transparent sind die Kriterien der Bewertung? Dahinter verbirgt sich auch die Anfrage an den Umgang
mit Fehlern und deren Potenzial für Entdeckungen,
für produktive Korrekturen, für Reflexion, für AhaErlebnisse, also für Lernen. Kinder und Jugendliche
lernen bislang eine Lektion sehr schnell, dass Fehler
ihnen hinsichtlich der Bewertung zum Verhängnis
werden können.
Grundsätzlich hängt die Anerkennung der einzelnen konkreten Bewertung auf Seiten der Kinder
und Jugendlichen und damit ihr produktiver Umgang mit »Rückmeldungen« davon ab, ob sie sich
3/2013
Titelthema
Andresen • Auffällig in der Schule
angemessen beurteilt fühlen und ob sie insbesondere die Schule als Kultur der grundsätzlichen Wertschätzung mit transparenten Verfahren, die auch
eine klare Regelung der Beschwerde ermöglichen,
erleben. In der Frage der Kultur der Bewertung liegt
möglicherweise ein Schlüssel zu Hervorbringung
von Auffälligkeiten.

Literatur
Andresen, Sabine (2012): Was unsere Kinder glücklich
macht. Lebenswelten von Kindern verstehen. Freiburg/Br.
Korczak, Janusz (1938/2003): Ein gehorsamer Sohn. In:
SW Band 13, bearbeitet und kommentiert von Friedhelm Beiner und Silvia Ungermann. Gütersloh,
S. 208-210.
World Vision Deutschland e.V. (2007): Kinder in
Deutschland 2007. 1. World Vision Kinderstudie.
Frankfurt am Main: Fischer.
World Vision Deutschland e.V. (2010): Kinder in
Deutschland 2010. 2. World Vision Kinderstudie.
Frankfurt am Main: Fischer.
Autorin
Prof. Dr. Sabine Andresen
Goethe-Universität
Fachbereich Erziehungswissenschaften
Institut für Sozialpädagogik und
Erwachsenenbildung
Grüneburgplatz 1
60323 Frankfurt am Main
Mail: [email protected]
Professur für Sozialpädagogik und Familienforschung, Forschungsschwerpunkte: u.a. Kindheits- und Jugendforschung, Familienforschung,
Geschichte der Sozialpädagogik, Historische
Bildungsforschung
Studien zur Kinder- und Jugendlichengesundheit
KiGGS – Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland
Die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland steht im Vordergrund der KiGGS-Studie des
Robert Koch-Instituts. Die Langzeitstudie beobachtet die gesundheitliche Situation der in Deutschland lebenden Kinder und Jugendlichen und begleitet sie bis ins Erwachsenenalter. Die Datenerhebungen zu KiGGS
erfolgen in Wellen. KiGGS liefert wiederholt bundesweit repräsentative Daten zur Gesundheit von Kindern
und Jugendlichen im Alter von 0 bis 17 Jahren und ermöglicht Aussagen zu Trends in der gesundheitlichen
Lage. • Weitere Informationen unter www.kiggs-studie.de
BELLA – »BEfragung zum seeLischen WohLbefinden und VerhAlten«
Die BELLA-Studie ist eine Studie zur psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland.
Mit der Studie sollen Auftretenshäufigkeit und Entwicklungsverläufe sowie relevante Determinanten (individuelle, familiäre und soziale Risiko- und Schutzfaktoren) psychischer Auffälligkeiten von der Kindheit und
Jugend bis ins Erwachsenenalter untersucht sowie die Inanspruchnahme von Leistungen des Versorgungssystems analysiert werden. Sie wird von der Forschungssektion Kinder- und Jugendgesundheit (www.childpublic-health.org) am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf unter der Leitung von Prof. Dr. Ulrike
Ravens-Sieberer durchgeführt. • Weitere Informationen unter www.bella-study.org
HBSC – »Health Behaviour in School-aged Children«
Die Kinder- und Jugendgesundheitsstudie »Health Behaviour in School-aged Children« (HBSC) dient der
Datengewinnung und -analyse der Gesundheit und gesundheitsbezogenen Wahrnehmungen, Einstellungen
und Verhaltensweisen von Schülerinnen und Schülern der 5., 7. und 9. Klasse. Die HBSC-Studie gibt Auskunft
über die Gesundheit und das gesundheitsrelevante Verhalten der 11-, 13- und 15-Jährigen, personale und
soziale Rahmenbedingungen, die die Gesundheit und eine gesunde Entwicklung positiv oder negativ beeinflussen. Die deutsche Teilstudie wird an der Fakultät für Gesundheitswissenschaften der Universität
Bielefeld unter Leitung von Prof. Dr. Petra Kolip koordiniert. • Weitere Informationen unter http://hbscgermany.de
3/2013
KJug 95
Fachbeitrag
Michael Dreier, Kai W. Müller, Eva Duven, Manfred E. Beutel, Klaus Wölfling
Das Modell der Vier: Eine Klassifikation
exzessiver jugendlicher Internetnutzer in Europa
In sieben Ländern wurde die Internetnutzung von Jugendlichen im Alter von 14 bis 17 Jahren quantitativ
und qualitativ untersucht. Es existieren derzeit zwar Studien zur Beschreibung von Internetnutzung und
internetabhängigem Verhalten, jedoch steckt die Forschung zur Entstehung dessen noch in den Kinderschuhen. Aus den erhobenen Daten wurde das »Modell der Vier« abgeleitet, welches internetabhängiges
Verhalten beschreibt und seine Entwicklung besser verständlich macht.
Die Entstehung internetabhängigen Verhaltens bei
Jugendlichen stand im Fokus der EU NET ADB Studie
(SI-2011-KEP-4101007), welche im Rahmen des Safer
Internet Programmes von der EU-Kommission gefördert wurde. Sie war in einen quantitativen
(N=13.284; Alter: M=15,8; SD=0,7) und einen qualitativen Erhebungsteil (N=124; Alter: M=16,0;
SD=0,7) untergliedert. Die quantitative Erhebung
sollte Prävalenzen und Risikofaktoren für internetabhängiges Verhalten bei Jugendlichen identifizieren. Der qualitative Studienteil wurde konzeptionell
dazu ausgerichtet, die Entwicklung eines internetabhängigen Verhaltens bei europäischen Jugendlichen ursächlich zu erklären. Als Haupterhebungsinstrument wurde der Internet Addiction Test
96 K Jug
(Young,1998) eingesetzt. Dieser Fragebogen besteht aus 20 Items, welche in 6-stufige Likertskalen
[0-5; Range 0-100] unterteilt sind. Das Instrument
trennt (Cronbach’s alpha = 0.92) zwischen Personen
die keine Zeichen internetabhängigen Verhaltens
zeigen (0-19), solchen mit leichten, jedoch unproblematischen Zeichen internetabhängigen Verhaltens (20-39), Personen mit einem erhöhten Risiko
für internetabhängiges Verhalten (40-69) und Personen mit Internetabhängigkeit (70-100).
Die Gesamtprävalenz für internetabhängiges
Verhalten konnte auf insgesamt 1,2% beziffert werden (12,7% gefährdet) – Island 0,8% (7,2% gefährdet), Deutschland 0,9% (9,7% gefährdet), Griechenland 1,7% (11% gefährdet), Niederlande 0,8% (11,4%
Funktionale
Internetnutzung
Dysfunktionale
Internetnutzung
Psychosoziale Probleme
M
SD
M
SD
P
Cohens d
Aktivitäten
8.22
0.07
7.29
0.13
***
0,25
Soziale Kompetenz
7.78
0.04
7.41
0.08
***
0,14
Akademische Kompetenz
2.19
0.01
2.03
0.02
***
0,27
Gesamtkompetenz
18.21
0.10
16.75
0.19
***
0,24
Angst/Depressivität
4.61
0.05
7.47
0.15
***
0,66
Sozialer Rückzug
2.89
0.04
4.50
0.09
***
0,58
Körperliche Beschwerden
2.68
0.04
4.37
0.12
***
0,55
Soziale Probleme
2.77
0.03
4.92
0.11
***
0,79
Schizoid/ Zwanghaftigkeit
2.93
0.04
5.49
0.13
***
0,79
Aufmerksamkeitsprobleme
4.94
0.05
7.68
0.10
***
0,86
Dissoziales Verhalten
4.10
0.05
7.69
0.15
***
0,92
Aggressives Verhalten
6.41
0.07
11.08
0.17
***
0,90
Internalisierende Auffälligkeiten 10.09
0.10
16.21
0.31
***
0,70
Externalisierende Auffälligkeiten 10.49
0.11
18.84
0.29
***
1,02
Gesamtbelastung
0.32
57.03
0.88
***
1,07
33.12
KJug, 58. Jg., S. 96 – 99 (2013)
© Bundesarbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz e. V.
3/2013
Fachbeitrag
Dreier u.a. • Das Modell der Vier
gefährdet), Polen 1,3% (12% gefährdet), Rumänien
1,7% (16,0% gefährdet) und Spanien 1,5% (21,3%
gefährdet). Die weitere Datenauswertung ergab,
dass sich funktionale (39 IAT) und dysfunktionale
(40 IAT) Nutzer signifikant bei der Symptombelastung inklusive sämtlicher Subskalen, sowie den
Subkompetenzskalen und dem Gesamtkompetenzscore unterscheiden (Tsitsika et al. 2013).
Basierend auf dem Youth-Self-Report (YSR;
Achenbach & Rescorla 2001) zeigen Jugendliche mit
einer funktionalen Internetnutzung signifikant bessere Ausprägungen in den Subskalen »Aktivitäten«,
»soziale Kompetenz« sowie »akademische Kompetenz«. Hingegen zeigen dysfunktionale Nutzer signifikant erhöhte Werte in den Subskalen »Angst/Depressivität«, »Sozialer Rückzug«, »Körperliche Beschwerden«, »Soziale Probleme«, »Schizoid/
Zwanghaftigkeit«, »Aufmerksamkeitsprobleme,
»Dissoziales Verhalten«, »Aggressives Verhalten«,
»Internalisierende Auffälligkeiten« sowie »Externalisierende Auffälligkeiten« (vgl. Tsitsika et al. 2013).
Um exzessive Nutzer näher zu charakteriKlassifikation einer sieren, wurde das »Modell der Vier« entexzessiven Internet- wickelt, welches im Folgenden als Instrunutzung im Kindes- ment zur Klassifikation einer exzessiven
und Jugendalter Internetnutzung im Kindes- und Jugendalter vorgestellt wird. Für die Interviews
wurden Jugendliche (N=124) ausgewählt, die im IAT
mehr als 30 Punkte erzielten. Die vier identifizierten
Idealtypen wurden durch relevante Zitate charakterisiert; anschließend wurden Implikationen für die
jeweiligen Nutzungstypen abgeleitet.
Typ A »im Netz gefangen« ist durch eine exzessive
Internetnutzung, Vernachlässigung von Hauptbereichen der täglichen Routine (Schule, Freunde,
Pflichten), Nutzung spezifischer Onlineaktivität, einer
negativen Überbeanspruchung (Schlafstörung und
Stress, wenn man nicht online
sein kann) und Schwierigkeiten, die Internetnutzung zu
reduzieren wenn negative
Konsequenzen zu befürchten
sind, zu beschreiben.
»Nun, ich sollte mehr rausgehen. Draußen sein, schwimmen gehen oder ähnliches. Ich
war seit zwei Jahren nicht mehr
schwimmen. Ich war seit über
vier Monaten nicht mehr
abends mit meinem Freund weg, solche Dinge vernachlässigt man.« (Junge, 16 Jahre)
Dieser Typ empfindet häufige Enttäuschungen im
sozialen Miteinander, fühlt sich ausgeschlossen
3/2013
oder wird sogar gemobbt und ist nicht in der Lage
negativen Konsequenzen, welche durch sein Handeln entstehen, adäquate adaptive Handlungsstrategien entgegenzusetzen.
Währenddessen ist Typ B »alles auf die Reihe bekommen« durch eine Pluralität an täglichen Aktivitäten zu beschreiben. Dieser Typ weist eine starke
Online- und Offlinepräsenz auf und ist darüber hinaus durch gute soziale Kompetenzen charakterisiert.
»Weil ich so beschäftigt bin
und viel Zeit im Internet verbringe. Dadurch ist es schwierig alles auf die Reihe zu bekommen, aber ich bekomme es
schon hin.« (Mädchen, 15 Jahre)
Dieser Typ profitiert maßgeblich von Synergien, welche
durch die Verbindung von Online- und Offlineaktivitäten
entstehen. Hier bieten soziale
Netzwerke und eine kompetente Nutzung dieses Kommunikationsmittels Vorteile, die
vom beschriebenen Idealtyp
zur Organisation des eigenen
Lebens genutzt werden.
Typ C »erfolgreich selbstregulieren« ist primär durch
eine vorangegangene exzessive Onlineaktivität und
eine veränderbare Selbstregulationsstrategie zu
klassifizieren. Diese veränderbaren Selbstregulationsstrategien sind im Wesentlichen auf 1) Sättigung
(»Es leid werden«), 2) Rückmeldung negativer Konsequenzen (körperliche Probleme, Schmerzen,
schulischer Leistungsabfall, elterliche Konflikte
etc.) sowie 3) externe Anreize (romantische Beziehung etc.) zurückzuführen. Der wesentliche Unterschied zu Typ A ist hier die Entwicklung adaptiver
Handlungsstrategien im Falle des Auftretens oder
Drohens negativer Konsequenzen. Die dazu notwendige Selbstregulation trennt
beide Idealtypen auf Verhaltensebene deutlich voneinander.
»Als ich begann soziale Netzwerke wie Facebook zu besuchen, habe ich gesagt: ›Ah,
hier gibt es viele Leute, ich
treffe neue Leute, das ist
schön‹, ich blieb immer länger
und länger (online), […] Ich
machte Kommentare, lud
KJug 97
Dreier u.a. • Das Modell der Vier
Fachbeitrag
Zeug hoch und schuf mir dort ein neues Leben, wie
eine virtuelle Realität. Ähm…Ich glaube, das ist, was
passiert ist. Nach einer Weile aber […] dann,
SCHLIESST SICH DER KREIS, man fängt an zu sagen
›Was mache ich jetzt?‹, man hat es satt, man beendet es, man geht raus und man beginnt die Zeit zu
reduzieren, die man online verbringt. Genauso
schließt sich der Kreis.« (Mädchen, 17 Jahre)
Die exzessive Onlineerfahrung kann als Kreis beschrieben werden, welcher zu einem bestimmten
Zeitpunkt durch die drei beschriebenen Faktoren
(Rückmeldung negativer Konsequenzen, Sättigung,
externe Anreize) einen Änderungswunsch initiiert,
welcher durch eine erfolgreiche Selbstregulation
entsprechend umgesetzt werden kann.
Typ D »Zeit totschlagen« nimmt sein Offlineleben als
langweilig wahr. Dies liegt in erster Linie daran,
dass alternative Interessen vollständig fehlen. Eine
starke Onlinenutzung liefert hier einen komfortablen und omnipräsenten Zeitfüller.
»Nun, es kümmert mich
wirklich nicht. Ich schlage
nur die Zeit tot. Mir ist so
langweilig…« (Junge, 17 Jahre)
Als problematisch für die
Entwicklung des Jugendlichen ist eine automatisierte Reaktion auf Langeweile
zu benennen, welche eine
Phase exzessiver Internetnutzung zur Folge hat. Hierdurch manifestieren sich Verhaltensmuster, welche
als Vermeidungsreaktion, in Erwartung von nicht
ertragbarer Langeweile, kritisch zu betrachten sind.
Soziale Fähigkeiten sind bei diesem Nutzungstyp
bedingt ausgeprägt. Der alternative Interessensbereich, welcher kreative Ideen als fruchtbaren Boden
begünstigt, ist hier ggf. aufgrund mangelnder elterlicher Förderung nicht vorhanden.
Die folgende Darstellung ist horizontal dichotom in
Offline Einbindung (hoch/ niedrig) und vertikal in
Online Craving (hoch/ niedrig) eingeteilt.
Craving bezeichnet Dieser Vierfeldertafel lassen sich die voreine starke gedank- gestellten vier Nutzungstypen gemäß
liche Eingenommen- ihrer Ausprägungen in den beiden Leheit bzw. den unkon- bensbereichen zuordnen. Kinder und Jutrollierbaren Wunsch gendliche sind »immer on(line)« und
das Internet oder die haben somit eine permanente niederjeweilige Applikation schwellige Zugriffsmöglichkeit auf das
zu verwenden. Internet und die damit verbundenen
Möglichkeiten. Diese Dynamik kann für
den Jugendlichen eine starke Quelle der Selbstbestätigung darstellen.
98
K Jug
Die Eigenschaften Selbstregulation und Änderungsmotivation beeinflussen die Entwicklung adaptiver
und maladaptiver Handlungsstrategien. Diese
Handlungsstrategien gelten zum einen als Indikator
zur Identifikation der vorgestellten Nutzungstypen
und verstärken sich zum anderen selbst.
Adaptive Handlungsstrategien sind 1) Selbstkontrolle, 2) Priorisierung und 3) Ausprobieren von
offline Alternativen. Diese Nutzungstypen sind
funktionelle Nutzer und ein Kontrollverlust hängt
hauptsächlich mit entwicklungstypischen Verhaltensmustern zusammen. Es ist anzunehmen, dass
der Nutzer die grundlegende Fähigkeit zur Selbstregulation besitzt und aller Voraussicht
nach keine Intervention im engeren Sinne adaptive
notwendig wird. Im klinischen Alltag Handlungsstrategien
zeigt sich, dass gerade für den Nutzungstyp B im Falle des plötzlichen Wegbrechens einer
bedeutenden Offlineselbstbestätigungsquelle, beispielsweise infolge einer Sportverletzung, die
Wahrscheinlichkeit einer Ausbildung suchtartiger
Internetnutzungsmuster deutlich erhöht ist. Typ C
wird voraussichtlich während seiner Entwicklungsphase innerhalb des Nutzungskreises erhebliche
Zeit verlieren, daher ist hier eine Sensibilisierung
für das Thema der Internet- und Mediennutzung angebracht.
Als maladaptive Handlungsstrategien sind
1) das Umgehen elterlicher Kontrolle, 2) Bagatellisieren und 3) eine Legitimierung der exzessiven
Nutzung zu benennen. Idealtypen, welche derartige
Verhaltensmuster aufweisen und darüber hinaus
entsprechend im Vierfelderschema verortet sind, weisen vermehrt Komorbidi- maladaptive
täten (Ängste, Depressionen, Aufmerk- Handlungsstrategien
samkeitsstörungen, etc.) auf. Gerade im
Altersspektrum Kinder und Jugendlicher handelt es
sich häufig um weitere psychische Störungsbilder
und psychosoziale Problematiken, welche z.T. auch
durch prekäre Familiensituationen mitbedingt sein
können. Nutzer mit maladaptiven Handlungsstrate-
3/2013
Fachbeitrag
Dreier u.a. • Das Modell der Vier
gien werden sich in Bezug auf ihre Internetnutzung
nicht selbst regulieren können und sind daher auf
professionelle Hilfe angewiesen.
Eine Sekundäranalyse der retrospektiven Interviews zeigte eine Veränderung der YSR-Subskalen
Externalisierung und Internalisierung, welche den
Idealtypen in unterschiedlicher Ausprägung zugewiesen werden konnten. Bei Typ A ist im Lebensverlauf bis zum aktuellen Zeitpunkt eine Steigerung im
Bereich externalisierender Problemlagen zu verzeichnen. Typ B weist keine Veränderung auf. Hingegen berichtet Typ C eine Minderung internalisierender Problematiken. Im Gegensatz dazu steht
Typ D, welcher eine Zunahme von internalisierenden
Symptomatiken beschreibt.

