Habilitationen Zur Genetik des TownesBrocksSyndroms Jürgen Kohlhase Institut für Humangenetik, Universität Göttingen Zur Person: Jürgen Kohlhase, geb. 1965 in Rotenburg/ Ful da. 19861992 Studium der Humanmedizin an der GeorgAugustUniversität Göttingen. 1988 1992 Stipendiat der Studienstiftung des deut schen Volkes. 19931995 wissenschaflticher Mitarbeiter in der Abteilung Molekulare Ent wicklungsbiologie (Prof. Dr. H. Jäckle) am Max PlanckInstitut für Biophysikalische Chemie, Göttingen. Dissertation über „Isolierung und Charakterisierung einer humanen Genfamilie mit Ähnlichkeit zu spalt, einem regionsspezifi schen homöotischen Gen von Drosophila me lanogaster“ (1996). 19951996 wissenschaft licher Mitarbeiter am Institut für Humangenetik der Universität Gießen (Prof. Dr. U. Müller). 19962000 und seit 2001 wissenschaftlicher Mitarbeiter bzw. Assistent am Institut für Hu mangenetik der Universität Göttingen (Prof. Dr. W. Engel). 20002001 Assistenzarzt im Nieder sächsischen Landeskrankenhaus Göttingen. März 2002 Facharzt für Humangenetik. Juli 2002 Habilitation für das Fach Humangenetik an der Medizinischen Fakultät der GeorgAu gustUniversität Göttingen mit dem Thema „Genetische Grundlagen des TownesBrocks Syndroms“. Zusammenfassung der Habilitation nisch eindeutigen Fall von Townes BrocksSyndrom (s.u.). Die Erstbeschreibung des TownesBrocksSyndroms Beim TownesBrocksSyndrom han delt es sich um ein autosomaldomi nant vererbtes Fehlbildungssyndrom, welches nach P. L. Townes und E. R. Brocks benannt wurde, die im Jahre 1972 eine Arbeit über ein „erbliches Syndrom mit Analatresie, Hand, Fuß und Ohranomalien“ veröffentlichten. Townes und Brocks beschrieben in diesem Artikel eine Familie, in der so wohl der Vater als auch fünf von sie ben seiner Kinder Anomalien von Anus, Händen, Ohren und Füßen auf wiesen. Nachfolgend wurden einige Familien und sporadische Fälle mit ähnlichen Fehlbildungen beschrieben, bis 1984 der Begriff TownesBrocks Syndrom erstmals Einzug in die Lite ratur fand. Unter dem Begriff „Typus Rostockien sis“ wurden jedoch später eine ganze Reihe von Fehlbildungskombinatio nen subsummiert, wobei als charak teristische Fehlbildungen „Genital mißbildungen, Klumpfüße und Poly daktylie“ genannt und sowohl präaxi ale als auch postaxiale Polydaktylien als zugehörig betrachtet wurden. Der Typus Rostockiensis galt als eine ätiologisch ungeklärte, sporadisch auftretende Erkrankung, bis nach den ersten Beschreibungen von Patienten mit Trisomie 13 für einige Fälle des Typus Rostockiensis eine Trisomie 13 als Ursache angenommen wurde. Wegen der unklaren Abgrenzung zur Trisomie 13 wurde die Bezeichnung Typus Rostockiensis bzw. Ullrich FeichtigerSyndrom nach 1981 schließlich aus den Standardwerken der Syndromologie entfernt. Obwohl Feichtiger wie oben gezeigt tatsäch lich einen Patienten mit Townes BrocksSyndrom beschrieb, waren von ihm wie von späteren Autoren so wohl die charakteristische Fehlbil dungskombination als auch der Ver erbungsmodus nicht erkannt worden. Erst Townes und Brocks erkannten 1972 die autosomaldominante Verer bung in einer Familie, deren betroffe ne Mitglieder alle charakteristischen Fehlbildungen zeigten. Historische Anmerkungen Lenz wies 1993 darauf hin, daß die für das TBS beschriebene Kombina tion von Anomalien bereits früher als „Typus Rostockiensis“ bzw. Ullrich FeichtigerSyndrom in die Literatur eingegangen sei. In seiner Disserta tion beschrieb Feichtiger 1943 einen Jungen, bei dem eine Analatresie, dysplastische Ohren mit präaurikulä ren Anhängseln, völlige Taubheit, tri phalangeale Daumen beiderseits mit präaxialer Polydaktylie, eine verkürz te dritte Zehe rechts und eine Ver schmelzung der dritten