Grundprobleme des Buddhismus

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GrundfragendesBuddhismus:
EinekritischeBetrachtungundneueZugä nge
Im Folgenden werde ich einige zentrale Lehraspekte des frühen Buddhismus, welche jedoch
auch in seinen späteren Ausprägungen eine wichtige Rolle spielen, einer vielleicht
ungewohnt kritischen Betrachtung unterziehen. Dabei handelt es sich jedoch keineswegs um
eine Kritik nur um der Kritik selbst willen; noch ist damit in meinem persönlichen Empfinden
eine Herabminderung buddhistischer Anschauungen oder gar der konkreten Anhänger des
Buddhismus verbunden. Die hier vorgestellte kritische Neubetrachtung (nebst der
vorgeschlagenen alternativen Annäherung) sowie die anderen diskutierten Fragestellungen
sind lediglich das Resultat meiner persönlichen, jedoch langjährigen und intensiven
Auseinandersetzung mit diesen Themen. Dabei gehe ich nicht streng wissenschaftlich vor;
und verzichte auch weitestgehend auf die Einbeziehung von Primär- und Sekundärliteratur.
Ebenso habe ich nicht versucht, jede meiner kritischen Sichtweisen ausführlich zu
begründen; und bei nicht wenigen Punkten wäre mir dies aufgrund meiner begrenzten
Sachkenntnis auch gar nicht möglich. Es handelt sich in erster Linie um für mich nunmehr
wieder offene Fragen aus einem rationalen Verständnis heraus, ungeachtet deren
traditioneller sowie orthodox-dogmatischer Beantwortung.
1. Der Ausgangspunkt: Die drei Merkmale
Wer sich als Neueinsteiger über die Lehren des Buddhismus informieren möchte, sieht sich
vor ein nicht unerhebliches Problem gestellt; bzw. wird er es in der Regel gar nicht als
solches erkennen. Das Problem lautet: wo anfangen, womit beginnen? Die Buchauswahl
auch großer Buchhandlungen ist oftmals sehr einseitig, und stark am Zeitgeist oder
populären Interpreten bzw. prominenten Personen orientiert. In meinen eigenen Seminaren
und Vorträgen zu diesem Thema haben sich dabei nach und nach die idealisierte
Lebensgeschichte des Buddha, die sogenannten „drei Merkmale“ (ti-lakkhana) und die „Vier
Edlen Wahrheiten“ als Ansatzpunkt herausgebildet, um den Menschen einen Zugang zum
Buddhismus zu eröffnen. Insbesondere die „drei Merkmale“ können dabei fast noch mehr
als die Vier Edlen Wahrheiten als die kürzeste Formulierung dessen verstanden werden, wie
sich der Blick auf die Welt nach orthodoxer Sichtweise des Theravada-Buddhismus darstellt:
„Ob, ihr Mönche, Vollendete in der Welt erstehen oder ob sie nicht erstehen: eine
Tatsache bleibt es, ein feste und notwendige Bedingung des Daseins, dass alle
Gebilde vergänglich sind, dass alle Gebilde dem Leiden unterworfen sind, dass alle
Dinge unpersönlich sind.“ (AN.III.137)
Diese Aussage – für den Buddhisten handelt es sich um eine immer gründlicher zu
erkennende und besser zu verstehende Wahrheit, für den Nicht-Buddhisten zunächst
schlicht um eine Behauptung – führt unmittelbar ins Herz der gesamten früh-buddhistischen
Tradition. Es ist diese Grundverfasstheit der Welt oder samsara (bzw. des Daseins, der
Gebilde), welche im Verbund mit einigen wenigen weiteren Konzepten wie dem der
Tatvergeltung (karma) und der „Wiedergeburt“ sowie nibbana die gesamte frühbuddhistischen Lehre absteckt. Betrachten wir die drei Merkmale im Einzelnen:
1.1 Vergänglichkeit
Das erste der drei Merkmale trägt die Bezeichnung anicca, und wird von Nyanatiloka
(Buddhistisches Wörterbuch) mit „Vergänglichkeit“ übersetzt. Im Dhammapada heißt es
dazu:
„Alles Gestaltete ist unbeständig (sabbe sankhara anicca).“
Und im Visuddhi-magga findet sich:
„Als Vergänglichkeit gilt der Dinge Entstehen, Vergehen und Anderswerden, oder
das Schwinden der gewordenen, entstandenen Dinge. Der Sinn ist der, dass diese
Dinge nie in derselben Weise verharren, sondern zergehen, indem sie sich von
Augenblick zu Augenblick auflösen.“
Soweit zwei kanonische Zitate. Die hier angeführte Vergänglichkeit ist dabei in der Regel
zunächst einmal leicht nachvollziehbar und lässt sich im Bereich der empirischen Welt, d.h.
der Welt der fünf Sinne (kama-loka), vielfältig beobachten: eine Blume verwelkt, Holz wird
morsch, Metall rostet, Bilder von verwesenden Leichnamen und Kadavern sind durch
Fernsehen und Kino vertraut, in der Landschaft gibt es verfallene Häuser und Burgruinen.
Aber auch im geistigen Bereich gibt es nicht wenige Gelegenheiten, Veränderung und
Vergänglichkeit wahrzunehmen: unsere Meinungen und Ansichten zu bestimmten Themen
können sich ändern, ja das Interesse kann sogar ganz erlöschen; unsere Gefühle gegenüber
anderen Menschen verändern sich usw. Diese überall wahrzunehmende Veränderung und
Vergänglichkeit in der materiellen und geistigen Welt kann daher durchaus zu der Äußerung
verleiten: „Nichts ist von Dauer, nichts hat dauerhaften Bestand.“
An dieser Stelle nun jedoch der erste Einwand: Zunächst einmal ist ein empirischer Beweis
der Vergänglichkeit alles Seienden überhaupt nicht möglich; sondern nur eine wiederholte
Bestätigung. D.h. wir können zwar wiederholte Male Beobachtungen machen, welche die
Vergänglichkeit in der Welt der fünf Sinne verifizieren; aber diese Beobachtungen erlauben
es nicht, auf ihre Allgemeingültigkeit zu schließen (der Umstand, dass alle Schwäne die wir
gesehen haben weiß sind, beweist nicht, dass alle Schwäne weiß sind bzw. weiß sein
müssen; und der Umstand, dass wir überall Vergänglichkeit feststellen, beweist nicht, dass
alles vergänglich ist). Die Unmöglichkeit eines solchen empirischen Beweises ist mittlerweile
anerkanntes Allgemeingut der Wissenschaftstheorie; eine Bezugnahme auf die anicca-Lehre
des Buddhismus ist daher durchaus gerechtfertigt. Davon abgesehen ist aber auch die
Hypothese der empirisch beobachtbaren Vergänglichkeit aller Phänomene selbst fraglich,
wenn nicht gar falsifizierbar. So gibt es durchaus natürliche oder künstliche Phänomene,
welche den Beobachtungszeitraum eines einzelnen Menschen unbeschadet überdauern; wie
z.B. die Gleichförmigkeit des Sonnen-Auf- und Untergangs; Edelsteine oder Edelmetalle,
welche keine wahrnehmbare Veränderung erfahren etc. Wir können also festhalten, dass
empirisch eine Vergänglichkeit aller Phänomene nicht beweisbar, und durch Beobachtung
nur eingeschränkt bzw. mit Vorbehalten zu bestätigen ist.
Zweiter Einwand: Die Frage nach dem Status von Naturgesetzen und mathematischen
Wahrheiten. Bestehen diese, wie z.B. der Satz des Pythagoras, nicht dauerhaft und
unabhängig von der empirischen Welt? Eine Möglichkeit der Erwiderung wäre, diese
mathematischen Gesetze als nicht dem Bereich der Gestaltungen bzw. des Gestalteten
(sankhara) zuzurechnen, sondern dem Nicht-Gestaltetem (asankhata). Diese Stellung ist im
Theravada-Buddhismus jedoch allein dem nibbana vorbehalten. Andere frühe Schulrichtungen haben zwar die Anzahl der Nicht-Produkte (asamskrta) erweitert; jedoch sind
auch hier mathematische Gesetze nicht berücksichtigt. Dies ist zwar zunächst nicht weiter
verwunderlich, da die Lehren des Buddhismus sich ja um die Stellung des Menschen in der
Welt sowie die Aufhebung seiner Verstrickung in diese drehen. Dennoch bleibt festzuhalten,
dass der theoretische, universelle Anspruch der Vergänglichkeit mit Ausnahme des nibbana
zumindest im orthodoxen Theravada nicht einlösbar ist. Weiterführende Fragen, denen hier
nachgegangen werden müsste, betreffen die Entstehung oder Ewigkeit der Welt (bzw. die
Aussagen, welche in den buddhistischen Schulrichtungen darüber getroffen werden), die
Herkunft der asamskrta und dergleichen.
Der dritte Einwand betrifft die Behauptung der Vergänglichkeit unter dem Blickwinkel des
Substanzbegriffs. Wenn wir z.B. sagen, dass eine Blume wächst, blüht und verwelkt, und
dieses zusammengefasst als Vergänglichkeit bezeichnen (siehe das Zitat des Visuddhimagga), unterstellen wir dabei automatisch eine Wesenheit „Blume“, an welcher sich diese
Veränderungen vollziehen. Als Auswege aus diesem Dilemma bietet sich das nur Scheinbare
Entstehen und Vergehen an, welches sich an einer nur im konventionellen Sinne
existierenden Blume vollzieht. Es ist nicht das Anliegen dieses Traktats, eine ausführlichere
Behandlung des Substanz-Problems – insbesondere unter Berücksichtigung der von
Aristoteles in seiner Metaphysik, Physik sowie De generatione et corruptione entfalteten
Substanz-Lehre – zu versuchen. Es scheint mir aber dennoch unverzichtbar, auf die
immensen Schwierigkeiten, unterschiedlichen Ansätze und Uneinigkeiten diese Problematik
betreffend nicht nur innerhalb des Buddhismus, sondern auch in der abendländischen
Philosophie hinzuweisen. Dieser dritte Einwand, welcher sich zunächst auf die nicht geklärte
Frage nach Beständigkeit und Beschaffenheit des Seins versus Vergänglichkeit richtet, findet
seine Fortführung mit erheblichen Konsequenzen in der anatta- und karma-Lehre.
