Neue Quellen zur Geschichte des 20. Juli 1944 aus dem Archiv des

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Neue Quellen zur Geschichte des 20. Juli 1944 aus dem
Archiv des Föderalen Sicherheitsdienstes der Russischen
Föderation (FSB).
„Eigenhändige Aussagen“ von Major i.G. Joachim Kuhn.
Kommentiert von Boris Chavkin und Aleksandr Kalganov
Die Einstellung der russischen bzw. sowjetischen Geschichtsschreibung
zum militärischen Widerstand im Dritten Reich war zunächst sehr negativ.
Er galt als ein „Werk des USA-Geheimdienstes“ oder als ein Versuch, „den
deutschen Imperialismus zu retten“.1 Diese stalinistischen Stereotypen wurden infolge der Gorbačevschen Perestrojka im großen und ganzen überwunden, wenn auch nicht еndgültig.
So lesen wir in dem 1990 in Moskau herausgegebenen Buch des Historikers G.L. Rozanov:
„Das Scheitern der ‚Verschwörung des 20. Juli‘ bedeutete den Zusammenbruch
der weitgehenden Pläne der anglo-amerikanischen Reaktion sowie eines bestimmten Teils der deutschen Monopolbourgeoisie und Generalität. Ihr Versuch, die
politische und militärische Zerschlagung des deutschen Faschismus zu verhindern, wurde zum Scheitern gebracht.“2
Eine neue Sichtweise enthielt indes der von der Russischen Akademie der
Wissenschaften herausgegebene Band Die Widerstandsbewegung in Westeuropa. Allgemeine Probleme, der den 20. Juli 1944 als Teil des europäi-
1
Brodskij, E.A.: Zagovor 20 ijulja i social’no-političeskij charakter gerdelevskoj
oppozicii. Diss. na soiskanie učenoj stepeni kand. ist. nauk [Die Verschwörung vom 20.
Juli und der sozialpolitische Charakter der Goerdelerschen Opposition. Dissertation zur
Erlangung der Würde des Kandidaten der historischen Wissenschaften]. Moskau 1949;
Majskij, I.M.: K vozroždeniju germanskogo militarizma. – In: Voprosy istorii. Heft
5/1955; Deborin, G.A.: Der Zweite Weltkrieg. Militärpolitischer Abriß. Berlin (Ost)
1959, S. 342–344.
2
Rozanov, G.L.: Konec „tret’ego rejcha“ [Ende des „Dritten Reiches“]. Moskau 1990,
S. 70.
schen Widerstandes gegen die NS-Herrschaft einordnet.3 Der Moskauer
Historiker L.N. Brovko verwies in diesem Band darauf, daß sich die Angehörigen des deutschen Widerstandes einem „dramatischen Dilemma“ gegenübergesehen hätten: Einerseits „förderten sie die Niederlage des eigenen
Landes im Kriege, um den Sturz des Hitlerismus herbeizuführen, andererseits versuchten sie, die faschistische Regierung zu stürzen, um Frieden zu
schließen und die nationale Katastrophe abzuwenden.“4
Die neue Darstellung der Ereignisse vom 20. Juli stößt in Rußland, wie
der deutsche Historiker Kurt Finkler 1994 vermerkte, „auf einige Schwierigkeiten und läßt darum Lücken. Quellen aus sowjetischen Archiven stehen
zur Zeit nicht zur Verfügung.“5
Diese These über die Archivlage im heutigen Rußland ist allerdings nicht
ganz zutreffend. In den letzten Jahren hat sich immerhin die Möglichkeit
ergeben, die Quellenbasis zur Erforschung des hier betrachteten Problems
zu erweitern.
Nach dem Gesetz der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR) vom 18.10.1991 „Über die Rehabilitierung von Opfern
politischer Verfolgung“ und nach dem Gesetz der Russischen Föderation
(RF) vom 22. Dezember 1992 „Über Änderungen und Ergänzungen zum
Gesetz der RSFSR ‚Über die Rehabilitierung von Opfern politischer Verfolgung‘“6 wurden mehrere Opfer der politischen Verfolgung in der UdSSR,
unter ihnen auch ehemalige Kriegesgefangene – russische und ausländische
Staatsbürger – rehabilitiert. Im Zuge der Rehabilitierung kamen die Akten
dieser Personen ans Licht.
