Heinz Bude - Das Phänomen der Exklusion

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Heinz Bude
Das Phänomen der Exklusion
Der Widerstreit zwischen gesellschaftlicher Erfahrung
und soziologischer Rekonstruktion
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Den Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen bildet das Unbehagen an der klassischen Sozialstrukturanalyse, die ein ums andere Mal
den Nachweis führt, daß sich in der Ordnung sozialer Ungleichheit im
letzten halben Nachkriegsjahrhundert eigentlich nichts geändert hat.1
Im Negativen bedeutet dies, daß sich Form wie Umfang der Vererbung sozialer Nachteile trotz großer Bildungsreformen kaum gewandelt haben; im Positiven lautet die Botschaft, daß das soziale Haus
mit seinen verschiedenen Etagen des besseren und schlechteren Lebens
trotz der Individualisierung der Lebensläufe und der Pluralisierung der
Lebenswelten in seinen Grundfesten nach wie vor von Bestand ist.
Weitgehend entscheidet die Herkunft immer noch über die nach Einkommen, Bildung und Beruf definierten Lebenschancen des Einzelnen;
und die Soziallagenverbundenheit bestimmt bis heute die Gemeinschaftsgefühle der Leute. Also sind alle politisch gewollten Kompensationsmaßnahmen, die in Zeiten des Wohlfahrtsstaats vor allem mit
dem Ausbau des Bildungssystems verbunden waren, mehr oder minder
fehlgeschlagen; und die Vervielfältigung der Lebensentwürfe hält sich
aufs Ganze gesehen in den Bahnen und im Rahmen des überkommenen, nach oberen und unteren Lagen geordneten Gefüges der Lebensweisen.
Dieser wesentlich strukturkonservativen Aussage, wonach alles
empörend ungerecht, zugleich aber beruhigend gleichförmig geblieben
ist, widersprechen nur die öffentlich zum Ausdruck gebrachten und
unter der Hand weitergegebenen Empfindungen. Sie nämlich konstatieren, daß das soziale Band unter höchster Spannung steht und Zugehörigkeit immer prekärer wird.2 Die Überzeugung, man stehe im Berufsleben egal in welcher Position immer zur Disposition und habe es
in unserer Gesellschaft mit einer wachsenden Zahl von Überzähligen
und Aussortierten zu tun, ist sowohl in zufälligen Gesprächen als auch
bei gezielten Umfragen sofort abrufbar. In dem Maße, wie die Ansprüche an die Produktivität im Beruf und an die Funktionalität im
1 Die beiden neueren Studien, die in diesem Zusammenhang genannt werden, sind Robert
Eriksson und John H. Goldthorpe, The Constant Flux, Oxford 1992, sowie Yossi Shavit
und Hans-Peter Blossfeld, Peristent Inequality, Boulder, Col. 1993.
2 In Deutschland kümmert sich in erster Linie Wilhelm Heitmeyer, siehe nur die von ihm
herausgegebenen Bände Was treibt die Gesellschaft auseinander? und Was hält die Gesellschaft
zusammen? (Frankfurt am Main 1997), um diese Empfindung.
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Alltag wachsen, fallen all jene heraus, die mit der gesteigerten Mobilisierung (»employability« und »total quality management«) und Subjektivierung (»Teamfähigkeit« und »soziale Kompetenz«) nicht mithalten
können.3 Man kann sagen: Die Sozialstrukturanalyse tradiert das Bild
alter sozialer Ungleichheiten, während sich das Gesellschaftsempfinden
auf neue Spaltungen fixiert.4 Da stellt sich natürlich die Frage, wer recht
hat: die spezialisierte Beobachtung von oder die gefühlte Teilnahme an
der Gegenwartsgesellschaft? Oder noch zugespitzter: die Soziologie oder
die Gesellschaft?
I
Aus den 90er Jahren ist uns ein neuer soziologischer Begriff überliefert, der sich diesem Widerspruch widmet: Es ist der Begriff der sozialen Exklusion.5 Der Ursprung dieses Begriffs liegt eigentlich im politischen Raum, wo er der Kennzeichnung neuartiger sozialer Probleme
dient, die den sozialen Zusammenhalt unserer Gesellschaften gefährden.
In den französischen Vorstädten 6 genauso wie in den entvölkerten Gebieten Ostdeutschlands 7 wachsen »gefährliche soziale Klassen« heran, die
aufgrund sozioökonomischer Marginalisierung, lebenskultureller Entfremdung und sozialräumlicher Isolierung den Anschluß an den Mainstream unserer Gesellschaft verloren haben. In ihrer trostlosen Existenz,
bar aller Vorstellung von Größe, Rang und Bedeutung, werden sie öffentlich nur noch als periodisch sich zusammenrottende »Meute« bemerkbar.8 Solche plötzlich ausgelösten »riots« beschäftigen dann die Medien
und lassen die Soziologen bei der Frage nach möglichen Ursachen dumm
dastehen.
Es ist das Erscheinungsbild von wahllosem Vandalismus, kriterienlosem Haß gegen Schwache, Fremde und Andersartige und sofortigem
Ressentiment gegen den Staat, den Bürger oder das Allgemeine, aufgrund dessen diese Milieus für die »Mehrheitsklasse«9, die von sich
glaubt, hart zu arbeiten, sich nach den Regeln zu verhalten und für die
Ihrigen zu sorgen, als das andere der Gesellschaft gelten. Man sucht
3 Luc Boltanski und Eve Chiapello, Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz 2003, sehen
darin gar einen »dritten Geist« des Kapitalismus.