1.2 Leidhaftigkeit
Das zweite Daseinsmerkmal trägt die Bezeichnung dukkha; als Übersetzungsmöglichkeiten
führt Nyanatiloka „Leiden, Leidunterworfensein, Unzulänglichkeit, Elend, Übel“ an. Im
Dhammapada heißt es dazu:
„Alles Gestaltete ist dem Leiden unterworfen (sabbe sankhara dukkha).“
Dukkha ist aber nicht nur eines der drei Daseins-Merkmale, sondern auch Inhalt der ersten
der Vier Edlen Wahrheiten:
„Geburt ist Leiden, Altern ist Leiden, Krankheit ist Leiden, Sterben ist Leiden,
Kummer, Jammer, Schmerz, Trübsal und Verzweiflung sind Leiden; das
Nichterlangen dessen, was man begehrt, ist Leiden; kurz gesagt: die mit Anhaften
verbundenen fünf Gruppen des Daseins sind Leiden.“
Die überragende Bedeutung von dukkha für die gesamte buddhistische Lehre kann auch
noch anhand eines anderen Ausspruchs des Buddha ermessen werden, der da lautet:
„Nur eines lehre ich, damals wie heute: Das Leiden und seine Überwindung“
Noch deutlicher als bei dem Merkmal der Vergänglichkeit steht und fällt praktisch die
gesamte dogmatische buddhistische Lehre mit der Anerkennung oder Nicht-Anerkennung
von dukkha und der Bedeutung, welche diesem zugeschrieben wird. Dennoch gibt es meiner
Ansicht nach gute Gründe, welche eine Universalität von dukkha mehr als fragwürdig
erscheinen lassen.
Zu nennen wäre hier auf theoretischer Ebene zunächst einmal die Begründung von dukkha
als Konsequenz der Vergänglichkeit. „Was vergänglich ist, ist leidvoll.“, lautet dabei eine
wohlbekannte Formulierung in den Lehrreden. Jedoch bleibt dabei offen: Warum genau
eigentlich soll das, was vergänglich ist, auch leiderzeugend bzw. dem Leiden unterworfen
sein? Von einer auf Beispielen basierenden Argumentation abgesehen handelt es sich dabei
aber grundsätzlich um einen gravierenden Kategorienfehler, eine Art „naturalistischen
Fehlschluss“; oder, wie es durch Hume erkannt wurde, „aus dem was ist, kann man nicht
schließen, was sein soll“. Das bedeutet: aus der empirisch-deskriptiven Tatsache der
Vergänglichkeit der natürlichen und künstlichen Gebilde gibt es keinen notwendigen
Brückenschlag zum Werturteil des Leidens oder Leid-Unterworfen-Seins. Die darin
enthaltene Annahme, dass nur das Unvergänglich frei von Leiden sein kann, mag zwar
einleuchtend scheinen; ist es aber nur auf dem Hintergrund einer bestimmten Welt- und
Wertesicht. So lässt sich z.B. durchaus eine Sozialisation und geistige Erziehung denken,
welche in der Vergänglichkeit als unvermeidlichen Aspekt alles Natürlichen gerade keinen
Mangel erblickt, sondern diese Vergänglichkeit nicht nur neutral hinnimmt, sondern in ihr
vielleicht sogar erst die Möglichkeit für Freiheit, Schönheit und Erfüllung erblickt. Aber auch
ohne eine solche Wendung um 180 Grad, welche natürlich ihrerseits auch wieder nicht ohne
die grundsätzliche Zustimmung zu bestimmten metaphysischen Ansichten auskommt, bleibt
auf streng formaler Ebene der Umstand bestehen: Vergänglichkeit ist beobachtbar und
erfahrbar; die grundsätzliche Beurteilung von Vergänglichkeit als Leid-induzierend bzw.
Mangel ist hingegen eine Bewertung, welche im Umstand der Vergänglichkeit selbst nicht
enthalten ist (sondern nur unter der zusätzlichen Voraussetzung möglich ist, dass der
Mensch sich nach dem Unvergänglichen sehnt).
Der zweite Einwand richtet sich gegen die Universalität von dukkha und der Bedeutung,
welches es im dogmatisch-buddhistischen Lehrgebäude einnimmt. Vermutlich wird niemand
die Aussage anzweifeln, dass das menschliche Leben auch Leiden bzw. leidvolle Erfahrungen
mit sich bringt. Konkrete Beispiele für solche Leiden sind in der ersten der Vier Edlen
Wahrheiten angeführt: „Geburt, Altern und Sterben; das Nicht-Erlangen dessen, was man
begehrt“ etc. Ohne hier eine spezielle Kritik an den einzelnen Punkten anzuführen, welche ja
in dieser abstrakten Form auch erst noch mit Inhalt gefüllt werden müssen (d.h. was genau
ist mit Geburt gemeint, und welches damit verbundene Leiden etc.), lässt sich die
Verbindung der genannten Punkte mit Leid oder schmerzhaften Erfahrungen doch zunächst
einmal gut nachvollziehen (die „fünf Gruppen des Daseins“ stehen hier als Gesamt dessen,
was die menschliche Person ausmacht). Der entscheidende Punkt dabei ist jedoch, in
welchem Umfang jeder der hier angeführten Aspekte als Leiden bzw. Mangel zu verstehen
ist, bzw. in der Realität so empfunden wird. Wenn beispielsweise körperliche Gebrechen als
Leiden auf der Grundlage des Alterns angeführt werden (Visuddhi-magga), so ist dies
sicherlich häufig zutreffend. Doch ist ebenso unzweifelhaft nicht jeder Moment in jedem
Augenblick alter Menschen durch ein solches Leiden geprägt. Und ebenso verhält es sich mit
allen anderen Leid-inhärenten Aspekten auch: sie alle sind zwar potentiell immer vorhanden,
aber nicht aktuell. D.h. auf theoretische Ebene ist es zwar möglich, alle angeführten
Phänomene des Daseins als mit Leid verbunden zu betrachten; auf praktischer Ebene ist dies
jedoch nicht zutreffend. Dazu kommt als zweites die Frage des Umgangs mit eindeutig nichtleidvollen Momenten und Phänomenen. Sicherlich sind manche kurzfristig Vergnügen
bereitenden Beschäftigungen ein Auslöser für daran anknüpfendes Leid (Freude beim
Glücksspiel schlägt um in Ärger über den Verlust und Sorgen aufgrund von Geldnot, Kater
infolge zu viel Alkoholkonsums, Übelsein aufgrund von Völlerei etc.). Wie aber steht es z.B.
mit einem anregenden Gespräch mit einem Freund, einem guten Essen, der Freude beim
Anblick einer schönen Landschaft, der Zuneigung für einen anderen Menschen etc. Sicherlich
sind diese Momente oder Zeiten begrenzt; aber sind sie in irgendeiner Weise mit Leid zu
verknüpfen? Eine solche Wahrnehmung kann nur durch eine gezielte Uminterpretation und
geistige Umorientierung erfolgen, welche zwar möglich, aber keinesfalls notwendig ist.
Daran an schließt sich auch der dritte Einwand, die Frage nach der „Erlösung“ und dem Weg
dahin (bzw. dem Mittel zu ihrer Verwirklichung). Die klassische Sichtweise der Vier Edlen
Wahrheiten postuliert dabei zunächst das Begehren (den Durst, das Anhaften) als Ursache
für das Leiden (Zweite Edle Wahrheit), um dann das Ziel zu bestimmen, d.i. das Ende des
Leidens bzw. nibbana (Dritte Edle Wahrheit). Die Vierte Edle Wahrheit bestimmt in Form des
Achtfachen Pfads den Weg zum Ziel. Der Achtfache Pfad stellt dabei eine Kombination von
Reflexion (Pfadglieder 6-8) und Handeln (Pfadglieder 3-5) bezogen auf die Wahrheit vom
Leiden und dem Streben nach Erlösung (Pfadglieder 1-2) dar. So bestechend klar strukturiert
dieses Konzept von Leid und Erlösung auch ist, sind auch hier wieder andere Wege denkbar.
Aus philosophischer Sicht wäre hier an erster Stelle an die Lehren der Stoa zu denken,
welche mit ihrem Anraten, das Unvermeidliche zu akzeptieren, und das was veränderbar ist
zu ändern, eine wie mir scheint gleichwertige Lösung für die existenzielle Situation des
Menschen anbieten. Aber auch die christliche Ergebung in Not und Leiden, wie sie schon seit
früher Zeit zunächst von den Mönchsvätern gelehrt und dann zu einem wichtigen Teil des
christlich-aszetischen Selbstverständnisses geworden ist, stellt eine adäquate Antwort auf
die niemals ganz befriedigende Wirklichkeit des menschlichen Daseins dar. Im Unterschied
zu einer solchen Akzeptanz von Leiden kann die Aussicht auf eine völlige Befreiung vom
Leiden hingegen durchaus kontraproduktiv wirken, da sie selbst wieder Gegenstand des
Begehrens und Anhaftens wird (und somit selber Leid induziert).