Fazit
Es konnte gezeigt werden, dass ein hohes Online
Engagement nicht per se als problematisch zu bezeichnen ist. Dies liegt u.a. daran, dass Phasen exzessiver Internetnutzung auch einen jugendlichen
entwicklungsspezifischen Hintergrund haben können. Zentralen Einfluss auf die Klassifikation der
Internetnutzung haben die Eigenschaften 1) Selbstregulation und 2) Änderungsmotivation, da diese
maßgeblich zur Ausbildung von adaptiven oder maladaptiven Handlungsstrategien beitragen. Der kulturelle Rahmen, welcher die Grundvoraussetzungen
für die Nutzung von technischen Innovationen bietet, trägt seinen Teil zur Ausbildung des Internetnutzungsverhaltens bei. Nicht zuletzt dadurch, dass
gesamtgesellschaftliche Krisensituationen Familiensysteme ins Wanken bringen und somit den notwendigen stabilen Boden kindlicher und jugendlicher Entwicklung entziehen können. Die unterschiedlichen Eigenschaften der distinkten Nutzungstypen sprechen gegen die These einer Spontanremission eines internetabhängigen Verhaltens.
Gerade im Bereich zentraler Eigenschaften wie
Selbstregulation und Änderungsmotivation sind
beispielsweise beim Auftreten oder Drohen negativer Konsequenzen deutliche Unterschiede zwischen den Nutzungstypen beobachtbar. Die beschriebenen Nutzungstypen sind nicht ausschließlich in zeitlich chronologischer Abfolge zu beschreiben.
Das »Modell der Vier« bietet die Möglichkeit exzessive Internetnutzungstypen zu charakterisieren,
hieraus eine einfache Klassifikation von Intensivnutzern vornehmen zu können und gegebenenfalls
entwicklungsspezifische Interventions- und Beratungsstrategien einzuleiten.
3/2013