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4 Dazu den Sammelband von Peter A. Berger und Michael Vester (Hrsg.), Alte Ungleichhei-
ten – Neue Spaltungen, Opladen 1988.
5 Siehe Martin Kronauer, Exklusion. Die Gefährdung des Sozialen im hoch entwickelten
Kapitalismus, Frankfurt am Main/New York 2002.
6 François Dubet und Didier Lapeyronnie, Im Aus der Vorstädte. Der Zerfall der demokratischen Gesellschaft, Stuttgart 1994.
7 Andreas Willisch, »Drogen am Eichberg oder Feuer im Ausländerheim«, Mittelweg 36,
Jg. 8, 2000, Heft 6, S. 73 – 87.
8 Heinz Bude, »Empörung ohne Moral«, in: Ders., Die ironische Nation. Soziologie als Zeitdiagnose, Hamburg 1999, S. 71– 85.
9 Ralf Dahrendorf, Der moderne soziale Konflikt, Stuttgart 1992, S. 195.
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Abstand von diesen Leuten, die ausgehalten werden, ihre Zeit vor dem
Fernsehgerät verbringen und sich ansonsten um nichts kümmern. Da ist
eine andere Welt in unserer Welt entstanden, die einen Riß im Gemeinschaftsempfinden mit sich bringt, der weder zu leugnen noch aufzuheben ist. Man wäre ja gewillt, ihnen zu helfen, damit sie wieder auf die
Beine kommen, doch lassen sie sich einfach nicht helfen. Institutionelle
Unerreichbarkeit 10, soziale Abgeschlossenheit 11 und kulturelle Selbstausschließung 12 ergänzen sich zu einem unaufhaltsamen Prozeß der Entkoppelung vom Ganzen.
Unter dem Blickwinkel der »Mehrheitsklasse« macht es im Prinzip
keinen Unterschied, welche Gründe für diese fundamentale Differenz
im Lebensgefühl geltend gemacht werden: ob die ethnische Herkunft
aus der islamischen Welt, die gesellschaftliche Überkommenheit aus
einer früheren Phase der Industrialisierung oder die innere Bindung an
ein realsozialistisches Menschenmodell – immer ist der Abstand so groß,
daß der Eindruck eines Unterschieds von drinnen und draußen entsteht.
Es gibt eine Mehrheit, die sich in der differenzierten Welt der Moderne
zu Hause fühlt und die Institutionen des Wohlfahrtsstaats zu ihrem Sozialeigentum zählt, und ein weg gedrängtes und ausgeschlossenes Fünftel der Gesellschaft, das sich von der Welt, in die es sich geworfen findet,
nichts mehr erhofft.
Daher legen die Exkludierten ein rein instrumentelles Verhältnis
zur gesellschaftlichen Allgemeinheit an den Tag. Sie ist ihnen gleichgültig, weshalb sie sich in ihren sozialen Kreisen verschließen und von
den zentralen Austausch- und Anerkennungsverhältnissen der Gesamtgesellschaft abschneiden. So sind sie auch bereit, rachsüchtigen Demagogen zu folgen, die ihnen das Blaue vom Himmel versprechen. Aber
aus ebendiesen Gründen stellen sie eine Gefahr für alle dar: Sie verzehren die Grundlagen des Wohlfahrtsstaats, bilden eine unerreichbare
Parallelwelt und fungieren als unberechenbarer Resonanzboden für populistische Bestrebungen. Der Eindruck verfestigt sich um so mehr, als mit
den hergebrachten Mitteln der Sozialarbeit und Sozialhilfe gegen dieses
Entgleiten aus der Gesellschaft offenbar nichts auszurichten ist. Im Gegenteil: Auf der Grundlage zuerkannter Anrechte für Bedürftige entsteht
eine »Kultur der Abhängigkeit«, auch verstärkt die Förderung von selbstorganisatorischen Initiativen der »communities« die ohnehin schon wir-
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10 Herbert J. Gans, »Workfare und die ›wirtschaftlich Überflüssigen‹ « in: Sabine Lang,
Margit Mayer und Christoph Scherrer (Hrsg.), Jobwunder USA. Modell für Deutschland?,
Münster 1999.
11 William Julius Williams, When Work Disappears. The World of the New Urban Poor,
New York 1996.
12 Johannes Weiß, »Über Selbstexklusion und Verständnisverweigerung«, in: Wolfdietrich
Schmied-Kowarzik (Hrsg.), Verstehen und Verständigung. Ethnologie – Xenologie – Interkulturelle Philosophie, Würzburg 2002, S. 162 –168.
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kende Tendenz zur Abschottung und Abkapselung. Schließlich mißverstehen jene, die sich von der Allgemeinheit eh nichts mehr erwarten,
praktizierte Toleranz als desinteressierte Gleichgültigkeit.