Die bisherigen Ausführungen haben schon gezeigt, dass die Universalität von dukkha und der
Umgang damit keineswegs so eindeutig sind, wie es der dogmatische Buddhismus versichern
will. Ergänzend sollen nun noch einige weitere Überlegungen angestellt werden: Eine
wichtige Problematik, welche in den bisherigen Ausführungen bereits angeklungen war, ist
der Wunsch nach der totalen Leidbefreiung im Gegensatz zur Akzeptanz eines auch mit
Leiden verbundenen Daseins. Dieser Anspruch auf Endgültigkeit im dogmatischen
Buddhismus ist nur verständlich aufgrund der Annahme, dass der physische Tod nicht
automatisch das Ende des Leidens einer Person darstellt, sondern diese Person in
irgendeiner Art und Weise fortwirkt, und somit erneut dem Leiden unterworfen ist. Über die
Schwierigkeiten einer solchen Sichtweise wird im Abschnitt zur „Wiedergeburt“ extra
eingegangen. Davon abgesehen bietet gerade die buddhistische Tradition selbst noch eine
Deutung an, welches ihre Lehre und Universalität grundsätzlich relativiert: So heißt es
nämlich in Analogie zur Medizin, dass dukkha die Krankheit sei, der Buddha der Arzt, die
Lehre (dharma) die Arznei, und die Gemeinschaft der Praktizierenden (sangha) die
Krankenschwester. So schön dieses Bild ist, zeigt es ungewollt doch auch die immanenten
Grenzen des so Dargestellten auf: Denn wie jeder Mediziner zustimmen wird, sind gerade
stark wirksame Arzneien auf einen bestimmten Anwendungsbereich beschränkt. Eine Arznei
ohne große Wirkung kann hingegen problemlos bei jeder Verfassung eingenommen werden.
Das buddhistische dukkha ist nun eine besonders gravierende Form von Leid-UnterworfenSein, als deren Heilmittel einzig der Buddha-Dharma angemessen ist. Und sicherlich gibt es
Menschen, die in so gravierender Form am Dasein leiden, dass eine buddhistische Therapie
sinnvoll und notwendig sein mag. Die Behauptung jedoch, dass alle Menschen aufgrund
einer quasi-Naturgesetzlichkeit („Ob, ihr Mönche, Vollendete in der Welt erstehen oder ob
sie nicht erstehen:...“) von dieser Krankheit betroffen sind ist ein Anspruch, der weder
logisch beweisbar noch argumentativ durchsetzbar ist. Anstelle also alle Menschen für
schwerkrank zu erklären, wäre es dann aber nur angemessen, allein diejenigen Menschen als
„Patienten“ einer buddhistischen Therapie zu bestimmen, bei denen andere Therapien nicht
ausreichen oder keine Wirkung gezeigt haben.
Ich schließe die Ausführungen zu dukkha an dieser Stelle, obwohl noch viele weitere feine
Differenzierungen möglich sind und zum Teil auch nötig wären; z.B. die körperlichen Leiden
betreffend, von denen auch Buddhas und Heilige (arhat) nicht frei sind; die Frage nach dem
alleinigen oder doppelten Ursprung des Leidens (Unwissenheit und/oder Begehren); die
Verknüpfung von Leiden und Handeln (karma); die Frage wann und wie Leiden überhaupt als
solche wahrgenommen werden, und welche Unterschiede es dabei gibt; etc. Es sollte jedoch
ausreichend deutlich geworden sein, dass dukkha als theoretisches Konzept keineswegs
voraussetzungs- und widerspruchsfrei ausgearbeitet ist, sondern bei einem ergebnisoffenen
und unvoreingenommenen Nachdenken darüber viele Fragen ungeklärt bleiben.
1.3 Nicht-Selbst
Das dritte Merkmal trägt die Bezeichnung anatta; als Übersetzungsmöglichkeiten gibt das
Buddhistische Wörterbuch „Nicht-Selbst“, „Nicht-Ich“ oder „Unpersönlichkeit“. Die kurze
Aussage aus dem Dhammapada lautet dazu:
„Alle Objekte sind Nicht-Selbst (sabbe dhamma anatta).“
Die Unpersönlichkeit aller Objekte ist eine direkte Folge der Vergänglichkeit, und bildet quasi
deren Zuspitzung. Während die Leidhaftigkeit des Daseins und der daraus resultierende
Wunsch nach Befreiung ein gemeinsames Kennzeichen praktisch aller indischen Religiosität
ist, stand die Lehre von der Unpersönlichkeit von Beginn an im Zentrum der inner- und
außerbuddhistischen Diskussion und Kritik. Auf die Welt bezogen wird sie später zur vollen
Entfaltung im Konzept der „Leerheit“ oder Substanzlosigkeit (sunyata) gelangen, während
sie auf den Menschen bezogen die Leugnung eines unvergänglichen Kerns, gemeinhin als
„Seele“ oder atman bezeichnet, darstellt. Es sollte dabei durchaus erlaubt sein zu fragen, ob
diese radikale Position nicht eher als Alleinstellungsmerkmal zur Verkündigung der Lehre
gedient haben mag, denn eine konsequent durchdachte Position darzustellen. Schon hier
sein darauf hingewiesen, dass die Vergänglichkeit kein ausreichender Beweis für die
Selbstlosigkeit sein kann, wenn die Vergänglichkeit selbst nicht zweifelsfrei bewiesen ist (und
was, wie oben dargelegt, nicht der Fall ist).
Auf begrifflicher Ebene sind mit dem anatta-Konzept einige gewichtige Probleme
verbunden: Ganz grundsätzlich ist zunächst einmal keineswegs klar, was überhaupt mit dem
Ausgangspunkt der anatta-Lehre gemeint, d.h. dem atman bzw. der Seele. Die Seele als
metaphysisches Konzept ist alles andere als übereinstimmend gedacht und beschrieben; so
dass eine Zurückweisung oder Leugnung von Etwas, was selbst nicht eindeutig ist, auch nicht
eindeutig sein kann.
Ein weiteres Problem ist die Frage, wie überhaupt die Nicht-Existenz von Etwas bewiesen
werden kann. Zur Veranschaulichung, wie traditionell versucht wird den Nachweis von der
Nicht-Existenz der Seele zu führen, kann folgendes Beispiel dienen: Man stelle sich ein
großes Haus vor (= die Welt, der Mensch, die fünf skandha). Die Frage lautet nun: Befindet
sich in diesem Haus eine Schlange (= Seele, Selbst)? Nachdem man sich darüber verständigt
hat, was eine Schlange ausmacht (Unvergänglichkeit, Existenz aus sich selbst heraus), begibt
man sich also auf die Suche nach einer solchen in dem Haus. Wenn dann dort keine Schlange
gefunden wird (oder ihre Existenz mit den vorherrschenden Bedingungen unvereinbar ist),
gilt es als erwiesen, dass es dort keine Schlange gibt. Gegen ein solches Vorgehen lassen sich
jedoch durchaus Einwände vorbringen: a) Es besteht von vornherein eine falsche oder
unvollständige Kenntnis darüber, was eine Schlange ist. b) Die Suche war unzureichend; d.h.
es wurde nicht gründlich genug gesucht. So könnten in dem Haus allerlei Gegenstände
(mentale Voreingenommenheiten) als Verstecke dienen, vielleicht war das Licht nicht hell
genug (mangelnde Geisteskraft und Ausdauer), die nötigen Werkzeuge wie z.B.
Röntgengeräte, Mikroskop etc. waren nicht vorhanden (Untersuchungsmethoden); oder die
Schlange hat sich ganz einfach immer dort aufgehalten, wo gerade nicht gesucht wurde. Es
zeigt sich, dass ein solches Vorgehen niemals hundertprozentige Gewissheit liefern kann;
oder anders gesagt: der empirische Beweis einer Nicht-Existenz von Etwas ist nicht möglich –
denn man kann ja schlecht etwas vorzeigen, was nicht vorhanden ist. Und umgekehrt lässt
sich aus dem Nicht-Vorzeigen-Können von Etwas nicht auf dessen Nicht-Existenz schließen.
Als Alternative bieten sich lediglich zwei Syllogismen an. Da deren Gültigkeit jedoch
wiederum keine Aussage über die Wahrheit der Prämissen macht, ist ihr Nutzen ebenfalls
begrenzt. Syllogismus a) lautet: „Alles was existiert, ist vergänglich. Was vergänglich ist, ist
Nicht-Ich (keine Seele). Daraus folgt: Alles was existiert ist Nicht-Ich.“ Formal wäre dies ein
gültiger Schluss der Form: Alle a sind b. Alle b sind c. Alle a sind c. Syllogismus b) lautet:
„Alles Existierende ist der Vergänglichkeit unterworfen. Die Seele ist nicht-vergänglich. Die
Seele ist nicht-existent.“ Dies wäre ein ebenfalls gültiger Schluss der Form: Alle a sind b. C ist
nicht-b. C ist nicht-a. Inhaltlich stehen und fallen diese beiden Syllogismen mit der Wahrheit
ihrer Prämissen, also einmal mit der Behauptung der Vergänglichkeit alles Gestalteten bzw.
Existierenden, welche aber wie oben gezeigt zwar weitreichend, aber nicht umfassend ist
(bzw. als umfassend bewiesen ist); sowie der Definition des Begriffs „Seele“. In Anlehnung an
den Syllogismus a) sei jedoch noch auf eine spezielle Abwandlung hingewiesen: „Alles was
vergänglich ist, ist nicht das Ich. Das Nibbana ist nicht-Vergänglich. Das Nibbana ist das Ich.“
Hier haben wir eine Schlussform, welche exakt mit der im Vedanta postulierten Identität von
Brahma und Atman korrespondiert; und tatsächlich gab es sowohl im frühen Buddhismus
(pudgalavadin), als auch in der europäischen Rezeption (Georg Grimm) solche Sichtweisen
der Existenz eines undefinierbaren, transzendenten Ich.
2. Die Frage der Wiedergeburt
Die Frage der Wiedergeburt hängt direkt mit der These vom Nicht-Selbst zusammen. Dabei
wurde schon erwähnt, dass die anatta-Lehre (bzw. ihre korrekte Bedeutung) von jeher stark
umstritten war; die dabei aufgeworfenen Probleme entfalten ihre volle Tragweite jedoch
erst bei der Behandlung der Wiedergeburts-Frage. Die traditionelle Position der nichtbuddhistischen Orthodoxie kann dabei kurz so formuliert werden: Jeder Mensch besitzt
einen unvergänglichen, transzendenten Kern; seine „Seele“, „Selbst“ oder atman. Dieser
atman wandert beim Tod des Körpers in einen neuen physischen Körper, den er „anlegt wie
ein neues Gewand“. Was für ein „Gewand“ angelegt wird – d.h. ein menschliches, tierisches
etc., und in welcher Umgebung – wird dabei durch die über den Tod hinaus wirkende Kraft
des karma, d.h. der „Richtungskraft des Handelns“ bestimmt. Diese zunächst einfach
klingende Theorie ist für den orthodoxen Theravada-Buddhismus jedoch nicht akzeptabel, da
ja gerade die Existenz eines solchen Selbst oder atman, welches sich stets aufs Neue
verkörpert, abgelehnt wird. Im Folgenden werde ich anhand von fünf Fragen u.a.
