1 SÜDWESTRUNDFUNK SWR2 Wissen

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SÜDWESTRUNDFUNK
SWR2 Wissen - Manuskriptdienst
Der gespaltene Islam
Sunniten und Schiiten im Konflikt
Autorin: Martina Sabra
Redaktion: Anja Brockert
Regie: Maria Ohmer
Sendung: Donnerstag, 16.01.2014, 8.30 Uhr, SWR 2
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Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.
Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen
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Atmo 1: Straßenlärm in Südbeirut
Erzählerin:
Eine Straßenkreuzung in Südbeirut. In unmittelbarer Nähe liegt das Viertel Daachieh.
Hochhäuser prägen das Straßenbild. Seit den 1970er Jahren siedelten sich in dem
ehemals grünen Vorort von Beirut zahlreiche Schiiten aus dem armen Süden des
Landes an. Der Umzug in die Hauptstadt versprach ein besseres Leben, eine Zukunft
vor allem für die Kinder.
Atmo 1: Straßenlärm hochziehen, bis Ansage unterlegen
Erzählerin:
Die Schiiten bilden mehr als vierzig Prozent der Bevölkerung des Libanon. Doch
politisch und wirtschaftlich waren sie lange Zeit machtlos. Heute spielen die Schiiten
eine entscheidende Rolle im Land. Die Sunniten, weltweit eigentlich die Mehrheit der
Muslime, sind im Libanon in der Minderheit. Neben einigen Städten und Dörfern im
Süden und im Zentrum des Landes wohnen die meisten im Nordlibanon, rund um die
Stadt Tripoli. Seit dem Beginn des Krieges in Syrien kommt es dort immer häufiger zu
bewaffneten Auseinandersetzungen. Nicht nur im Libanon, sondern auch im Irak, in
Syrien und in den Ländern der arabischen Golfregion nehmen die Spannungen
zwischen Sunniten und Schiiten zu.
Ansage:
Der gespaltene Islam. Sunniten und Schiiten im Konflikt.
Eine Sendung von Martina Sabra.
Erzählerin:
In Südbeirut hängen an vielen Häuserwänden und über den Straßen riesige
Transparente mit Porträts libanesischer Hisbollah-Führer und iranischer Ayatollahs. Die
vom Iran unterstützte Hisbollah ist derzeit die stärkste politische und militärische Kraft
im ganzen Libanon. Und auch im benachbarten Syrien mischt die Hisbollah mit.
Zehntausende Kämpfer unterstützen das Assad-Regime bei der brutalen
Niederschlagung der Revolution. Die libanesische Regierung versucht zu verhindern,
dass der syrische Krieg ins eigene Land überschwappt. Seit Monaten kontrollieren
Regierungstruppen die Zufahrtswege nach Südbeirut. An den Checkpoints bilden sich
teilweise lange Autoschlangen.
Atmo 1: Straßenlärm Südbeirut
Erzählerin:
Mit einem Minibus geht es Richtung Süden, in ein kleines Dorf im Schufgebirge:
Wardaniiye, die „Rosige“. Dieses Dorf ist besonders, denn von den insgesamt 2000
Bewohnern sind zwei Drittel Schiiten. Dennoch hat die Hisbollah hier bei der letzten
Kommunalwahl haushoch verloren. Der Elektroningenieur Hussein Abu Darwisch fand
das gut. Er ist Ende fünfzig, Vizebürgermeister des Dorfes und selbst Schiit.
(Hussein Abu Darwisch, arabisch)
Zitator (overvoice) Ich wurde als Schiit geboren, weil mein Vater und meine Mutter
Schiiten waren. Konflikte über Religionszugehörigkeit gab es in unserer Familie nicht.
Meine Frau ist Christin. Die Frau meines Bruders ist Sunnitin. Meine Schwester hat
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ebenfalls einen Sunniten geheiratet. Das war bei uns normal. Wir feiern auch immer die
Feste der anderen mit, wie es gerade passt. Ich persönlich faste und bete nicht. Aber
als Familie treffen wir uns natürlich zu den Festen und feiern zusammen.