Bereits in den geläufigen Bezeichnungen des »Ghettos«, der »sozialen Brennpunkte« oder der »entvölkerten Gebiete« kommt die Vorstellung einer Exklusion vom Ganzen zum Ausdruck. Man hat es mit einem
Teufelskreis von Benachteiligung und Ausschluß zu tun, der ganze Bevölkerungsanteile aus dem Reproduktionszusammenhang der Gesellschaft
herausbricht und einer fatalen Eigendynamik überläßt: keine Ausbildung,
keine Beschäftigung, kein Einkommen, keine Familie, kein Kredit, keine
Achtung. Die Ausgegrenzten werden bestens verwaltet und höchstens
unterhalten. Dabei sollte die exkludierte Population nicht mit deprivilegierten Unterschichten verwechselt werden: Wo diese innerhalb eines
gegliederten Systems sozialer Ungleichheit noch eine bestimmte, durchaus identifizierbare Position beanspruchen können, sind jene schon in
einem Außerhalb gelandet, aus dem sie kaum noch zurückzuholen sind.
Dieser Vorstellung eines anderen unserer Mehrheitsgesellschaft, dem
eine politische Motivation der Dramatisierung von Phänomenen des
Risses im sozialen Band zugrunde liegt, entspricht eine Zwei-WeltenTheorie des Exklusionsbegriffs. Er unterstellt eine Welt der Chancen und
der Berücksichtigung auf der einen und eine Welt des Ausschlusses und
der Ignorierung auf der anderen Seite. Die Linie reicht von Unterklassentheoretikern wie William Julius Wilson und Ralf Dahrendorf 13 über
»Dual-City«-Theoretiker wie Susan S. Fainstein 14, Manuel Castells15 oder
Hartmut Häußermann und Walter Siebel 16 bis zum systemtheoretischen
Exklusionsbegriff von Niklas Luhmann.17 Luhmann geht sogar so weit,
in der Reduktion auf den Körper einen Endzustand von Exklusion zu
erkennen, der das Gesellschaftsmitglied, das in keinem der relevanten
gesellschaftlichen Subsysteme mehr angemessene Berücksichtigung findet und nur noch auf seinen Mangel festgelegt wird, zu einem Menschen
in einem geradezu vegetativen und kreatürlichen Sinne werden läßt.
»Wer seinen Augen traut«, schreibt der radikale Konstruktivist in diesem
Zusammenhang, »kann es sehen, und zwar in einer Eindrücklichkeit,
an der die verfügbaren Erklärungen scheitern.«18 Das ist dann wirklich
13 Ralf Dahrendorf, »Die Unterklasse«, in: ders., Reisen nach innen und außen. Aspekte der
Zeit, Stuttgart 1984, S. 93 –103.
14 Susan S. Fainstein, Ian Gordon und Michael Harloe (Hrsg.), Divided Cities, New York 1992.
15 Manuel Castells, »European Cities, the Informational Society, and the Global Economy«,
New Left Review 204, 1994, S. 18 – 32.
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16 Hartmut Häußermann und Walter Siebel, »Die schrumpfende Stadt und die Stadtsozio-
logie«, in: Jürgen Friedrichs (Hrsg.), Soziologische Stadtforschung, Sonderheft 29 der Kölner
Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Opladen 1988, S. 78 – 94.
17 Niklas Luhmann, »Jenseits von Barbarei«, in: ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik,
Band 4, Frankfurt am Main 1995, S. 138 –150.
18 A. a. O., S. 147.
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das ganz andere des kommunikativen Geschehens der Gesellschaft – die
apathische Teilnahmslosigkeit von Menschen, die gegenüber denen, die
zur Gesellschaft der Beschäftigten, Beschützten und Bekümmerten zählen, die Kommunikation der Nicht-Kommunikation praktizieren.
II
Dieser Exklusionsbegriff, der eine Population von Entheimateten
und Abgeschriebenen im Blick hat, stützt sich auf unterschiedliche
semantische Traditionen. Im angelsächsischen Raum kann man an den
Begriff der »underclass« anschließen, und in Frankreich bildet seit den
Tagen der Französischen Revolution »les exclus« ein Appellwort im republikanischen Diskurs.19
Der Begriff der »underclass« versteht sich vor dem Hintergrund
des britischen Kolonialismus freilich etwas anders als vor dem des amerikanischen Segregationismus. In Großbritannien ist die Wahrnehmung
der Existenz einer Unterklasse seit der Einrichtung des britischen Wohlfahrtsstaats auf eine starke Vorstellung von »citizenship« bezogen, was
die Dimensionen rechtlicher, politischer und sozialer Teilhabe betrifft.20
Die Unterklasse entsteht nach diesem Verständnis aus ungerechtfertigten Partizipationssperren, die sich besonders für die Einwanderer aus
dem Commonwealth in subtilen Formen rechtlicher, politischer und
sozialer Apartheid manifestieren. Nicht die Spaltungslogik des Klassenkampfs, sondern die Inklusionslogik des Wohlfahrtsstaats erklärt hier den
Ausschluß einer ethnisch gefärbten Gruppierung von Beleidigten und
Zukurzgekommenen.
In den USA steht als Meßlatte hinter dem Unterklassenbegriff die
meritokratische Mittelklassekultur des verdienten Lebens und der erworbenen Positionen. Dadurch wird die Unterklasse zum Negativ der
Mittelklasse, das Ghetto zur Perversion der gepflegten Vorstadtgemeinde.