Schwachstellen der klassischen Wiedergeburtstheorie aufzeigen, und dabei auch auf das
Paradoxon
der
vermeintlichen
buddhistischen
Lösung,
der
„Wiedergeburt
ohne
Wiedergeborenen“ eingehen.
2.1 Wie kann man auf die Idee der Wiedergeburt kommen?
Dieser Frage liegt die Frage zugrunde, wie Menschen überhaupt erst einmal auf die
Annahme von der Existenz einer Seele oder dergleichen gekommen sein könnten;
unabhängig davon, ob diese dann eine Vielzahl von Leben im Daseinskreislauf erfährt, oder
nach einem einmaligen Dasein in ein irgendwie gearteten Himmel, Paradies, Unterwelt oder
Hölle eingeht. Als Erklärungsversuche kennt die Religionswissenschaft oder Anthropologie
u.a. die Erfahrung des Traums, in welchem sich der Mensch vermeintlich als „körperlos“ bzw.
nicht an seinen üblichen Körper gebunden erlebt. Ein anderer Ansatz verknüpft den
Todesmoment mit dem zeitgleichen Auftreten natürlicher Phänomene, z.B. dem
Davonhuschen eines Vogels oder einer Spinne, welche dann als „Seelentier“ gedeutet
werden (d.h. als sichtbare Erscheinung der Seele des Verstorbenen). Davon abgesehen gibt
es eine große Vielzahl von Vorstellungen darüber, aus wie vielen unkörperlichen Aspekten
oder Seelenanteilen der Mensch besteht, ob diese vergänglich sind oder nicht, ob Tiere und
Pflanzen ebenfalls eine Seele besitzen etc. Ob neben den oben genannten beiden
Erfahrungen (Traum und Todesmoment-Phänomene) sowie Geister- und sonstigen
Erscheinungen der Wunsch nach Fortbestand die zentrale Motivation für jeglichen
Seelenglauben darstellt, sei dahingestellt.
2.2 Was könnte die Wiedergeburt erklären?
Von den relativ dunklen Ursprüngen einer Seelenvorstellung abgesehen ist nun die nächste
Frage, welche Phänomene und Erfahrungen der Erfahrungen der menschlichen Lebenswelt
sich mit der Konzeption einer Wiedergeburt erklären lassen könnten. Als eingängigste
Antwort bietet sich hier eine Lösung für das „Vergeltungs-Dilemma“ an: das karmische
Gesetz, welches als universelles Weltgesetz das indische religiös-philosophische Denken
weitgehend beherrscht, geht von dem einfachen Grundsatz aus: wer Gutes tut, dem
widerfährt Gutes; wer Böses tut, dem widerfährt Böses. Dieses Prinzip bildet einerseits einen
leicht verstehbaren Orientierungspunkt für das Handeln des Menschen; v.a. aber kann es in
unbegrenzter Weise auf alle eigenen und fremden Erlebnisse angewendet werden: begegne
ich anderen Menschen z.B. freundlich, und wird mir freundlich begegnet, bestätigt dies seine
Gültigkeit. Und wenn mir andere einmal nicht freundlich begegnen, kann dies immer als
verspätete Auswirkung einer früheren, eigenen Unfreundlichkeit gedeutet werden. Darüber
hinaus bietet es im Zusammenhang mit der Wiedergeburt aber auch ein Antwort auf die
bohrende Frage, wie es sein kann, dass „böse Menschen ein „Gutes“ (langes, gesundes oder
dergleichen) Leben führen, und andererseits guten Menschen Böses widerfährt“. Diese
Frage, welche im Christentum auf Gott „abgewälzt“ zur Theodizee-Frage wird, erfährt so
eine elegante wenn auch nicht unproblematische Lösung.
2.3 Wie wird versucht Wiedergeburt zu beweisen?
Gemeinsam mit der grundsätzlichen Vorstellung einer den Tod überdauernden Entität und
der dadurch ermöglichten Erklärungen für bestimmte lebensweltliche Ereignisse und Fragen,
werden als „Beweis“ für die Wiedergeburt in erster Linie sogenannte „Erinnerungen“ an
frühere Leben oder Kenntnisse, Fertigkeiten oder Verhaltensweisen angeführt (z.B.
Sprachkenntnisse), welche bei der betreffenden Person (z.B. ein Kind) auf andere Weise
nicht erklärbar scheinen. Ein anderer Erklärungsansatz rekurriert auf die sogenannten
„Nahtod-Erlebnisse“ als Beleg für ein Weiterleben des Geistes nach dem physischen Tod. Auf
die Überzeugungskraft oder Fragwürdigkeit solcher Bestätigungen soll hier nicht weiter
eingegangen werden, da das eigentliche Hauptargument gegen eine Wiedergeburt meines
Erachtens nach nicht in der Frage der Gültigkeit eines Beweises oder Unvereinbarkeit mit
dem
vorherrschenden
physikalischen
Weltbild
liegt,
sondern
vielmehr
in
der
epistemologischen Unmöglichkeit bzw. Widersprüchlichkeit einer konsequent zu Ende
gedachten Annahme mehrerer Leben.
2.4 Wie wird Wiedergeburt im Buddhismus vorgestellt?
Zu Beginn dieses Kapitels wurde bereits die klassische Konzeption der WiedergeburtsTheorie vorgestellt und darauf hingewiesen, dass diese für den Theravada-Buddhismus
aufgrund seiner Ablehnung einer Selbstheit bzw. Seele jedoch nicht in Frage kommt. Mit
dieser Zurückweisung eines substantiellen Kerns bei gleichzeitiger Akzeptanz der
Wiedergeburt ergibt sich jedoch die große Frage und Problematik: Wer oder was wird dann
wiedergeboren, und wie kann dieses Wiedergeboren-Werden gedacht werden? (In gewisser
Weise umgehen spätere Formen v.a. des tibetischen Buddhismus diese Problematik, indem
sie ein „subtilstes Bewusstsein“ annehmen, welches als Träger der karmischen Wirkungen
über zwei Existenzen hinaus fungiert. Damit ist jedoch eine deutliche Abkehr von der
Hinayana-Theravada-Konzeption gegeben.) Die Antwort auf die obigen Fragen, wie eine
Wiedergeburt ohne atman gedacht werden kann, erfolgen in den Lehrreden dabei auf wenig
überzeugende Weise in erster Linie durch Ausschluss; d.h. es werden sowohl die gänzliche
Identität des Neu-Erscheinenden Wesens mit dem alten („Ewigkeitsglaube“) ebenso wie die
völlige Unabhängigkeit der neuen Existenz von der alten („Vernichtungsglaube“)
zurückgewiesen. Stellenweise wird dabei noch auf das Entstehen in Abhängigkeit verwiesen;
auf die Nicht-Eignung solcher Fragen zur diskursiven Betrachtung; oder auf die
Unterscheidung zwischen konventioneller und absoluter Ebene. Die Unzulänglichkeit all
dieser Versuche zeigt sich nicht zuletzt daran, dass a) der pragmatische Umgang mit dieser
Frage im Volksbuddhismus keinen wesentlichen Unterschied zur klassischen atman-Lehre
aufweist; und b) auch die inner- und außerbuddhistische Gelehrtentradition keinerlei
Einigkeit hierbei hat erzielen können. Insofern bleibt der Satz „Nicht derselbe ist es der
wiedergeboren wird, und auch kein anderer.“ einem rationalen Zugang verschlossen, und
muss viel mehr als ein Glaubensparadigma verstanden werden, welches zu erhellen die
fortschreitende Praxis verspricht (und so im Zweifel immer der Ausweg offensteht, eine
vermeintlich mangelhafte, aber ja nicht messbar-standardisierte Praxis vorzuschieben).
2.5 Probleme der Annahme einer Wiedergeburt
Zum Abschluss soll versucht werden zu zeigen, welche plausiblen Argumentationen gegen
die Annahme einer Wiedergeburt sprechen. Da unabhängig von der Annahme, ob diese
durch eine bleibende Seele oder anderweitig erfolgt ist, sich eine Unmenge von Aussagen
der Art „ich erkannte, einst war ich die oder der“ in Texten praktisch der gesamten
buddhistischen Tradition finden, wird hier von einer einheitlichen Position ausgegangen, wie
Wiedergeburt vorgeblich empfunden bzw. beschrieben wird.
Der erste Einwand richtet sich gegen die grundsätzliche Annahme eines transzendenten und
substantiellen Ich, welches als individueller „Wesenskern“ jedes Menschen ausgemacht
wird. Tatsächlich ist es doch vielmehr so, dass die Ich-Identität einerseits in Abhängigkeit von
der körperlichen und geistigen Entwicklung stattfindet (und vor einem gewissen Zeitpunkt
gar keine solche Ich-Identität vorhanden, oder wenigstens nicht mitteilbar ist); sowie
andererseits in Abhängigkeit von der jeweiligen Sozialisation (Erziehung, Umfeld etc.). Das
bedeutet aber erstens, dass zwar eine gewisse Kontinuität des Ich-Empfindens vorhanden
ist; dieses aber bei genauerer Prüfung nie eine echte Identität darstellt (X im Alter von 20
Jahren empfindet sich zwar immer noch als X, jedoch nicht als X im Alter von 10 Jahren
usw.). Zweitens aber ist die Herausbildung und Veränderung der Ich-Identität immer an die
genetisch mitbestimmte körperliche Basis gebunden. Das transzendentale Ich ist lediglich
aus diesen beiden Grundlagen abgeleitet; und mit dem Ende der körperlichen Grundlage
endet auch die Möglichkeit, die empfundene Ich-Kontinuität aufrechtzuerhalten. Soweit ist
also der Theorie des Buddhismus einerseits zuzustimmen, dass es keinerlei dauerhaftes oder
aus sich selbst heraus existierendes „Ich“ gibt. Andererseits ist durch die Bindung an die
körperliche Basis dadurch die Möglichkeit ausgeschlossen, dass auch nur eine vermeintliche
Identität über das Ende des Körpers hinaus erhalten bleibt. Denn es ist offensichtlich, dass
eine neu ausgebildete Ich-Identität neben den neuen äußeren Faktoren wie Umwelt und
Erziehung auch eine vollständig neue körperliche Entwicklung miteinschließt, auf welcher
sich das „Ich“ entwickelt und auf welche es sich „bezieht“. (Tatsächlich gilt dies für jeden
Augenblick unseres Daseins. „Ich“ im Moment z ist nie identisch mit „Ich“ einen Moment vor
z und einen Moment nach z. „Ich“ ist also zwangsläufig stets singulär und einmalig. Jede
Verknüpfung eines Ich-1 des Zeitpunkt z-1 mit einem Ich-2 des Zeitpunkt z-2 ist also lediglich
eine vermeintliche Identität, basierend auf der Kontinuität der körperlichen Grundlage.)
