Syndrom oder Konstitution?

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Syndrom oder Konstitution? // Josef Viktor Müller
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Syndrom oder Konstitution?
TCM und die 5 Wandlungsphasen, 2. Teil
Josef Viktor Müller erschienen im "Der Heilpraktiker -­‐ Volksheilkunde" Nr. 10/97, S. 70 Die Grundlagen für eine Konstitutionstherapie über die fünf Wandlungsphasen finden sich im Kapitel 64 Ling Shu, in dem die einzelnen Wandlungsphasen-­‐Typen mit körperlichen und psychischen Tendenzen beschrieben werden. Dies ist bei weitem nicht der einzige konstitutionelle Ansatz. Yves Requena 1) baut seine Typologie der 6 Temperamente auf ein anderes Kapitel des Ling Shu auf, wie auch einige japanische Schulen, die 6 Schichten als energetische Grundkonstitution ansehen. 2)
Ebenso verwendet ein Stil der koreanischen Akupunktur eine Einteilung in eine Tai Yin, Shao Yin, Tai Yang, Shao Yang Konstitution, die aber nicht mit den gleichlautenden Begriffen aus den 6 Schichten verwechselt werden dürfen. 3) Auch die 5-­‐Wandlungsphasen-­‐Konstitutionstherapie selbst kann sehr unterschiedlich interpretiert werden, vergleicht man z.B. die japanische Meridiantherapie 4) mit Worsleys Ansatz.
Letzeren möchte ich in seinen Grundzügen darstellen. Vorwiegend aus japanischen und koreanischen Quellen schöpfend, formulierte Worsley das Konzept des "causative factor" CF, welches als die Wandlungsphase anzusehen ist, die den Ausgangspunkt aller Disharmonien darstellt. Diese Schwachstelle äussert sich über die Wandlungsphasen-­‐Zuordnungen von Gesichtsfarbe, Geruch, Stimme und Emotion. Eine konstitutionell geschwächte Wandlungsphase Wasser würde sich über bläulich-­‐schwarze Färbung im Bereich der Schläfen, über eine stöhnende Stimme, über eine konzentrierte oder vergorene Ausdünstung und über ein Zuviel oder Zuwenig an Angst ausdrücken. Hierbei würde nur diese Wandlungsphase behandelt, egal, welche Zeichen und Symptome auf andere Zang-­‐Fu-­‐Störungen hinweisen. Dies ist eine Interpretation von Wu Wei, möglichst wenig eingreifen, die davon ausgeht, dass bei der Stärkung des schwächsten Glieds viele von ihm aus in andere Organsysteme projizierte Störungen von selbst verschwinden.
Aufgrund der sinnlichen Kriterien von Geruch, Stimmklang, und Gesichtsfarbe nimmt die Sinnesschulung in Worsleys Schule einen grossen Raum ein. Dazu dienten Aufgaben wie :"Fragen Sie 25 verschiedene Menschen an verschiedenen Orten auf unterschiedliche Art nach der Uhrzeit. Beobachten Sie dabei ihre Mimik, Körperhaltung, Stimme und Gesichtsfarbe." Oder: "Beobachten Sie einen Fluss über verschiedene Jahreszeiten hinweg von einer Stelle aus. Beschreiben Sie das Zusammenspiel der Farben, die Düfte, die Tiere und den Einfluss der Tageszeit." Eine derartige Übung diente zur Übertragung von Naturvorgängen auf den Menschen (z.B. eine Hand fühlt sich wie ein Stück ausgetrocknetes Holz an), wie dies im Kp. 5 Su Wen mit den Wandlungsphasen-­‐Zuordnungen dargestellt ist.
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Oder: "Riechen Sie in zwanzig verschiedenen Mülleimern, wie unterschiedlich der Geruch verfault sein kann und beschreiben Sie die verschiedenen Geruchskomponenten." Eine solche Aufgabe zielte darauf ab, das unendliche Spektrum von individuellen Störungen in einer Wandlungsphase zu erkennen (hier Metall) und klar zu machen, dass es nie zwei Patienten gibt, die identisch mit Kochbuch-­‐Rezepten behandelt werden können.