Zu den Akten der in Rußland rehabilitierten ausländischen Staatsbürger
gehört auch die des ehemaligen kriegsgefangenen Offiziers der deutschen
3
Dviženie Soprotivlenija v Zapadnoj Evrope 1935–1945. Obščie problemy.
Otvetstvennyj redaktor N.P. Komolova [Die Widerstandsbewegung in Westeuropa 1935–
1945. Allgemeine Probleme]. Moskau 1990.
4
Ebenda, S. 72.
5
Finkler, Kurt: Die Stellung der Sowjetunion und der sowjetischen Geschichtsschreibung
zum 20. Juli 1944. – In: Der 20. Juli 1944. Bewertung und Rezeption des deutschen
Widerstandes gegen das NS-Regime, hrsg. von G. Ueberschär. Köln 1994, S. 38.
6
Gesetzblatt des Kongresses der Volksdeputierten der RSFSR und des Obersten Sowjets
der RSFSR, 44/1991, S. 1428; Gesetzblatt des Kongresses der Volksdeputierten der RF
und des Obersten Sowjets der RF, 28/1992, S. 1624.
Wehrmacht Major im Generalstab (i.G.) Joachim KUHN.7 Das ist eine einzigartige Quelle sowohl zur deutschen, als auch zur russischen Zeitgeschichte, weil Joachim KUHN von beiden Diktatoren – dem deutschen und
dem sowjetischen – als „Attentäter und Überläufer“ (Hitler) beziehungsweise als „Kriegsverbrecher“ (Stalin) verurteilt wurde.
Nach dem Rehabilitierungsantrag von Dr. Günther Wagenlehner, Vorsitzender des „Verbandes der Heimkehrer, Kriegsgefangenen und Vermißtenangehörigen Deutschlands“ an die Russische Militäroberstaatsanwaltschaft
vom 4. Juli 1998 wurde am 23. Dezember 1998 Major i.G. Joachim KUHN
vom Militärgericht des Militärbezirks von Moskau „mangels des Tatbestandes eines Verbrechens in seinen Handlungen“8 rehabilitiert.
Noch vor der Rehabilitierung Joachim KUHNS, am 30. November 1997,
übergab Boris Jelzin in Zavidovo bei Moskau dem damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl die Kopien einiger Dokumente aus dem KUHN-Dossier.9
Auf diese Weise wurden einige Fragmente der Akten über Joachim
KUHN bekannt.10 Aber die im Zentralarchiv des FSB der RF (im weiteren:
CA FSB) aufbewahrten Untersuchungsakten von Joachim KUHN blieben
bis heute unerforscht: Das KUHN-Dossier befand sich in Moskau und wurde ein halbes Jahrhundert lang geheimgehalten. Diese Quelle ist auch des-
7
Siehe dazu: Chavkin, Boris: Die deutschen Kriegsgefangenen in der Sowjetunion 1941–
1955. In: Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte, Heft 2/1997, S. 185, Anm.
64. Chavkin, Boris / Kalganov, Aleksandr: Dokumente zur Geschichte des militärischen
Widerstandes im Dritten Reich aus dem Zentralarchiv des FSB, in: Ebenda, Heft 1/2001,
S. 355-58. In der Geschichtsschreibung war die Meinung verbreitet, die Spuren von
Major Kuhn hätten sich in den Stalinschen Gefängnissen verloren. Die nun entdeckten
russischen Archivquellen erlauben, den Lebensweg von Joachim Kuhn in den Jahren
1944-56 zumindest partiell zu rekonstruieren.
8
Verfügung Nr. 7-240 des Militärgerichts des Moskauer Militärbezirks vom 23.12.1998.
9
Siehe: von zur Mühlen, Bengt: Das Schicksal von Major i.G. Joachim Kuhn in sowjetischer Kriegsgefangenschaft 1944–1956. – In: Die Angeklagten des 20. Juli vor dem
Volksgerichtshof. Berlin 2001, S. 57.