Erzählerin:
Rund um das Haus der Familie Abu Darwisch erstreckt sich ein Garten mit
Obstbäumen. Vom Dach schaut man aufs Mittelmeer. Im geräumigen, gemütlich
eingerichteten Wohnzimmer steht ein prächtig geschmückter Weihnachtsbaum. Hussein
Abu Darwisch ist mit einer Russin verheiratet. Früher habe der Gegensatz zwischen
Sunniten und Schiiten kaum eine Rolle gespielt, erzählt Hussein Abu Darwisch. Doch
während des libanesischen Bürgerkrieges von 1975 bis 1990 vertieften sich die Gräben
zwischen den Konfessionen. Der Krieg mit Israel im Jahr 2006 und der nunmehr fast
drei Jahre währende Krieg im benachbarten Syrien haben die Konfessionalisierung
weiter angeheizt.
(Hussein Abu Darwisch, arabisch)
Zitator (overvoice)
Die Konfrontation zwischen Schiiten und Sunniten nimmt immer mehr zu. Hier im
Libanon hat der Konfessionalismus mit der Schwäche der Parteien zu tun. Bei uns gibt
es keine politischen, sondern nur religiös-konfessionelle Parteien. Die lokalen Führer im
Libanon orientieren sich an ihren jeweiligen Geldgebern im Ausland: Iran, SaudiArabien, Syrien, Irak, Israel. Sie arbeiten für die Interessen äußerer Mächte, nicht für
die Interessen des Libanon.
Regie: folgende Atmos bitte wie aus dem Lautsprecher klingen lassen, leicht verzerren,
ggf. Geräusch „Radioknopf anschalten“ voran (Archiv)
Atmo 2: Nachrichtenmeldungen über Anschlag in Beirut am 19.11.2013;
Fernsehnachrichten über Krieg in Syrien – deutsch, arabisch
Erzählerin:
In vielen Ländern der arabischen Welt kämpfen heute Muslime gegen Muslime. In
Syrien unterstützen schiitische Hisbollah-Söldner und iranische Revolutionswächter das
Assad-Regime. Von Saudi-Arabien und Qatar finanzierte sunnitische Jihadisten
bekämpfen die angeblich ungläubigen Schiiten, aber auch säkulare syrische
Revolutionäre. Im Irak sprengen sich sunnitische Al-Qaida-Terroristen in schiitischen
Stadtvierteln in die Luft. In Bahrein im arabisch-persischen Golf ließ das sunnitische
Minderheitsregime seit 2011 mehrmals die vorwiegend schiitische
Oppositionsbewegung zusammenschießen.
Atmo 3: Nachrichtenmeldungen, wie oben
Erzählerin:
Nahezu täglich hört man es in den Nachrichten: Sunniten gegen Schiiten; Schiiten
gegen Sunniten. Vor allem seit Beginn der arabischen Revolten 2011 verlaufen die
Konflikte in der Region immer stärker entlang konfessioneller Linien.
Zitator:
Was den neuen Konfessionalismus von den religiösen Spannungen früherer Zeiten
unterscheidet, ist, dass die Herrschenden heute bewusst konfessionelle Politik machen.
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Strategien und Außenpolitiken werden auf der Basis konfessionalistischer
Einschätzungen entworfen.
Erzählerin:
Das schreibt der Politikwissenschaftler Toby Matthiesen von der Universität Cambridge
in seinem neuen Buch „Konfessionalismus in der Golfregion“. Die Kluft zwischen den
beiden großen Glaubensgemeinschaften des Islams scheint unaufhaltsam tiefer zu
werden. Aber was trennt Sunniten und Schiiten wirklich? Welche Rolle spielen Religion
und Religiosität in den aktuellen blutigen Konflikten – und was hat die eskalierende
Gewalt mit Religion zu tun?
Atmo 4: Türkische Moschee in Köln, Gebetsruf
Erzählerin:
Nicht nur das Christentum, auch der Islam kennt unterschiedliche Glaubensrichtungen.
Die große Mehrheit der Muslime weltweit rechnet sich dem sogenannten sunnitischen
Islam zu – schätzungsweise rund 85 Prozent. Etwa fünfzehn Prozent sind Schiiten.
Dazu zählen auch die meisten in Deutschland lebenden Muslimen mit türkischem
Hintergrund. In Deutschland gibt es unter anderem eine große schiitische Moschee in
Hamburg.
Regie: Musik, instrumental: Nassir Shamma, „Ishraq“
Erzählerin:
Die große Spaltung des Islams in Sunniten und Schiiten ist fast so alt wie der Islam
selbst. Im Jahr 622 beginnt die islamische Zeitrechnung. Als im Jahr 632 nach Christus
der Prophet Mohammed starb, standen seine Gefolgsleute vor einem Problem:
Mohammed hatte keinen Nachfolger bestimmt, keinen Kalifen.