Besondere Bedeutung kam der Schulung des "Emotions-­‐Testens" zu, da die Wandlungsphasen-­‐
Emotion, mit der ein Patient die meisten Probleme hat, Farbe, Geruch und Stimme am stärksten zum Vorschein bringt (vgl. Latein: emovere = herausbewegen!) Als Schüler mussten wir über zahlreiche Diagnosen und Supervisionen lernen, wie in uns selbst eine Emotion authentisch angesprochen werden kann. Authentisch bedeutet dabei nicht nur rein intellektuell zu fragen "Haben Sie sich darüber denn nicht geärgert?", sondern mit der eigenen Stimme, dem Gesichtsausdruck und der Körperhaltung den Ärger zu verkörpern.
Dies bedeutet, die Beamten einer Wandlungsphase hinter der Maske eines Patienten direkt anzusprechen und in diesem Fall den General und seinen Offizier zu fragen: "Wie geht es euch?" Stellt man eine solche Frage bei einem angemessenen Sachverhalt (z.B. oft laute Lärmbelästigung bis in die Morgenstunden), und weigert sich eine Person in die Emotion hineinzugehen -­‐ oder kommt sie im Gegenteil gar nicht mehr davon weg -­‐, so wird sich dieses emotionale Problem auch über eine schreiende Stimme, eine grünliche Gesichtsfarbe und einen ranzigen Geruch ausdrücken. Dies auch dann, wenn der Patient das Gefühl mit lauten Worten leugnet -­‐ das Wie der Antworten zählt oft mehr als der verbale Inhalt. Im Verlauf des diagnostischen Gespräches müssen wir jede Emotion des Wandlungsphasen-­‐Zyklus prüfen und dazu von einem Gefühl in das andere wechseln können, indem wir unseren Körper benutzen, um zu fragen. Wir führen so einen äusserst individuellen Tanz mit dem Patienten durch und benutzen alles, was er uns anbietet, um den Zustand seiner Wandlungsphase zu bestimmen.
Die Schwierigkeit hierbei liegt darin, dass wir alle unser eigenes Ungleichgewicht haben, und die Wandlungsphase, die uns selbst am meisten Mühe macht, werden wir entweder nur sehr schwer oder allzu bereitwillig erkennen. (Z.B. wenn uns eigenes Feuer fehlt, neigen wir dazu, flach und uninspiriert zu fragen, weswegen wir meist auch dementsprechende Antworten zurückgespiegelt bekommen.)
Der Wert für die eigene Entwicklung des Therapeuten liegt jedoch ebenso klar auf der Hand: Wir lernen dadurch immer mehr, mit den inneren Jahreszeiten der Emotionen mitzuwandeln und die eigene Schönheit jeder dieser Jahreszeiten zu erkennen.
Betrachten wir den Fall einer konstitutionell schwachen Wandlungsphase Erde mit der Milz im Vordergrund, so würde eine entsprechende TCM-­‐Diagnose lauten: Milz-­‐Yang-­‐Xu, gleichzeitig könnten aber auch Nieren-­‐Yang-­‐Xu und Lungenschleim bestehen, welche dann als eigenständige Syndrombilder behandelt werden.