10
Der Autor von zeitgeschichtlichen Dokumentarfilmen B. von zur Mühlen nannte in
seinem Artikel unter Berufung auf einen Beitrag des Historikers P. Hoffmann in der FAZ
vom 20. Juli 1998 die Archivnummer 03-1877898 des Kassationsverfahrens der Staatsanwaltschaft der RF und nicht die Archivnummer Р-46988 der Untersuchungs- und Gefängnisakten Joachim Kuhns aus den Beständen des CA des FSB der RF; die Materialien
der Akten P-46988 bilden die Quellenbasis unserer Publikation und waren Wissenschaftlern bisher nicht zugänglich.
halb historisch so wertvoll, weil sie von einem aktiven Teilnehmer der AntiHitler-Verschwörung handelt und aus dem Jahr 1944 stammt.11
Der Name Joachim KUHN wurde in Deutschland nach dem 20. Juli
1944 ein Begriff. Major i.G. Joachim KUHN gehörte seit September 1943
zur Anti-Hitler-Opposition; u.a. beschaffte er zusammen mit anderen Offizieren den Sprengstoff für die Attentate auf Hitler von 1943 und 1944.12
KUHN stand in enger Verbindung mit den Verschwörern Oberst i.G. Claus
Graf Schenk von STAUFFENBERG, Generalmajor Helmuth STIEFF und
Generalmajor Henning von TRESCKOW.
Am 27. Juli 1944, eine Woche nach dem Attentat, wurde Major KUHN
von den Truppen der sowjetischen 2. Belorussischen Front bei Białystok
gefangengenommen.13
Der Chef der Sicherheitspolizei und des SD KALTENBRUNNER
schrieb am 10. August 1944 an den Reichsleiter BORMANN: „Es wäre
nicht überraschend, wenn der wegen der Mitwirkung an der Sprengstoffbeschaffung zu den Bolschewisten übergelaufene Major KUHN im Nationalkomitee [„Freies Deutschland“ – B. Ch., A. K.] auftauchte.“14 Aber die sowjetischen Instanzen gaben Major Kuhn keine Gelegenheit, mit dem Natio11
Zentralarchiv des Föderalen Sicherheitsdienstes der Russischen Föderation (im weiteren: CA FSB), „Anklage gegen Kuhn, Joachim“, P-46988. Die Akte Kuhn (alte Ermittlungsnummer 5141) wurde am 29. August 1951 eingeleitet und am 6. Oktober 1951 abgeschlossen. In Inhalt und Form steht die „Anklage gegen Kuhn, Joachim“ in der gleichen Reihe wie die Fälle der gefangenen deutschen Offiziere, die 1945–1952 in der
UdSSR wegen Kriegsverbrechen zur Verantwortung gezogen wurden. Doch war es für
die Untersuchungspraxis von NKVD-NKGB-MGB ungewöhnlich, daß den Materialien
der Anklage gegen Kuhn Aussagen beigefügt wurden, die mit der Anklage nur wenig zu
tun hatten. In Übereinstimmung mit den Sachbearbeitungspraktiken von NKVD-NKGBMGB wurden solche Dokumente entweder „als von geringem Interesse“ vernichtet oder
den Materialien der Korrespondenz der Hauptverwaltung für Gegenaufklärung „SMERŠ“
beigelegt. Die Aussagen eines deutschen Offiziers, die dieser nicht als Angeklagter, sondern als Kriegsgefangener machte, wurden in den Untersuchungsdossiers meist nicht
aufbewahrt. Die „eigenhändigen Aussagen“ Kuhns stellen insofern eine der wenigen
Ausnahmen dar.
12
Aus dem Schreiben des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD Kaltenbrunner an den
Reichsleiter Bormann vom 10. August 1944. – „Spiegelbild einer Verschwörung“. Die
Opposition gegen Hitler und der Staatsstreich vom 20. Juli 1944 in der SDBerichterstattung, Hrsg. von M.A. Jacobsen. Stuttgart 1984, S. 190, 193–194.
13
CA FSB, „Anklage gegen Kuhn, Joachim“, Р-46988, Bl. 31–32, 57–58, 162.