(Katajun Amirpur)
Es ging schlicht um die Frage: Wer soll der Nachfolger des Propheten Mohammed
werden?
Erzählerin:
Die Islamwissenschaftlerin Katajun Amirpur lehrt an der Universität Hamburg moderne
islamische Theologie. Sie hat eine umfangreiche Studie über die Beziehung von
Sunniten und Schiiten in Geschichte und Gegenwart verfasst. Darin beschreibt sie unter
anderem, wie die frühen Muslime nach dem Tod des Propheten Mohammed mit allen
Mitteln um die Macht kämpften. Eine Gruppierung forderte, dass der Schwiegersohn
des Propheten die Führung der Gläubigen übernehmen sollte: Ali. Doch Ali wurde nicht
gewählt. Ein anderer wurde Kalif. Dieser Kalif wurde ermordet, doch auch danach
wurde Mohammeds Schwiegersohn Ali nicht berücksichtigt. Erst als der dritte
Nachfolger des Propheten starb, kam Ali zum Zuge und wurde vierter Kalif. Der Konflikt
war damit indes nicht beigelegt. Es gab weiterhin innerislamischen Streit.
(Katajun Amirpur)
Das war Mu’aawiya. Die Leute um ihn haben dann zusammen mit ihm Ali bekämpft, so
dass Ali nach sehr kurzer Zeit ermordet wurde. // Aber schon zu diesem Zeitpunkt gab
es eben eine Partei Alis, daher kommt überhaupt der Begriff Schia, das leitet sich ab
vom arabischen Schiat Ali, und ab dem Zeitpunkt gab es Schiiten, aber sie waren noch
nicht in dem Sinne eine Konfession, eine eigene Glaubensgemeinschaft, wie sie das
dann erst ab den 80er Jahren des siebten Jahrhunderts wurden. .
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Erzählerin:
Nur fünf Jahre nach seinem Amtsantritt im Jahr 661 wurde Ali ermordet. Sein
Gegenspieler, der Sunnit Mu’aawiya etablierte sich in Damaskus als neuer Kalif, als
Stellvertreter des Propheten Mohammed und Führer der Gläubigen. Der getötete Ali
hinterließ zwei Söhne, Hassan und Hussein. Die beiden ließen sich in Kufa nieder, einer
Stadt im heutigen Irak. Zunächst herrschte Waffenruhe, doch im Jahr 680 kam es zum
Krieg. Die entscheidende Schlacht fand auf dem Gebiet des heutigen Iraks statt: In der
Stadt Kerbela. Dabei wurde Alis zweiter Sohn Hussein getötet.
(Katajun Amirpur)
Die Schia wurde // eigentlich erst durch die Tragödie von Kerbela zu einer wirklichen
Konfession.
Regie: Musik, instrumental: Nassir Shamma, „Ishraq“
Erzählerin:
Der Islam war nun gespalten. Auf der einen Seite stand die Mehrheit der Sunniten. Ihre
Hauptwallfahrtsorte waren Mekka und Medina. Für die Minderheit, die „Schiat Ali“ oder
„Schia“, wurde die Stadt Kerbela im Irak zum wichtigsten religiösen Zentrum. Von hier
aus fand das Schiitentum weite Verbreitung: in Anatolien, im heutigen Iran, wo die
schiitische Glaubensrichtung Anfang des 16. Jahrhunderts zur Staatsreligion wurde,
sowie in Teilen Zentralasiens.
Regie: Musik, instrumental: Nassir Shamma, „Ishraq“
Erzählerin:
Die Mehrheit der Sunniten betrachtete die Anhänger der Partei Alis, die „Schia“, als
Ketzer. Zunächst war der Streit eher machtpolitisch motiviert. Aber er nahm auch
zunehmend religiöse und theologische Züge an. Ein wichtiger theologischer Streitpunkt
war die Auslegung des Korans. Die Sunniten warfen den Schiiten vor, dass sie die
Vorschriften des Korans nicht buchstabengetreu anwandten. Ein weiterer Punkt war der
Umgang mit den ersten drei Kalifen nach Mohammed. Die Schiiten hielten sie für
unrechtmäßig und wollten nur Ali als rechtmäßig anerkennen. Die Sunniten hingegen
sahen in ihnen die sogenannten „rechtgeleiteten“ Kalifen, Vorbilder für die Umma, die
Gesamtheit der Muslime.