Die Eleganz des Wandlungsphasen-­‐Ansatzes besteht auf dieser Ebene in seiner Einfachheit, indem er sich auf die Behandlung der Milz-­‐Störung beschränken würde -­‐ und zwar eher auf der emotionellen Ebene von Mitgefühl als auf der funktionellen Ebene der Schleimtransformation. Dadurch allein werden oft komplexe Krankheitsmuster aufgelöst, die unterschiedliche Syndrom oder Konstitution? // Josef Viktor Müller
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Syndromsstrategien erforderlich machen. Manchmal aber auch nicht, denn oft sind die Muster zu komplex, um alleine durch die Behandlung der konstitutionell schwächsten Wandlungsphase zu verschwinden. Der Mechanismus solcher Krankheitsübertragung wird im 5-­‐
Wandlungsphasen-­‐Kontext in Kp. 49 des Nan Jing beschrieben, über Sheng -­‐ (zu Mutter bzw. Kind) und Ko-­‐Zyklus (zu Grossmutter bzw. Enkel) kann das konstitutionell schwächste "Organ" Störungen an alle anderen weiterleiten, worauf diese wiederum für ihre entsprechenden klimatischen pathogenen Faktoren auffällig werden. Dies ist auch der Grund, warum Farbe, Stimme, Geruch und Emotion nicht immer eindeutig auf eine Wandlungsphase hinweisen. 5)
Hier kommt die TCM ins Spiel, denn die äusseren Agentien werden von Worsley ebenso wie die Weder-­‐innen-­‐noch-­‐aussen-­‐Ursachen vernachlässigt. Desgleichen differenziert er nicht den Zustand der vitalen Substanzen (Qi, Blut, Jing, Yin-­‐Je), und daher bleibt auch die empirisch bestätigte Funktion der Punkte (wie z.B. stärkt Yuan-­‐Qi, baut Xue auf) unberücksichtigt.
Der Mechanismus der Pathophysiologie wird zurückgestellt zugunsten einer sehr allgemein gehaltenen Wandlungs-­‐phasen-­‐Psychologie. Tendiert die TCM zu einer Zersplitterung ihrer Behandlungsstrategien, haben wir in Worsleys Fall ein meist ungenaues Allgemeinbild, das zwar den Menschen als Ganzes betont, das aber oft Beschwerden, die nicht durch konstitutionelle Behandlung verschwinden, ausser Acht lässt. Betont die TCM in ihrer Praxis zu sehr das Aussen, konzentriert sich der konstitutionelle Stil zu sehr nach innen.
Aus diesen unterschiedlichen Vorgehensweisen wird eine Tendenz ersichtlich, die spätestens seit der Yuan-­‐Zeit in der chinesischen Medizin besteht. Die Schulen, die zu jener Zeit entstanden, stellten meist nur eine Form von Krankheitsverursachung in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen z.B. Yin-­‐Mangel), während in den Klassikern eine Pluralität der Ansätze nebeneinander präsentiert wird, so dass ein Kapitel geradezu das vorhergehende zu widerlegen scheint. Diese Pluralität wird aber der Komplexität der multidimensionalen menschlichen Existenz am ehesten gerecht, was durch den organisatorischen Aufbau des Nei Jing wie des Nan Jing anhand von Zahlen angedeutet wird.
Ein weiterer Schwerpunkt des konstitutionellen Worsley-­‐Ansatzes liegt in der Ausarbeitung eines psychologischen Profils sowohl für die Zang-­‐ wie für die Fu-­‐ Organe.
Einen der deutlichsten Unterschiede zur TCM ergibt sich dabei in der Präsentation der Wandlungsphase Feuer in der der Pericard als "Minister, von dem Lust und Freude ihren Ausgang nehmen" deutlich vom Herrscher Herz abgegrenzt wird. Die Pathologie unterscheidet sich in der Ausrichtung der Kommunikation, ist sie nach
aussen hin erschwert, ist Pericard betroffen, ist sie nach innen hin gestört, leidet das Herz als Souverän.
Auch die Darstellung des 3E betont seine Eigenschaft als Feuerminister, der sowohl körperlich wie psychisch für die Homöostase der Temperatur zuständig ist -­‐ im Gegensatz zur TCM, die die Wasserpathologie in den Vordergrund stellt. Eine der diagnostischen Verfahren, um den Zustand von San Jiao zu beurteilen, besteht in der Tastung der drei Wärmebereiche, in Anlehnung an die japanische Tradition, die Palpation als eine der Hauptmethoden ihrer Syndrom oder Konstitution? // Josef Viktor Müller
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Diagnostik betrachtet.
