Josef Matthias Hauers verkannte Theorie

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Josef Matthias Hauers verkannte Theorie
und missverstandene Ästhetik
Ricarda Rätz
Die frühesten Kompositionen, in denen alle 12 Töne der chromatischen Skala eine gleichberechtigte Rolle spielen, werden in erster Linie mit dem Namen Arnold Schönberg verbunden.
Nur wenige schreiben dem etwa zur gleichen Zeit lebenden Josef Matthias Hauer die Erfindung der Zwölftonmusik zu. Im Allgemeinen gilt Hauer als eigensinniger Kauz, der für sich
ebenfalls das Recht in Anspruch nehmen will, die Zwölftonmusik entdeckt zu haben, dem
Vergleich mit Schönberg aber nicht standhalten kann. Gegenüber dem expressiven Stil
Schönbergs wurden Hauers Werke als schematisch und statisch rezipiert. Durch die starke
Präsenz der Schönberg-Schule und der daraus entstandenen Entwicklung gerieten Hauers
Musik wie auch sein theoretischer Ansatz zunehmend in Vergessenheit.
Grundlage Chinesische Philosophie
Hauer entwickelte sowohl seine musikalische Theorie als auch die klangliche Ästhetik seiner
Komposition durch seine Auseinandersetzung mit der alten chinesischen Philosophie. Schon
in den 1920er Jahren kannte Hauer das I Ging sowie das Tao te king. Er übte sich im Meditieren, was für einen Wiener Bürger seiner Zeit äußerst ungewöhnlich gewesen sein muss.
Die Erfahrungen, die er in der Meditation gemacht zu haben scheint, waren für ihn offenbar
so überwältigend, dass er seine gesamte musikalische Theorie aus alten chinesischen philosophischen Begriffen abzuleiten versuchte.
Analog dem Yin und Yang der alten chinesischen Philosophie versuchte Hauer, polar entgegengesetzte Bereiche in der Musik festzulegen. Dabei kam er zur Gegenüberstellung der
folgenden Tabelle, die sich in mehreren Veröffentlichungen1 Hauers findet, jedoch auffälliger
Weise nicht die geläufigen Mittel zur Kontrastbildungen wie z.B. laut – leise, schnell – langsam oder Ähnliches enthält, denn Hauer trachtete danach, sich von herkömmlichen Stilmitteln loszusagen.
1
Josef Matthias Hauer: Vom Wesen des Musikalischen. Grundlagen der Zwölftonmusik, Hg. Victor
1
Sokolowski, Berlin 1966/ 1920, S. 5; 1923. J. M. Hauer: „Atonale Musik“, in: Die Musik 16/2 (1923), S.
103; Ders.: „Musikalisches Denken“, in: Musikblätter des Anbruch 5/3, S. 79.
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2
Ton Intervall
Geräusch Klang
Rhythmus Melos
absolute Tonhöhe
relative Tonhöhe
be„ton“t
tonal
Obertonspektrum
Geige, Horn, ...
jodeln, brüllen ...
wohltemperiert
atonal
Klangfarbentotalität
Klavier, Orgel, ...
Regeln, Konvention singen, sprechen ...
Harmonielehre, Kontrapunkt Gesetz, Nomos
Gegenstand Melodielehre, Melosdeutung
Bewegungsmoment
Tonal – atonal
Das Hauptgegensatzpaar dieser Zusammenstellung betrifft die Kategorien tonal und atonal.
Unter tonaler Musik versteht Hauer dabei – anders als im herkömmlichen musiktheoretischen Begriffssystem – eine vom Rhythmus dominierte, auf den natürlichen Obertonverhältnissen beruhende, den persönlichen Affekten unterworfene Musik.
Diesem rhythmisch dominierten tonalen Pol stellt Hauer ein atonales, vom Melos geprägtes
musikalisches Empfinden gegenüber. Als Melos definiert Hauer dabei Intervallfolgen ohne
rhythmische Komponente. Dieser vom Melos geprägte atonale Pol wird von Hauer als ein
rein geistiges Ereignis bezeichnet, denn die Wahrnehmung einer Tonhöhenfolge ist ohne
Tondauern nicht möglich. Da das Yang nach altchinesischem Verständnis den geistigen Pol
darstellt, kann man davon ausgehen, dass Hauer den atonalen Pol mit dem chinesischen
Yang gleichsetzt, während dem tonalen Pol das Yin zugeordnet wird.
