Epidemiologisches Phänomen latenter Vitamin-Defizite

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Epidemiologisches Phänomen
latenter Vitamin-Defizite
Mangelassoziierte Erkrankungen wie Skorbut, Beri-Beri, Pellagra oder Rachitis mit den
korrespondierenden Vitamin C-, B1-, B3- und D-Defiziten sind Lern-Standards in der Fachausbildung. Historisch betrachtet in Ordnung. Doch die stereotype Zementierung dieser tödlichen Avitaminosen suggeriert, Mikronährstoff-Defizite seien historische Relikte ohne Gegenwartsbezug. Ein großer Irrtum. Todesfolgen durch völlige Vitamin-Absenz beweisen zwar die
Lebensnotwendigkeit einzelner Mikronährstoffe. Gleichzeitig verschleiern diese vermeintlichen Alles-oder-Nichts-Prinzipien das multifunktionale Wirkspektrum der Mikronährstoffe.
Latenter Vitaminmangel:
Vorbote des Mangel-Todes
Keine Alles-oder-Nichts-Reaktionen
Keine Avitaminose ohne latentes Defizit
Nicht genutztes Diagnosefeld
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pharmatime 4/2016
Dass unser Nachbar nicht an Beri-Beri verstorben ist, zeigt, dass in Europa Vitamin
B1-Avitaminosen nicht (mehr) vorkommen.
Es schließt aber latente Defizite nicht aus.
Latente Aneurin-Mängel äußern sich nämlich nicht in Beri-Beri. Keine Avitaminose
tritt plötzlich auf. Allen Avitaminosen sind
latente Mangelerscheinungen zeitlich vorgeschaltet. Je nach Ausmaß des Mangels,
je nach Körperbestand an Cofaktoren, führen zum Beispiel latente Thiamin-Mängel
zu Anämie, Diabetes, Neuritiden, reduzierter Sehschärfe, Wernicke-Enzephalopathie, Angina pectoris, Antriebslosigkeit,
Depressionen, Schlafstörungen, Parästhesien, Muskelschwund oder Wundheilungsstörungen. Ein beachtlich bunter Strauß
an klinischen Symptomen also, hervorgerufen nur durch eine suboptimale Versorgung mit nur einem Mikronährstoff. Die
Wissenschaft
unabhängig • meinungsbildend • kritisch
Ernährungsmedizin
kritisch betrachtet
Mag.pharm. Norbert Fuchs
Norbert Fuchs, Jahrgang 1955, studierte in Graz
Pharmazie. Seit 1990 beschäftigt sich der Autor
vorwiegend mit angewandter Biochemie und ernährungsmedizinischer Forschung. Norbert
Fuchs ist Mitglied des Wissenschaftlichen Beirates der Nährstoff-Akademie Salzburg, Autor zahlreicher Fachpublikationen und Fachbücher sowie
Referent ernährungsmedizinischer Themen.
Symptomen-Vielfalt reflektiert die vielfältigen Funktionen der biologisch aktiven B1Vertreter TPP und TTP. Entsprechend heterogen sind ja auch die klinischen Vorboten
des Beri-Beri-Todes: Missempfindungen
an Armen und Beinen, Gangstörungen,
Konzentrationsstörungen, Müdigkeit, Bewusstseinsstörungen, Herzinsuffizienz und
Ödeme.
Der Beri-Beri-Tod ist also, ebenso, wie jener
von Skorbut, Pellagra oder Anämie, kein
plötzlicher. Jedem Tod durch Avitaminosen
gehen zahlreiche, oft monate- oder jahrelange, Beschwerden voraus. Sie sind dieselben klinischen Abbilder „latenter“ Mangelsymptome, wie wir sie auch heute noch
häufig antreffen. Der Unterschied zu früheren Zeiten besteht nur darin, dass letal verlaufende Avitaminosen heute kaum mehr
vorkommen. Dazu reichen die Vitamin-Gehalte in unseren Nahrungsmitteln allemal.