(Katajun Amirpur)
Diese ersten drei Kalifen sind diejenigen, die noch Zeitgenossen des Propheten waren,
die ihn erlebt haben, die am besten Auskunft geben können über das, was er gesagt
hat, wie der Koran herab gesandt wurde, und in diesem Sinne sind sie die wichtigsten
Bezugspunkte für den sunnitischen Islam.
Atmo 6: Koranrezitation
Erzählerin:
Seit der Entstehung der Glaubensrichtung der „Schia“ waren zwei Faktoren
bestimmend für die religiöse Identität der Schiiten. Zum einen der Widerstand gegen
den sunnitischen Mehrheitsislam und dessen weltliche und religiöse Repräsentanten.
Zum anderen der Status als verfolgte Minderheit. Für die Schiiten gibt es seit jeher nur
eine maßgebliche religiöse Autorität: den Imam. Für die meisten sunnitischen Muslime
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hat der Begriff Imam eine andere Bedeutung. Sie bezeichnen damit den Leiter einer
Moscheegemeinde oder einen Geistlichen, der das Gebet leitet. Für Schiiten ist der
„Imam“ das geistliche Oberhaupt der Glaubensgemeinschaft. Das musste seit jeher ein
Verwandter Alis und des Propheten Mohammed sein. Islamwissenschaftlerin Katajun
Amirpur:
(Katajun Amirpur)
Also es kann nur jemand sein, der zu seiner Familie gehört, und der quasi intuitiv durch
diese familiäre Verbindung zum Propheten und auch zu Gott besser verstehen kann,
was der Koran eigentlich aussagt. Schiiten sprechen immer davon, dass die Imame der
sprechende Koran sind. // Es kam häufig darauf an, wer zur Verfügung stand. Zum Teil
sind die erstgeborenen Söhne gestorben, und manchmal war es dann eben der Bruder.
Aber es ist letztlich schon eine Verwandtschaft zum Propheten, das ist ein esoterisches
Wissen, dass man überhaupt Zugang hat zur Offenbarung.
Erzählerin:
Auch im Schiitentum bildeten sich mit der Zeit verschiedene Richtungen heraus. Die
sogenannten Fünfer- und Siebener-Schiiten, auch Zaiditen und Ismailiten genannt,
erkennen nur fünf beziehungsweise sieben Imame an. Sie sind allerdings in der
Minderheit. Die meisten Schiiten im Iran, Irak, Syrien und Libanon gehören heute der
sogenannten Zwölfer-Schia an.
(Katajun Amirpur)
Die orthodoxe Schia sagt, dass sämtliche Imame ja verfolgt worden sind, von der
sunnitischen Mehrheit. // Das ist vermutlich nicht richtig, also bereits der zweite Imam ist
keineswegs als Märtyrer gestorben, sondern hat sich von den herrschenden
sunnitischen Kalifen kaufen lassen – aber wie auch immer, der schiitische Mainstream
geht davon aus, dass sie Märtyrer waren. Um zu verhindern, dass auch der zwölfte
Imam, der als kleines Kind großer Verfolgung ausgesetzt war, nach diesem Narrativ, als
Märtyrer stirbt, ist er in die Verborgenheit gegangen. Das heißt: Er ist nicht gestorben
nach schiitischer Auffassung, sondern er ist nach wie vor anwesend auf der Welt, es
gibt nur keinen Kontakt mehr zwischen ihm und den Menschen.
Erzählerin:
Der Glaube der Zwölferschiiten hat messianische Züge. Erst wenn der entrückte zwölfte
Imam, der sogenannte Mahdi aus der Verborgenheit zurückkehrt, kann die ideale,
gerechte, gottgefällige islamische Gesellschaft errichtet werden.