Atonal ist ein zentraler Begriff in Hauers theoretischen Schriften, von dem er eine überaus
eigene Auffassung hatte, die sich nur teilweise mit der üblichen deckt. Die allgemeine Problematik dieses Begriffs (der von Schönberg übernommen wurde) beruht auf seinem ausschließlich negierenden Wortsinn. Doch Hauer hat unter Umständen gar nicht an eine musiktheoretische Bedeutung des Begriffs gedacht, sondern auch hier nach einer Analogie zur
alten chinesischen Philosophie gesucht. Dort ist der verneinende Sprachgebrauch keine Negation, sondern der Versuch, eine Alternative zu formulieren, für die es kein Wort gibt.
Im Einklang mit der üblichen Bedeutung versteht Hauer unter atonal das Fehlen eines tonalen Zentrums, das durch den gleichmäßigen Einsatz aller 12 Töne des temperierten Ton-
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systems ersetzt wird und mit dem die Gleichberechtigung aller Intervalle einhergeht. Aus
dem oben Gesagtem geht jedoch deutlich hervor, dass für Hauer der Begriff atonal als rein
geistiges Ereignis eine metaphysische Komponente enthielt, indem er mit den chinesischen
Yang identifiziert wird.
Da in der chinesischen Philosophie erst durch die Verbindung der beiden Pole Yin und Yang
die Wirklichkeit entsteht, kann sich nach Hauer die Musik auch nur aus der Vereinigung von
rhythmischen und melischen Elementen entfalten. Eine gute Verbindung zwischen einer atonalen Intervallfolge und einem tonalen Rhythmus ist demnach eine Melodie. Die beiden Extrema für sich alleine taugen nicht zum musizieren, „aber [...] rei nigend und ber einige nd
wirkt der längere Aufenthalt in diesen luftigen Sphären, in dieser ‚Höhensonne‘. Ganz besonders der Aufenthalt auf dem mel is c hen Pol der Musik ist eine Übung, eine Stärkung in
der musikalischen Tugend. Ein Musiker, der sich lange Zeit darin übt, einstimmige Melodien
mit den zwölf wohltemperierten Tönen zu s in gen, ein solcher Musiker kommt weit ab vom
Banalen, Trivialen und von falscher Sentimentalität“2.
Intuition versus Kalkül
Diese läuternde Wirkung habe die atonale Melodie, weil ihr Ursprung in der musikalischen
Intuition liege. Wie man nun zur musikalischen Intuition gelangen könne, beschreibt Hauer
folgendermaßen: „Zur Ermöglichung der Intuition ist es zunächst geboten, alles Sinnliche,
Affektiöse auszuschalten – bequeme Kleider, die nirgends beengen und das Blut frei zirkulieren lassen, leicht verdauliche, wenig gewürzte Speisen, Körperhaltung so, daß man sich
nicht spürt, alle Muskeln entspannen, den Kopf gerade (…) – peinlichste Stille im Raum
(man bedenke, die Intuition ist in erster Linie ein Zeiterlebnis, es gibt nur eine mus ikalis che
Intuition) – halbstarkes ruhiges Licht, mäßige Temperatur – alles aus sich entfernen, was zu
einer inneren Gleichgewichtstörung führen könnte – es geht, wenn es sich auch ein
betriebsbesessener Europäer schwer vorstellen kann“ 3.
Hauers Anweisungen zeigen deutlich, dass er unter musikalischer Intuition einen meditativen
Vorgang versteht. Beim Meditieren selbst soll man keine Verbindung zur Außenwelt mehr
haben, keine emotionalen Empfindungen, alles Individuelle soll abgelegt werden: „In dem
Zustand der vollständigen Affektlosigkeit und unter den obigen Voraussetzungen, förmlich
mit einem Gedanken- und Gefühlsvakuum, setze man sich nun zum Instrument und spiele in
der Mittellage, halbstark, nacheinander langsam zunächst zwei Töne an, dann einen dritten,
2
Josef Matthias Hauer: Vom Melos zur Pauke. Eine Einführung in die Zwölftonmusik. Arnold Schönberg gewidmet. Wien 1925, S. 10.
3
Josef Matthias Hauer: Deutung des Melos. Eine Frage an die Künstler und Denker unserer Zeit.
Leipzig, Wien, Zürich1923, S. 21-22.
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und so fort, bis alle zwölf Töne innerhalb einer Oktave […] abgespielt sind“ 4. Die meditative
Erfahrung liegt also im Abspielen einer Zwölftonreihe. Das Melos ist für Hauer eine Tonfolge,
die in ihrer reinen Form nur in der Meditation wahrgenommen werden kann.