Ein zweiter Einwand liegt in der Unmöglichkeit der Aussage „ich erkannte, einst war ich die
oder der“, welche im Buddhismus ebenso wie in der Moderne als Paradebeispiel des
Empfindens einer Reinkarnation gelten kann. Rein formal betrachtet kann man diese
Aussage umformulieren in: „Ich bin nicht-Ich.“ (x = -x) Diese Aussage ist jedoch trivial oder
sinnlos; d.h. sie sagt nichts aus (entweder ist alles/jeder „Ich“, oder nichts/niemand ist
„Ich“). Die Unmöglichkeit einer solchen „Doppel-Identität“ kann aber auch hermeneutisch
nachvollzogen werden. Im Grunde genommen handelt es sich dabei um nichts anderes, als
die Geschehnisse auf einem Maskenball oder Kostümfest. Egal wie sehr wir uns auch als eine
andere Person verkleiden; oder, in weiterführenden Szenarien (LARP, Deckidentitäten etc.)
uns vielleicht momentweise oder länger sogar als diese fühlen: in jedem gegebenen
Zeitpunkt können wir natürlicherweise nur eine „Identität“ sein. Beruflich oder spielerisch
kann es Bewusstseinsmomente geben, in denen die „übliche“ Identität durch eine andere
Identität ersetzt ist; und auch im normalen Dasein gibt es natürlich eine Spannbreite dessen,
wie sehr sich die Identitäten momentaner Ichs decken; eine anhaltende, weitreichende
Diversität des Identitäts-Empfindens führt dagegen in den Bereich, wo psychologische,
psychiatrische und/oder therapeutische Beratung und ggfs. Behandlung stattfindet.
Abschließend soll noch kurz auf zwei in diesem Zusammenhang ebenfalls zu diskutierende
Konzepten eingegangen werden, nämlich a) „Wachträume“ und b) „außerkörperliche
Erfahrungen“. „Wachträume“ stellen insofern eine logische Unmöglichkeit dar, als bei ihnen
ebenfalls eine doppelte Bewusstheit unterstellt wird. Das Traum-Ich von Person X, welches
sich als identisch mit Person X empfindet, ist ja notwendigerweise nicht mit diesem
identisch, da Person X schläft – was ja vom Traum-Ich bestätigt wird. Das aber bedeutet,
dass X sagt, es schläft und sei wach zugleich, was nicht nur unmöglich, sondern auch
unsinnig ist. Die gleiche Verwechselung von Vorstellung und Realität liegt den
„außerkörperlichen Erfahrungen“ (out-of-body-experiences) zugrunde. Hier wie dort wird
nicht nur die Abhängigkeit der Vorstellung von der körperlichen Basis übersehen. Wenn
Person X meint, sich als identisch aber körperlos erfahren zu haben, widerspricht sie sich
damit erneut selbst; aber in einem größeren Umfang: nicht nur ist, wie wir gesehen haben,
jede Aussage einer Identität von sich auf zwei verschiedene Zustände beziehenden „IchEmpfindungen“ unmöglich (da es keine zwei identischen Zustände gibt); sondern darüber
hinaus liegt hier noch eine neue Dimension der Fehleinschätzung vor, insofern als von der
einzige erfahrenen und überhaupt erfahrbaren Identität, nämlich einer körperlichen, auf
eine nicht-körperliche extrapoliert wird.
3. Eine alternative Annäherung
Viele der oben kritisch beleuchteten Aspekte haben ihre Ursache in einer meines Erachtens
nach völlig verkehrten Art und Weise, wie wir uns dem Buddhismus für gewöhnlich nähern.
Dabei gehen wir für den Theravada-Buddhismus von einem etablierten Lehrsystem aus,
dessen Lehrgrundlage der Pali-Kanon bildet. Extrem problematisch ist dabei nun nicht erst
die Frage, inwieweit der Pali-Kanon die Worte des historischen Buddha wiedergibt; oder
aufgrund welcher Faktoren der Theravada-Buddhismus sich gegenüber den anderen frühen
Schulrichtungen des Buddhismus durchgesetzt hat (und inwieweit dies eventuell für seine
„Überlegenheit“ oder „höhere Authentizität“ spricht) – das eigentliche Problem ist viel
grundsätzlicher: Der Lebensgeschichte des historischen Buddha, der historisch fundierten
ebenso wie der idealisierten, können wir entnehmen, dass der Buddha nach seinem
„Erwachen“ und seinem Entschluss, die Lehre zu verkünden, für viele Jahre wandernd
umhergezogen ist. Dabei hat er eine Menge unterschiedlichster Personen unterrichtet:
Aristokraten, Gelehrte, Asketen, Priester, Kaufleute, „einfache“ Menschen usw. Ein Teil
seiner Anhänger ist mit ihm umhergezogen, ein Teil hat sich an einem Ort niedergelassen
und ganz der Lehre gewidmet, und wieder ein Teil hat sein früheres Leben weitergeführt.
Viele der Sutten erwähnen zu Beginn den Anlass, die Gelegenheit und die Namen der
Anwesenden. Ganz offensichtlich war also die mündliche einmalige Belehrung die gängigste
Form der Unterweisung. Und da es immer wieder unterschiedliche Zuhörer gab, hat der
Buddha auch immer wieder aufs Neue, und unter Einbeziehung neuer Begriffe und
Begriffsreihen darzulegen versucht, was ihm im jeweils konkreten Fall als beste Hilfe zur
Selbsthilfe schien. Das aber muss für den heutigen Menschen und an der Lehre des Buddha
bzw. des Buddhismus Interessierten bedeuten, dass nicht das Studium des systematisierten
Theravada-Buddhismus mit seiner Vielzahl von Begriffen und Begriffsreihen einen
authentischen Nachvollzug ermöglichen kann. Stattdessen gilt es vielmehr, sich mit einigen
wenigen Konzepten oder Lehrreden (seien es lange, seien es kurze) vertraut zu machen,
diese dann anhalten zu durchdenken, sowie theoretische und praktische Konsequenzen
daraus zu ziehen. Die Anwendung und Auswirkung des Gehörten auf den eigenen
Lebensvollzug ist dabei von weitaus größerer Bedeutung, als die vermeintlich endgültige
Klärung von Begriffen und Konzepten. Eine a-historische (bezogen nicht auf die Geschichte
des Buddhismus, sondern auf das Leben des Buddha) Betrachtungs- und Herangehensweise
hingegen widerspricht nicht nur den überlieferten Umständen, wie Belehrung stattgefunden
hat, sondern birgt auch hermeneutische Widersprüche in sich. Denn wenn der Zuwachs an
Begriffen und Konzepten nicht in erster Linie eine Folge der andauernden Lehrtätigkeit vor
verschiedenen Personen ist, und daher eine inhaltliche Abgestimmtheit aller Verwendungen
dieser Begriffe und Konzepte zu allen früheren (und späteren) Belehrungen gar nicht
intendiert (oder vorstellbar) ist, dann ist die spätere Aufeinander-Beziehung und
Systematisierung zwar reizvoll, zweigt jedoch von der ursprünglichen Methodik des
Buddhismus als Heilsweg fatal ab. Die inhaltlichen Widersprüche und Probleme, welche sich
bei dem Versuch ergeben, alle Begriffe und Konzepte aus den Lehrreden in einen
kohärenten Zusammenhang zu bringen, wurden freilich schon früh erkannt. Die gängige
Antwort lautet dabei, dass der Buddha aus pädagogischen Zwecken seine unterschiedlichen
Zuhörer unterschiedlich belehrt habe. Dieses grundsätzlich bestimmt zutreffende Argument
verliert jedoch seinen wirklichen Sinn, wenn man es bewusst oder unbewusst mit der
Glaubensannahme koppelt, dass der historische Buddha „der vollkommen Erwachte“ oder
dergleichen war; d.h. wenn man ihn als eine Erlöser- oder Messias-Gestalt ansieht, welche
per Definitionem unfehlbar ist (wenngleich man natürlich selbst keinerlei Möglichkeit hat,
ein solches vollkommenes Erwachen zu „überprüfen“; noch eigentlich zu verstehen, was
genau damit gemeint sein soll und welche Konsequenzen es hat). Dann nämlich ist es dem
Einzelnen nicht mehr möglich, die Lehre frei auf sich zu beziehen und in passender Weise auf
sein Leben anzuwenden; stattdessen muss er nun sich und sein gesamtes Leben auf der
Grundlage und mittels der Begrifflichkeiten der überlieferten Tradition versuchen zu
verstehen (und darauf zu verkürzen). Dabei wird aber nicht nur der schon angesprochene
historische Vorgang, wie die Belehrungen stattgefunden und weitergewirkt haben ignoriert;
sondern es tauchen aufgrund der neuen und veränderten historischen, sozialen, kulturellen
und individuellen Gegebenheiten auch immer neue Fragestellungen auf, deren Lösung mit
den überlieferten Antworten und Kommentaren aber oftmals unbefriedigend und unmöglich
ist, ja sein muss. Aber wie könnte eine solche Abgeschlossenheit und Festschreibung von
Ideen und Konzepten über den Menschen und sein Dasein jemals zu einer nachhaltigen
Befreiung von dem sich auf so vielfältige Weise äußernden Leiden führen, welche doch
eigentlich das Ziel der Beschäftigung mit den Lehren des Buddhismus sein sollte (und nach
der Selbstaussage des Buddha – siehe ... – auch ist)? Dass eine solche Verzerrung und
Fehldeutung einer ursprünglich zum Wohle der Menschen erfolgten Verkündigung ihre
frappante Parallele im institutionalisierten Christentum besitzt, sei hier nur am Rande
erwähnt. Aber hier wie dort ist es nichtsdestotrotz auch weiterhin jederzeit möglich, einen
neuen Weg einzuschlagen, welcher eigentlich der alte Weg ist: weg von Bevormundung und
Verabsolutierung hin zu einem selbstständigen und offenen Umgang mit den überlieferten
Inhalten. Bezüglich des Buddhismus besteht dieser Umgang wie oben erwähnt darin, wenige
Begriffe und Lehrreden intensiv auf sein eigenes Dasein zu beziehen. Ergänzend dazu scheint
mir als zweites die Einbeziehung der gesamten Lebensgeschichte des historischen Buddha
als ein wichtiger Aspekt, um zu einen angemesseneren Verständnis davon zu gelangen, was
der Buddhismus zum Leben des spirituell suchenden oder sich nach Befreiung sehnenden
Menschen beitragen kann:
4. Die Lebensgeschichte des Buddha als Heldenreise
Die Lebensgeschichte des historischen Buddha sowie deren idealisierte Ausschmückung
kann einen bedeutsamen Beitrag dazu leisten, einen persönlichen Zugang zu zentralen
Konzepten des Buddhismus zu erlangen. Traditionell wird diese Lebensgeschichte dabei in
zwölf Abschnitte eingeteilt, welche zusammen den archetypischen Verlauf eines „Helden“
widerspiegeln. Im Folgenden möchte ich diese Stufen zunächst kurz angeben, und dann
einige Stellen erläutern sowie in eine undogmatische Sprache übertragen.