und vierten Zehe links sowie Hypospadie und Leistenhoden vorlagen. In der Tat handelt es sich hierbei um einen kli Die Klinik des TownesBrocks Syndroms Beim TownesBrocksSyndrom (TBS) handelt es sich um ein autosomaldo minant vererbtes Fehlbildungssyn medgen 14 (2002) 367 Habilitationen Abb 1 Schematische Darstellung des SALL1Proteins (1324 Amino säuren) und Lokalisation der bis Dezember 2001 bekannten Mutatio nen. Die horizontale, mit „del“ bezeichnete Linie gibt die Position einer insge samt 1150 Bp umfassenden Deletion innerhalb von Exon 2 an. (11) zeigt, daß die Mutation 826C>T in 11 nicht verwandten Patienten gefunden wur de. An Position 1115 wurden zwei verschiedene „Nonsense“Mutationen entdeckt (2). Alle anderen Mutationen wurden jeweils in nur einer Familie gesehen. drom, welches primär durch die Kom bination charakteristischer Fehlbil dungen von Anus, Händen und Ohren charakterisiert ist. Die Häufigkeit wird mit 1 auf 250.000 Neugeborene ange geben. Analfehlbildungen können sich beim TBS als ausgeprägte anorektale Age nesie, Analstenose, Vorverlagerung des Anus, überschüssige perianale Haut oder prominente perineale Ra phe zeigen und wurden in ca. 81,3 % (eigene Daten) der Fälle beobachtet. Die Handfehlbildungen (bei ca. 87,5 % der Patienten) reichen von finger artig aussehenden Daumen über tri phalangeale Daumen bis hin zur prä axialen Polydaktylie mit oder ohne tri phalangealen Daumen. Hypoplasti sche Daumen wurden selten gese hen. An den Ohren wurden Mikrotie, sog. Satyrohren oder eingefaltete obere Helices mit oder ohne Ohran hängsel beobachtet (ca. 87,5 % der Patienten). Einige Patienten zeigten zusätzlich eine neurosensorische Schwerhörigkeit (87,5 %). Das Spektrum der Nierenfehlbildun gen (62,5 %) beinhaltet Nierendysto pien, hypoplastische Nieren und uni laterale Nierenagenesie. Auch multi zystische Degenerationen der Nieren wurden beschrieben. Als lebensbe drohliche Komplikation ist die termi nale Niereninsuffizienz zu erwähnen. Nierenfunktionsstörungen werden bei 56,3 % der Patienten beobachtet. Fehlbildungen der ableitenden Harn wege sind ebenfalls anzutreffen, so Ureterstenosen, vesikoureteraler Re flux, Meatusstenosen und (in 30 % 368 medgen 14 (2002) der männlichen Patienten) Hypospa dien. eine Chromosomenanalyse erforder lich. Häufig sind weiterhin Fußfehlbildun gen (87,5 %, Polydaktylien, Syndak tylien, Zehenfehlbildungen, Hacken, Platt und Klumpfußdeformitäten, den dritten Zeh überlappende zweite und vierte Zehen). Mutationen in SALL1 verursachen das TownesBrocksSyndrom Die genetische Ursache des Townes BrocksSyndroms war bis 1998 unbe kannt. Die Lokalisation des TBSGens war aufgrund zytogenetischer Auffäl ligkeiten bei TBSPatienten, einer pe rizentrische Inversion (inv(16)(p11.2; q12.1)) und einer balancierten Trans lokation 46,XX,t(5;16)(p15.3;q12.1), auf Chromosom 16q12.1 vermutet worden. Herzfehler wurden bei einigen TBS Fällen (eigene Daten: 25 %) beschrie ben, so bei zwei Patienten eine Fallo t’sche Tetralogie, bei einer Patientin ein Truncus arteriosus communis und ein VentrikelSeptumDefekt (VSD) und bei einem weiteren Mädchen ein VSD mit Pulmonalatresie. Eine mentale Retardierung scheint eher selten und dann in milder Form aufzutreten. Weitere seltene Auffällig keiten sind Hirnnervenlähmungen und Kolobome der Iris sowie Skoliosen, Spina bifida occulta, Rippenfehlbil dungen, Gesichtsasymmetrien und Mikrozephalie, wobei aufgrund der Seltenheit unklar ist, ob es sich hier bei nicht um zufällige Assoziationen handelt. Differentialdiagnostisch ist bei TBS das GoldenharSyndrom/ OculoAuri culoVertebrale Spektrum zu erwä gen. Bei sporadischen Fällen ist dar über hinaus eine Verwechslung mit der