14
Aus dem Schreiben des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD Kaltenbrunner an den
Reichsleiter Bormann vom 10. August 1944. – „Spiegelbild einer Verschwörung“. Die
Opposition gegen Hitler und der Staatsstreich vom 20. Juli 1944 in der SDBerichterstattung, S. 190.
nalkomitee „Freies Deutschland“ und dem Bund Deutscher Offiziere Kontakt aufzunehmen.15
Am 2. September 1944 tippte der Kriegsgefangene KUHN in Moskau, in
der Hauptverwaltung der Spionageabwehr der Roten Armee „SMERŠ“
[Tod den Spionen], „Eigenhändige Aussagen“ auf einer deutschen Schreibmaschine und setzte unter jede Seite seinen Namen „KUHN“ (siehe Dokument 1).16 Auf der letzten Seite der russischen Übersetzung von KUHNS
„Eigenhändigen Aussagen“ steht ein Vermerk: „Auskunft. Erstes Exemplar
an das GKO17 zur Information geschickt. Operativer Bevollmächtigter der
2. Abt. der Hauptverwaltung ‚SMERŠ‘ Hauptmann Kopeljanskij.“18
Am 23. September 1944 richtete der Chef der Hauptverwaltung Gegenaufklärung „SMERŠ“, Generaloberst Viktor Abakumov, an das Staatliche
Verteidigungskomitee der UdSSR (GKO) ein Schreiben an das GKOMitglied Georgij Malenkov:
„Wie aus der Presse bekannt ist, figurierte beim Prozeß über das Attentat auf Hitler der Major der deutschen Armee KUHN, Joachim, als einer der aktiven Teilnehmer der Verschwörung; das deutsche Gericht verurteilte ihn in Abwesenheit
zum Tode. Die Deutschen meldeten auch, Kuhn sei zur Roten Armee übergelaufen und in diesem Zusammenhang zu einem Heimatverräter gestempelt [...] Nach
Moskau, in die Hauptverwaltung ‚SMERŠ‘ gebracht und gründlich verhört, legte
KUHN in seinen eigenhändigen Aussagen das, was er von der Verschwörung gegen Hitler und von seiner eigenen Teilnahme daran wußte, dar. Von besonderem
Interesse sind die Aussagen KUHNS in bezug auf die ihm bekannten Teilnehmer
an der Verschwörung bzw. die mit der Verschwörung Sympathisierenden, die von
15
Wie der Historiker Gerd Ueberschär vermerkt, hat es keinerlei direkte Kontakte zwischen dem Nationalkomitee “Freies Deutschland” und den Widerstandsgruppen um
Stauffenberg gegeben. - Das Nationalkomitee “Freies Deutschland” und der Bund Deutscher Offiziere. Hrsg. von G. Ueberschär. Frankfurt a.M. 1995, S. 42.
16
CA FSB, „Anklage gegen Kuhn, Joachim“, Р-46988, Bl. 56 – 80.
17
Das Staatliche Verteidigungskomitee (GKO) war das oberste Macht- und Verwaltungsorgan, das während des Großen Vaterländischen Krieges 1941–1945 das gesamte
militärische, politische und wirtschaftliche Leben der UdSSR leitete. GKO-Vorsitzender
war Josif Stalin. Alle Dokumente des GKO wurden von ihm eingesehen und unterschrieben.
18
„Auskunft. Erstes Exemplar zwecks Information dem GKO zugeleitet. Bevollmächtigter der 2. Abt. der Hauptverwaltung ‚Smerš‘ Hauptmann Kopeljanskij.“ – CА FSB, „Anklage gegen Kuhn, Joachim“, Р-46988, Bl. 55. Kopeljanskij, Daniil Grigor’evič, geb.
1918, 1941–1951 Offizier von NKVD-NKGB-MGB sowie Dolmetscher und Übersetzer,
ist der einzige noch lebende Teilnehmer der Ereignisse um Joachim Kuhn. D. Kopeljanskij ist Rentner und lebt in Moskau.
Hitler nicht Repressionen ausgesetzt waren und bis zuletzt auf führenden militärischen Posten standen [...] Seine hohe Informiertheit bezüglich der Verschwörung
und seine engen Verbindungen mit hochgestellten Personen im deutschen Oberkommando erklärt KUHN mit seiner Dienststellung im Generalstab, der Vergangenheit seiner Eltern (der Großvater war General der Kavallerie) und damit, daß
die Vorgesetzten in ihm einen fähigen und vielversprechenden Offizier sahen. Im
Hinblick darauf, daß KUHN in Deutschland zum Verräter und einem aktiven
Teilnehmer des Komplotts erklärt wurde, zudem in seinen Aussagen seine eigene
Rolle etwas hervorkehrt, ist es nicht ausgeschlossen, daß er unter all diesen Vorwänden von den Deutschen auf unsere Seite mit gewissen speziellen Zielen eingeschleust ist [...] Über das Obendargelegte ist dem Genossen Stalin berichtet worden. Hierbei lege ich eine Übersetzung von KUHNS eigenhändigen Aussagen
bei.“19
Ende September 1944 lagen besagte Aussagen auf dem Arbeitstisch Josif
STALINS.