Jedoch stellt Worsley auch bei der körperlichen Untersuchung den emotionalen Aspekt in den Vordergrund, indem er betont, dass körperliche Berührung der schnellste Weg ist, um mit den Gefühlen eines Menschen in Kontakt zu kommen. Diese fundamentale Einheit von Jing-­‐Shen demonstrierte er manchmal mit chriopraktischen Behandlungen, wodurch sich oft grössere Pulsveränderung einstellten, als durch Nadelung: Über die Körperstruktur kann die Energie/Emotion beeinflusst werden, wie umgekehrt die Emotion die Struktur verändern kann.
Eine weitere Wandlungsphase, die eine veränderte Darstellung erfährt, ist Metall und hier insbesondere das Zang Lunge. TCM-­‐Quellen erwähnen primär Husten und andere Atembeschwerden, verbunden mit Störungen des Wasserhaushaltes. Trauer als Innenschädigung wird zwar auch angeführt, spielt aber in der Therapie praktisch keine Rolle. Worsleys 5-­‐Wandlungsphasen-­‐Stil konzentriert sich aber gerade auf diesen Aspekt der Lungenpathologie, indem er ein Gefühl von Verlust und Beraubung als Hauptfaktor betont.
Oft durch eine Störung der Vaterbeziehung verursacht, entsteht daraus ein Mangel an Struktur wie an Selbstwertgefühl analog zum Fehlen von Spurenelementen im Erdboden, die ihm gerade seine spezifische Qualität verleihen. So geschwächte Lungen werden auch für äussere pathogene Faktoren anfällig, aber hier nur Kälte zu erwärmen und das Lungen-­‐Qi zu stärken, wird der Gefühlsrealität des Patienten nicht gerecht.
Hier muss die Shen-­‐Ebene des Punktes, die oft in seinem Namen angedeutet ist, ins Spiel kommen: Die standardisierte Numerierung der Punkte löste im Zuge der schulmedizinischen Anpassung die über Generationen hinweg bewährte Überlieferung in Reimen ab. In den sogenannten Oden lernte der Schüler Funktion und Lage eines Punktes zusammen mit seinem Geist 6). Diese Ebene käme im obigen Fall eine Lungenschwäche bei Lu 1 Zhong Fu, Schatzhaus der Mitte, zur Verwendung, wobei die Betonung auf Schatz liegt. Dies ermöglicht dem Patienten, mit einem inneren Gefühl von Reichtum und Qualität in Verbindung zu treten, statt ständig dem äusseren Verlust nachzutrauern -­‐ ein anderes Mal werden wir den gleichen Punkt als Mu stechen: TCM und 5 Wandlungsphasen beleuchten zwei Seiten einer Münze.
Die Verwendung des Shen-­‐Aspektes eines Punktes ist ein zentraler Aspekt jeder Art von tiefgreifender Therapie. Wir bestätigen eine Qualität, eine Ausdrucksform das Dao im Patienten. Der Psychoanalytiker James Hillmann spricht in diesem Zusammenhang davon, dass jeder Mensch mit einer einzigartigen Bestimmung ins Leben tritt. Wenn wir das sehen und dem Patienten zurückspiegeln können, dann handeln wir für ihn entsprechend der "Notwendigkeit gesehen zu werden, damit man sein kann". Solche Sicht segnet und transformiert".7)
Setzen wir Lu 1 in diesem Sinne ein, geben wir dem Menschen zu verstehen: Ich reduziere dich nicht auf deine Bronchitis (die aber auch manchmal direkt behandelt werden muss), sondern sehe dich in Beziehung zu deiner einzigartigen Bestimmung (die sich in diesem Fall über die Tugend des Metalls, Urteilsvermögen, verwirklichen will).