VA(C)TER(L)Assoziation möglich. Wichtig ist auch eine Abgrenzung gegenüber dem Katzenaugen („cat eye“)Syndrom. Bei TBSPatienten, deren Symptomatik mit dem Katzen augenSyndrom überlappt, ist daher Das Gen Hsal1, später SALL1 ge nannt, wurde aufgrund seiner Ähn lichkeit zum Gen spalt (sal) von Dro sophila melanogaster isoliert und ko diert vier SALtypische Doppelzinkfin gerdomänen, die charakteristisch über das Protein verteilt sind, sowie eine Nterminale C2HC und eine an die zweite Doppelzinkfingerdomäne angehängte C2H2Einzelzinkfingerdo mäne. Die Lokalisation von SALL1 in der chromosomalen Region 16q12.1, in welcher der TownesBrocksSyn dromGenlocus vermutet worden war, gab einen ersten Hinweis auf SALL1 als mögliches Kandidatengen für TBS. Weitere Hinweise entstammten der Beobachtung, daß die embryona le Expression der salähnlichen (und SALL1ähnlichen) Vertebratengene Msal, Xsal1 und Medaka sal einige deutliche Gemeinsamkeiten aufwies. Transkripte dieser drei Gene wurden im ZNS, in den Gliedmaßen oder Flossenknospen und in den Nierenan lagen bzw. Nierenähnlichen Struktu ren von Embryonen dieser drei Spe Aufgrund dieser Beobachtungen wur de SALL1 als Kandidatengen bei Pa tienten mit TownesBrocksSyndrom aus zwei unabhängigen Familien ana lysiert. Hierbei handelte es sich um einen sporadischen Fall sowie um eine Familie mit Betroffenen in zwei aufeinander folgenden Generationen. Alle Betroffenen zeigten den klassi schen Phänotyp des TBS mit präaxi aler Polydaktylie, typischen Ohrmu scheldysplasien und Analatresie. In beiden Familien konnten dabei durch PCR und direkte Sequenzierung heterozygote SALL1Mutationen (Fra meshift bzw. NonsenseMutation) gefunden werden, die zu einem vor zeitigen Translationsstopp führen. Beide Mutationen wurden in über 100 Kontrollchromosomen wie auch in ge sunden Familienangehörigen nicht gefunden. Es wurde daher angenom men, daß diese Mutationen ursächlich für das TownesBrocksSyndrom bei den untersuchten Patienten sind. Auf grund des Typs der Mutationen und der Beobachtung, daß den mutanten Proteinen, falls diese überhaupt ent stünden, alle SALtypischen Doppel zinkfingerdomänen fehlen würden, wurde vermutet, daß die Mutationen über eine Haploinsuffizienz für SALL1 zur Erkrankung führen. Insgesamt sind derzeit 29 verschiede ne SALL1Mutationen bekannt (davon 8 unveröffentlicht), die mit drei Aus nahmen zum TBS führen. Eine Muta tion (1819delG) wurde in einer Fami lie entdeckt, deren betroffene Mitglie der kein TBS, sondern einen Bran chioOtoRenalSyndromähnlichen Phänotyp aufweisen. Die Vermutung einer Polyphänie für SALL1 wurde durch den Nachweis der SALL1Mu tation in einer weiteren Familie mit ähnlichem Phänotyp kürzlich bestä tigt. Eine andere Mutation (1277 1278delGA) wurde bei einem Mäd chen gefunden, deren Auffälligkeiten sowohl die Diagnosen TBS als auch GoldenharSyndrom zuließen. Sieben dieser Mutationen sind „Nonsense“ Mutationen, die an sechs verschiede nen Positionen vorkommen. Die 826C>T Mutation wurde von uns bei mittlerweile sieben nicht verwandten sporadischen Patienten, von Marlin et al. (1999) bei drei nicht verwandten sporadischen Patienten und bei ei nem sporadischen Patienten durch Keegan et al. (Keegan et al. 2001) ge funden. Daher ist diese Mutation mit einer Detektion in 11 von 38 Muta tionspositiven Familien bei weitem die häufigste in SALL1, und die Posi tion 826C stellt einen echten „hot spot“ für Mutationen dar. Darüber hin aus ist diese Mutation für 11 von 23 (47,8 %) derjenigen sporadischen TBSFälle verantwortlich, bei denen eine Mutation nachgewiesen wurde. Die überwiegende Mehrheit der SALL1Mutationen (21) sind Leserast ermutationen, d.h. kleine (<100 Bp) Deletionen (16), eine größere Deletion (1150 Bp) in Exon 2 und vier kurze In sertionen. Obwohl TBSverursachen de SALL1Mutationen inzwischen über fast das gesamte Exon 2 verteilt zu sein scheinen, ist doch weiterhin zu beobachten, daß 22 von 29 SALL1Mutationen 5’ von oder inner halb der Region liegen, die für den er sten Doppelzinkfinger kodiert. Dies legt die Vermutung nahe, daß diese Region besonders zu Mutationen neigt. Mutationen in Exon 1 und 3 wurden bislang nicht beobachtet. Habilitationen zies detektiert. Darüberhinaus fand sich bei Maus und Krallenfrosch eine Expression der Gene in der Herzanla ge und im sich entwickelnden Innen ohr. Demnach lag eine Übereinstim mung der Expressionsdomänen die ser Gene mit den beim TBS betroffe nen Organen und Geweben vor. Es ist bisher nicht möglich, bestimm ten SALL1Mutationen einen be stimmten Phänotyp zuzuordnen. Le seraster oder Stoppmutationen kön nen unabhängig von ihrer Position in Exon 2 TBS verursachen. Auch für den BORSyndromähnlichen Phäno typ scheint keine Korrelation zu be stimmten Mutationstypen oder loka lisationen möglich, soweit dies von nur zwei untersuchten Familien bzw. zwei Mutationen abgeleitet werden kann. Bisher wurde keine „Missense“ Mutation in SALL1 bei TBSPatienten gefunden. Zur Funktion des Gens SALL1 Aufgrund der Anwesenheit von Dop pelzinkfingermotiven des C2H2 oder KrüppelTyps (nach dem Drosophila Gen Krüppel) wurde angenommen, daß SALL1 als DNAbindender Trans kriptionsfaktor funktioniert. Um die Pathogenese des TownesBrocks Syndroms auf molekularer Ebene zu verstehen, wurde zunächst zum Nachweis der intrazellulären Lokalisa Anzeige Anzeige medgen 14 (2002) 369 Habilitationen tion ein GFPSALL1Fusionsprotein in NIH3T3Zellen exprimiert und ge zeigt, daß das SALL1Protein nicht wie erwartet homogen im Nukleus, sondern am perizentromerischem Heterochromatin lokalisiert ist, die in nere Kernmembran netzartig ausklei det sowie partiell mit M31, dem muri nen Homologen des heterochromatin bindenden Proteins HP1 von Droso phila melanogaster, kolokalisiert ist. SALL1 fungiert als transkriptioneller Repressor und interagiert mit PIN2, einer Isoform des TelomerRepeat bindenden Proteins TRF1. Die molekulare Pathogenese des TownesBrocksSyndroms Alle SALL1Mutationen, die bei TBS Patienten gefunden wurden, resultie ren in präterminalen Stoppkodons und sollten wegen des „nonsense mediated messenger decay“ über eine SALL1Haploinsuffizienz das TBS verursachen. Der „knock out“ des SALL1homologen Mausgens Sall1 führt bei homozygoten Nullmu tanten jedoch nur zu einer Agenesie oder schweren Dysgenesie beider Nieren aufgrund unvollständigen Aus wachsens der Ureterknospe im Em bryo. Weder hetero noch homozygo te Sall1KnockoutMäuse jedoch wei sen einen TBSähnlichen Phänotyp auf. Die molekulare Pathogenese des TownesBrocksSyndroms ist daher bisher nur unzureichend verstanden. 370 medgen 14 (2002) Literatur Kohlhase J, Schuh R, Dowe G, Kühnlein RP, Jäckle H, Schroeder B, SchulzSchaeffer W, Kretzschmar HA, Köhler A, Müller U, RaabVet ter M, Burkhardt E, Engel W, Stick R (1996): Iso lation, characterization, and organspecific ex pression of two novel human zinc finger genes related to the Drosophila gene spalt. Genomics 38, 291298 Kohlhase J, Wischermann A, Reichenbach H, Froster U, Engel W (1998): Mutations in the SALL1 putative transcription factor gene cause TownesBrocks syndrome. 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Hum Mol Genet 10, 3017 3024 Korrespondenzadresse PD Dr. Jürgen Kohlhase Facharzt für Humangenetik Institut für Humangenetik HeinrichDükerWeg 12 37073 Göttingen Tel. 0551397592 oder 39 9302 (Labor) Fax 0551399303 [email protected] http://www.humangenetik.gwdg.de/