Am Beginn steht 1) „Mayas Traum und Empfängnis“, d.h. die wundersame Empfängnis durch
einen weißen Elefanten im Schlaf. Daran an schließt die 2) Geburt des jungen Prinzen,
welche von allerlei wundersamen Erscheinungen begleitet wird. Es folgt die 3) weltliche
Ausbildung des Prinzen im väterlichen Palast, sowie 4) das Leben mitsamt Frau und Kindern.
Einen ersten Wendepunkt stellen 5) die vier Ausfahrten dar, auf welche 6) der Auszug aus
dem Palast (die „Weltflucht“) sowie 7) erste Bemühungen um Befreiung („Askese“) folgen.
An dieser Stelle ereignet sich die zweite wichtige Wende, hin zum „Mittleren Weg“ zwischen
Weltverneinung und Weltbejahung, welche in 8) der Erleuchtung kulminiert. Direkt zum
Prozess der Erleuchtung gehörig ist noch 9) die Versuchung durch Mara; es folgt der dritte
Wendepunkt und 10) der Entschluss zur sowie die Verkündigung der Lehre. Im Rahmen der
Lehrverkündigung erfolgen diverse 11) Wundertaten; den Abschluss bildet der „Eingang ins
parinirvana“.
An erster Stelle soll hier nun auf die Gesamtheit der Lebensgeschichte des Buddha als
Modell für die eigene Sinnfindung verwiesen werden. Allzu leicht nämlich kann es passieren,
im geistigen und praktischen Nachvollzug erst am letzten Teil einsetzen zu wollen; d.h. dem
Erwachen (oder vielleicht sogar dem Verkünden!). Dabei zeugt der weitaus größere Teil der
Geschichte doch davon, wie ein Mensch zunächst einmal ein zufriedenes und erfülltes
weltliches Dasein führt, von dem er erst infolge existenzieller Erfahrungen Abstand nimmt,
um dann nach nicht unerheblichen Mühen und auch Verirrungen seinen inneren Frieden zu
finden. Diese Gesamtheit der Lebensgeschichte gibt also einen deutlichen Hinweis darauf,
dass ein vorschnelles oder übereifriges Entsagen der Welt – sei es, um den Problemen und
Schwierigkeiten des modernen Lebens sowie zwischenmenschlicher Beziehungen zu
entkommen, sei es aus einer tatsächlich empfundenen Mangelhaftigkeit des weltlichen
Daseins an-und-für-sich – kritisch zu betrachten ist. Denn der Welt entsagen, kann sicherlich
nur der, der diese Welt auch kennengelernt hat. Hier findet sich ein interessanter
Anknüpfungspunkt an das hinduistische Modell der vier Lebensphasen (ashrama): Zu Beginn
(1) steht die weltliche und religiöse Ausbildung, die der junge Mensch von seinen Eltern und
Lehrern erhält (brahmacharya); d.h. seine Erziehung, Bildung und Sozialisation. Es folgt (2)
die Zeit der Familiengründung, d.h. des partnerschaftlichen Lebens und der Teilnahme an
der Gesellschaft (grihastha). Erst in fortgeschrittenem Alter beginnt der innere und äußere
Rückzug (3), um sich eingehend philosophischen und religiösen Studien zu widmen
(vanaprastha). Dieses kann schließlich (4) in der völligen Hingabe an Gott und dem Streben
nach Erlösung zur Entsagung führen (sannyasa). Das heißt, für ein vollständiges und erfülltes
menschliches Dasein sind alle vier Stufen notwendig, so wie auch der historisch Buddha
zunächst im Palast des Vaters erzogen wurde und in Gemeinschaft lebte. Dass ein verfrühter
Rückzug aus der Welt vielleicht sogar mehr Probleme bereiten als lösen kann, kommt auch in
frühen christlichen Schriften der monastischen- und Eremiten-Tradition zum Ausdruck
welche
dem
Kampf
gegen
profane
Anfechtungen
(wie
sexuelles
Verlangen,
Geltungsbedürfnis, Wohlstand etc.) nicht wenig Raum widmen. Der vermeintlich sichere
Rückzugsort wird so zu einem Gefängnis, der ein sinnvolles Leben, Erleben, Ausleben und
Überleben dieser menschlichen Regungen und Bedürfnisse nur noch erschwert.
Als nächstes sollen einige Stellen der oben skizzierten Biographie betrachtet werden, welche
ich dabei als „Wendepunkte“ bezeichnet habe. Der erste Wendepunkt ereignet sich dabei
zwischen Punkt 4), dem Leben im Palast, und Punkt 5), den vier Ausfahrten. Für gewöhnlich
liegt dabei der Blick auf der Bedeutung der vier Ausfahrten (welche auch allegorisch
verstanden werden können) und dem darauf folgenden Entschluss, ein religiös-asketisches
Leben zu ergreifen. Den vier Ausfahrten geht jedoch unmerklich eine spannende Frage und
Entscheidung voraus: Was war es denn nämlich, bzw. wie kam es dazu, dass der Prinz
überhaupt den Palast verlassen wollte? Hatte er dort nicht ein sorgenfreies Leben in voller
Zufriedenheit geführt? Es ist verlockend, gerade diese Sorglosigkeit und materielle Sicherheit
selbst als Auslöser für ein darüber hinausführendes Fragen und Suchen zu verstehen; eine
Situation, die in gewisser Weise eine Ähnlichkeit zur Situation vieler Menschen der
modernen westlichen Welt hat. Ohne akute Angst vor kriegerischen Handlungen im eigenen
Land, mit Nahrung, Kleidung, Obdach und medizinischer Versorgung, fangen viele Menschen
an tiefergehende Fragen über den Sinn des Lebens und die Bedeutung ihres Daseins zu
stellen. Ob dieses Fragen dabei durch Langeweile und Übersättigung ausgelöst wird, oder
einen quasi „natürlichen Entwicklungsschritt“ darstellt, ist dabei relativ unerheblich. Oder,
wieder mit Blick auf den Prinzen Siddhartha, war es die Macht des ominösen Karma, welche
ihn trotz aller Ablenkungen unerbittlich in Richtung Weltentsagung und Erlöser zog? Fest
steht jedenfalls, ohne dieses innere Aufbrechen hätte es auch kein äußeres Aufbrechen
gegeben; und die eigentlichen Wendepunkte in einer Entwicklungsgeschichte können
manchmal an verborgenen Stellen liegen. Und für den modernen Menschen, der sich mit
dem Buddhismus beschäftigt, beschäftigen will, oder glaubt sich damit beschäftigen zu
müssen, kann es zuweilen ein hilfreicher Ansatz sein mehr darüber nachzusinnen, warum
bzw. wozu er dasjenige überhaupt tut, tun will oder glaubt tun zu müssen, was er tut oder
tun will oder glaubt tun zu müssen.