Da die Voraussetzungen für die Wahrnehmung des Melos ein Gedanken- und Gefühlsvakuum sein soll, meint Hauer, den individuellen Anteil am schöpferischen Prozess ausgeschaltet
zu haben. Als Grundlage seiner Kompositionen betrachtet er weder den musikalischen noch
den konstruktiven Einfall, sondern eine entpersönlichte Wahrheit, die durch das Melos verkörpert wird. Damit erhebt er mit seiner Musik, vor allem in der Phase der Zwölftonspiele,
den Anspruch auf Objektivität, bei der es keinen schöpferischen Anteil gäbe: „Eine atonale
Melodie kann nicht erfunden, sondern nur ‚gehört‘ werden“ 5.
Im allgemein musikalischen Sprachgebrauch könnte man sagen, Hauer stellt eine Zwölftonreihe aufgrund seiner meditativen Erfahrung und nicht auf der Grundlage eines mathematischen Kalküls auf. Er betrachtet seine Zwölftonfolgen als objektive Wahrheit, da er sie in
einer entpersönlichten Bewusstseinsebene erlebt. Die Entpersönlichung beruht nach seinem
Verständnis nicht auf algorithmischen Strukturen, sondern auf einer meditativen Wirklichkeit.
Melos
Auch der Begriff des Melos geht bei Hauer weit über die oben gegebene Definition einer
rhythmuslosen Intervallfolge hinaus, denn es hat für ihn dieselbe Funktion wie das chinesische Tao, welches nach altem chinesischem Verständnis der Ursprung allen Seins ist und
als transzendente Kraft seine Omnipotenz permanent ausübt. Hauer spricht vom unabänderlichen, unantastbaren, unbegreiflich, unveränderlichen, ewigen Melos, von dem sich „alle
Erscheinungen der Welt geistig herleiten lassen [...]“6. Das Melos (die Intervallfolge) ist somit
wie das Tao das rein Geistige, Höchste, der Gipfel der Erkenntnis usw. Da sich das Tao
sprachlich nicht fassen lässt, war Hauer wahrscheinlich der Meinung, dass es musikalisch in
Form des Melos vernehmbar sei und nur in der Meditation erfasst werden könne.
Wie diese beiden Beispiele zeigen, benutzte Hauer für seine musiktheoretischen Schriften
eine mystische Sprache, die ein unmittelbares Verständnis des Inhalts erschwert. Die von
ihm verwendeten Begriffe, wie z.B. atonal oder Melos, sind mit metaphysischen Inhalten aufgeladen, so dass seine musikalische Theorie an einigen Stellen zu einer skurrilen Philosophie gerät. Die oft irreführenden Formulierungen schlichter Sachverhalte sind wahrscheinlich
aus Angst vor Plagiatoren entstanden, aber vielleicht auch, weil Hauer seine musiktheoretischen Überlegungen auf eine esoterische Ebene heben wollte. Doch dieser Versuch sich zu
4
Josef Matthias Hauer: Deutung des Melos 1923, S. 22-23.
Josef Matthias Hauer: „Melos und Rhythmus“, in: Melos 3/4-5 (1922), S. 186.
6
Josef Matthias Hauer: Deutung des Melos 1923, S. 15.
5
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schützen, hat dazu geführt, dass Hauers Theorie und Musik im Allgemeinen nicht verstanden
wurden. Die Sprache seiner Schriften ließ nicht erkennen, worum es Hauer ging, und die
Kompositionen erweckten den Anschein befremdlicher Trivialität.
Hauers erste, 1918 im Selbstverlag erschienene theoretische Arbeit Über die Klangfarbe
bzw. dessen überarbeiteten Fassung Vom Wesen des Musikalischen (1920 zum ersten Mal
veröffentlicht) enthält ausführliche Berechnungen zum reinen und temperierten Tonsystem,
die jedoch keinerlei Neuigkeiten liefern, denn die Abweichungen zwischen reiner und temperierter Stimmung sowie die Differenzen der reinen Intervalle zueinander waren hinlänglich
bekannt. Vielmehr versuchte Hauer mit diesen Rechnungen zu begründen, dass im temperierten Tonsystem Polarität enthalten sei.
Bei Hauer ist ein Ton jedoch keine selbständige Größe, sondern repräsentiert gleichzeitig
eine Tonart und ein Intervall. So steht beispielsweise der Ton c für die Tonarten C-Dur und cMoll sowie für das Intervall der Oktave.