Je mehr ich mit repetitiver Syndrombehandlung dem Qi bestimmte Bahnen aufzuzwingen versuche, je mehr Nadeln ich dazu einsetze, desto mehr entferne ich mich von der Syndrom oder Konstitution? // Josef Viktor Müller
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unbegrenzten Realität des Shen im Patienten, so handle ich eher wie ein Technokrat, der der Fähigkeit zur Selbstregulation in der Natur misstraut und nur an technische Machbarkeit glaubt. Selfempowering, "Selbstermächtigung", geschieht eher durch ökologisches Vorgehen mit minimalem Eingreifen, das den Patienten als ganzes, nicht als Inhaber gestörter Zang-­‐Fu-­‐
Funktionen wahrnimmt. Keine noch so differenziert ausgeführte Syndromananlyse alleine kann dem gerecht werden, denn wie St. Exupery im kleinen Prinzen betont: "Wirklich sehen kann man nur mit dem Herzen."
Bei dieser Sicht eines Patienten helfen die chinesischen Schriftzeichen für die Punkte, die keine abstrakten Begriffe, sondern eher Symbole sind. So benutzt dienen die Qi-­‐Höhlen mehr als eine Besiegelung, eine Bestätigung dessen, was wir an Potential in einem Menschen sehen. Dies verschiebt den Focus weg von der Krankheit hin zu einer kreativen Perspektive.
Oft gibt uns ein Patient direkt oder indirekt zu verstehen, welchen Punkt er heute benötigt. Unsere Aufgabe ist es, der Empfänger zu sein, welcher die Signale einer nach Hilfe schreienden Wandlungsphase aufnimmt. Berichtet eine Patientin mit Schwierigkeiten im ministerlichen Feuer, weinend: "Ich habe all diese tiefen Gefühle für meinen Bruder, aber ich kann es ihm nicht sagen", so sind wir aufgerufen, das äussere Grenztor 3E 5, Wai Guan, für sie zu öffnen, damit sie ihre Gefühle kommunizieren kann.
Damit stehen wir in der Tradition der chinesischen Sprache wie der Medizin als Kunstform. Wir tragen bei zum Gesamtkunstwerk einer Persönlichkeit, indem wir wie ein begnadeter Bildhauer helfen, die Form einer Skulptur aus dem Stein herauszuarbeiten, ohne ihr Gewalt anzutun.
Deswegen müssen wir uns vor allzuviel Entmythologisierung und Verwissenschaftlichung hüten, die die ungreifbaren Aspekte dieser Medizin, die
Kunst, als vorwissenschaftlichen Aberglauben abtun will. So sind z.B. in vielen modernen Punkteindikationen die psychischen Aspekte einfach weggelassen worden, wie z.B. bei Ma 42, Chong Yang, dahinschiessendes Yang. Dieser Punkt wird zur Behandlung von psychischen Yang-­‐
Ming-­‐Störungen eingesetzt. Eine antike Indikation lautet daher: "Steigt auf die Tische, zieht sich aus und singt". Verstehen wir dies als Beschreibung für ein gestörtes Verhalten der Wandlungsphase Erde, das um jeden Preis Aufmerksamkeit auf sich ziehen will, dann erhalten wir einen Hinweis, dass diese Störung nicht alleine auf der Ebene der Zang-­‐Fu behandelt werden kann. Vielmehr gilt es, die Ebene der Wu-­‐Shen miteinzubeziehen, in diesem Falle Yi, das Denken oder Reflexion, aus dem sich die Qualität der Erde, Beständigkeit und Rücksichtnahme entwickelt. Dies wird als De, Tugend, bezeichnet, und jede Wandlungsphase besitzt ihre eigene: das Metall Urteilsvermögen, das Wasser Weisheit, das Holz Wohlwollen, das Feuer die Fähigkeit zur Integration, und diese Aspekte werden über die fünf Shen-­‐Punkte am äusseren Blasenast angesprochen. Als gute Praktizierende müssen wir auch die körperliche Ebene als Gefäss für die Shen-­‐Aspekte miteinbeziehen können, jedoch mit dem Lied der zehn Fragen des Zhang-­‐Jie-­‐Bin neigen wir schnell dazu, den Menschen auf seine körperlichen Störungen zu reduzieren.