Literatur
Achenbach, T. M.; Rescorla, L. A. (2001): Manual for the
ASEBA School-Age Forms & Profiles. Burlington, VT:
University of Vermont, Research Center for Children, Youth, & Families.
Dreier, M.; Tzavela, E.; Wölfling, K.; Mavromati, F.; Duven, E.; Karakitsou, Ch.; Macarie, G.; Veldhuis, L.;
Wójcik , S.; Halapi, E.; Sigursteinsdottir, H.; Oliaga,
A.; Tsitsika, A. (2012): The development of adaptive
and maladaptive patterns of Internet use among
European adolescents at risk for internet addictive
behaviours: A Grounded theory inquiry. National
and Kapodistrian University of Athens (N.K.U.A.),
Athens: EU NET ADB. www.eunetadb.eu.
Strauss, A.; Corbin, J. (1990): Basics of qualitative research: Grounded theory procedures and techniques. London: Sage.
Tsitsika, A.; Janikian, M.; Tzavela, E.; Schoenmakers, T.
M.; Ólafsson, K.; Halapi, E.; Tzavara, C.; Wójcik, S.;
Makaruk, K.; Critselis, E.; Müller, K.W.; Dreier, M.;
Holtz, S.; Wölfling, K.; Iordache, A.; Oliaga, A.;
Chele, G.; Macarie, G.; Richardson, C. (2012): Internet use and internet addictive behaviour among
European adolescents: A cross-sectional study.
National and Kapodistrian University of Athens
(N.K.U.A.), Athens: EU NET ADB. www.eunetadb.eu.
Wölfling, K.; Müller, K.W.; Beutel, M.E. (2011): Scale for
the Assessment of Internet and Computer game
Addiction (AICA-S): Psychometric qualities of a diagnostic questionnaire for the clinical assessment
of Computergame Addiction. Psychother Psychosom Med Psychol, 61: S. 216-224. doi: 10.1055/
s-0030-1263145.
Young, K. S. (1998): Internet addiction: The emergence
of a new clinical disorder. CyberPsychology and
Behavior, 1: S. 237-244.
Autoren
Michael Dreier
Ambulanz für Spielsucht
Klinik und Poliklinik für Psychosomatische
Medizin und Psychotherapie
Universitätsmedizin der Johannes GutenbergUniversität Mainz
Untere Zahlbacher Straße 8
55131 Mainz
Mail: [email protected]
Alle weiteren Autor/inne/n ebenfalls Ambulanz
für Spielsucht Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität
Mainz.
KJug 99
Positionen/Standpunkte
Zur Lage der Kinder in Industrieländern
UNICEF veröffentlichte im April 2013 erneut einen komparativen Bericht zur Lage der
Kinder in Industrieländern [UNICEF Office of Research, Child wellbeing in rich countries,
A comparative overview (Innocenti Report Card 11), April 2013]. Die Deutsche Gesellschaft
für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie e.V. (DGKJP),
der Bundesverband für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie
in Deutschland e. V.(BKJPP) und die Bundesarbeitsgemeinschaft der Leitenden Klinikärzte
für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie e. V. (BAG KJPP) sowie
deren gemeinsame Stiftung »Achtung! Kinderseele« begrüßen dieses generelle Benchmarking.
Positiv ist, dass sich das allgemeine Lebensumfeld
der Kinder (wie z.B. der materielle Wohlstand) in
vielen Ländern allgemein verbessert hat. Sehr erfreulich sind die Erfolge im Bereich der Bildung und
bei der Reduktion von Risikoverhalten, wie z.B. Rauchen, in Deutschland. Im Durchschnitt der fünf untersuchten Dimensionen (materieller Wohlstand,
Gesundheit und Sicherheit, Bildung, Verhalten und
Risiken, Wohnen und Umwelt) ist Deutschland mit
dem sechsten Platz in der Rangreihenfolge noch das
am besten platzierte, bevölkerungsreiche Industrieland. (...) Als positives Ergebnis von – auch kinderund jugendpsychiatrisch beratenen – Präventionsbemühungen zu bewerten ist die auf nur 23% betroffener Schüler abgefallene Rate an Prügeleien in
der Schule, bezogen auf 12 Monate. Damit hat
Deutschland das beste Schulklima aller Länder. (...)
Kritischer ist die Lage für die Kinder, die unter absoluten Entbehrungen leben, erfasst mit einem Deprivationsindex (Mangel an 14 verschiedenen Gütern und Angeboten). Erwartungsgemäß finden sich
die höchsten Deprivationsraten in ärmeren Staaten
Europas, wie z.B. Rumänien. Deutschland liegt hier
aber nur auf Platz 14 und schneidet so deutlich
schlechter ab als Dänemark oder Schweden (...).
Dieser Aspekt tatsächlicher Deprivationsbedingungen für Kinder und Jugendliche sollte aus Sicht
der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie
stärker bei der Debatte um Armutsfolgen und Kinderarmut in Deutschland berücksichtigt werden, da
solche so genannten Deprivationsbedingungen
stark mit schulischen Chancen und dem Gesundheitsverhalten korrelieren und da unter Deprivationsbedingungen das Risiko für seelische Störungen
steigt (vgl. auch die Ergebnisse des KiGGS Surveys
des Robert Koch-Instituts).
100 K Jug
Bestürzend und Anlass dieser Stellungnahme ist
der Befund, dass trotz der insgesamt eher guten
Rahmenbedingungen für das Wohlbefinden von Kindern, die subjektive Lebenszufriedenheit von Kindern in Deutschland, mit Platz 22 von 29 besonders
schlecht ist. Deutschland ist hier im Vergleich zu
den Voruntersuchungen vom vorderen Feld 6 in den
Tabellenkeller abgestiegen. Es gelingt hierzulande
nicht, wie z.B. in den Niederlanden, hervorragende
Rahmenbedingungen mit gefühlter Lebenszufriedenheit, dem subjektiven Gefühl einer behüteten
und glücklichen Kindheit zu verbinden und Vertrauen zu den Eltern zu entwickeln. (...) Während in den
letzten Jahren in einer breiten gesellschaftlichen
Diskussion sehr viel für die Verbesserung, vor allem
im Bildungsbereich und für die Reduktion von Risiken getan wurde, werden die häufig als weiche
Faktoren betrachteten Dimensionen der emotionalen Entwicklung von Kindern, ihr Bindungsbedürfnis, die Entwicklung eines eigenen Selbstwerts,
kaum öffentlich diskutiert und durch geeignete
Maßnahmen adressiert.
Die Fachverbände der Kinder- und Jugendpsychiatrie (DGKJP, BAG KJPP, BKJPP) haben sich angesichts der Ergebnisse des KiGGS Surveys des Robert
Koch-Instituts (www.kiggs-studie.de), mit der dort
festgestellten hohen Rate an emotionalen Verhaltensstörungen bei Kindern in Deutschland, zur
Gründung der Stiftung »Achtung! Kinderseele« entschlossen, um in dieser Gesellschaft Achtsamkeit
für die seelischen, emotionalen Bedürfnisse von
Kindern, für die frühe Förderung ihres Selbstwerts,
zu steigern. Unsere Auffassung ist, dass (seelische)
Gesundheit, Bildung, Bindung und emotionale Sicherheit untrennbar zusammengehören und in
Deutschland gefördert werden müssen.
3/2013
Positionen/Standpunkte
Die UNICEF Studie, die die Situation der Kinder in
Deutschland mit dem Titel »Leistungsstark aber unglücklich?« beschreibt, ist eine Herausforderung an
die Fachverbände sowie an die Politik und das gesamte gesellschaftliche Umfeld. (...) Erfreulicherweise hat die Erkenntnis, dass die Vermittlung von
Entwicklungschancen Bindungs-, Gesundheits- und
Bildungsförderung mit einschließt, sich im Bereich
der so genannten »Frühen Hilfen« in der frühen
Kindheit in den letzten Jahren in Deutschland schon
stärker durchgesetzt. Doch die emotionalen Bedürfnisse, die Notwendigkeit sich aufgehoben, geliebt
und gefördert zu fühlen, die ja ebenso zu den in der
UN-Kinderrechtskonvention definierten Basisbedürfnissen von Kindern gehören wie die klaren materiellen Rahmenbedingungen des Wohlergehens,
müssen in allen Altersstufen gefördert werden. Gerade bei Schulkindern und Jugendlichen werden
hier eklatante Defizite deutlich. Die Stiftung »Achtung! Kinderseele« denkt deshalb nach der erfolgreichen Etablierung ihrer Kindertagesstätten-Patenprojekte im frühkindlich präventiven Bereich,
nun verstärkt an Projekte zur emotionalen Förderung der Lebenszufriedenheit bei Schulkindern und
Jugendlichen im Übergang zu Arbeit und Berufsausbildung/Studium.
Unglücklich sein und emotionale Belastungen
bei Kindern und Jugendlichen können und müssen
frühzeitig wahrgenommen werden. Noch immer ist
die Wahrnehmung von emotionalen Problemen bei
Kindern für viele Eltern schambesetzt. Aus Angst vor
Stigmatisierung unterbleiben deshalb oft eine
rechtzeitige Hilfesuche und eine frühzeitige professionelle Unterstützung. Die Deutsche Gesellschaft
für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik
und Psychotherapie e.V., die sich mit den anderen
beiden Fachverbänden auch im Rahmen der Arbeitsgemeinschaft der wissenschaftlichen-medizinischen Fachgesellschaften für eine, auf evaluiertem Wissen basierende (evidenzbasierte) Behandlung seelischer Störungen bei Kindern und
Jugendlichen einsetzt, betont, dass Kinder nicht nur
Förderung ihrer Leistungsfähigkeit brauchen, um
später z.B. im Arbeitsleben ihren Platz zu finden,
sondern es hängt entscheidend von ihrer emotionalen Befindlichkeit und von ihrem Selbstwert ab,
ob es ihnen gelingt, im Rahmen der Autonomieentwicklung so weit zu kommen, dass sie ihr Leistungspotential auch umsetzen können und selbst zu
3/2013
warmherzigen und beziehungsfähigen Erwachsenen in einer nachwachsenden Generation werden.
Die Stiftung »Achtung! Kinderseele« und die kinder- und jugendpsychiatrischen Fachverbände unterstützen deshalb die Forderungen von UNICEF für
Deutschland nachdrücklich:
• Kampf gegen Kinderarmut, insbesondere
Verhinderung von Deprivationsbedingungen
• Kindergesundheit fördern
• Kinder und ihre Rechte stärken
Darüber hinaus fordern DGKJP, BAG KJPP, BKJPP und
die Stiftung »Achtung! Kinderseele« eine stärkere
Achtsamkeit für die seelische Befindlichkeit von
Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Nach der
erfolgreichen Agenda zur Verbesserung, z.B. der
schulischen Rahmenbedingungen nach dem PISASchock, ist nun eine vergleichbare Anstrengung zur
Förderung des »emotionalen Wohlbefindens« und
der wahrgenommenen Lebenszufriedenheit von
Kindern in Deutschland zu fordern.
Zusammenfassend bleibt folgendes festzuhalten:
Bildung und Leistungsbereitschaft sind eine Seite,
die erfreulicherweise in Deutschland offenbar hoch
ausgeprägt ist. Wohlbefinden von Kindern und Jugendlichen, sowie emotionale Aspekte kindlichen
Aufwachsens scheinen in der Zukunft dagegen DIE
Aufgabe für die Gesellschaft in Deutschland zu sein.
Für die Fachgesellschaften und die Stiftung
»Achtung! Kinderseele«: Prof. Dr. J.M. Fegert
Der Verfasser der Stellungnahme ist Stellvertretender Präsident der Deutschen Gesellschaft
für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie e.V.; Kuratoriumsvorsitzender der Stiftung »Achtung! Kinderseele« und Mitglied im Deutschen Komitee der
UNICEF.
Für die Vorstände: Prof. Dr. G. Schulte-Körne
(DGKJP), Dr. M. Herberhold (BKJPP), Dr. I.
Spitczok von Brisinski (BAG KJPP), Prof. Dr. G.
Lehmkuhl (Stiftung »Achtung! Kinderseele«)
KJug 101
Recht und Rechtsprechung
Sigmar Roll
§§
Jugendschutzprogramme – ein Konzept mit Januskopf
Die 5. Kammer des Verwaltungsgerichts Neustadt a.d. Weinstraße hat in einer Entscheidung des vorläufigen Rechtsschutzes einem Telemedienanbieter ermöglicht, entwicklungsbeeinträchtigende Inhalte trotz möglicherweise unzureichender Schutzmaßnahmen vorläufig weiter zu verbreiten, weil im Hinblick auf die Beschlusslage der KJM kein
Sofortvollzug geboten sei (Beschluss vom 17.04.2013; Az.: 5 L 68/13.NW)*.
Leitsätze des Bearbeiters
1. Die Eignung eines Jugendschutzprogramms ist bei
seiner Anerkennung nach § 11 JugendmedienschutzStaatsvertrag (JMStV) umfassend zu prüfen.
2. Bei summarischer Betrachtung erscheint der Begriff
der »wesentlichen Verbreitung« zu unbestimmt, um
daran bestimmte Rechtsfolgen zu knüpfen.

Sachverhalt
Ein Bordellbetreiber B wirbt auf seiner Homepage
für seine Etablissements mit einschlägigen Bildern
und Texten. In einem früheren Aufsichtsverfahren
war bemängelt worden, dass er ohne adäquate
Schutzmaßnahmen Inhalte verbreite, die für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen unter 16
Jahren beeinträchtigend seien. Der anschließende
Rechtsstreit hatte mit der Verpflichtung des B geendet, dass er das Angebot für ein von der Kommission für Jugendmedienschutz (KJM) anerkanntes Jugendschutzprogramm programmiere.
Zwischenzeitlich ist das Angebot geändert worden: Die neuen Inhalte sind zwar weiterhin keine
Pornografie, aber sie sind als entwicklungsbeeinträchtigend für alle Minderjährigen anzusehen. B
hat diese Angebotsinhalte zutreffend mit einer
Kennzeichnung der Altersstufe »ab 18« programmiert. Allerdings gab es zu Jahresbeginn 2013 keine
Jugendschutzprogramme, deren Anerkennung sich
aktuell auf diese Altersstufe erstreckt hätte. Die KJM
hatte nach langem Vorlauf im Februar 2012 erstmalig zwei Internetfilter als Jugendschutzprogramme
nach § 11 JMStV anerkannt. Wegen der erst noch zu
leistenden Verbreitung der Programme hatte sie die
Anerkennung für die Zeit bis Ende Mai 2013 auf An-
102 K Jug
gebote mit maximal sog. 16er Inhalten begrenzt und
sich einen Widerruf der vollen Anerkennung vorbehalten, falls keine hinreichende Verbreitung nachgewiesen sei. Dem Anbieter wurde auf Beschluss
der KJM durch die zuständige Landesmedienanstalt
L mit sofortiger Wirkung und unter Androhung eines
Zwangsgeldes die weitere Verbreitung des Angebots ohne geeignete Schutzmaßnahmen (Einhaltung der Zeitgrenze zwischen 23 Uhr und 6 Uhr oder
Einsatz eines dem Angebot vorgeschalteten technischen Schutzes zur Altersprüfung) untersagt.
Hiergegen hat B Rechtsmittel ergriffen und Eilrechtsschutz für die Zeit bis zur Entscheidung in der
Hauptsache beantragt.