Ton & Farbe
Diese Ton-Intervall-Tonarten-Komplexe verknüpft Hauer mit bestimmten Farben in der Weise, dass den Komplexen im Tritonusabstand Komplementärfarben zugeordnet werden. Solche Verbindungen haben bei Hauer keine synästhetische Ursache, sondern sind vielmehr
ein weiteres Mittel, seinem polaren Denkansatz Ausdruck zu verleihen. Jedem Ton wird eine
Farbe zugeordnet und damit wird die Zugehörigkeit zum jeweiligen polaren Bereich charakterisiert. Genauso wie Yin und Yang fließend ineinander übergehen ist nach Hauer der Anteil,
den jeder Ton an einem der Pole hat, unterschiedlich stark ausgeprägt; z.B. werden dem
Ton g mit der Farbe Gelb mehr positive Anteile zugesprochen als dem Ton a mit Zinnoberrot.
Plusseite
Ton Intervall
c
r.8
g
r.5
d
gr. 2
a
gr. 6
e
gr. 3
h
gr. 7
warme Farben
Lichtgrün
Gelb
Orange
Zinnoberrot
Karmin
Purpurrot
Minusseite
Ton Intervall
ges v .5
des k l. 2
as
k l. 6
es
k l. 3
b
k l. 7
f
r.4
kalte Farben
Purpurviolett
Blauviolett
Ultramarineblau
Türkisblau
Blaugrün
Zinnobergrün
In die Zeit dieses Ton-Farben-Kreises fällt Hauers Freundschaft mit dem Maler Johannes
Itten. Die Affinität beider zueinander beruhte offenbar auf ästhetischen Gemeinsamkeiten,
die sich zum einen in einer Analogie zwischen gegenstandsloser Malerei und atonaler Kompositionsweise zeigten, zum anderen in ihrem Denken in polar entgegengesetzten Elementen.
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Harmonie-Verständnis
„Harmonie heißt Gleichgewicht, Symmetrie der Kräfte“7 schreibt Johannes Itten in seiner
Farbenlehre, eine Auffassung, die sich mit den Harmonievorstellungen der alten chinesischen Philosophie deckt, nach der vollkommene Harmonie durch das Gleichgewicht der polaren Kräfte Yin und Yang entstehe. Harmonie, im Sinne dieses Gleichgewichts, wollte Hauer
in der Musik offenbar dadurch erreichen, dass Töne aus den verschiedenen, über den Umweg der Farben definierten polaren Bereichen, gleichermaßen am musikalischen Geschehen
beteiligt werden. Da nun die Töne den polaren Bereichen unterschiedlich stark zugehören
sollen, würde jede Auswahl von Tönen eine gewisse Unausgewogenheit zur Folge haben.
Demnach kam Hauer zu der Auffassung, dass vollkommene Harmonie in der Musik nur dann
hergestellt werden könne, wenn kein Ton in irgendeiner Form bevorzugt werden würde. Die
Regel, alle 12 Töne des temperierten Tonsystems gleichermaßen zu verwenden, entspricht
bei Hauer ganz offensichtlich einem Harmonieverständnis, das sich von der altchinesischen
Philosophie herleitet, ganz im Gegensatz zu Schönberg, dem es mit derselben Regel um die
Emanzipation der Dissonanz ging.
Damit bekommt der Begriff atonal noch eine weitere Dimension, denn atonal ist bei Hauer
der Ausdruck für vollkommene Harmonie, Wahrhaftigkeit, Vollkommenheit sowie reiner Musik, ja Musik überhaupt. All diese Eigenschaften sah Hauer durch die gleichförmige Verwendung aller zur Verfügung stehenden 12 Töne gerechtfertigt, weil so die Balance zwischen
allen Tönen gewahrt werden würde und sich das Melos in der Funktion des Tao (siehe oben)
nur auf diese Weise in der Musik verwirklichen könne.
Tropen
Um die 479.001.600 Tonkombinationen, die mit 12 verschiedenen Tönen möglich sind, überschauen zu können, entwickelte Hauer das System der Tropen: „[...] Weihnachten 1921 war
ich bereits so weit, alle Melosfälle überschauen, sie in größere und kleinere Gruppen einteilen zu können; ich entdeckte die ‚Tropen‘, die nun an Stelle der früheren Tonarten zur praktischen Verwendung kamen“8. Eine eindeutige Definition, was eine Trope ist, findet sich bei
Hauer jedoch genauso wenig wie eine ausführliche Darstellung des Systems. Hauer hat
mehrere Tropentafeln aufgestellt, die verschiedene Notationsformen benutzten, obwohl sie
sich inhaltlich nicht unterscheiden. Ein unkompliziertes Verständnis der wesentlichen Aspekte des Systems der Tropen wird erschwert, weil Hauer für die Tropentafeln seine eigens
7
Johannes Itten: Kunst der Farbe. Subjektives Erleben und objektives Erkennen als Wege zur Kunst,
1
Studienausgabe, Ravensburg 1987 [ 1961], S. 19.