Die Kunst besteht darin, auf allen Ebenen der Realität einen Menschen angemessen zu behandeln, und das Shen-­‐Nung-­‐Pen-­‐Tsao (Der Drogenklassiker des göttlichen Landmannes) schlägt als grundlegende Einteilung dieser Ebenen die Begriffe Krankheit, Dispostition (oder Syndrom oder Konstitution? // Josef Viktor Müller
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Konstitution) und Bestimmung (Ming), Schicksal vor (englisch: "disease, disposition, destiny").
Auf der Ebene unserer Bestimmung oder des himmlischen Auftrages, führt Ted Kaptchuk an, sei es "kein medizinisches Thema, jemandem, der ein psychisches Problem z.B. auf der Ebene von Holz hat, stellt sich letztendlich die Frage nach der Tugend des Holzes, jenseits der spontanen Äusserung (von Zorn) zu gehen, um ein ganzer Mensch durch die Entwicklung dieser Qualitäten zu werden." Weiter meint er: "Nimm deine Pathologie und benutze sie auf gesunde Weise", denn "ohne Ungleichgewicht hätten wir nie eine Chance, unsere Bestimmung zu finden. Jeder Mensch muss sogar sein Ungleichgewicht haben, auf dieser Ebene der Realiät, ist es nicht pathologisch, sonder eine Frage von "Was ist der nächste Schritt" für mich als Mensch hin zu mehr Ganzheit?"8)
In diesem Zusammenhang müssen wir uns geradezu fernhalten von der Maxime "immer die Mitte" halten, im Sinne von Überanpassung, die oft nichts anderes als Mittelmässigkeit darstellt. Weiterentwicklung, Evolution, scheint nur möglich zu sein, indem sich eine alte Ordnung chaotisch auflöst, um dann auf einem höheren Niveau neu zu entstehen. 9)
Die Krisen, in denen Menschen oft zu uns kommen, verlangen nicht nach Anpassung, sondern nach Ganzheit, "dem Mut, seinem eigenen Weg (Shen Dao), seiner Bestimmung zu folgen."
Dies ist der Bereich, für die "Medizin ohne Form", die für Kaptchuk im Kp. 13 Su Wen als früheste Beschreibung der Therapeut-­‐Klienten-­‐Beziehung in der
chinesischen Medizin erscheint. "Anrufung von durchdringender himmlischer Erleuchtung, um im Patienten Jing zu transformieren und Qi zu bewegen", was heisst: Erfahrene Ärzte sind alleine durch die Qualität ihrer Beziehung zum Patienten in der Lage, Transformation herbeizuführen (Einnadeltechnik!?).
Dies gipfelt in der Auffassung des Sun Si Miao, der als Kern seiner therapeutischen Arbeit eine Haltung der Liebe zum Patienten ansah. 10) Daher findet sich in einem Hanzeitlichen Steinrelief die Darstellung eines Akupunkteurs als Vogelmensch, d.h. vom Himmel kommend, Shen repräsentierend. Eine Art, wie wir dies dem Klienten mitteilen können, ist, die Signale seiner schwächsten Wandlungsphase aufzunehmen und uns ihnen anzugleichen. So fühlt er sich tief verstanden (matching im NLP), und aus diesem Raum heraus wird Veränderung möglich. Von unseren beschränkten Sinnen ausgehend (Po), können wir uns zum Unbegrenzten hin bewegen, indem wir die Vision (Hun) des Menschen, sein Potential betonen.
___________
1) Requena, Yves: Terrains and Pathology in Acupuncture, Paradigm Publication 1986 2) Schmid, Heribert: Konstitutionelle Akupunktur, Hippokrates, 3. Aufl. 1988 3) Eckmann, Peter: Korean Acupuncture, in: TAS Journal Nr. 7, April 1990 4) Denmei, Shudo u. Brown, Stephen: Japanese Classical Acupunctur, Eastland Press 1990
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