Im September 1944 war Stalin jener Politiker der Anti-Hitler-Koalition,
der aufgrund von KUHNS Aussagen über den 20. Juli am besten informiert
war.
Die Aussagen von KUHN enthalten „Angaben über die Personen, die
nach meinem [KUHNS – B. Ch., A. K.] Wissen dem Hitlerterror entgangen
sind und in der Zukunft von Bedeutung sein können.“20 Das sind: Feldmarschall v. BRAUCHITSCH, Feldmarschall v. KLUGE, Feldmarschall v.
MANSTEIN, Feldmarschall v. WEICHS, Feldmarschall v. KÜCHLER,
Generaloberst ZEITZLER, General d. Inf. WÖHLER, Generaloberst HALDER, General d. Inf. HEUSINGER, Reichsminister v. NEURATH, Herzog
v. RATIBOR, General d. Inf. STAPF, General der Kavallerie KÖSTRING,
Botschaftsrat Herwarth v. BITTENFELD und andere Vertreter der deutschen militärpolitischen Elite, wobei einige von ihnen nicht nur im Krieg,
sondern auch in der deutschen Nachkriegsgeschichte eine führende Rolle
spielten.
In den „Eigenhändigen Aussagen“ beschreibt Major KUHN die Vorbereitungs- und Organisationsmaßnahmen zur Verwirklichung von Hitlers Sturz
und präzisiert die eigene Rolle in der Organisation:
19
20
CA FSB, nach Materialien der Hauptverwaltung Gegenaufklärung „SMERŠ“.
Ebenda, „Anklage gegen Kuhn, Joachim“, Р-46988, Bl. 71.
„An der Spitze stand Generaloberst BECK. Schwerpunkt der Aktion zum Regierungssturz und zur In-die-Hand-Nahme der Macht nach erfolgtem Attentat lag bei
dem Ersatzheer. Dem Feldheer fiel für die Aktion selbst eine passive Rolle zu.
In allen Wehrkreisen waren Vorbereitungen getroffen, getarnt als Maßnahmen,
die bei Eintreten öffentlicher Unruhen auszulösen wären. Die Bearbeitung dieser
Maßnahmen erfolgte in Berlin unter Leitung von STAUFFENBERGS, der selbst
den wichtigsten Wehrkreis III (Berlin) bearbeitete. Den nächstwichtigen Wehrkreis I (Ostpreußen – Hauptquartiere) hatte ich zu bearbeiten. Am 20. Juli 1944
war, infolge der Verlegung der Hauptquartiere Hitlers, Himmlers und Görings,
diese Bedeutung des Wehrkreises I überholt.
Das Feldheer war von dem Tode Hitlers und der Befehlsübernahme durch die
neue Regierung zu unterrichten. Hierzu waren in Berlin Befehle ausgearbeitet.
Über die Haltung des Feldheeres waren wir durch die meisten Oberbefehlshaber
informiert. Darüber und über die Stimmung der Oberbefehlshaber werde ich in
dieser Schilderung noch eingehend berichten.“21
Besonders ausführlich sind in den „Eigenhändigen Aussagen“ die militärpolitischen Ansichten von KUHNS Vorgesetztem im Generalstab, dem überzeugten Nazigegner Graf von STAUFFENBERG dargelegt, der KUHN in
die Verschwörung einbezogen hatte.
STAUFFENBERG und KUHN waren nicht nur Kameraden, sie waren
engste Freunde. Sie hätten sogar Verwandte werden können: KUHN hatte
sich mit STAUFFENBERGS Cousine Maria verlobt. Aber die Heirat kam
nicht zustande, weil da, wie es im Schreiben des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD KALTENBRUNNER an den Reichsleiter BORMANN vom
4. Oktober 1944 hieß, „die katholisch-konfessionelle Haltung der Familie
STAUFFENBERG wesentlich mitspielte.“22
KUHN beschreibt mehrere Gespräche mit STAUFFENBERG, die für
KUHNS antinazistische Einstellung eine wichtige Rolle spielten:
„Mit schweren Verwundungen – ein Auge, die rechte Hand und zwei Finger an
der linken Hand hat er in Tunis verloren – fand ich STAUFFENBERG am
6.5.1943 im Lazarett München wieder. Seine bewunderungswürdige Hinnahme
der schweren körperlichen Beeinträchtigung ließ mich stärker als je zuvor die
Größe seiner Persönlichkeit empfinden. Er ist ein Urenkel Gneisenaus und ist dessen würdig, dachte ich mir.