8
Josef Matthias Hauer: „Die Tropen.“ In: Musikblätter des Anbruch 6/1 (1924), S. 20.
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dafür entwickelte Notenschrift benutzte und dieselben Tropen der Tafeln aus den 1920er
Jahren in der Tafel aus dem Jahr 1948 mit anderen Nummern versehen hat.
Das entscheidende Merkmal einer Hauer´schen Trope ist, dass sie aus zwei Hexachorden
besteht, die sich zu 12 verschiedenen Tönen ergänzen. Nach Hauers Aussagen dürfen die
Töne innerhalb der Hexachorde beliebig angeordnet, die Hexachorde vertauscht und die
gesamte Trope transponiert werden. Auf diese Weise meinte Hauer, sämtliche Permutationen, die mit 12 verschiedenen Tönen gebildet werden können, erfasst zu haben. Tatsächlich
lässt sich jede beliebige Zwölftonreihe einer Trope zuordnen. Dazu muss die jeweilige Reihe
in zwei Hälften mit je 6 Tönen zerlegt und die Töne müssen innerhalb dieser Hälften skalenförmig aufgereiht werden:
Beispiel 1
Pierre Boulez: Structures
Entscheidend ist, dass eine Zwölftonreihe in zwei Teilreihen mit 6 Tönen zerlegt werden
muss und die Töne dieser Hexachorde skalenförmig angeordnet werden müssen, denn nur
so kann man erkennen, um welche Trope es sich handelt. Da die Verbindung der beiden
skalenförmig aufgereihten Teilreihen eine Skala mit 12 Tönen ergibt, ließe sich sagen: Tropen sind Zwölftonskalen, die aus zwei sich im Tonvorrat zu 12 verschiedenen Tönen ergänzenden Hexachorden bestehen. Obwohl Hauer keine Definition einer Trope gegeben hat, die
annähernden Charakter hätte, so kann doch die von ihm gewählte Bezeichnung im Sinne
einer Skala verstanden werden, denn der ursprünglich aus dem Griechischen stammende
Begriff tropos (= Wendung, Weise) wurde in der frühen mittelalterlichen Musiklehre neben
Modus und Tonus zur Bezeichnung der Kirchentöne verwendet. Mit der engeren Bezeichnung der nachträglichen syllabischen Textierung gegebener melismatischer Gesänge seit
dem 9. Jahrhundert kann der Begriff bei Hauer nicht in Verbindung gebracht werden.
Hauer stellte es als vollkommen selbstverständlich hin, dass es nur 44 Tropen gäbe. Mehrfach wiederholte er den Satz, dass er ausnahmslos alle, sich durch die Fakultät von 12 errechnenden 479.001.600 Anordnungsmöglichkeiten der 12 chromatischen Töne in 44 Tro-
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pen geordnet habe. Wie er zu dieser drastischen Reduzierung gelangt war, begründet er
nicht. Nach Hauers eigener Darstellung hat er sämtliche Permutationen der zwölf Töne in
Tropen eingeteilt oder die Tropen entdeckt, als wenn die Tropen naturgegebene Erscheinungen wären, die man nur ordnen oder entdecken müsse. Doch die Aufgabe, 479.001.600
Permutationen einzeln durchzugehen und miteinander zu vergleichen, ist viel zu umfangreich, als dass man sie ohne datenverarbeitende Hilfsmittel, wie z.B. einem Computer, lösen
könnte.
Das Hauer´sche System erfasst tatsächlich sämtliche Zwölftonkonstellationen, wenn sie in
zwei skalenförmig geordnete Hexachorde strukturiert werden, was durch systematische
Vertauschungen der sechs Tritoni, die sich in jeder Zwölftonreihe finden, nachgewiesen werden konnte9. Damit ist es Hauer bereits in den 1920er Jahren gelungen, sämtliche Permutationen, die zwölf verschiedene Töne bilden können, systematisch zu erfassen, und dies
muss als ein wichtiger Beitrag zur Theorie der zwölf Töne gewertet werden.