Als zweiten Wendepunkt in der Biographie des Buddha habe ich die Erkenntnis des
„Mittleren Wegs“ bezeichnet; d.h. die Einsicht des nunmehr bewusst nach Befreiung
suchenden Siddhartha, dass weder totale Ergebung an die Sinneslust, noch völlige Weltflucht
langfristig erfolgversprechend sind. In einfacher Sprache ausgedrückt befinden wir uns bei
der Biographie nun bis zu folgender Stelle fortgeschritten: „Der aus gutem Hause
stammende Sohn spürte, nachdem er im Anschluss an seine glückliche Kindheit eine
profunde Ausbildung erhalten, und mit seiner geliebten Frau eine Familie gegründet hatte,
immer öfter eine nicht zu benennende, unerklärliche Unzufriedenheit. Verstärkt und
angestoßen durch die existenziellen Erfahrungen von Alter, Krankheit und Tod (vielleicht
eines Freundes oder Verwandten), sowie fasziniert und aufgewühlt durch die Lehren der
Philosophie und Religion, fasste er den Beschluss, sein Heim zu verlassen um sich auf die
Such nach seinem inneren Frieden zu begeben. Da er ausschweifende Feiern und ständige
Sicherheit von Zuhause aus bereits kannte, dachte er, dass vielleicht das direkte Gegenteil
dieses elitär-bourgeoisen Daseins die Lösung für seine bohrende und nagende
Unzufriedenheit biete. Also schloss er sich einer Gruppe radikaler Esoteriker und religiöser
Fanatiker an, unterwarf sich strengen Bußübungen, verzichtete fast gänzlich auf Nahrung,
lernte die schier grenzenlose Kraft des Geistes und des Willens kennen, und quälte sich fast
zu Tode.“ Und hier, genau an dieser Stelle, findet der zweite nicht näher definierte Umbruch
in der Psyche des Siddhartha statt: er weist diese übermäßige Askese als Weg zur Befreiung
zurück (in der dogmatischen Form wird man sagen: er erkennt die Nicht-Eignung solcher
Askese als Mittel der Befreiung), und beschließt wieder etwas Nahrung zu sich zu nehmen.
Das Ergebnis dieser Entscheidung ist der Mittlere Weg; so wie das Ergebnis der ominösen
inneren Unzufriedenheit die Vier Ausfahrten waren. Den bekannten Wirkungen gehen hier
wie da unbekannte Ursachen voraus. Wieso genau nahm Gautama inmitten der radikalen
Askese Abstand davon? Welcher Gedanke, welches Gefühl, welches Ziel vermochte es, ihn
von der eingeschlagenen Richtung abzubringen? Wir stehen hier vor derselben Situation wie
beim bequemen Leben im Palast, nur mit anderen Vorzeichen: dort der einseitige und
ausschließliche Hedonismus; hier die einseitige und ausschließliche Entsagung: beide
vermögen nicht, Siddhartha dauerhaft zufrieden zu stellen.
Die Biographie können wir nun so fortschreiben: „Nachdem er nun pure Lust und Askese
beide als unzulänglich verworfen hatte (was gleichbedeutend mit der Ausrichtung des
Mittleren Wegs ist), schienen keine alternativen Wege mehr offenzustehen. Verzweifelt fasst
er den Entschluss, sich an einer bequemen Stelle niederzusetzen und nicht eher
aufzustehen, als bis er Antworten auf seine Fragen gefunden hätte. Gesagt, getan. Im
Verlaufe einer langen Nacht (oder waren es vielleicht viele Tage und Nächte; unterbrochen
nur von kleinen Mahlzeiten, ein wenig Bewegung, den notwendigen körperlichen
Verrichtungen, und kurzen Gesprächen mit Nanda und Nandabala?) lösten sich in ihm alle
Zweifel. Er hatte seinen persönlichen, ultimativen Durchbruch; er fand seinen inneren
Frieden (die Tradition wird hier zu Bekräftigung die Erde beben lassen). Hin- und hergerissen,
seine neuen Einsichten für sich zu behalten, oder sie anderen mitzuteilen, entschied er sich
schließlich dafür, zunächst einmal seine alten Asketen-Gefährten aufzusuchen, um sie von
seinen neuen Erkenntnissen zu überzeugen.“ Auch in diesem Teil der Geschichte finden sich
einige interessante Aspekte, welche gerade in einer nicht-traditionellen Betrachtungsweise
aufschlussreiche Einsichten anbieten. Ein erster Punkt wäre die Frage, wieso sich Siddhartha,
nachdem er seine Askese aufgegeben hatte, sich nicht auf die Suche nach anderen Lehrern
gemacht hat. Auch hier bleibt psychologisch offen, welche innere Strukturiertheit dafür
ausschlaggebend war, auf weitere Unterweisungen zu verzichten, und stattdessen das
eigene Innere, den eigenen Geist als einzigen Ort zu wählen, welcher eine Lösung für die
eigene Unruhe verheißen könne. Davon abgesehen ist diese Episode umso bedeutsamer
wenn man bedenkt, wie leichtfertig und bereitwillig andere Menschen sich auch im Namen
des Buddhismus von sich selbst weg-, und einer durch Lehrer und Institutionen vermittelten
Lehre zuwenden (ungeachtet des gern zitierten Kalama-Sutta; und auch obwohl der
prinzipielle Ansatz des Chan- bzw. Zen-Buddhismus eigentlich in eine andere Richtung weist).
Wäre es für eine authentische Nachfolge gerade angesichts dieses Beispiels aus
Lebensgeschichte des Stifters nicht umso eher nötig, auf die Eigenverantwortlichkeit und
Selbstständigkeit jedes Einzelnen hinzuweisen; anstatt sich darum zu bemühen einen Weg zu
gehen, der zur Lösung eines Problems führte, das vielleicht gar nicht das eigene ist? (Auch
hier wird die Tradition antworten: Dukkha sei doch das zentrale Problem jedes Menschen.
Wie problematisch und fraglich eine solche Annahme ist, wurde weiter oben untersucht.)
Hier, ebenso wie in der berühmten Erleuchtungsnacht, wird noch einmal deutlich wie wenig
klar eigentlich ist, was genau den historischen Buddha umtrieb, und wie seine persönliche
(Vor)Geschichte darin verwoben ist; ja, woran er eigentlich so intensiv gelitten hat. Auch hier
springt die Tradition in die Bresche: mit wohlformulierten Lehrreden macht sie aus einem
Menschen, einem geistigen Riesen zweifellos, aber auch einem Leidenden und Suchenden,
einen abgeklärten Erlöser, der alle Mechanismen der Welt durchschaut hat und in klarer
Sprache den Weg zur Befreiung weist. Jedoch: wie wahrscheinlich ist eine solche spätere
Geschichte? Können wir das Zaudern des Buddha nicht auch so verstehen, dass ihm bewusst
war, wie individuell der von ihm erlangte innere Frieden war, und wie sehr er auf seiner
persönlichen Geschichte beruhte? Ode war es vielleicht doch einfach eine allzumenschliche
Entscheidung, sich nicht gänzlich in die Isolation zurückzuziehen, sondern mit der neu
gewonnenen inneren Sicherheit in die Welt zu treten, um voller Überzeugung auch andere
Menschen daran teilhaben zu lassen? Würde die Weisheit der überlieferten Lehren
tatsächlich dadurch gemindert, wenn wir den Buddha nicht als einen vollkommen Erwachten
und völlig Triebversiegten bezeichnen; sondern als eine zweifellos überragende
Persönlichkeit, aber dennoch ein Mensch wie du und Ich? Hat nicht der Buddha selbst seine
Lehre als dasjenige bestimmt, was nach seinem Dahinscheiden von ihm überdauern soll?
Wenn wir uns darauf besinnen, und dazu die Lehre wie schon angeführt in einer offenen und
nicht-katechetischen Weise auf uns selbst beziehen, wäre das nicht eine weitaus
angemessenere Form der Nachfolge, als ein Zentrierung auf und Verklärung des Stifters
eben jener Lehre? (So als würde man den Finger, der auf den Mond zeigt, als bedeutsamer
halten denn den Mond.)
Zusammenfassend lässt sich also festhalten: In einer alternativen Betrachtung und
Herangehensweise an den Buddhismus gilt es, die gesamte Lebensgeschichte des
historischen Buddha als unauflösbare Einheit zu sehen. Sie stellt an erster Stelle eine
Beschreibung der aus den spezifischen Umständen und inneren Problemen des historischen
Buddha erwachsenen Fragestellungen und Lösungsversuchen dar. Erst an zweiter Stelle kann
sie, von ihren spezifischen Inhalten getrennt, als „archetypische Folie“ dienen, mittels
welcher Menschen aus den unterschiedlichsten Zeiten, Kulturen etc. Inspiration und
Anregungen gewinnen können, welche zur Lösung der sie persönlich bedrängenden Fragen
und Probleme beitragen. In einer solchen Herangehensweise können wir uns selbst fragen:
An welcher Stelle in der Lebensgeschichte des Buddha befinde ich mich gerade? Welche
Gemeinsamkeiten und Unterschiede weist meine Vorgeschichte und Situation zu derjenigen
des Buddha auf? Worin besteht meine innere Suche, und wodurch wird sie motiviert?
Welche Lösungsversuche zwischen Hedonismus und Askese habe ich selbst dabei schon
unternommen? Welche Lehren und Lehrer sind mir bekannt? Welche Bedeutung messe ich
dem sozialen und zwischenmenschlichen Dasein zu?
5. Weitere Fragestellungen
An dieser Stelle möchte ich noch kurz einige weitere Fragestellungen und Problemfelder
ansprechen, welche sich aus der Beschäftigung mit den buddhistischen Lehren ergeben
können. Sie sollen hier und in dieser Form lediglich als Anreiz dienen, die Konturen und
Ränder des dogmatischen Buddhismus zu erhellen; oder anders gesagt darauf hinweisen,
wie viele Fragen noch offen sind (und vielleicht auch offen bleiben müssen), wenn man sich
dem Buddhismus unvoreingenommen von allen Seiten aus zu nähern bereit ist.
5.1 Die Auswirkungen der Beschäftigung mit dem Buddhismus
Ein wesentliches Problem (nicht nur des Buddhismus, sondern aller Weltanschauungen,
geistig-spirituellen Lehren, Philosophien etc.) liegt in der Frage, welche Auswirkungen diese
tatsächlich und nachweisbar auf das Leben des sich mit ihnen beschäftigenden Menschen
haben (im positiven wie im negativen Sinne). Zweifellos wird es keine Mühe bereiten, eine
Vielzahl von Menschen zu finden, die in der einen oder anderen Form zu konstatieren bereit
sind, „dass der Buddhismus ihnen geholfen habe“. Welche konkreten und speziellen
Auswirkungen dabei aber wirklich auf eine solche spezifische Beschäftigung zurückzuführen
sind (Lesen von Büchern über den Buddhismus, „Meditation“ etc.), und welche ihre Ursache
nicht nur in der dadurch veränderten Gesamtsituation haben (veränderte Tages- und
Zeitstrukturen, neue Kontakte etc.) oder ebenso gut mit anderen Methoden erzielt werden
könnten (Sport, künstlerische oder sonstige Hobbys etc.), ist aufwendig zu erheben und noch
wenig erforscht. Einige Ansätze hierzu finden sich z.B. hinsichtlich der Mindfulness-Based
Stress Reduction (MBSR), des Qigong, des Taijiquan oder auch bezüglich diverser
Kampfsport-Projekte im Zusammenhang mit gewaltbereiten oder verhaltensauffälligen
Kindern und Jugendlichen.