Der lethargische schwarze Mann oder die von »welfare« lebende junge
schwarze Mutter, die sich von verschiedenen Männern hat schwängern
lassen, bilden die Schreckgespenste für die weißen Statussucher und
Pyramidenkletterer, die gewöhnlich die Werte der Familie und der Nation
hochhalten. Von daher wird verständlich, warum sich die amerikanischen
Untersuchungen zur Unterklasse – und zwar in rechter 21 wie in linker 22
Variante – um die normative Verirrung durch wohlfahrtsstaatliche Abhängigkeit kümmern. Es war zuletzt Bill Clinton, der mit seiner Politik
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19 Zum Folgenden Hilary Silver, »National Conceptions of the New Urban Poverty: Social
Structural Change in Britain, France and the United States«, International Journal of
Urban and Regional Research 17, 1993, S. 336 – 354.
20 Thomas S. Marshall, Bürgerrechte und soziale Klassen. Studien zur Soziologie des Wohlfahrtsstaats, Frankfurt am Main/New York 1992.
21 Charles Murray, Loosing Ground, New York 1984.
22 William Julius Williams, The Truly Disadvantaged, Chicago 1987.
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der Umstellung von »welfare« zu »workfare« diesem Denken Ausdruck
verliehen hat.
Die dahinterstehende Frage lautet: Wie kommt es im »Gelobten
Land«, wo jeder der Verfassung gemäß sein Glück machen kann, zu
diesen, auf bestimmte Räume und Gruppen konzentrierte Prozesse der
Benachteiligung? Der amerikanische Begriff der Unterklasse zeugt von
der unverminderten Bedeutung zugeschriebener Merkmale wie Hautfarbe, ethnischer Zugehörigkeit und religiöser Herkunft für die Lebenschancen und das Lebensschicksal des einzelnen. Da sitzt der Stachel im
Fleisch des liberalen Individualismus.
In Frankreich heißen die Ausgeschlossenen »les exclus« und bilden
die Parias der Nation. Der französische Exklusionsbegriff kreist um die
Vorstellung eines Zentrums der Republik, das von neuen »gefährlichen
Klassen« in Frage gestellt wird. Der hymnische Republikanismus der
französischen Tradition mit seiner klassischen Verbindung von kultureller Mission und nationaler Suggestion kann namhaft gemachte
Exklusion nicht dulden. Vorstadtkrawalle genauso wie Kopftuchaffären
schlagen sich daher in erregten nationalen Debatten nieder. Die republikanische Synthesis ist in Gefahr.
Während also der angelsächsische Begriff der Unterklasse systematische Benachteiligung aufgrund angeborener und zugeschriebener
Merkmale von Aussehen, Zugehörigkeit oder Überzeugung zum Thema macht, verbindet sich mit dem Exklusionsbegriff in Frankreich die
Vorstellung eines gesellschaftlichen Ausschlusses, der mit einem Mangel des Französischseins, was Kultur, Bildung und Lebensart angeht,
zusammenhängt. Es sind also ganz unterschiedliche Konnotationen,
die sich mit dem Exklusionsbegriff verbinden. Daran läßt sich ablesen,
wie die Gefährdungsszenarien unserer Gesellschaft durch Exklusion mit
variierenden kollektiven Selbstverständnissen verkoppelt sind, und daß
der Resonanzboden solcher Vorstellungen in der jeweiligen »Mehrheitsklasse« einer Gesellschaft liegt.
Es ist dieser implizite Wir-Bezug des Exklusionsbegriffs, der auch
der soziologischen Rekonstruktion den Anschluß an die gesellschaftliche Selbstthematisierung sichert. In Großbritannien, in den USA und
in Frankreich kann die Soziologie der Exklusion daher unmittelbar in
die Diskussionen über das gesellschaftliche Selbstverständnis eingreifen. Man weiß, wovon die Soziologen reden und was sie untersuchen.
Das ist in Deutschland ganz anders. Wir haben diese selbstverständlichen Deutungsbegriffe für gesellschaftliche Gefährdungen nicht zur
Hand, und deshalb ist die soziologische Analyse sehr viel schneller in
Gefahr, sich von der gesellschaftlichen Erfahrung abzukoppeln. Was wäre
in Deutschland der Problematisierungsbegriff, der die Gefährdung des
sozialen Zusammenhalts durch den Ausschluß wachsender Teile der Gesellschaft zum Ausdruck bringen würde?