Argumentation des Gerichts
(…) II. (…) Nach § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO hat die L ihr
besonderes Vollziehungsinteresse hinreichend damit dargelegt, dass im Falle der aufschiebenden
Wirkung der Anfechtungsklage der Jugendschutz
durch die Verbreitung der beanstandeten InternetAngebote des B dauerhaft und auch nachhaltig gefährdet würde und die kommerziellen Interessen
des B hinter dem Jugendschutz zurückstehen
müssten. Den formellen Anforderungen des § 80
Abs. 3 Satz 1 VwGO ist damit genügt.
(…) Ob sich die zur Begründung des Sofortvollzugs von der L angeführten Gründe als tragfähig
erweisen, um – abweichend von der gesetzlichen
Grundregel, dass Rechtsbehelfe gegen Verwaltungsakte aufschiebende Wirkung haben (vgl. § 80
Abs. 1 Satz 1 VwGO) – das besondere öffentliche
Interesse an der sofortigen Vollziehung im Einzelfall
rechtfertigen zu können, ist vielmehr eine Frage des
* voller Wortlaut dieser Entscheidung siehe www.bag-ju
gendschutz.de/recht_rechtsprechung_jugendschutz.html
KJug, 58. Jg., S. 102 – 107 (2013)
© Bundesarbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz e.V.
3/2013
Recht und Rechtsprechung
materiellen Rechts, ob insoweit auch die Voraussetzungen des § 80 Abs. 2 Nr. 4
VwGO vorgelegen haben.
(…) Die vom Gericht vorzunehmende Abwägung
zwischen dem Aussetzungsinteresse des B und dem
öffentlichen Interesse an der
sofortigen Vollziehbarkeit
der in Ziffer 2 des Bescheids
enthaltenen Untersagungsverfügung fällt zu Lasten der
L aus. Hierzu tragen bereits
für das Gericht bestehende
materielle Rechtmäßigkeitsbedenken gegen die befristete und zugleich mit einem
Widerrufsvorbehalt versehene Untersagungsverfügung bei (1.). Ausschlaggebend ist jedoch, dass die
Kammer jedenfalls bei der von ihr im Rahmen der
nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO vorzunehmenden Abwägung von Aussetzungsinteresse und besonderem
Vollziehungsinteresse die Voraussetzung für die Annahme einer besonderen Eilbedürftigkeit der für
sofort vollziehbar erklärten Untersagungsverfügung
als nicht gegeben ansieht (2.).
1. Zunächst bedürfen die streitentscheidenden
Fragen, ob die Angebote des B (...) geeignet sind,
die Entwicklung unter 18-Jähriger zu beeinträchtigen und ob nach derzeitiger Rechtslage der Zugriff
auf die Homepage des B in gesetzlich geforderten
Maßen (§ 5 Abs. 3 Nr. 1 JMStV, 11 Abs. 1 JMStV) durch
das vom B vorgenommene sog. Labeling »ab 18 Jahren« auch für die über 16-Jährigen, aber unter
18-Jährigen im gesetzlich
geforderten Maße beBei der Diskussion der vorliegenden Eilentscheidung ist zu
schränkt werden kann, eibeachten, dass die hier geforderte
ner eingehenden rechtlieingehende rechtliche Prüfung noch
chen Prüfung, die im Rahaussteht. Einige wichtige Gedanken
men des vorliegenden Eilsollen in der Anmerkung aufgezeigt
verfahrens angesichts seiwerden.
nes lediglich summarischen
Charakters nicht abschließend geleistet werden kann.
Bei der Frage, ob der B deshalb keine ausreichenden jugendschutzrechtlichen Schutzvorkehrungen getroffen hat, weil seine Angebote ganztägig frei zugänglich sind und (nur) mit dem Labeling
»ab 18 Jahren« versehen sind, stellt die L darauf ab,
ob die Jugendschutzprogramme von der KJM anerkannt sind. Eine Anerkennung für die vom B gebotenen Inhalte liege deshalb nicht vor, weil bisher von
der KJM Jugendschutzprogramme nur als geeignet
für Inhalte der Altersgruppen bis maximal 16 Jahren

Dass Rechtsbehelfe gegen Verwaltungsakte regelmäßig aufschiebende Wirkung haben, ist vor
dem Hintergrund entstanden, dass
belastende Eingriffe der staatlichen
Verwaltung erst nach Abschluss der
dem Bürger zustehenden Rechtsprüfung zur Auswirkung kommen sollen.
Im vorliegenden Fall wäre allerdings
mitzubedenken gewesen, dass der B
unproblematisch – wie in der Zeit zuvor – mit sog. 16er Inhalten umfassend für sein Bordell werben dürfte,
also nur relativ wenig beschränkt wäre, während in 6 Monaten mit möglicherweise unzureichender Absicherung eine Vielzahl von Kindern und
Jugendlichen durch die Telemedieninhalte in ihrer Entwicklung beeinträchtigt werden können.

3/2013
Roll • Jugendschutzprogramme – ein Konzept mit Januskopf
angesehen würden. Dabei
Der Telemedienanbieter verist allerdings zu berücksichwendet – entgegen der Austigen, dass die KJM in der
führungen im Beschluss – gerade
Sitzung vom 08.02.12 benicht das Jugendschutzprogramm. Er
labelt (= alterskennzeichnet) nur sein
schlossen hat, dass ab
Angebot, damit das vom Internetnut01.06.13 von der Anerkenzer bzw. dessen Eltern verwendete
nung auch entwicklungsbeJugendschutzprogramm differeneinträchtigende Inhalte für
zierte Zugangsmöglichkeiten eröffdie Altersstufe »ab 18 Jahnen oder versperren kann.
ren« erfasst werden und
dass das – auch vom B derzeit bereits verwendete – Jugendschutzprogramm J ab diesem Zeitpunkt anerkannt wird.
Nach dem Beschluss
soll allerdings die Geltung
Die vom Gericht hier vorgeder Anerkennung für Inhalte
nommene Kommentierung
der Altersstufe ab 18 Jahdeutet darauf hin, dass sich dem Geren (gemeint ist: von 16 bis
richt die Systematik des Jugendme18 Jahren) widerrufen werdienschutzes nicht erschlossen hat.
den können, »wenn der
Es geht hier um sog. 18er Inhalte,
[Hersteller des Jugendalso um Angebote, die nur für Erwachsene geeignet sind und die Entschutzprogramms] nicht bis
wicklung von Kindern und Jugend30.04.13 glaubhaft nachlichen aller Altersstufen beeinträchweist, dass eine wesenttigen können. Wer über eine gewisse
liche Verbreitung der
Erfahrung etwa zur Altersfreigabe
Schutzoption gegeben ist«.
von Computerspielen verfügt, weiß
(…) Die von der KJM beum die bedeutsame Schwelle, ob eireits im Februar 2012 bene Freigabe ab 16 Jahren oder keine
Jugendfreigabe vorliegt.
schlossene Änderung der
bisherigen Rechtsauffassung hat zur Folge, dass
zwar gegenwärtig eine Anerkennung für die vom B
gebotenen Inhalte nach Ansicht der L nicht gegeben
ist, der B ab dem Stichtag 01.06.13 aber, über das
bereits von ihm vorgenommene Labeling »ab 18 Jahren« hinaus, keine weiteren Jugendschutzmaßnahmen mehr ergreifen müsste, ohne gegen § 5 Abs. 1
und 3 JMStV zu verstoßen.
Bei der Prüfung durch das Gericht bestehen bereits gegen den Widerrufsvorbehalt in dem Beschluss der KJM vom 12.02.12 Bedenken. (...) Dabei
erscheint es dem Gericht zweifelhaft, ob der Vorbehalt von dem nicht fristgerechten Nachweis einer
»wesentlichen Verbreitung« der Schutzoption des
Jugendschutzprogramms im jeweiligen Einzelfall
abhängig gemacht werden kann, ist es doch Aufgabe der KJM, bereits im Anerkennungsverfahren zu
prüfen, ob die gesetzlichen Voraussetzungen
Das Gericht hat hier völlig auvorliegen, d.h. ein ausreißer Betrachtung gelassen,
chendes Mittel i.S.d. § 5
dass außer den gesetzlichen auch
Abs. 3 Nr. 1 JMStV, 11 Abs. 1
die untergesetzlichen RechtsregeJMStV vorliegt und dadurch
lungen zu beachten sind, hier insbesondere die nach § 15 Abs. 2 Satz 1
der Zugang im gesetzlich
JMStV erlassene Jugendschutzgeforderten Maße berichtlinie.
schränkt werden kann.