Sämtliche Tropen weisen bemerkenswerte Symmetrien auf, entweder in sich selbst oder im
Verhältnis zu anderen Tropen. Die einzigen Symmetrien, die Hauer erwähnt, sind 8 Tropen,
deren beide Hälften aus zwei verschiedenen Transpositionen desselben Hexachords bestehen und von ihm als widergleiche Tropen bezeichnet werden. Weiterhin treten bei einigen
Tropen Spiegelungen auf, so dass das Spiegelbild einer Tropenhälfte zur zweiten führt.
Spiegelungen und/oder Transpositionen können auch innerhalb eines oder beider Hexachorde vorkommen. In einigen Tropen liegen mehrere der genannten Symmetrien gleichzeitig vor. Nicht alle Tropen können auf 12 verschiedene Stufen transponiert werden, da dies in
Ausnahmefällen nicht zu einer neuen Tonauswahl in den Hexachorden führt. Auch gibt es
Tropen, bei denen nicht alle Permutationen der Töne zu neuen Intervallverhältnissen führen10.
Die Tropen in der Komposition
Die kompositorische Anwendung der Tropen durch Hauer wird jedoch nicht vollständig klar.
Denn er verwendete die 12 Töne weder als Skala noch als Reihe. Die auffälligen Tropeneigenschaften (wie z.B. besondere Symmetrien oder eingeschränkte Möglichkeiten zu permutieren und transponieren) nutzte Hauer nicht als konstruktive Besonderheiten. Das entscheidende Moment einer Trope schien für Hauer die Aufteilung derselben in chromatische
Schichten zu sein. Dabei werden die unmittelbar aufeinanderfolgenden kleinen Sekunden
9
Für Einzelheiten des Nachweises der 44 Tropen siehe: Ricarda Rätz: Josef Matthias Hauers Theorie
und Musik, erschienen 2003 beim MENSCH&BUCH VERLAG, Berlin; http://www.menschundbuch.de.
10
vgl. ebd.
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9
innerhalb eines Hexachords zu einer chromatischen Schicht zusammengefasst. Beispielsweise für die in Beispiel 1 gegebene Trope 6/3 wie folgt:
Beispiel 2
Chromatische Schichten der Trope 6/3
Die Anzahl der Schichten steht direkt mit der Anzahl der kleinen Sekunden des Hexachords
in Verbindung, denn je mehr kleine Sekunden in einem Hexachord zu finden sind, desto weniger chromatische Schichten lassen sich bilden.
In etlichen Kompositionen werden die Töne, die einer chromatischen Schicht angehören, zu
einer Stimme im musikalischen Satz. Das ist jedoch nicht immer der Fall, auch dann nicht,
wenn keine Begründung gefunden werden kann.
Permutationssysteme von Reihen sucht man in Hauers Kompositionen vergeblich. Die in der
Hauer-Literatur oft abgebildeten Reihenpläne stellen meistens einen Ton-Material-Plan dar,
der jedoch selten 1:1 auf die Komposition übertragen wurde. Trotzdem erwecken Hauers
Kompositionen oft den Eindruck eines simplen Schematismus, der zumeist durch ein
schlichtes Notenbild hervorgerufen wird.
Doch es ist nicht Unvermögen, das Hauer auf raffinierte Kompositionstechniken verzichten
lässt, um zu einer komplexeren Musik zu gelangen, denn er lehnte traditionelle musikalische
Kriterien radikal ab. Hauer hat, wie kein anderer seiner Zeitgenossen, mit sämtlichen bis dahin geltenden ästhetischen Werten gebrochen. In allen Bereichen suchte er nach einem vollständig neuen, die bisherige westeuropäische Musiktradition negierenden Ansatz.
So versuchte er durch hartnäckige Ablehnung der Harmonielehre seine eigenen kompositorischen Grundlagen von der Einstimmigkeit herzuleiten. Dabei ist es konsequent, dass Hauer, einen kompositionstechnischen Kompromiss suchend, eigene Kanontechniken entwickelte, da der Kanon das klassische Mittel darstellt, welches aus einer einstimmigen melodischen Linie Mehrstimmigkeit entstehen lässt. Das Spezielle der Hauer´schen Kanons besteht darin, dass alle Kanonstimmen gleichzeitig an einem anderen Punkt einer zwölftönigen
melodischen Linie einsetzen und genau in dem Moment abbrechen, bei dem sich das Geschehen wiederholen würde:
Beispiel 3
Zweite Kanontechnik, Beispiel aus Zwölftontechnik. Die Lehre von den Tropen. Wien: Universal Edition 1926
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Hauers eigentlicher Schematismus liegt nicht im Abspulen vorher organisierter Ton-Reihen
oder Tropen, sondern in Form- und Verlaufs-Plänen einer Komposition. Hier finden sich
Zahlenproportionen, die das Auftreten einzelner musikalischer Elemente bestimmen und
denen sich alle weiteren musikalischen Parameter unterzuordnen haben.