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Dazu muß man sich klar machen, daß sich das deutsche Nachkriegskollektiv von Anfang an als eine von Schicksalen bedrängte Gemeinschaft gefühlt hat. Es war Helmut Schelsky, der mit Begriffen wie
»Schicksalsgemeinschaft« und »nivellierte Mittelstandsgesellschaft« 23 diesem Lebensgefühl eines von Krieg, Gefangenschaft, Flucht und Vertreibung betroffenen Volkskollektivs Ausdruck verliehen hat. Die ganze
Rhetorik des Wohlfahrtsstaats gehört in der Bundesrepublik zur Kriegsfolgenbewältigung, womit immer schon ein integrativer sozialer Sinn
jenseits seiner politischen Artikulation gegeben war. Das in den 60er
und 70er Jahren formulierte Teilhabemodell des »Arbeitnehmers« versuchte dann diese Nachkriegskollektivität in einen Begriff von Anrechten
und Obligationen zu fassen. Der Arbeitnehmer genoß eine an der Produktivitätsentwicklung orientierte Entlohnung und eine durch den Ausbau des Wohlfahrtsstaats garantierte Absicherung. Ausschluß und Ausgrenzung waren nach dieser Vorstellung eigentlich nur in Gestalt von
Randgruppen denkbar, für die man dann sehr schnell diverse Resozialisationsprogramme entwickelte. So wie die katholischen Mädchen vom
Lande im Zuge des Ausbaus wohlfahrtsstaatlicher Förderungsprogramme
mehr und mehr in das Bildungs- und Erwerbssystem integriert wurden,
wandte sich der Blick auf bestimmte Randgruppen, die die Integrationsaufgabe des Wohlfahrtsstaats von seinen Rändern her herausforderten.
In der Soziologie entstand dazu ein ganzer Betrieb von Bindestrichdisziplinen, die sich mit Schwererziehbaren, Alkoholkranken, Bildungsfernen beschäftigten. Nicht Exklusion, sondern Abweichung war der Begriff für den Rand der Gesellschaft, von dem die Mitte unberührt blieb.
Das ist heute offensichtlich anders. So stellt sich der Soziologie nun die
Aufgabe, eine Begrifflichkeit zu entwickeln, die das Aufkommen von Verwundbarkeiten erfaßt, die als soziale Phänomene eine Verbindung zwischen Mitte und Rand der Gesellschaft herstellen.
III
Interessanterweise entstand die erste soziologische Konzeptualisierung dieses Problems im Umkreis von 1968. Es war die von Claus Offe
und anderen zuerst auf dem legendären Frankfurter Soziologentag von
1968 vorgetragene Disparitäten-Theorie 24, die auf Gefährdungen aufmerksam machte, die sich dem klassentheoretischen Normalmodell nicht
fügen wollten. Ihr zufolge existieren in spätkapitalistischen Gesellschaften Krisenbezirke, die für den Kapitalverwertungsprozeß nur periphere
Bedeutung haben, weshalb sie durch politische Reparaturmaßnahmen
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23 Die entsprechenden Aufsätze sind in Helmut Schelsky, Auf der Suche nach Wirklichkeit.
Gesammelte Aufsätze zur Soziologie der Bundesrepublik, München 1979, enthalten.
24 Joachim Bergmann, Gerhard Brandt, Klaus Körber, Ernst Theodor Mohl, Claus Offe,
»Herrschaft, Klassenverhältnisse und Schichtung«. Referat auf dem Soziologentag 1968, in:
Verhandlungen des Deutschen Soziologentags, Stuttgart 1969, S. 67 – 87.
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zwar notdürftig daran gehindert werden, weitere Störungen für das Gesamtsystem zu produzieren, im übrigen aber sich selbst überlassen bleiben.
Offe und seine Kollegen hatten neben den in den Asylen festgehaltenen
Randgruppen schon die aus zukunftslosen Wirtschaftszweigen freigesetzten und in strukturellen Armutsgebieten lebenden Populationen im
Blick. Diese nach ihrer Meinung neuen Gegebenheiten der Disparität
von Lebensbereichen könnten systemtranszendierenden Bewegungen als
politischer Konfliktstoff dienen.
Das war im Ton der Zeit natürlich alles auf Revolte gestimmt, hatte
aber schon ein analytisches Gespür für Problemlagen, die von den Rändern her in die Mitte drängen und das ganze System irritieren. Man
sprach von problematischen Situationsgruppen, die von der traditionell
vertikalen Semantik der verschiedenen Ungleichheitsmodelle nicht erfaßt wurden. Allerdings blieb die Disparitätentheorie noch ganz einer
Zentrums-Peripherie-Vorstellung verhaftet. Die Gefährdungen kommen
von außen und reichen in die Mitte. Daß es aus der Mitte selbst heraus
Entkoppelungen vom gesellschaftlichen Reproduktionszusammenhang
geben könnte, war noch nicht gedacht.
Claus Offe hat dem sehr viel später noch eine bemerkenswerte Wendung gegeben, als er aus einer spieltheoretischen Erörterung von Zugehörigkeitsvarianten heraus die Gewinner-Verlierer-Konstellation traditioneller
Industriegesellschaften von der heutigen Inklusions-Exklusions-Konstellation unterschied.25 Die potentiellen Verlierer der Industriegesellschaft
sind immer noch im Spiel und artikulieren über ihre Interessenorganisationen die Ansprüche, die den prinzipiellen Gewinnern abgerungen
werden können. Im Marxschen Schema gesagt, stehen die Gewinner auf
der Seite des Kapitals und die Verlierer auf der Seite der Arbeit. Aber
der »institutionalisierte Klassenkampf« (Theodor Geiger) vollzieht sich
in Verhandlungssystemen zwischen Gewinnern und Verlierern, die in geschlossenen Nationalökonomien Gewinne für beide Seiten als möglich
erscheinen lassen. Doch was ist mit denen, die noch nicht oder nicht
mehr im Spiel sind, weil sie keine Verhandlungsposition innerhalb der
regulierenden Verhandlungssysteme besetzen? Das sind für Offe die »Exkludierten« unserer Gegenwartsgesellschaft, die des Rückhalts in mächtigen Organisationen oder gefestigten Lebenswelten entbehren. Man muß
hier vor allem an die Migranten der sich herstellenden Weltgesellschaft
denken, die mit den »Vertriebenen und Flüchtlingen« der Nachkriegszeit nichts mehr zu tun haben.