5.2 Kontaktbereiche zum abendländischen Denken
Ein weiteres spannendes Feld, welches aber praktisch noch keinen Eingang in die orthodoxdogmatische Betrachtung des Buddhismus gefunden hat, ist die systematische Einbeziehung
und Berücksichtigung klassischer und moderner abendländischer Theoreme aus Philosophie,
Ethik, Wissenschaft, Ökonomie etc. Es wurde bei der Betrachtung der Vergänglichkeit in
dieser Abhandlung bereits auf die Verknüpfung mit der Frage nach der Substanz
hingewiesen. Daneben gibt es aber noch viele weitere Themengebiete der abendländischen
Philosophie, welche mit den Ansätzen des Buddhismus in Zusammenhang gebracht werden
können und sollten, wenn man um eine umfassende Sichtweise bemüht ist. Zu nennen
wären hier z.B. die Frage nach der Willensfreiheit (welche unmittelbar mit dem Konzept der
Tatvergeltung, d.h. karma, in Berührung steht), die Ansätze der Ethik, tugendhaftes Handeln
und das Ideal des Guten, die Epistemologie und die Phänomenologie. Andere ebenfalls
wichtige Aspekte des menschlichen Lebens werden z.B. in der Wissenschaftstheorie, der
Psychologie oder der Soziologie behandelt. Schließlich gälte es auch, Positionen der Physik
und Kosmologie (z.B. Anfang und Ende des Universums betreffend) auf ihre Bedeutung für
die buddhistische Lehre zu hinterfragen (sollte sich beispielsweise ein Art „Kältetod“ des
Universums oder etwas Ähnliches als gesicherte Ansicht durchsetzen, stände dies in
unmittelbaren Widerspruch zu einer Sichtweise des ewigen Entstehens und Vergehens). Ein
Rückzug auf dogmatisch-orthodoxe Positionen des Buddhismus, welcher Fragestellungen
und Lösungsansätze dieser Disziplinen bei der Frage nach dem Wesen des Menschen und
der Beschaffenheit der Welt ausklammert, kann daher nicht anders als unvollständig und
ungenügend sein (und nicht mit der „Kenntnis aller dharma“, wie sie dem Vollendeten
traditionell zugeschrieben wird, übereinstimmen).
5.3 Das Theorie-Praxis-Dilemma
Ein dritter Aspekt der hier noch kurz angesprochen werden soll, und sich ebenso wie die
Frage nach den Auswirkungen (5.1) nicht auf den Buddhismus beschränkt, ist das „TheoriePraxis-Dilemma“. Dieses Dilemma hat zwei Seiten: a) zum einen bietet keine der gängigen
Weltanschauungen – sei es der orthodox-dogmatische Theravada-Buddhismus oder das
katechetische Christentum, aber auch naturwissenschaftliche Sichtweisen wie z.B. der
physikalische
Reduktionismus und seine Varianten – eine widerspruchsfreie und alle
Lebensbereiche erfassende Theorie; b) zum anderen ist es recht schnell einsehbar, dass wohl
die wenigsten, ja vielleicht kein einziger Mensch, in seiner realen Lebensführung konsequent
und rückhaltlos eine einzige Weltsicht umsetzt. Mit a) ist gemeint, dass jede dieser Lehren
und Weltbilder entweder per definitonem oder aufgrund von altersbedingter Festschreibung
nicht alle Phänomene des Daseins als Teil ihrer Untersuchungen enthält. So ist
beispielsweise das innere Gefühlsleben des Menschen kein Gegenstand der Mathematik
oder Physik; und moderne Fragestellungen wie PID, Genmanipulation, Organspende etc.
finden keine Behandlung in den Lehrreden des Buddhismus, da die entsprechenden
Technologien zur Zeit ihrer Niederschrift noch nicht existierten. Mit b) ist gemeint, dass jeder
moderne Mensch zwangsläufig und wohl auch freiwillig multi-weltanschaulich sozialisiert
wird sowie dementsprechend lebt. D.h. die meisten sich selbst als Zugehörige einer
bestimmten Religion oder definierten Weltsicht verstehenden Menschen werden schwerlich
oder gar nicht allen Implikationen nachgehen können, welche eine konsequente
Fortschreibung der für sie als „bestimmenden“ Lehre mit sich bringen würde. So gab und
gibt es genug Menschen mit einer naturwissenschaftlichen „Grundausrichtung“, welche
zugleich christlichen Praktiken wie Gebet und Gottesdienst nachgehen; während der
Buddhismus gerade im Westen sowieso mehr als Ergänzung zu einer weitgehend
individuellen und selbstverantwortlichen Lebensgestaltung begriffen wird (Stichwort
„Patchwork-Spiritualität“). Aus dem hier dargelegten wird deutlich, dass der Anspruch einer
konsequenten Praxis entsprechend einer vollständigen und widerspruchsfreien Theorie nicht
einlösbar ist. Jedoch ist ungeachtet dieser Probleme und Widersprüche eine theoretische
und praktische Beschäftigung mit einer oder auch mehreren Lehren und Weltsichten
lohnenswert und hilfreich, denn: für eine funktionierende Praxis ist keine vollständige und
widerspruchsfreie Theorie nötig. Meditation und Studium bewirken auf jeden Fall etwas,
egal ob es ein Selbst gibt, nicht gibt, oder die Frage unsinnig ist; so wie man auch nicht an
Gott glauben muss, um zu beten.
5.4
Erfolg und Wahrheit
Zuletzt soll noch kurz ein Blick auf eine banale Frage gestellt werden, deren Beantwortung
allerdings alles andere als einfach ist; nämlich: Warum setzen sich machen Lehren und
Personen durch, und andere nicht? Eine simple Antwort würde darin bestehen zu sagen,
„weil das Verkündete wahr ist“. Jedoch entzieht sich der weitaus größte Teil von
philosophisch-religiösen
Lehren
einer
Möglichkeit
der
„Wahrheitsprüfung“
bzw.
Entscheidung über „Richtig und Falsch“, wie sie für logische und mathematische
Fragestellungen gegeben ist. Die grundlegenden Begrifflichkeiten des Buddhismus sind
(ebenso wie diejenigen anderer Religionen und Weltanschauungen) an sich leer; d.h. sie
bedürfen notwendigerweise einer Erläuterung. Und nur diese Erläuterungen können
überzeugender oder weniger überzeugend, konsistent und stringent, oder widersprüchlich
sein. Das bedeutet aber eben auch, dass keine Lehre an sich richtig oder wahr sein kann;
sondern nur das Verständnis einer Lehre durch eine Person oder Gemeinschaft kann
überzeugend, stringent etc. sein. Für den Erfolg einer Lehre sind also anstelle von Wahrheit
vielmehr drei Aspekte verantwortlich: a) die Inhalte der Lehre; b) die Strahlkraft und das
Charisma des Urhebers und der Nachfolger; und c) die historischen und sozialen
Begleitumstände. Die Inhalte einer Lehre können zu ihrem Erfolg dadurch beitragen, dass sie
neue Antworten oder Lösungen auf alte Fragen und Problemstellungen bieten; so wie z.B.
Wege der inneren Selbstbefriedung eine Alternative zu als unbefriedigend empfundenen
äußerlichen, ritualisierten und durch Priester vermittelten Heilsbemühungen darstellen.
Mindestens ebenso wichtig (oder wichtiger?!) scheint die Strahlkraft und das Charisma des
Stifters und seiner Nachfolger; und seit jeher und in allen menschlichen Belangen gilt ja das
wohlbekannte Wort, dass „Begeisterung ansteckend“ ist. Und schließlich ist der Aufstieg und
Niedergang von Lehren und Weltanschauungen immer auch mit den konkreten sozialen und
historischen Umständen verbunden, welche im und außerhalb des aktiven Gebiets einer
Lehre oder eines Lehrers anzutreffen waren und sind. Prominente und viel untersuchte
Beispiele sind das Erstarken des Christentums im Niedergang der antiken Welt oder natürlich
der tragische Erfolg des Nationalsozialismus und Faschismus im Europa des 20ten
Jahrhunderts.
Zusammenfassung
Die drei Merkmale (ebenso wie die vier „Wahrheiten“) stellen Hypothesen dar, welche sich
empirisch zwar bestätigen, aber in ihrer allgemeinsten Form auch falsifizieren lassen. Sie
müssen daher genauer gefasst werden. Ein formallogischer Beweis ist nicht möglich. Der
Anspruch auf universelle Gültigkeit ist nicht einlösbar. Das Thema Wiedergeburt, NichtSelbst und Tatvergeltung ist noch stärker als die Drei Merkmale von innerer
Widersprüchlichkeit
durchdrungen.
Die
positive
Wirkung
der
Beschäftigung
mit
buddhistischer Theorie und Praxis wird von vielen Menschen bestätigt. Relevante Studien,
welche der Frage nachgehen, inwieweit spezifische Wirkungen spezifisch buddhistischen
Inhalten geschuldet sind oder auch durch andere Methoden und Beschäftigungen erzielt
werden können, stehen noch aus. Als alternativer Zugang zu buddhistischen Lehren scheint
die persönliche Anwendung weniger, bewusst offen gehaltener Begriffe authentischer und
vielversprechender. Die Lebensgeschichte des Buddha selbst sollte als wesentlicher Teil der
Lehre mehr Berücksichtigung erfahren. Eine Verknüpfung mit Fragen, Erkenntnissen und
Lehren des traditionellen und modernen abendländischen Denkens sollte nicht gescheut
werden.
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