Regie: Musik
Erzählerin:
Das wichtigste theologische Prinzip des Islams ist der Tawhid, die Einheit Gottes. Die
Gläubigen sollen nach Einheit und Zusammenhalt streben. Doch Diskriminierung und
Verfolgung von Minderheiten zieht sich wie ein roter Faden durch die islamische
Geschichte. Im Vielvölkerstaat der Osmanen, die im Nahen Osten bis 1918 herrschten,
war der sunnitische Islam Staatsreligion. Andersgläubige Muslime wurden verfolgt. Mit
dem Aufstieg der europäischen Kolonialmächte verschärfte sich das Problem. England
und Frankreich zogen Anfang des 20. Jahrhunderts die Grenzen der neuen arabischen
Nationalstaaten am Reißbrett. Sie brachten in Ländern wie Irak, Syrien oder Bahrein
Herrscher an die Macht, die zu religiösen Minderheiten gehörten. So wurde der zu
sechzig Prozent schiitische Irak jahrzehntelang von Sunniten beherrscht. Im zu achtzig
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Prozent sunnitischen Syrien regiert seit einem halben Jahrhundert die Minderheit der
schiitischen Alawiten.Teile und herrsche – diese Politik des Westens hatte tiefgreifende
Folgen für die islamische Welt. Daneben gab es im zwanzigsten Jahrhundert mehrere
einschneidende Ereignisse, die das Verhältnis von Religion und Politik im Nahen und
Mittleren Osten von Grund auf veränderten. Das waren zum einen die Entdeckung des
Erdöls und der damit einhergehende wachsende Einfluss der ultrakonservativen
Feudalmonarchien Saudi-Arabiens und der Golfemirate. Und zum anderen die
islamische Revolution im Iran im Jahr 1979.
Atmo 7: Rede Khomeini, Iranische Revolution 1979
Erzählerin:
Saudi-Arabien und der Iran ringen seit mittlerweile über vier Jahrzehnten um die
politische Hegemonie im Nahen und Mittleren Osten. Beide unterstützen radikale,
gewaltbereite Gruppierungen einschließlich Terrorgruppen mit Geld, Waffen und
Training. Saudi-Arabien finanziert sunnitische Extremisten. Iran ist in Syrien mit der
herrschenden Minderheit der Alawiten verbündet, zu der unter anderem auch der
Präsident Baschar Al Assad gehört.
(Kristin Helberg)
Die Alawiten sind ja eine späte Abspaltung im schiitischen Islam und sind insofern als
Minderheit jahrhundertelang benachteiligt gewesen, verfolgt worden, leben deswegen
auch im Küstenhinterland in Syrien, also in den Bergen, wo sie sich einfach sicherer
fühlten.
Erzählerin:
Erzählt die Journalistin Kristin Helberg, ehemalige Radiokorrespondentin in Damaskus.
2012 hat sie ein Buch über Gesellschaft und Politik in Syrien veröffentlicht.
(Kristin Helberg)
Während eben die Sunniten und auch die Christen in den großen Städten – also vor
allem das Bürgertum – die Mittel- und Oberschichten das öffentliche Leben bestimmten
und dominierten, also die Politik, Wirtschaft, den Handel vor allem, die haben also in
gewisser Weise so ein Verhältnis zwischen Herren und Dienern. Die Alawiten, die in
den Dörfern rund um Homs lebten, oder um Hama, haben häufig bei der Mittel- und
Oberschicht in den Städten gearbeitet; viele sunnitische Haushalte hatten dort z.B.
alawitische Dienstmädchen, und da hat sich natürlich im Laufe der Zeit so ein Gefühl
der Benachteiligung, der Ungerechtigkeit eingestellt, auch Hass, unterschwelliger Hass
wahrscheinlich; und als dann mit Hafis Al Assad 1970 zum ersten Mal ein Alawit an die
Macht kam, begann der Aufstieg der Alawiten.
Erzählerin:
Der Diktator Hafis Al Assad, Vater von Baschar Al Assad, regierte Syrien fast vier
Jahrzehnte mit eiserner Hand und unglaublicher Brutalität. Angehörige der
Religionsgemeinschaft der Alawiten übernahmen in dieser Zeit einflussreiche Posten
bei den Geheimdiensten, in der Armee und in der Verwaltung. Hafis Al Assad knüpfte
auch ein enges Band zwischen Syrien und dem Iran.
(Kristin Helberg)
Dafür gibt es sowohl religiöse Gründe als auch politisch-strategische Gründe. Die
Assads zählen ja als Alawiten auch zu den Schiiten. Hafis Al Assad hatte damals
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Anfang der 1970er Jahre Auseinandersetzungen mit den konservativen Sunniten in
Damaskus, die ihm vorwarfen, dass Alawiten ja eigentlich Häretiker seien, und damals
bekam er 1973 theologische Unterstützung aus dem Iran, denn ein iranischer Prediger,
Musa Al Sadr, der damals im Libanon wirkte, der hat eine Fatwa erlassen und in dieser
Fatwa erklärte er die Alawiten zu einem authentischen Bestandteil des schiitischen
Islams. Und damit war dann eben die Herrschaft der Assads über jeden religiösen
Zweifel erhaben.