Folgt man den spieltheoretischen Überlegungen Offes, dann gibt es
zwei Logiken der Exklusion: Man kann aufgrund prinzipieller Kriterien
25 Claus Offe, »Moderne ›Barbarei‹: Der Naturzustand im Kleinformat?«, in: Max Miller
und Hans-Georg Soeffner (Hrsg.), Modernität und Barbarei – Soziologische Zeitdiagnose
am Ende des 20. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 1996, S. 258 – 305.
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des Ausschlusses, die mit dem Legalitätsstatus, der Sozialkompetenz, dem
Bildungsabschluß oder der Kulturaffinität zusammenhängen, gar nicht
erst ins Spiel kommen, man kann andererseits aber auch durch bestimmte Umstände der Stigmatisierung, Degradierung und Ignorierung
aus dem Spiel fallen. Ein Beispiel für den ersten Fall sind die »Ausländer« innerhalb unserer vergrößerten Welt, die relativ gesicherte Anrechte
gegen reichlich ungesicherte Angebote eingetauscht haben und dabei auf
unüberwindliche Barrieren stoßen. Ein Beispiel für den zweiten Fall
sind die »Inländer« einer hergebrachten Welt, die sich durch biographische Fehlkalkulationen, handlungslogische Schrittfehler und persönliche Rückzüge ins soziale Aus manövriert haben. Im letzteren Fall handelt es sich um Erfahrungen, die offensichtlich nicht mehr auf die
Ränder beschränkt sind, sondern auch die Mitte der Gesellschaft erfaßt
haben. Die »Mehrheitsklasse« in allen OECD-Ländern sieht sich heute
als Zeuge eines Wechsels in der herrschenden Meinung über das Soziale,
bei dem eine »Kultur der Wahl« (Ulrich Beck) auf Grundlage statusbezogener Anrechtssicherungen durch eine »Kultur des Zufalls« (Robert
Castel) auf Grundlage persönlicher Optionen und Entscheidungen ersetzt wird. Damit gewinnen die »nicht-normativen«, das heißt unvorhersehbaren und folglich auch nicht kalkulierbaren »Lebensereignisse« 26
im positiven wie im negativen Sinne Macht über das persönliche Lebensschicksal. Die andere Seite des »positiven Individualismus« jubilierender
Selbstverwirklichung ist der »negative Individualismus« gnadenloser
Selbstzurechnung.
Die Erfahrung des Kontingentwerdens der eigenen Biographie hängt
heute mit einer gefühlten institutionellen Paradoxie in den Sozialsystemen zusammen: Der Wohlfahrtsstaat, der soziale Sicherheit für alle verspricht, ist für viele zu einer Quelle sozialer Unsicherheit geworden. Es
handelt sich um einen nervösmachenden Widerspruch zwischen Erwartungen und Erfahrungen. Was man mit dem Wohlfahrtsstaat erlebt, sagt
einem, daß man sich da auf nichts verlassen kann. Anscheinend machen
die dynamische Inkonsistenz seiner Maßnahmen und die apriorische
Selektivität seiner Vergünstigungen vor niemandem halt. Wer gerade noch
in den Genuß der Regelungen zur Frühverrentung gekommen ist, darf
sich zu einer »glücklichen Generation« zählen; wer demgegenüber von
der Veränderung der Versorgungsberechtigungen in der Sozialhilfe oder
von der Umstellung der Finanzierungsarten in der Pflegeversicherung
betroffen ist, muß sich einer »geprellten Generation« 27 zurechnen. Es
wäre schon fast wieder beruhigend, könnte man sich auf einen kontinuier26 Walter R. Heinz (Hrsg.), Übergänge. Individualisierung, Flexibilisierung und Institutionalisierung des Lebenslaufs, Weinheim 2000.
27 So ein glücklicher Ausdruck von Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt am Main 1979.
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lichen Niedergang in den Gestalten von Sozialabbau und Anrechtsreduktion einstellen. Doch werden in Wahrheit immer wieder neue Übergangsregelungen für prinzipiell Anspruchsberechtigte und neue Sonderrechte
für benachteiligte Gruppen erlassen, was sich für die Nachfolgenden wohl
nur als Gnade einer früheren Geburt darstellen kann. Aus diesen Widersprüchen zwischen wohlfahrtsstaatlichen Langfristbindungen und altersgruppenspezifisch erfahrenen Kurzfristfolgen entstehen die Sozialstaatsgenerationen, die seit den 80er Jahren die Geschichte der sozialen Sicherung
in allen Wohlfahrtsgesellschaften kennzeichnen.