Beispielsweise in dem Klavierstück op. 25, Nr. 15, einem jener Klavierstücke, denen Hauer
Text-Zeilen aus Hölderlin-Gedichten als Überschriften voranstellte. In dieser Komposition
wechselt eine durchgängige Achtelbewegung zwischen der linken und rechten Hand des
Spielers. Werden die Anteile ausgezählt, die den beiden Händen an der Achtelbewegung
zukommen, so ergeben sich 8 Takte für die linke und 16 Takte für die rechte Hand, was einem Zahlenverhältnis von 1:2 entspricht. Dieses Abwechseln der linken und rechten Hand
des Spielers ergibt einen symmetrischen Formaufbau: nach vier Takten der rechten Hand,
kommen vier Takte der linken. In der Mitte des Stücks übernimmt die rechte Hand acht Takte, dann wieder vier Takte die linke und schließlich vier Takte die rechte Hand.
Die ästhetischen Ziele, die Hauer in seiner Musik verfolgte und zu deren Zweck er seine
Kompositionstechniken und Formkonzepte entwickelte, haben ihre Wurzeln ebenfalls in seiner Beschäftigung mit der alten chinesischen Philosophie. Das Fehlen jeglicher rhythmischer
oder dynamischer Akzentuierungen seiner Musik ist nicht das Produkt fehlender Fantasie
oder mangelhaft angewendeter Kompositionstechniken, sondern erklärtes Ziel: „Die gewollte
Mon otonie in diesem Werk soll dem melischen ‚Hören‘ dienen“11.
11
HAUER, Josef Matthias. 1927. „Siebente Suite, op.48. Zur Aufführung am 1. Juli 1927.“ In: Melos
6/6, S.256.
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11
Wie bereits gezeigt wurde, hat der Begriff Melos für Hauer eine umfassende esoterische Bedeutung, der in seiner reinen Form nur in der Meditation erfasst werden
kann. Mit melischem Hören ist demnach ein meditatives Hören gemeint, dass Hauer
durch eine gewollte Monotonie zu erreichen versuchte. Hauers Musik stellt somit seit
den 1920er Jahren den Versuch dar, eine meditative Musik zu schreiben, was bis
heute bei der Interpretation und Beurteilung seiner Musik viel zu wenig berücksichtigt
wird.
Zwölftonspiele
In Hauers letzter Schaffensphase schuf er die sogenannten Zwölftonspiele, die von einigen
seiner Anhänger als „Krö nung seines Lebenswerkes“12 bezeichnet werden. In den Zwölftonspielen (bei deren Hervorbringen sich Hauer nicht mehr als schöpferisches Individuum,
das kompositorische Werke kreiert, verstand, sondern als Vollstrecker allgemeingültiger Gesetze betrachtete) kann ein deutlicheres schematisches Moment ausgemacht werden als in
anderen Hauer´schen Werken, denn alle Zwölftonspiele basieren auf einem harmonischen
Konzept, das immer nach demselben Mechanismus hergeleitet wurde. Dabei wird ein Ton in
einer vorher festgelegten chromatischen Schicht so lange beibehalten, bis der nächste der
Zwölftonfolge in diese Schicht fällt (vgl. Beispiel 4). Üblicherweise wird behauptet, dass Hauer jedem Ton einer Zwölftonreihe Harmonien hinzufügte, doch scheint dies nicht seine einzige Vorgehensweise gewesen zu sein, denn in den harmonischen Konzepten lassen sich
häufig Zahlenproportionen erkennen, die ebenfalls als ursächlich betrachtet werden können.
Über den einheitlichen Mechanismus zur Harmonienbildung geht die Konstruktions-Vorschrift
nicht hinaus, denn aus dem Konzept entwickelte Hauer das konkrete Zwölftonspiel
auf verschiedene Art und Weise. In der einfachsten Ausführung werden die Akkorde des
harmonischen Konzepts arpeggienhaft aufgebrochen. Weitere Varianten aus dem harmonischen Band ein Zwölftonspiel abzuleiten, findet Hauer, indem er Linien zwischen den Tönen
zog, die zu den tatsächlichen, melodischen Verläufen des Zwölftonspiels wurden (vgl.