KJug 103
Roll • Jugendschutzprogramme – ein Konzept mit Januskopf
Weiterhin erscheint es sehr zweifelhaft, ob beim
Widerruf der Anerkennung eines Jugendschutzprogramms überhaupt auf das Kriterium einer wesentlichen Verbreitung des Jugendschutzprogramms
abgestellt werden kann. Maßgeblich für die Anforderungen an Jugendschutzprogramme und deren
Anerkennung sind die Bestimmungen des § 11
JMStV. Nach § 11 Abs. 1 JMStV kann der Anbieter von
Telemedien den Anforderungen nach § 5 Abs. 1 Nr.
1 JMStV dadurch genügen, dass Angebote, die geeignet sind, die Entwicklung und Erziehung von Kindern und Jugendlichen zu beeinträchtigen, für ein
als geeignet anerkanntes Jugendschutzprogramm
programmiert werden. Nach § 11 Abs. 3 JMStV ist die
Anerkennung von Jugendschutzprogrammen nach
Abs. 2 zu erteilen, wenn sie einen nach Altersstufen
differenzierten Zugang ermöglichen oder vergleichbar geeignet sind. Die Anerkennung kann nach § 11
Abs. 4 JMStV widerrufen werden, wenn die Voraussetzungen für die Anerkennung nachträglich entfallen. (...)
§ 11 JMStV eröffnet damit den Anbietern von Internet-Inhalten zur Erfüllung ihrer Pflicht der Wahrnehmungserschwernis für Kinder und Jugendliche
nach § 5 Abs. 1 JMStV die Möglichkeit, entwicklungsbeeinträchtigende Angebote für ein Jugendschutzprogramm zu programmieren. Bei der Anerkennung
der Eignung von solchen Jugendschutzprogrammen
wird in Bezug auf die Anerkennungsvoraussetzungen im Wesentlichen darauf abgestellt, dass ein
nach Altersstufen differenzierter Zugang ermöglicht
werden muss (§§ 11 Abs. 3, 5 Abs. 4 JMStV). Darauf,
von wie vielen Nutzerhaushalten das entsprechende
Jugendschutzprogramm benutzt wird bzw. ob es
tatsächlich durch Eltern zum Schutz der Jugendlichen eingesetzt wird und inwieweit deshalb ein
bestimmter Verbreitungsgrad eines Jugendschutzprogramms vorliegt, hat der Anbieter des Programms aber grundsätzlich keinen Einfluss. Es erscheint deshalb rechtlich bedenklich, wenn die KJM
den Widerruf ihrer Anerkennung eines Jugendschutzprogramms – über die gesetzlichen Voraussetzungen hinausgehend – vom Vorliegen des weiten und sehr unbestimmten Merkmals der »wesentlichen Verbreitung« (...) abhängig macht. (…)
2. (...) Typisch für das Vorliegen des besonderen
öffentlichen Interesses für den Sofortvollzug ist im
Regelfall das Bestehen einer sofort zu beseitigenden Gefahrenlage. Daran bestehen vorliegend
aber schon deshalb Zweifel, weil die Gefahr, dass
auch Jugendliche der Altersstufe 16 bis 18 Jahre über
das vom Antragsteller bereits vorgenommene Labeling hinaus entwicklungsbeeinträchtigende Inhalte
der Altersstufe »ab 18 Jahren« wahrnehmen können,
zwar grundsätzlich besteht, die sofortige Beseitigung im Rahmen der konkreten Gefahrenabwehr
104 K Jug
Recht und Rechtsprechung
aber nicht als dringlich anBei der Abschätzung der Gegesehen werden kann.
fahr wird hier ausschließlich
Dies ergibt sich aus folauf die Altersgruppe der 16- bis
genden Überlegungen:
18-Jährigen abgestellt. Zwar mag
dort die Bereitschaft von Eltern, ein
Durch die Programmierung
Jugendschutzprogramm gegenüber
für ein Jugendschutzproihren fast erwachsenen Kindern
gramm (sog. Labeling), wie
durchzusetzen, gering sein; das
sie der B durch die KennSchutzniveau dürfte aber in dieser
zeichnung »ab 18 Jahren«
Altersgruppe gleich (niedrig) sein,
vornimmt – auch wenn dies
wie bei einer Verbreitung des Angevon der L nur für den Schutz
bots nach 23 Uhr. Das vom Gericht
nicht erkannte eigentliche Problem
von Jugendlichen bis maxiliegt aber in der Konfrontation von
mal 16 Jahre anerkannt wird
jüngeren Altersstufen mit diesen In– soll erreicht werden, dass
halten, sei es auf Grund einer FehlKinder und Jugendliche der
funktion des Jugendschutzprojeweils betroffenen Altersgramms oder der fehlenden Installastufe entwicklungsbeeintion des Filters durch die Eltern.
trächtigende Inhalte eines
Internet-Angebots »üblicherweise« nicht wahrnehmen (vgl. § 5 Abs. 1
JMStV). Voraussetzung für die Wirksamkeit eines
Jugendschutzprogramms ist aber vor allem der Einsatz der Schutzoption durch verantwortungsvolle
Eltern. Hierbei spielt wiederum das jeweilige Alter
der Jugendlichen eine wichtige Rolle. In diesem Zusammenhang geht auch die KJM davon aus, dass
Filterprogramme auch heute schon von verantwortungsvollen Eltern nicht nur der Altersstufe der bis
16-Jährigen, sondern auch der 16- bis 18-Jährigen
genutzt würden, wenn auch möglicherweise nicht
mit einem, für das Jugendschutzprogramm »J« von
ihr als ausreichend erachteten Verbreitungsgrad.
Insoweit verlangt die KJM von den Antragstellern bei
einer ab 01.06.13 erfolgten Anerkennung dieses Jugendschutzprogramms, soweit es entwicklungsbeeinträchtigende Inhalte der Altersstufe bis 18 Jahre
erfasst, auch noch den Nachweis, dass eine »wesentliche Verbreitung« der Schutzoption gegeben
ist. Hieraus wird aber deutlich, dass die »Gefahr«,
die die L mit dem Erlass der vorliegenden Untersagungsverfügung abwenden will, bereits auf andere
Weise (verantwortungsvolle Eltern) abgewendet
werden kann und es nur vom Verbreitungsgrad abhängt, ob die L in diesem Fall überhaupt noch Gefahrenabwehr betreiben muss. Von einer dauerhaften und nachhaltigen Gefährdung des Jugendschutzes, von der die L in ihrer Begründung des
Sofortvollzugs ausgeht, kann daher nicht die Rede
sein. (...)
Aber auch unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit liegt hier ein das
private Interesse des B überwiegendes öffentliches
Interesse an der sofortigen Vollziehung nach Auffassung des Gerichts nicht vor. (...) Dem Antrag des B
war daher mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO
stattzugeben. (…)

3/2013
Recht und Rechtsprechung

Anmerkung
Insbesondere in zwei Punkten ist der dargestellte
Entscheidungsprozess des Gerichtes zu kritisieren.
Zum einen wird die Bedeutung einer rechtskräftigen
Regelung zu gering geschätzt. Zum hier maßgeblichen Zeitpunkt Ende 2012 gab es kein Jugendschutzprogramm, dessen Anerkennung auch 18er
Inhalte umfasst hätte. Ob ein Telemedienanbieter
etwaige Fehler im Anerkennungsverfahren des Jugendschutzprogrammherstellers geltend machen
kann, erscheint fraglich, da er am Anerkennungsverfahren nicht beteiligt ist und ihm zur Verbreitung
seiner Angebote andere gesetzliche Möglichkeiten
eröffnet sind, so dass er nicht im Kernbereich seiner
Tätigkeit betroffen ist. Auch wäre bei einem Fehler
im Anerkennungsverfahren eher davon auszugehen,
dass dann überhaupt kein anerkanntes Jugendschutzprogramm bestehen würde – wie die Jahre
zuvor –, als dass dann von einer vollen Anerkennung
auszugehen wäre.
Das zusätzliche Grundproblem besteht im Dreiecksverhältnis zwischen Telemedienanbietern, Jugendschutzprogrammherstellern und Internetnutzern. Der Telemedienanbieter bekommt mit der Möglichkeit des Programmierens für ein Jugendschutzprogramm eine relativ komfortable Vorgehensweise eröffnet, während die Anreize, Jugendschutzprogramme so zu entwickeln, dass sie anerkannt werden können, oder als Nutzer ein solches
Programm einzusetzen, zunächst schwerer zu erkennen sind. Hinzu kommt, dass zwar den Eltern die
Erziehungsverantwortung zukommt, gesellschaftlich
aber in vielen Feldern die Überzeugung gilt, dass
auch diejenigen, die Gefahrenquellen für junge Menschen betreiben, eine besondere Verantwortung
haben, die sich nicht darin erschöpfen darf, dass auf
dem Produkt ein Warnhinweis angebracht wird, ab
welchem Alter eine Eignung anzunehmen ist.
Zum zweiten wird nur auf den Wortlaut eines Gesetzesabsatzes abgestellt (§ 11 Abs. 3 JMStV) und
weder Sinn und Zweck des Gesetzes, noch die Gesetzessystematik und das – untergesetzliche – Regelungsumfeld werden hinreichend in den Blick genommen. Allein ein technisches Auslesenkönnen
eines vergebenen Alterslabels reicht nicht aus, um
den von § 11 JMStV verfolgten und in den nach § 15
Abs. 2 JMStV erlassenen Jugendschutzrichtlinien (in
5.2. ff) präzisierten Schutzzweck abzudecken.
Um dies zu veranschaulichen, soll eine Analogie
aus dem Straßenverkehr herangezogen werden: Bei
der Zulassung von Fahrzeugen mit automatischen
Bremssystemen, die auf dem Zusammenwirken von
inneren Komponenten (Bremsen und Rezeptoren)
und äußeren Komponenten (Elementen in der Straße
3/2013
Roll • Jugendschutzprogramme – ein Konzept mit Januskopf
oder an anderen Verkehrsteilnehmern) beruhen,
leuchtet es sofort ein, dass es nicht ausreichen würde, wenn der Wagenhersteller nachweist, dass das
eingebaute System auf die Reflektorelemente reagieren kann und eine ausreichende Bremskraft vorhanden ist; vielmehr ist eine ausreichende Verbreitung der äußeren Komponenten erforderlich, um das
Fahrzeug mit dem automatischen Bremssystem risikoarm betreiben zu können. Also gilt: Auch wenn die
Anerkennung von technischen Voraussetzungen
abhängig gemacht wird, ist gleichwohl der Verbreitungsgrad immanentes Kriterium. Dabei kann es für
die Risikoabwägung auch bedeutsam sein, ob ein
bauartlich langsames und leichtes Fahrzeug oder ein
schweres, sehr schnelles Fahrzeug möglicherweise
ohne hinreichende Bremsauslösung unterwegs ist.
In einer Situation, in der die Einführung eines
innovativen Schutzsystems vom Zusammenwirken
verschiedener Betroffener abhängig ist, kann es
leicht dazu kommen, dass jeder auf den anderen
wartet: Warum soll ich mich mit einer Empfangskomponente ausstatten, wenn kein Fahrzeug mit entsprechenden Signalen unterwegs ist, und umgekehrt
warum soll ich mein Fahrzeug mit Signalen ausrüsten, wenn mir das System mangels Empfängern nicht
anerkannt wird. Das gleiche gilt für das geschilderte
Dreiecksverhältnis bei Jugendschutzprogrammen. In
einem solchen Fall ist die Einführung über einen Stufenplan absolut sinnvoll; erst werden die geringeren
Risiken zugelassen und später die größeren.
Zurück zur Einführung von anerkannten Jugendschutzprogrammen* und ihrem Januskopf: Einerseits wird – zwar wohl nicht bei bestimmungsgemäßem Gebrauch, aber in der Summe aller minderjährigen Nutzer und insbesondere in der Einführungsphase – vorhandenes Risiko bei inländischen
Angeboten vermutlich etwas weniger abgewehrt
werden; andererseits bietet sich erstmalig die Chance, Risiken durch die Internetnutzung Minderjähriger insgesamt zu minimieren, weil durch die Umsetzung des neuen Schutzkonzepts endlich auch
ein Einbeziehen der großen Zahl – auch deutschsprachiger – Angebote möglich wird, die nicht aus
Deutschland stammen. Einerseits können Eltern
zukünftig auf eine umfassendere technische Unterstützung hoffen, andererseits fällt der Schutz ohne
verantwortliches Elternhandeln deutlich geringer
aus.
*
Hinweise zur aktuellen Diskussion und Situation: http://
blog.beck.de/2013/04/04/anerkennung-von-jugend
schutzprogrammen-ab-1-juni-auch-f-r-18-angebote
http://www.kjm-online.de/de/pub/aktuelles/presse
mitteilungen/pressemitteilungen_2013/pm_042013.cfm
http://www.die-medienanstalten.de/presse/pressemit
teilungen/kommission-fuer-jugendmedienschutz/detail
ansicht/article/kjm-pressemitteilung-032013-novelledes-jugendmedienschutz-staatsvertrages-bewegungauf-allen-sei.html
KJug 105
Roll • Gesetz und Gesetzgebung
Wichtig ist deshalb, dass
– Jugendschutzprogramme für alle Telemedienplattformen verfügbar sind und dem Stand der
Technik entsprechend weiterentwickelt werden,
− alle Verantwortlichen sich für ihre Verbreitung
einsetzen und
– ein einheitlicher Schnittstellen-Standard beibehalten wird, damit die unterschiedlichen Jugendschutzprogramme nicht auseinanderfallen, sondern zusammen den Jugendschutz sicherstellen
(der Wortlaut des § 11 Abs. 1 JMStV ist auch in

Gesetz und Gesetzgebung
Das Gesetz zur Reform der elterlichen Sorge nicht
miteinander verheirateter Eltern ist nunmehr zum
19.05.2013 in Kraft getreten. Es fasst § 1626a BGB
neu und betont und erleichtert dabei die
elterliche Sorge gemeinsame elterliche Sorge. Flankienicht miteinander rend wurden die Regelungen geändert,
verheirateter Eltern unter welchen Voraussetzungen und wie
bei Getrenntleben der Eltern Alleinsorge
festgelegt werden kann. Die Neuregelungen werden
von Prof. Dr. Peter Huber und Jennifer Antomo in
FamRZ 9/2013, S. 665-670 vorgestellt.