An dieser Stelle berührt sich das Phänomen der Exklusion mit dem
der Generation. Am Beispiel von Populationen, die gestern noch zu den
Begünstigten von Regelungen und heute zu den Betroffenen von Zumutungen gehören, zeigt sich, wie die diachrone Disparität eine Neuverteilung von Zonen der Integration, der Verwundbarkeit und der Exklusion 28 nach sich zieht. Wer sich mit einer geschickten Kombination
von stabilisierenden Transfereinkommen, zusätzlicher Eigenarbeit und
verschwiegenen Renditeeinkommen in einem bestimmten wohlfahrtsstaatlichen Arrangement eingerichtet hatte, wird von der »Reform« des
Wohlfahrtsstaats unvorbereiteter und unausweichlicher getroffen als Spätere und Jüngere, die in einen anhaltenden Devolutionsprozeß frisch einbezogen werden.
Hier erweist sich besonders das mittlere Alter als Zone extremer biographischer Verwundbarkeit, wo Erfahrungen der Degradierung durch
Praktiken der Aktivierung einen Prozeß fortschreitenden Erleidens und
nachlassenden Handelns in Gang setzen können.29 Die nie auszuschließenden Wunder eines biographischen Aufbruchs durch eine »aktivierende
Sozialpolitik« werden mit erwartbaren Abstürzen ins soziale Nichts erkauft. Hier ist eine ganze Phänomenologie der Exklusion zu erschließen,
die sich dem entzeitlichten Instrumentarium der Sozialstrukturanalyse
entzieht.
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28 Diese Unterscheidung macht Robert Castel, Die Metamorphose der sozialen Frage. Eine
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Die Formel von der »Ich-AG« bringt die zeitgenössische Problematik der Exklusion auf den Punkt. Das unternehmerische Selbst soll für
diejenigen die Rettung bringen, die in der Gefahr stehen, den Anschluß
zu verlieren. Damit treten uns die beiden Seiten der herrschenden Meinung über das Soziale vor Augen: die Zumutungen für den unternehmerischen einzelnen wie die Befürchtungen der Flexiblen und Mobilen,
überflüssig zu werden. So legt sich in den Alltagstheorien sozialer Selbst-
Michael Vester (Hrsg.), Alte Ungleichheiten – neue Spaltungen, Opladen 1998, S. 363 – 382.
Chronik der Lohnarbeit, Konstanz 2000.
29 Heinz Bude, »Die Überflüssigen als transversale Kategorie«, in: Peter A. Berger und
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einstufung über die alte, keineswegs überholte Unterscheidung von oben
und unten eine neue, die Leute ungemein beunruhigende Unterscheidung von drinnen und draußen. An der Schlüssigkeit dieser nicht mehr
nur kategorialen, sondern durchaus auch existentiellen Unterscheidung
hängt die Möglichkeit einer Wiederannäherung von Soziologie und Gesellschaft im Blick auf die Grundfrage nach sozialer Exklusion.
Selbstverständlich ist ein absolutes Außen der Gesellschaft nicht
denkbar. Bekanntlich kann man nicht nichtkommunizieren, weshalb
allein schon die Ansprechbarkeit des Phänomens der Exklusion einer
Widerlegung seiner Existenz gleichkäme. Man präferiert daher in der
Soziologie der Exklusion Zonen- oder Übergangsmodelle, die gestatten,
problematische Zustände und ausschlaggebende Schwellenwerte zu identifizieren. Wie aber lassen sich die Mischungen von Inklusionsbezügen
und Exklusionspassagen erfassen?
Eine normativ unproblematische Mischung ist die Ambivalenz von
Chancen und Risiken. Dynamische Arbeitsmärkte, mobilisierende Sozialpolitiken, enttraditionalisierte Lebenswelten und destandardisierte Berufsbiographien binden neue Chancen an unbekannte Risiken. Es gibt
keine Garantie dafür, daß das Projekt des »eigenen Lebens« gelingt. Es
kann sich herausstellen, daß die Chancen nicht realisierbar und die Risiken nicht beherrschbar sind. Aber ohne die Bereitschaft, Altes aufs Spiel
zu setzen, kann nichts Neues entstehen. Für einen Propheten der Tätigkeitsgesellschaft wie André Gorz 30 sollte die Gesellschaft so eingerichtet
sein, daß die Formen prekärer, diskontinuierlicher und pluraler Erwerbsarbeit nicht länger zum Zerfall der Gesellschaft führen, sondern neue
Formen des kollektiven Zusammenlebens und des gesellschaftlichen Zusammenhalts ermöglichen. Jenseits des Normalarbeitsverhältnisses von
qualifikationsadäquater, lebenslanger und vollzeitlicher Beschäftigung,
jenseits der Normalfamilie mit männlichem Haupternährer und jenseits
des Standardlebenslaufs durch Bildung, Beschäftigung und Verrentung
werden die Biographien unwahrscheinlicher und die Lebensformen irregulärer. Armuts- und Arbeitslosigkeitspassagen, Beschäftigungs- und Beziehungswechsel gehören nach diesem Bild zum normalen Exklusionspotential variabler Inklusionsverläufe.
Eine zweite Art der gesellschaftlichen Reaktion auf festgestellte Exklusion ist Kompensation. Das kennzeichnet den Umgang mit allen Formen
definierter Behinderung in unserer Gesellschaft. Insbesondere fordert ein
»natürlich« gegebener Ausschluß aus allgemein als relevant erachteten
Tätigkeitsbereichen und Beziehungsweisen einen »gesellschaftlichen« Ausgleich. So erklärt sich, daß die Anerkennung einer prinzipiellen Exklusion die beste Voraussetzung für eine sekundär vermittelte Inklusion darstellt. Die Anormalen werden gerade nicht aus-, sondern eingeschlossen.