Erzählerin:
Kristin Helberg bezweifelt, dass es der iranischen Führung wirklich um die Frage ging,
ob die Alawiten Schiiten seien oder nicht. Hinter der Annäherung zwischen den Alawiten
und den Zwölferschiiten aus dem Iran hätten vielmehr politisch-strategische Interessen
gesteckt. Denn Syrien und Iran hatten eines gemeinsam: die Feindschaft gegen Israel
und den Zionismus.
(Kristin Helberg)
Syrien hatte ja damals zwei Kriege verloren, gegen Israel, und Hafis Al Assad suchte
nun dringend nach Verbündeten in der Region. Und als dann 1979 im Zuge der
iranischen Revolution der Schah gestürzt wurde und im Grunde der Iran das Lager
wechselte, nämlich vom prozionistischen Lager ins Lager der Gegner der USA und der
Zionisten, da freute sich Hafis Al Assad über diesen neuen Verbündeten, und sah in ihm
eben vor allem einen Mitstreiter in diesem Kampf gegen Israel.
Erzählerin:
Den aktuellen Krieg in Syrien als religiösen Konflikt zwischen Schiiten und Sunniten zu
erklären, greife zu kurz, sagt die Syrien-Kennerin Kristin Helberg. Das gilt auch für
andere Konflikte in der Region. Toby Matthiesen meint, dass die von Sunniten regierten
arabischen Golfstaaten, allen voran Saudi-Arabien, konfessionelle Gewalt bewusst
anfachen, aus Furcht, dass sich unzufriedene Schiiten und Sunniten in Riad, Abu Dhabi
oder Bahrain gegen die eigenen Herrschercliquen zusammenschließen könnten.
(Toby Matthiesen)
Als der Aufstand in Bahrein so stark wurde, dass die Königsfamilie dort bedroht war, hat
die Königsfamilie zusammen mit Hardlinern entschieden, dass sie diesen
Konfessionalismus benutzen, um den arabischen Frühling zu überleben. Und um ihre
Bevölkerung gegeneinander auszuspielen. Weil in Bahrein die Schiiten in der Mehrheit
sind, und weil in der Ostprovinz, die an Bahrein grenzt, und wo das ganze saudische Öl
liegt, die Schiiten sehr stark sind und historisch gesehen die Mehrheit der Bevölkerung
darstellen. Also es gibt dort eine richtige Opposition, aber die Königsfamilie versucht die
Sunniten davon abzuhalten, sich mit den Schiiten zu solidarisieren. Die sagen den
Leuten, die jetzt irgendwie radikale Ideen haben, ihr macht nichts zuhause, aber ihr
könnt in Syrien machen, was ihr wollt. Das ist jetzt Euer Tummelfeld, und das ist ein
großes Problem für Syrien, für den Golf, für die ganze Region.
Erzählerin:
Auch Kristin Helberg, die lange als Korrespondentin in Damaskus gelebt hat, geht
davon aus, dass einige Regime in der arabischen Welt den religiösen Hass bewusst
schüren, um an der Macht zu bleiben. In Syrien wirke sich das besonders fatal aus, weil
das Regime unter Führung von Baschar Al Assad vor nichts zurückschrecke, um sich
an der Macht zu halten und jegliche Opposition zu diskreditieren. Unter anderem habe
Al Assad sogenannten Jihadisten freie Hand gegeben: bewaffneten Kämpfern, die
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einen religiösen Staat von Syrien bis Irak errichten wollen und die im Namen des Islams
die syrische Zivilbevölkerung terrorisieren.
(Kristin Helberg)
Was hat er gemacht? Neben der Propaganda hat er radikale Jihadisten aus den
Gefängnissen entlassen, ab Frühjahr 2011, also gerade als die Proteste losgingen, sind
die übelsten Al Qaida-Vertreter freigelassen worden. Assad hat diese Leute ausgesät im
Land, und viele dieser Jihadisten sind heute Anführer irgendwelcher Brigaden, das hat
also genau funktioniert, um diesen Aufstand immer islamischer aussehen zu lassen.