Pantothensäure:
schwammige Erkenntnisse
Die Annahme, Pantothensäure käme praktisch ohnehin überall vor, führte in den
1930er Jahren zur Namensgebung. Diese
These aber verführte auch dazu, die
Grundlagenforschungen zu Vitamin B5 in
der Folge eher halbherzig zu betreiben. So
beruhen, egal, ob in den USA oder in der
EU, die Tagesbedarfsmengen für Vitamin
B5 bis zum heutigen Tag nur auf Schätzwerten. Auch gibt es keine ernährungsmedizinisch validierten Werte für physiologische Serum- und Vollblut-Konzentrationen.
Vitamin B5-mangelbedingte Todesursachen bei Tieren sind, je nach Tierart, unterschiedlich. Bei Menschen gaben Untersuchungen zu Folgen einer Vitamin B5Avitaminose schwammige Ergebnisse, da
Wissenschaft
unabhängig • meinungsbildend • kritisch
diese nur im Rahmen genereller Mangelernährungszustände erfasst worden waren. Auch erfüllt das Präfix „Pan“ heute, im
Umfeld zunehmenden Fast-Food-Konsums, nicht mehr seine Gültigkeit. Die
Pantothensäure-Gehalte von Weißmehl,
Kartoffelstärke und Eiweißpulvern gehen
gegen Null. Und wer konsumiert schon
täglich Nüsse, Innereien, Vollkorn, Eier
und Avocados, um seinen Vitamin B5-Bedarf zu decken?
Pantothensäure hat eine Sonderstellung in
der Familie der B-Vitamine. Sie ist molekularer Bestandteil von Coenzym A, dem
zentralen Stoffwechselenzym sämtlicher
energetischen Vorgänge. Coenzym A
speist die Mitochondrien jeder Körperzelle, jedes Organs. Nun ist es aber ein Problem, in der medizinischen Praxis bei unspezifischer Leistungsschwäche, Depressionen, Parästhesien, Schlafstörungen
oder idiopathischer Infertilität an eine latente Pantothensäure-Unterversorgung zu
denken, ist man sich doch nicht einmal
über die Labor-Normwerte einig.
Mikronährstoffe: kein digitales
Stop-or-Go-Verhalten
Eigentlich skurril, wie sehr wir uns in der
Einstufung von Vitaminen und Co. auf
Jahrzehnte alte, längst überholte Dogmen
verlassen und berufen.
Auf das Dogma, die Absenz von Beri-Beri,
Pellagra und Skorbut beweise im Umkehrschluss unsere ausreichende Vitamin-Versorgung.
Auf das Dogma, Aneurin und Co. seien
chemisch definierte Verbindungen, die
man einwerfen könne wie fehlende Münzen eines Geldautomaten – so als gäbe es
kein biochemisches Wechselspiel innerhalb der Mikronährstoffe.
Auf das Dogma, eine „abwechslungsreiche Ernährung“ decke lückenlos unsere
Vitamin-Bedürfnisse – ganz nach der Devise „irgendwas an Vitaminen wird schon
enthalten sein“.
Mehr Aufmerksamkeit
auf Vitamin-Defizite
Dass die Zufuhr von Megadosen isolierter
Laborvitamine unseren Stoffwechsel nicht
befriedigt, sondern, im Gegenteil, unsere
Gesundheit belasten kann, ist mittlerweile
bekannt. Auf dieser Erkenntnis jedoch eine pauschale Anti-Vitamin-Ideologie zu
züchten, ist demagogisch, dumm und gefährlich. Latente Vitamin-Mängel äußern
sich unter anderem scheinbar unspezifisch durch Depressionen, Immunstörungen, Diabetes und Hautirritationen. Das
ist ernährungsmedizinisch ausreichend
belegt. Gerade Depressionen, Allergien,
Diabetes und Atopisches Ekzem aber
greifen beinahe epidemisch um sich.
Auch das ist statistisch belegt. Dass sich
die geografische Ausdehnung dieser
„Epidemien“ auffällig deckt mit der geografischen Verbreitung industrialisierter
Nahrungsmittel, liegt auf der Hand. Unsere heutigen Ess- und Trinkgewohnheiten
sind jenen von Columbus Matrosen näher,
als wir wahrhaben wollen. «
Auf das Dogma, unsere Ernährung wäre
noch nie so gesund gewesen wie heute,
nur weil unsere Lebensmittelregale überfüllt sind mit buntem Junk.
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