Beispiel 4). Demnach steht einerseits das Zwölftonspiel in seiner letzten Ausprägung nicht
von vornherein fest, denn es sind unverkennbar Möglichkeiten zur Gestaltung gegeben. Andererseits gibt es hier, wie auch schon in den früheren Hauer´schen Werken, eine aufs Minimum beschränkte Entscheidungsfreiheit, denn obwohl das Ziehen der Linien nach Belieben erlaubt ist, so darf doch nie ein Ton verwendet werden, der nicht durch das harmonische
Konzept vorgegeben ist.
12
Robert Michael Weiss (Hg.): Josef Matthias Hauer/80 Jahre Zwölftonmusik. Wiener Neustadt 1999
(Ausstellungskatalog), S. 6.
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Beispiel 4
12
Ableitung einer melodischen Linie aus dem harmonischen Konzept für das
Zwölftonspiel vom 19. Februar 1953
Weshalb Hauer mit seinen Zwölftonspielen den Anspruch erhob, Objektivität auszudrücken
und Wahrheit zu verkünden, kann also nicht mit einer algorithmischen Struktur begründet
werden, durch die der Verlauf eines Zwölftonspiels von vornherein entschieden worden wäre. Vielleicht ist der Grund für die transzendente Überbewertung in dem bisher von niemandem entdeckten Phänomen zu suchen, dass in Hauers Zwölftonspielen immer zwei Zwölftonfolgen von struktureller Bedeutung sind. Während die Zwölftonfolge des harmonischen
Bands vorwärts abläuft, bewegt sich eine zweite, aus dem Krebs der harmonischen Konzeption gewonnene gleichzeitig rückwärts (vgl. Beispiel 4), ein Prozess, der mit dem sich ständigen Verändern des Yin und Yang der alten chinesischen Philosophie verglichen werden
kann. Die große Bedeutung, die Hauer seinen Zwölftonspielen zuschrieb, könnte eventuell in
diesen beiden, polar entgegengesetzt verlaufendenden Entwicklungen liegen, die er als Realisierung eines grundlegenden philosophischen Prinzips im musikalischen Medium betrachtet haben könnte.
Auch wenn Hauers erste Komposition, bei der er die 12 Töne des temperierten Tonsystems
konsequent anwendete im Jahre 1919 entstanden ist und Schönberg seine Methode, mit
zwölf aufeinander bezogenen Tönen zu komponieren erst ab 1923 entwickelte, so ist es
doch müßig, den Prioritätenstreit um die Zwölftonmusik immer wieder in den Mittelpunkt der
Betrachtungen zu stellen. Die Unterschiede in theoretischer, kompositorischer und ästhetischer Hinsicht zwischen beiden Komponisten sind so eklatant, dass der Prioritätenstreit
zweitrangig erscheint. Unbestritten hat Schönberg eine Kompositionstechnik gefunden, die
für nachfolgende Generationen stilbildend gewesen ist. Genauso unbestritten hat Hauer eine
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13
Musik mit 12 Tönen komponiert, die sich ästhetisch vollständig von der Schönberg’schen
unterscheidet. Doch vor allem hat Hauer ein System zur Ordnung der 12 Töne geschaffen,
das System der Tropen. Damit hat Hauer bereits in den 1920er Jahren ein Problem erkannt
und gelöst, dessen man sich erst in den 1960er Jahren während der seriellen Phase bewusst wurde – ohne es lösen zu können: Es ist möglich, Reihen in Kategorien einzuordnen,
wenn die Hauer´schen Tropen als Ordnungsprinzip anerkannt werden.
Während Schönberg mit seiner Kompositionsmethode sehr erfolgreich war, so ist Hauers
System bis heute weitestgehend unbekannt geblieben. Dies hat seine Ursache nicht nur
darin, dass Hauer seine Theorie unzureichend dargestellt hat, sondern auch weil er den öffentlichen Kulturbetrieb scheute, und sich einem chinesischen Ideal ergab, nach dem sich
die Wahrheit ohne jegliches menschliches Nachhelfen durchsetzen werde. Er hoffte auf einen Tag, wie ihn Hans Heinz Stuckenschmidt beschreibt: „Vielleicht wird eines Tages der
große Überdruß an Lärm, Unruhe, akustischem Chaos und Oszillogramm über die Welt
kommen, an allen diesen oft geistvollen und genialen Sinnbildern atonaler Zerstörung. Das
wird Hauers Stunde sein“13.
13
Hans Heinz Stuckenschmidt: „Hauers Alternative.“ In: ÖMZ 21/3 (1966), S. 112.
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