Erzählerin:
Den Preis für diesen künstlich erzeugten Hass müssten langfristig die Alawiten zahlen,
meint Kristin Helberg. Baschar Al Assad habe die religiöse Minderheit, zu der er selbst
gehöre, quasi in Geiselhaft genommen. Ob und wie sich diese Entwicklung noch
stoppen lässt, ist ungewiss – zumal inzwischen auch regionale und internationale
politische Mächte den konfessionellen Hass kräftig mit anfachen.
Atmo 1: Straßenlärm Südbeirut
Erzählerin:
Auch im Libanon sehen viele Menschen die Entwicklungen in Syrien mit Sorge. Hussein
Abu Darwisch, der schiitische Elektroingenieur und stellvertretende Bürgermeister des
kleinen Ortes Wardaniiyeh, meint:
(Hussein Abu Darwisch, arabisch)
Zitator (overvoice): Es gab dort keine Demokratie. Daher hatten ausländische Mächte
leichtes Spiel und konnten die Religion nutzen, um die Menschen gegeneinander
auszuspielen. Die Alawiten sind in der Minderheit, die Sunniten in der Mehrheit.
Gleichzeitig war das Volk leicht zu beeinflussen, weil es arm war. Was jetzt in Syrien
passiert, haben wir auch im Libanon erlebt. Die Waffen kamen von überall her, und die
Menschen haben sich gegenseitig bekämpft. Das passiert jetzt auch in Syrien. Die
Menschen haben die Wahl zwischen zwei Möglichkeiten: auf der einen Seite das
aktuelle Regime, das wirklich absolut diktatorisch ist, und auf der anderen Seite eine
extremistisch religiöse Bewegung, die keine politischen Ziele hat, sondern nur darauf
aus ist, Andersgläubige zu bekämpfen. Das Ergebnis ist ein Schrecken ohne Ende.
Regie: Folgende Atmo bitte wie aus dem Lautsprecher, leicht verzerren
Atmo 8: Nachrichtenmeldungen
Erzählerin:
Sunniten gegen Schiiten; Schiiten gegen Sunniten. Religionen und Konfessionen sind
nicht die Hauptursache der aktuellen Konflikte im Nahen und Mittleren Osten. Aber je
länger die Konflikte andauern, desto tiefer werden die Gräben zwischen den
Glaubensgemeinschaften. Der Politikwissenschaftler Toby Matthiesen fordert
angesichts der Eskalation einen Politikwechsel des Westens. Statt durch Parteinahme
für Saudi-Arabien und die arabischen Golfstaaten zusätzlich Öl ins Feuer zu gießen,
sollten die USA, die EU und vor allem Deutschland ihre militärische Unterstützung für
Saudi-Arabien dringend überdenken.
(Toby Matthiesen)
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Eine abgewogenere Außenpolitik, die sollte versuchen, nicht nur einseitig die alten
Verbündeten zu unterstützen, weil schlussendlich müssen sich die Kräfte dort
verständigen und miteinander leben und es hat keinen Sinn, die alte Politik der alten
Interessen und Allianzen weiterzumachen.
Erzählerin:
Sich verständigen und miteinander leben: Das wünscht sich auch Hussein Abu
Darwisch. Nach dem grausamen fünfzehnjährigen Bürgerkrieg half er mit, den Libanon
wieder aufzubauen und Feinde zu versöhnen. In seinem kleinen Heimatort Wardaniiyeh
funktioniert das zur Zeit noch. Doch Hussein Abu Darwisch befürchtet, dass die massive
Gewalt in der Region auch die mühsam erkämpfte Stabilität im Libanon wieder
zerstören könnte.
(Hussein Abu Darwisch, arabisch)
Zitator (overvoice): Ich wünsche mir, dass das Land säkular wird. Dass wir nicht in
erster Linie zu einer Religionsgemeinschaft gehören, sondern zu einem Staat. Wir als
Bürger haben hier mittlerweile das Gefühl, dass wir in unseren eigenen Häusern leben
wie in einem Hotel. Wir stehen in dem Konflikt daneben. Viele lassen sich kaufen. Die
gebildeten Bürger, Säkulare, Linke und Intellektuelle sind marginalisiert, sie stehen
daneben und schauen zu. Die religiösen Fanatiker werden unterdessen mit Waffen und
Geld gefüttert. Wohin das alles führt? Ich weiß es nicht.
*****
Literaturhinweise:
Brennpunkt Syrien
Einblick in ein verschlossenes Land
Von Kristin Helberg
Herder Verlag, 2012
Toby Matthiesen
Konfessionalismus in der Golfregion
Herunterladen