Rechtsprechung
Junge Erwachsene, die Leistungen nach dem SGB II
(sog. Hartz 4) beziehen, werden grundsätzlich auf
ein Verbleiben in der elterlichen Wohnung verwiesen. Das LSG Sachsen-Anhalt hat den Auszug bei
unzumutbaren Pendelzeiten zum Ausbildungsplatz
für erforderlich eingestuft (Beschl. v. 11.09.12 – L 5
AS 461/B), den Wunsch mit dem Freund/
Verbleiben in der der Freundin zusammenzuziehen dageelterlichen Wohnung gen als nicht ausreichend angesehen
(Beschl. v. 19.09.12 – L 5 AS 613/12 B ER).
Einen umfassenden Problemabriss gibt Dr. Manfred
Hammel in ZFSH/SGB 2/2013, S. 73-81, unter dem
Titel Ȥ 22 Abs. 5 SGB II: Eine Sonderregelung, die
schwierige Fragen aufwirft«.
Ein Internetforum, das Suizid verharmlost, propagiert und einseitig anpreist, ist als offensichtlich
schwer jugendgefährdend anzusehen und darf deshalb nur unter den strengen Voraussetzungen einer
geschlossenen Benutzergruppe nach § 4 Abs. 2
Satz 2 JMStV (Altersverifikation mit Identifizierung
und Authentifizierung) betrieben werden. Ein Ver-
106 K Jug
Recht und Rechtsprechung
diesem Punkt missverstehbar: Programmieren
für ein Jugendschutzprogramm).
Sollten die Gerichte zukünftig – etwa in inhaltlichen
Entscheidungen zur Hauptsache – eine für den Kinder- und Jugendschutz erforderliche Gesetzesauslegung nicht akzeptieren, bliebe nur den Staatsvertrag
an die aktuellen Herausforderungen anzupassen.
Am Besten wäre wohl, dies zur Klarstellung bei einer
anstehenden Novellierung ohnehin vorzunehmen.
stoß hiergegen wurde vom AG Konstanz mit Geldstrafe bestraft (Urt. v. 21.12.12 – 10 Cs 44 Js
2826/11). In seiner Urteilsanmerkung
(JMS-Report 2/2013, S. 70) stimmt Prof. Internetforum
Dr. Murad Erdemir dem Urteil zu, weist Suizid
aber zugleich auf die Notwendigkeit von
Präventionsbemühungen hin und betont, dass
nicht pauschal alle Diskussionsforen zum Suizid so
einzustufen sind.
Unzulässig ist auf einem Internetportal für Kinder,
Werbung durch eine Spielanimation zu verschleiern; sie muss deutlich als Werbung gekennzeichnet sein und berücksichtigen, Werbung
dass Schulanfänger noch eine geringe verschleiern
Lesekompetenz haben und für »bewegte
Bilder« besonders anfällig sind (KG Berlin, Urt.
15.01.13 – 5 U 84/12).
Allein ein Verstoß gegen das hessische Kindergesundheitsschutzgesetz rechtfertigt keine familiengerichtlichen Maßnahmen nach § 1666
BGB. Der Verhältnismäßigkeitsgrund- Kindergesundheitssatz erfordere noch weitere Anhalts- schutzgesetz
punkte für eine Kindeswohlgefährdung
(AG Büdingen, Beschl. v. 07.12.12 – 53 F 815/12).
Der Entzug der elterlichen Sorge wegen Kindeswohlgefährdung ist gerechtfertigt und kann auch
ohne Gutachtenseinholung ausgesprochen werden, wenn eine 13-Jährige seit 2 Jahren nicht mehr
die Schule besucht hat und die Kindesmutter – auch wegen mangelnder Zu- Entzug der
sammenarbeit mit der Jugendhilfe – elterlichen Sorge
nicht in der Lage ist, dies zu verhindern,
und aktuell auch der Aufenthalt des Kindes unbekannt ist, ohne dass die Mutter ein Auffinden unterstützen würde (OLG Hamm, Beschl. v. 21.12.12
– 2 UF 181/11).
3/2013
Recht und Rechtsprechung
Auch ohne die Voraussetzungen einer Ingewahrsamnahme oder Inobhutnahme ist es bei einer konkreten Gefährdung der Gesundheit durch übermäßigen Alkoholkonsum eines Minderjährigen verhältnismäßig, dass dieser im
Beförderung im Polizeifahrzeug zur Polizeistation gePolizeifahrzeug fahren wird, um dort seinen Eltern übergeben zu werden. Die Kosten der Beförderung im Polizeifahrzeug können den Eltern – nach
niedersächsischem Landesrecht – in Rechnung
gestellt werden, wie das VG Braunschweig (Urt. v.
08.08.12 – 5 A 166/10) entschieden hat.
Nachträge
– Zu KJug 2/2013, S. 66: Unter dem Titel »Verschuldensvermutung bei der Amtshaftung
– Aufsichtspflicht von Kindergartenpersonal« ist eine Anmerkung von Dr. Christian
Förster zum Urteil des OLG Koblenz
v. 21.06.12 erschienen, die die unterschiedliche Rechtssituation für private und öffentliche Träger kritisiert (in: NJW 17/2013,
S. 1201-1203).
– Zu KJug 4/2008, S. 115: Der Umfang der Aufsichtspflicht gegenüber Kindern bei der Internetnutzung war umstritten; z.T. war eine
umfangreiche Haftung für Urheberrechtsverletzungen bejaht worden. Jetzt hat der
BGH abschließend entschieden, dass Eltern
bei einem sonst unauffälligen 13-Jährigen
nach einem entsprechenden Verbot der Teilnahme an Tauschbörsen erst dann regelmäßige Prüfpflichten haben, wenn sie Anhaltspunkte für ein Fehlverhalten des Kindes
haben (Urt. v. 15.11.2012 – I ZR 74/12).

Schrifttum
Minderjährigenschutz versus Schutz der anderen
Unfallbeteiligten – zwei sich ausschließende Prinzipien? [Mit dem Fokus auf die Altersgruppe der 10bis 18-Jährigen werden an Rechtsfällen die allgemeinen Haftungsregeln erklärt und Überlegungen
angestellt, wie durch private Absicherung, aber
auch durch Ausdehnung des gesetzlichen Unfallversicherungsschutzes noch bestehende Gerechtigkeitslücken zumindest teilweise geschlossen werden könnten] von Herbert Lang in: NZV 4/2013,
S. 161-167, und 5/2013, S. 214-219.
Beschneidung von männlichen Kindern und Opferentschädigung [Ein Anspruch nach dem Opferentschädigungsrecht bestehe nur in Ausnahmefällen]
von Dr. Konrad Leube in: ZFSH/SGB 2/2013, S. 81-86.
3/2013
Roll • Gesetz und Gesetzgebung
»Killerspiele«, Pornos und Gewaltvideos: Neue Medien in Einrichtungen für Kinder und Jugendliche
[Trotz einiger juristischer Unschärfen ein brauchbarer Einstieg in die Thematik, welchen Herausforderungen Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe
beim Jugendmedienschutz begegnen] von Dr.
Andrea Kliemann und Prof. Dr. Jörg M. Fegert in: ZKJ
3/2013, S. 98-106.
Das Strafrecht als Prima Ratio des SGB VIII – Zu den
andauernden Irritationen um die Haftungsrisiken
im Kinderschutz [Plädoyer für eine Optimierung der
Jugendhilfeangebote anstatt Haftungsvermeidungsverhalten und zugleich Entlastung durch Weiterentwicklung der Haftungskriterien] von Thomas
Mörsberger in: ZKJ 1/2013, S. 21-24, und 2/2013,
S. 61-67.
Kindertagesbetreuung zwischen (Rechts-)Anspruch und Wirklichkeit [Darstellung zum Anspruchsumfang, zum Verfahren der Geltendmachung und evtl. Ersatzansprüchen] von Dr. Isabel
Schübel-Pfister in: NVwZ 7/2013, S. 385-391.
DIJuF-Rechtsgutachten zu § 4 des Gesetzes zur Kooperation und Information im Kinderschutz [Befürwortung einer am Einzelfall orientierten – nach Aufgaben und Einwilligung der Betroffenen differenzierten – konzeptionellen Einbeziehung der
Schulsozialarbeit in den Schutzauftrag von Lehrkräften] in: JAmt 3/2013, S. 138-141.
Zur Anwendbarkeit des Glücksspieländerungsstaatsvertrages, insbesondere des Internetverbotes, auf Online-Games [Nach Meinung der Verfasser soll die Regelung europarechtlich nicht haltbar
sein, weil für Online-Games kein ausreichender
Nachweis des Risikopotentials vorliegen würde] von
Prof. Dr. Christian Koenig und Dr. Caroline BoveletSchober in: GewArch 2/2013, S. 59-62 – (vgl. auch
Eva Langer in: CR 4/2013, S. 237-242 und Vorlage
des BGH an den EuGH, Az. I ZR 171/10).
Sigmar Roll
(Zuschriften bitte an die Redaktion der KJug)
Autor
Psychologe/Jurist
Richter am Bayerischen Landessozialgericht
Zweigstelle Schweinfurt
Mitglied der Kommission für Jugendmedienschutz - KJM
KJug 107
Kinderschutz-Aktuell
Service
Kinderschutz-Aktuell
Mein Körper gehört mir! – Kinderparcours
1
Die interaktive Ausstellung »Mein Körper gehört mir!« für Primarschulen entstand als Teil
einer 2005 von der Stiftung Kinderschutz Schweiz lancierten nationalen Kampagne mit dem
Titel »Keine sexuelle Gewalt an Kindern«.
Sexuelle Gewalt ist ein Thema, das viele Kinder betrifft, auch in der Schweiz, und das weder für Lehrkräfte noch für Eltern leicht anzusprechen ist. Primarschulen sind jedoch besonders geeignet, den Schutz vor sexueller
Ausbeutung zu verbessern, denn sie sind
neben der Familie die wichtigste Informations- und Sozialisationsinstanz für Mädchen
und Buben. Erfahrungen zeigen, dass auch
der Großteil der Eltern froh ist, zu dieser Thematik Unterstützung durch die Schule zu erhalten.
Der Parcours »Mein Körper gehört mir!« richtet sich an Kinder der 2. bis 4. Klasse sowie
an deren Eltern und Lehrpersonen und verfolgt folgende Ziele:
– Kinder sind altersgerecht über das Thema
»Sexuelle Gewalt« informiert; ihre Abwehrkompetenzen sind gestärkt und sie
kennen wirkungsvolle Handlungsmöglichkeiten.
– Eltern und Lehrpersonen sind über Erscheinungsformen und Auswirkungen von
sexueller Gewalt informiert; sie kennen
Möglichkeiten, im Erziehungsalltag präventiv zu wirken.
– Die Lehrkräfte verfügen über Grundlagen
und Materialien für die Einbettung des
Themas in den Unterricht.