30 André Gorz, Arbeit zwischen Misere und Utopie, Frankfurt am Main 2002.
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Allerdings beschränkt sich die Kompensation auf den nationalstaatlichen
Rahmen der Sozialpflege. Einem illegal sich in Deutschland aufhaltenden Rollstuhlfahrer wird man die Benutzung eines Aufzuges zum Bahnsteig des S -Bahnhofes nicht verwehren, aber Leistungen eines Physiotherapeuten wird man ihm selbst bei dringendem Bedarf verweigern.
So verfestigt die Kompensation von Exklusion die Inklusion.
Eine gefährliche Mischung von In- und Exklusion stellt die Paradoxie dar. Man gehorcht den Imperativen der Inklusion und verfängt
sich gerade deshalb in den Fallstricken der Exklusion. Dieser Verlauf läßt
sich am Beispiel des »aktiven Verlierers« 31 verdeutlichen. Der macht alles
falsch, weil er alles richtig machen will. Die Entkoppelung kommt in
der Biographie dieses Typs so zustande, daß er zu schnell zu viel riskiert
und sich dadurch alle Rückkehroptionen auf vorherige Positionen und
frühere Konstellationen nimmt. Exklusion macht sich hier als ein paradoxer Effekt geltend, der auf ein »falsches« timing von »richtigen« Einsätzen zurückgeht. Setzt man alles auf eine Karte und die Dinge laufen
dann schief, steht man schnell vor dem Nichts. Das Schicksal des »aktiven Verlierers« besteht darin, nicht zu begreifen, was ihm widerfahren
ist, weil er doch alles so gemacht hat, wie es verlangt wird. Er – und die
männliche Form ist insofern korrekt, als die Fälle dieses Typs in der Tat
meistens Männer sind – hat die Botschaft von Flexibilisierung und Mobilität ernstgenommen, hat sich umschulen lassen, ist umgezogen, hat
sich scheiden lassen, um ganz neu anzufangen, und ist trotzdem aus
dem Spiel gefallen. Der neue Arbeitgeber hat die dot.com-Krise nicht
überlebt, die neue Freundin hat sich wieder von ihm getrennt, für die
Arbeitsvermittlung war er ein Fremdkörper, und in der fremden Umgebung hat er keinen neuen sozialen Kontakt gefunden. Diese kleine Vignette einer Exklusionskonstellation zeigt, wie man trotz hoher Qualifikation, starker Motivation und fragloser Kompetenz den Anschluß
verlieren und in einem »schwarzen Loch« des Systems verschwinden
kann. Der von Paradoxien heimgesuchte »aktive Verlierer« fühlt sich ab
einem bestimmten Punkt seiner Lebensgeschichte mehr als Erleider von
Effekten denn als Bewirker von Wirkungen. Er fühlt sich aus der Welt
der Chancen verbannt und in die Welt des Ausschlusses geworfen.
Eine vierte Art der Mischung von Inklusion und Exklusion ist die
Polarisierung. Damit wird der Raumaspekt der Entkoppelung angesprochen. Wo ist man, wenn man seinen Platz in der Welt verloren hat?
Polarisierung geschieht durch Praktiken der Sichtung, Säuberung und
Sicherung. Öffentliche Orte werden so zu Räumen für die zweifelsfrei
Inkludierten gemacht, in denen die von Exklusion Bedrohten keine Auf31 Andreas Willisch und Kai Brauer, »Aktive Verlierer und passive Gewinner. Die Wahr-
nehmung individueller Aufstiegschancen und ihre integrative Kraft«, in: Berliner Debatte
INITIAL, Heft 2/3, 1998, S. 117–123.
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enthaltsberechtigung mehr haben. Auf der sonnigen Seite der Straße will
man gutgelaunte, fit erscheinende und erfolgsgewohnte Leute sehen. Die
aussortierten und abgehängten Gestalten sollen sich zu ihresgleichen
verziehen oder ganz von der Bildfläche verschwinden. Polarisierung ist
ein Prozeß der stillen Reinigung des öffentlichen Raums, der eine Zonierung der Lebenswelt mit sich bringt: in Deutschland ist es nicht das
öffentliche Ghetto, sondern es sind die privaten vier Wände, wohin sich
die Exkludierten zurückziehen. Der Nachbar, der vom vielen Weißbrot,
der fettigen Wurst und den gezuckerten Getränken außer Fasson gerät,
weil er die meiste Zeit des Tages vor dem Fernsehgerät verbringt, ist die
Figur des »Überflüssigen«, an welcher der deutschen Gesellschaft das
andere ihrer selbst vor Augen tritt.
This article aims to elucidate exclusion in the face of discrepancies between perception of the phenomenon in society and sociological reconstructions. At a time
when people increasingly dramatize the »new« gap between inside and outside,
analysts of social structure uphold the »old« inequality of top and bottom. Shifting
the focus of attention to diachronic disparities will make sociology receptive for
experience in society and open society for sociological reconstruction.
Mittelweg 36
4/2004
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