Die Module: Ausstellung,
Animation, Information für
Lehrkräfte, Elternabend
Die Ausstellung kann von Primarschulen wochenweise gemietet werden. Der Besuch dauert pro Klasse ca. 90 Minuten. Die Kinder besuchen die einzelnen Stationen in kleinen
Gruppen, nach Möglichkeit geschlechtergetrennt. Sie werden dabei von einer dafür speziell geschulten Fachperson begleitet, die den
Besuch animiert.
Die Ausstellung bietet sechs Spielstationen, die spielerisch und handlungsorientiert
zur Auseinandersetzung mit folgenden Präventionsschwerpunkten einladen:
108 K Jug
1. Körper: Die Kinder kennen ihren Körper,
können die verschiedenen Körperteile
und -stellen benennen und definieren, wo
sie gerne und wo sie nicht gerne berührt
werden.
2. Gefühle: Sie lernen ihre Gefühle besser
kennen und benennen sowie zwischen
guten, schlechten und komischen Gefühlen zu unterscheiden.
3. Berührungen: Sie lernen, dass es unterschiedlich angenehme Berührungen gibt
und stellen für sich fest, welche Berührungen sie gerne zulassen und welche sie
nicht akzeptieren wollen.
4. Nein sagen: Sie lernen, dass sie Rechte
haben, dass sie allein über ihren Körper
und ihre Gefühle bestimmen dürfen und
dass sie nein sagen dürfen und sollen,
wenn diese Rechte nicht respektiert werden.
5. Geheimnisse: Sie lernen zwischen guten
und schlechten Geheimnissen unterscheiden und dass sie schlechte Geheimnisse
immer weitererzählen dürfen und sollen.
6. Hilfe: Sie lernen, in welchen Situationen
sie wie und von wem Hilfe anfordern können und dass es nicht ein Zeichen von
Schwäche, sondern von Stärke ist, wenn
man sich Hilfe holt.
Eine Informationsveranstaltung für die Lehrkräfte ist obligatorischer Bestandteil des Projektes. Von den teilnehmenden Schulklassen
nimmt je mindestens eine Lehrkraft an dieser
zweistündigen Veranstaltung teil. Ebenfalls
zum Parcours gehört der Elternabend.
Beide Veranstaltungen werden von den
Schulen organisiert und koordiniert. Bestritten werden sie von Fachpersonen der Prävention und Intervention aus regionalen Fachstellen. Neben den Informationen zum Thema
werden Beratungs- und Hilfsangebote vorgestellt, denn auch Lehrkräfte und Eltern sollen
wissen, an wen sie sich in Krisen oder Notfällen wenden können.
Jedes Jahr besuchen etwa 20.000 Kinder
aus 16 Kantonen sowie dem Fürstentum Liechtenstein den Kinderparcours. Die meisten
Kantone haben die Nutzungslizenz erworben
und organisieren das Angebot für ihre Schulen selbst.
Als nationale Stiftung macht sich Kinderschutz Schweiz in allen Landesteilen dafür
stark, dass die Kinder unserer Gesellschaft in
Würde aufwachsen, ihre Rechte gewahrt werden und ihre Integrität geschützt wird.
1
»Mein Körper gehört mir!« ist eine Adaption der
in Deutschland erfolgreich erprobten Ausstellung »Echt Klasse!« des Präventionsbüros
PETZE in Kiel.
Stiftung Kinderschutz Schweiz
Flavia Frei, Leiterin Fachbereich
Kindesschutz
Hirschengraben 8
Postfach 6949
CH-3001 Bern
www.kinderschutz.ch
3/2013
Service
Jugendschutz-Aktuell
Jugendschutz-Aktuell
Stop & Go – ein Jugendschutzparcours
Was wissen Jugendliche über das Jugendschutzgesetz? Worin liegt der Sinn einer staatlichen
Schutzfunktion für junge Menschen durch Gesetze, Normen oder Altersfreigaben? Welche
Konsequenzen ergeben sich daraus für junge Menschen? Ein Parcours soll Antworten geben.
Der Jugendschutzparcours stellt ein niederschwelliges Angebot dar, das Jugendlichen
die Möglichkeit bietet, sich selbstständig und
spielerisch mit den Normen des Jugendschutzes in der Öffentlichkeit aber auch in Bezug
auf jugendgefährdende Medien auseinanderzusetzen. In Form einer symbolhaften grafischen Gestaltung wurden verschiedene
Rollups kreiert, die Bezug zu aktuellen Arbeitsfeldern des Jugendschutzes nehmen. Die
Rollups veranschaulichen in ihrer minimalistischen Darstellung Bereiche wie das Jugendschutzgesetz, Medien, Sucht und Konsum.
Sie sollen Anregungen zum Nachdenken und
zur Diskussion geben, indem sie an die Alltagswelt von Jugendlichen anknüpfen und sie
mit Gefährdungen sowie gesetzlichen Vorgaben konfrontieren. Ergänzt wird der Parcours
durch praxisorientierte Ansichts-/ Arbeitsmaterialien wie Spiele, Quiz, Spielkarten,
Filme und diverse Alltagsgegenstände.

Themenbereiche/Stationen
Einführung:
– Wozu Jugendschutz? Erläuterungen zum
Parcours und seinen Themen
– Das Jugendschutzgesetz im Überblick
– Was sollten Eltern, Lehrer, Jugendliche
wissen?
Medien:
– Inhalt und Umfang des Jugendmedienschutz-Staatsvertrags
– Alterskennzeichnungen und ihre Bedeutung im Medienalltag
– Chancen und Gefahren neuer Medien
Sucht:
– Alkohol: Trinken für den Spaß?
– Drogen: Betäubung vom Alltag?
– Exzessive Mediennutzung: Der Reiz digitaler Spielewelten
Konsum:
– Kaufrausch: Schattenseiten des täglichen
Konsums
– Verführungskünste: Werbung und ihre
Wirkung auf junge Menschen
Die Realisierung des Jugendschutzparcours
lebt von seinen Akteuren, wie Fachkräften der
Jugendhilfe, Sozialarbeiter/inne/n, die vorab
geschult und eingewiesen werden und
schließlich eigenständig mit jungen Menschen vor Ort agieren sollen. Selbst interessierte Jugendliche können geschult und sensibilisiert werden, um als Vermittler und fachkundiger Begleiter das Thema Jugendschutz
nach außen darzustellen und auf seine Bedeutung aufmerksam zu machen.
Die Multiplikatoren-Schulungen werden
von der Landesarbeitsgemeinschaft Kinderund Jugendschutz Thüringen e.V. vorgenommen, die logistische Arbeit vor Ort durch die
Jugendschutzfachkräfte der Städte und Landkreise in Thüringen. Hierfür sind in einer Begleitmappe wichtige Hinweise und Erläuterungen zusammengestellt. Dabei wurden zu
den jeweiligen Themenbereichen weiterführende Informationen (Links, Verweise, Netzwerkpartner) eingestellt.
Adressaten sind Schüler/innen, Fachschüler/innen, Auszubildende sowie Jugend-
3/2013
liche in Einrichtungen der Jugendhilfe und
Jugendarbeit in Thüringen ab einem Alter von
12 Jahren. Der Jugendschutzparcours entstand mit finanzieller Unterstützung durch
das Thüringer Ministerium für Soziales, Familie und Gesundheit.
Die Landesarbeitsgemeinschaft (LAG) Kinderund Jugendschutz Thüringen e.V. ist ein Zusammenschluss von 24 Verbänden, Vereinen
und Einzelmitgliedern. Seit 1992 versteht sie
sich als Facheinrichtung, die sich für den
Schutz von Kindern und Jugendliche stark
macht, um sie vor hemmenden, störenden
und gefährdenden Einflüssen zu bewahren.
Im Rahmen des erzieherischen Kinder- und
Jugendschutzes ist die LAG mit ihren vielfältigen zielgruppenspezifischen Präventionsund Beratungsangeboten sowohl auf Multiplikatoren, Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe, Eltern und junge Menschen ausgerichtet.
Die LAG veröffentlicht Publikationen, sie ist
für die Durchführung von Fortbildungsveranstaltungen und Fachkampagnen zu aktuellen
Themen sowie Fachberatung, Öffentlichkeitsarbeit und Politikberatung zuständig. Sie
stellt Fachkräften und Multiplikatoren die
Fachbibliothek »Sexuelle Gewalt und sexueller Missbrauch« zur Verfügung. Gleichzeitig
ist die LAG Projektträger des Kinder- und Jugendsorgentelefon des Freistaates Thüringen.
Weitere Informationen und Bilder unter
www.jugendschutz-thueringen.de
Landesarbeitsgemeinschaft Kinderund Jugendschutz Thüringen e.V.
Johannesstraße 19
99084 Erfurt
[email protected]
www.jugendschutz-thueringen.de
KJug 109
Service
Literatur/Mediendienst
Zeitschriftenartikel
Bergjohann, Doris; Gerhardt, Gabriele; Fuckert, Sigrid; Hiby-Schael, Erika: Sozialpädagogische Zeugenbegleitung für sexuell missbrauchte Kinder und Jugendliche im Strafverfahren. In: Informationen für Erziehungsberatungsstellen 1/2013. S. 23-27
Feierabend, Sabine; Klingler, Walter: Was Kinder sehen. Eine Analyse der Fernsehnutzung
Drei- bis 13-Jähriger. In: Media Perspektiven
4/2013. S. 190-201
Hackauf, Horst; Ohlbrecht, Heike: Wie gesund
bzw. krank sind Kinder und Jugendliche heute? In: ajs-informationen 1/2013. S. 4-14
Hajok, Daniel; Hackenberg, Achim: Jugendmedienschutz im Spannungsfeld unterschiedlicher Akteure und Interessen. In: JugendMedienSchutz-Report 2/2013. S. 2-6
Heinen, Christina: Vom Dogma der Abstinenz
zur Drogenmündigkeit. Welche Rolle spielt
Suchtprävention heute im Jugendmedienschutz? In: tv diskurs 2/2013. S. 78-81
Helming, Elisabeth: Sexuelle Gewalt gegen
Mädchen und Jungen in Institutionen. Einige
ausgewählte Ergebnisse aus dem Forschungsprojekt des Deutschen Jugendinstituts e.V. In:
Pro Jugend 1/2013. S. 8-11
Mayer, Claude-Hélène: Rekonstruktionen von
Lebenswelten, kulturelle Denkmuster und
Identitäten muslimischer Jugendlicher in
Deutschland. In: Zeitschrift für Jugendkriminalrecht und Jugendhilfe 1/2013. S. 30-36
Mosser, Peter: »Ich weiss ja nicht, ob das
noch normal ist…« Sexuelle Grenzverletzungen von Kindern. In: Thema Jugend 1/2013.
S. 2-4
Aktuelle Titel/Broschüren
 Bellut, Thomas (Hrsg.): Jugendmedienschutz in der digitalen Generation. Fakten
und Positionen aus Wissenschaft und Praxis. München 2012. 328 Seiten. EUR 19,80.
ISBN 978-3-86736-284-9
In den Beiträgen wird interdisziplinär und aktuell Auskunft über die Grundlagen, Herausforderungen und Bausteine eines modernen
und richtungsweisenden Jugendmedienschutzes gegeben. Welche disziplinären Ressour-
110 K Jug
cen stehen dem Jugendmedienschutz zur Verfügung? Aus welchen Modulen sollte ein wissenschaftlich fundierter und vor allem das
Internet umfassender Jugendmedienschutz
bestehen, um in einer sich stetig wandelnden
Medienlandschaft einen effektiven und
höchstmöglichen Schutz von Kindern und Jugendlichen zu gewährleisten? Inwiefern kann
das Netz hierbei möglicherweise selbst als
Mittel eines modernen Jugendmedienschutzes eingesetzt werden? Das sind nur drei exemplarische Fragen, die in diesem Band behandelt werden.
 Götz, Maya (Hrsg.): Die Fernsehheld(inn)
en der Mädchen und Jungen. Geschlechterspezifische Studien zum Kinderfernsehen. München 2013. 880 Seiten. EUR
29,80. ISBN 978-3-86736-285-6
Fernsehen bietet Kindern eine Fülle an Figuren
und Geschichten. Sie sind Fenster zur Welt,
Material für Fantasien und gehen in die Vorstellung davon ein, was normal, richtig und
möglich ist. Völlig selbstverständlich inszeniert es dabei immer auch Mädchen- und
Junge-Sein, liefert Bilder von Männern und
Frauen. Die Frage dabei ist v.a., wie Kinder und
Jugendliche mit diesen Repräsentationen umgehen. Das Buch fasst die 21 Studien des Forschungsschwerpunktes »Fernsehlieblingsfiguren und ihre Bedeutung für Mädchen und
Jungen« zusammen. In ihrer Breite und Vielfältigkeit geben die Forschungsergebnisse einen
umfassenden Einblick in Details der GenderRepräsentation im Kinder- und kindernahen
Fernsehen und zeigen, wie Mädchen und Jungen »ihre« Fernsehheld(inn)en zur Identitätsentwicklung nutzen. Konkrete Ansätze zur
Förderung der Qualität im Kinder- und Jugendfernsehen werden formuliert.
 Kelle, Helga; Mierendorff, Johanna (Hrsg.):
Normierung und Normalisierung der Kindheit. Weinheim 2013. 198 Seiten. EUR
24,95. ISBN 978-3-7799-1555-3
Die Autorinnen und Autoren dieses Bandes
behandeln die Frage, wie die Unterscheidung
von »normaler« und »nicht-normaler« Entwicklung in der medizinischen, der (vor)schulischen und außerschulischen diagnostischen
Praxis sowie der Kinder- und Jugendhilfe diskursiv bestimmt, praktisch prozessiert und
wohlfahrtsstaatlich relevant wird. Es wird weiter gefragt, ob und inwiefern gerade die Verfahren der politischen, pädagogischen, psychologischen und (präventiven) medizinischen
Beobachtung von Kindern zu einem ›Umschlagplatz‹ für die Normierung von Kindheit
(und Elternschaft) werden und einen Wandel
der modernen Kindheit markieren.
 Kokott-Weidenfeld, Gabriele; Riedel,
Alexandra-Isabel: Rechtsgrundlagen für
soziale Berufe. Schwalbach/Ts. 2013. 144
Seiten. EUR 9,80. ISBN 978-3-89974316-6
Mit diesem Buch wird der Einstieg in relevante
Rechtsbereiche für Soziale Berufe erleichtert.
Es soll Studierenden insbesondere zu Beginn
ihres Studiums als Orientierungshilfe dienen.
Sie erhalten einen schnellen Überblick und
begreifen rechtliche Zusammenhänge leichter. Es werden ausgesuchte, teilweise sehr
komplexe rechtliche Dimensionen Sozialer
Arbeit verständlich und möglichst einfach dargestellt. Die zahlreichen Abbildungen innerhalb des Textteils geben einen guten und
schnellen Überblick und dienen zudem der
Wiederholung der vorangegangenen ausführlicheren Darlegungen.
 Lehmkuhl, Gerd; Poustka, Fritz; Holtmann,
Martin; Steiner, Hans (Hrsg.): Lehrbuch
der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Band
1: Grundlagen. Band 2: Störungsbilder.
Göttingen 2013. 1520 Seiten. EUR 139,-.
ISBN 978-3-8017-1871-8
Wie entstehen psychische Störungen im Kindes- und Jugendalter? Welche Faktoren erhalten die Störungen aufrecht? Welche Verlaufsformen gibt es? Das Wissen um pathogenetische Hintergründe von psychischen
Störungen hat in den letzten Jahren erheblich
zugenommen. Diagnostische und therapeutische Ansätze wurden immer mehr ausdifferenziert und mündeten in evidenzbasierten
Leitlinien. Das Lehrbuch stellt aktuelle und
umfassende Informationen zur Kinder- und
Jugendpsychiatrie dar und arbeitet wichtige
Perspektiven und Entwicklungstendenzen des
Fachgebietes heraus. Es wird ein Überblick
gegeben über die theoretischen Grundlagen
und pathogenetischen Konzepte der Kinderund Jugendpsychiatrie und diagnostische Methoden werden dargestellt. Ausführlich werden relevante psychiatrische Störungsbilder,
umschriebene Entwicklungsstörungen sowie
spezifische Symptome behandelt. Dazu werden jeweils die Ursachen, Diagnostik und die
therapeutischen Strategien bei den einzelnen
Erkrankungen dargestellt.
3/2013
Service
Mitteilungen
Aus Forschung und Wissenschaft: Freundschaft und Gewalt im Jugendalter
Im Mittelpunkt des Forschungsvorhabens
»Freundschaft und Gewalt im Jugendalter«
steht die Erklärung der Entwicklung, Aufrechterhaltung und Beendigung von Gewalthandeln bei Jugendlichen. Warum werden manche Jugendliche Opfer oder Täter von Gewalt?
Wie lässt sich erklären, dass manche Jugendliche nur sporadisch zu Gewalt greifen, während andere wieder und wieder auffällig werden und sich zu sogenannten ›Intensivtätern‹
entwickeln? Und welche Jugendlichen verfestigen einen solchen Lebensstil, bei dem Gewalthandeln alltäglich ist? Welche Möglichkeiten bestehen, Gewalt bereits im Vorfeld
präventiv zu verhindern, und was könnte helfen, wenn Jugendliche bereits durch Gewalt-
handeln auffällig geworden sind? Zur Beantwortung dieser zentralen Fragestellungen soll
das Projekt einen Beitrag leisten. Der Hauptfokus liegt dabei auf zwei bekannten Bedingungsfaktoren von Gewalt, der Zustimmung
zu gewaltlegitimierenden Normen und der
Freundesgruppe. Sowohl für die Freundesgruppe als auch für normative Überzeugungen
und Einstellungen ist das Jugendalter eine
bedeutsame Formierungsphase, beide sind
daher zentrale Ansatzpunkte für Präventions-,
und Interventionsmaßnahmen im Jugendalter.
In Städten des Ruhrgebiets sollen circa 2.200
Schülerinnen und Schüler der siebten Jahrgangsstufe befragt werden. Um die Entwick-
lungsprozesse der Jugendlichen adäquat abbilden zu können, sollen die Teilnehmer zunächst für zwei Jahre im Rahmen wiederholter
Befragungen auf ihrem Lebensweg begleitet
werden. Der offizielle Start des Projektes war
Mai 2012. Die Feldphase der ersten Erhebung
ist für Herbst 2013 geplant.
 Hilfen für Kinder psychisch
erkrankter Eltern
gleitstudie zu dem gerade abgeschlossenen
Früherkennungsprojekt »Networks Against
School Shootings« (NETWASS) der Freien Universität Berlin. Das Programm wurde in den
vergangenen drei Jahren an mehr als 100
Schulen in Berlin, Brandenburg und BadenWürttemberg umgesetzt und als erstes seiner
Art in Deutschland evaluiert. Im Rahmen des
Projekts TARGET werden alle deutschen Fälle
hochexpressiver, zielgerichteter Gewalt durch
jugendliche Einzeltäter (Amok, School Shooting, terroristische Einzeltaten) unter verschiedenen Perspektiven analysiert. Ziel ist
es, den Entwicklungsprozess im Vorfeld einer
Tat und den Tatablauf zu beschreiben und interdisziplinär konsensfähige, empirisch-begründete Entwicklungsmodelle zu erarbeiten.
Weitere Informationen: Prof. Dr. Herbert
Scheithauer, Freie Universität Berlin. Mail:
[email protected]
– und erläutert die wesentlichen Aspekte der
Prävention und Intervention bei sexualisierter
Gewalt im Sport.
Download unter www.lsb-nrw.de
Da die Zahl psychischer Erkrankungen stetig
ansteigt, besteht dringender Bedarf an leicht
zugänglichen und niedrigschwelligen Hilfen
– insbesondere für Familien mit Kindern, in
denen ein Elternteil erkrankt ist. Der Dachverband Gemeindepsychiatrie hat deshalb unter
www.psychiatrie.de/dachverband/kinder einen interaktiven Projekteatlas zu »Hilfen für
Kinder psychisch erkrankter Eltern« veröffentlicht. Der Projekteatlas wird ständig weiterentwickelt, sodass Familien in besonderen
Belastungssituationen schnell und unbürokratisch Hilfen vor Ort finden können. Bislang
wurden über 300 Angebote in Deutschland
mit Arbeitsschwerpunkten und Kontaktdaten
aufgenommen.
 TARGET – Amok, School Shoo-  Sexualisierte Gewalt im Sport
ting, terroristische Einzeltaten
Renommierte nationale Arbeitsgruppen zu
den Themen Amoklauf und School-Shootings
bündeln ihre Expertise in einem neuen Forschungsverbund: Sie kooperieren im Projekt
»Tat- und Fallanalysen hochexpressiver zielgerichteter Gewalt (TARGET)«. Durch die Untersuchung und aus dem Vergleich bisheriger
Taten jugendlicher Einzeltäter in Deutschland
sollen Erkenntnisse zur Gewaltprävention abgeleitet werden. Dass sich etwa schwerer
Schulgewalt vorbeugen lässt, belegt eine Be-
3/2013
Der Handlungsleitfaden zur Prävention und
Intervention sexualisierter Gewalt im Sport ist
ein weiterer Baustein des Projektes »Schweigen schützt die Falschen!«. Der Leitfaden
dient dazu, Vereine vor Ort in die Lage zu versetzen, mit der Thematik umzugehen, präventiv tätig zu werden und in Krisen- und Verdachtsfällen Orientierung zu finden und damit
handlungsfähig zu bleiben. Er richtet sich in
erster Linie an die Verantwortlichen in Sportvereinen – im Vorstand und in der Geschäftsstelle sowie im Trainings- und Übungsbetrieb
Finanzierung: Deutsche Forschungsgesellschaft (DFG), Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung der Universität
Mannheim (MZES)
Projektleiter: Prof. Dr. Clemens Kroneberg
Laufzeit: 2010 bis 2015
 BLIKK-Medien – Bewältigung,
Lernverhalten, Intelligenz und
Krankheiten von Kindern und Jugendlichen beim Umgang mit
elektronischen Medien
Kinder- und Jugendärzte in Deutschland sehen immer häufiger Kinder und auch Jugendliche in den Praxen, die infolge von Bewegungsmangel vermehrt unter Adipositas
(Übergewicht), Diabetes, Entwicklungsstörungen und auch Aufmerksamkeitsdefiziten
leiden. Jungen sind häufiger betroffen als
Mädchen. Die Mediziner vermuten, dass unter
anderem auch Medienmissbrauch eine Ursache dieser Entwicklung sein kann. Aber bisher
gibt es keine wissenschaftlichen Untersuchungen dazu, wie viel Mediengebrauch weitgehend unbedenklich ist und ab wann eine
übermäßige Mediennutzung krank machen
kann. Mit dem Studienprojekt »BLIKK« werden der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) und das Institut für Medizinökonomie und Medizinische Versorgungsforschung (iMÖV) der Rheinischen Fachhochschule Köln eine bundesweite Studie durchführen, um das Medienverhalten der nächsten Generation mit all seinen Konsequenzen
zu erfassen.
KJug 111
Service
TERMINE
SEPTEMBER 2013
Im Mittelpunkt der Mensch? Professionalität – Strukturen – Werte. 4. ASD-Bundeskongress
4.-6.09. München • Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V. und Katholische Stiftungsfachhochschule München
• Informationen: www.deutscher-verein.de
Schweigepflicht und Sozialdatenschutz bei Kindeswohlgefährdungen:
Welche Informationsbefugnisse und -pflichten bestehen im Zusammenhang mit Daten?
11.09. Köln • LVR-Landesjugendamt Rheinland • Informationen: www.lvr.de
Fachforum Onlineberatung
23.-24.09. Nürnberg • Technische Hochschule Nürnberg, Deutsche Gesellschaft für Online-Beratung, Bundeskonferenz für Erziehungsberatung, Online-Beratung des Deutschen Caritasverbandes, kids-hotline, Beratungsstelle im Internet des Kinderschutz e. V. • Informationen:
www.th-nuernberg.de/institutionen/institut-fuer-e-counseling/fachforum-onlineberatung/page.html
Inobhutnahme als Chance und Herausforderung – IGfH-Bundestagung
25.-26.09. Berlin • Internationale Gesellschaft für erzieherische Hilfen • Informationen: www.inobhutnahme.org
OKTOBER 2013
www.30tage.schau-hin.info
Balance durch Bewegung – Wissenschaftliche Jahrestagung
10.-12.10. Berlin • Bundeskonferenz für Erziehungsberatung e.V. (bke), Landesarbeitsgemeinschaft Erziehungsberatung Berlin • Informationen: www.bke.de
112 K Jug
3/2013
AKTUELL
Befragung zum Jugendschutzgesetz (JuSchG)
Im vergangenen Sommer wurde in den Medien über angebliche Pläne berichtet, das Jugendschutzgesetz
(JuSchG) zu überarbeiten. Parallel dazu verhandeln die Bundesländer erneut über den JugendmedienschutzStaatsvertrag – Ergebnisse sollen im Herbst vorliegen. In diesem Zusammenhang könnte es wie schon
2002/2003 doch zu Änderungen des Jugendschutzgesetzes kommen.
Um für diese Diskussionen gerüstet
zu sein, aber auch um aktuelle Entwicklungen abzubilden, hat der Vorstand der Bundesarbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz
(BAJ) eine Umfrage unter Jugendschutzfachkräften zur Frage geplant,
»Wo mit Blick auf den gesetzlichen
Jugendschutz Handlungsbedarf gesehen wird«.
Im November sollen die Ergebnisse
auf einem Workshop in Erfurt vorgestellt werden. Dann werden auch die
Ergebnisse der Infratest-Studie des
Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ)
und die Optionen der Weiterentwicklung des gesetzlichen Jugendschutzes in den kommenden Jahren diskutiert.
Die Befragung läuft bis 12. August.
Der Fragebogen kann als Printversion oder als ausfüllbare PDF-Datei bei der
Bundesarbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz angefordert werden.
Weitere Informationen und Bezug: [email protected], Tel. :030-400 40 300
Bundesarbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz e. V.
•
Mühlendamm 3 • 10178 Berlin
www.kjug-zeitschrift.de
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