21
Ebenda, „Anklage gegen Kuhn, Joachim“, Р-46988, Bl. 68 – 70.
„Spiegelbild einer Verschwörung“. Die Opposition gegen Hitler und der Staatsstreich
vom 20. Juli 1944 in der SD-Berichterstattung, S. 435. Diese Version ist auch in den
Aussagen von Kuhn im Verhörprotokoll vom 26. September 1951 dargelegt. – CА FSB,
„Anklage gegen Kuhn, Joachim“, Р-46988, Bl. 185.
22
Er sagte zu mir damals: ‚Der erfolgreiche Kampf gegen den Nationalsozialismus und seine fanatischen Theorien und Ziele, also der Weg zur Erhaltung des
Volkes geht nur über die Beseitigung der Person Hitlers und dessen, was ihn umgibt.‘“23
Aufgrund der russischen Archivakten kann man den Lebenslauf von Joachim KUHN rekonstruieren.
Joachim KUHN wurde am 2. August 1913 in Berlin als Sohn des Patentanwalts Arthur KUHN und seiner Frau Hildegard-Maria (geb. KUSTER)24
geboren. Sein Großvater mütterlicherseits war General der Kavallerie.
Der junge Joachim besuchte ein Gymnasium und machte mit 17 das Abitur. Nach kurzem Besuch einer technischen Hochschule trat er 1932 als Pionier in das Hunderttausend-Mann-Heer ein. 1933 – 1934 besuchte er die
Kriegsschulen in Dresden und München. Ende 1934 wurde er Offizier. Als
Bataillons- und Regimentsadjutant nahm KUHN am Feldzug gegen Polen
1939 und als Kompaniechef am Feldzug gegen Frankreich 1940 teil.
Den Beginn des Rußlandkrieges 1941 erlebte KUHN als 1. Ordonnanzoffizier der 111. Infanteriedivision. Bis November 1941 war er an der Ostfront. Bis Mai 1942 besuchte er die Kriegsakademie des Generalstabs. Diese verließ er als Bester und wurde zum OKH/Generalstab des Heeres Organisationsabteilung versetzt.
Als Generalstabsoffizier war KUHN bis März 1944 in der Gruppe II dem
damaligen Major i.G. von STAUFFENBERG unterstellt. Die Zusammenarbeit mit STAUFFENBERG war, wie KUHN in seinen „Eigenhändigen Aussagen“ bemerkt, „infolge seiner umfassenden Kenntnis und Bildung auf allen Gebieten des Lebens denkbar harmonisch, da wir viele Berührungspunkte auf allgemeinen Lebens- und politischen Auffassungen hatten.“25
Am 22. Juni 1944 übernahm Major KUHN die Stelle des 1a [Ersten Adjutanten – B. Ch., A. K] bei der 28. Jägerdivision des Gen. Lt. von ZIEHLBERG. Am 20. Juli 1944 – dem Tag des Attentats – war er an der Front.
Eine Woche später war er schon bei den Russen als „Überläufer“, wie es in
mehreren deutschen Quellen heißt.26
23
CА FSB, „Anklage gegen Kuhn, Joachim“, Р-46988, Bl. 61–64.
Ebenda, Bl. 182.
25
Ebenda, Bl. 59.
26
Budde, Eugen / Lütsches, Peter: Der 20. Juli. Düsseldorf 1952, S. 47; „Spiegelbild
einer Verschwörung“. Die Opposition gegen Hitler und der Staatsstreich vom 20. Juli
24
KUHN aber beschreibt seine Gefangennahme nicht als geplanten Überlauf, sondern als gezwungene Flucht zum Selbstschutz:
„Wenige Minuten blieben, um einen Entschluß zu fassen. Ich durfte mit meiner
Kenntnis von Zusammenhängen und Personenkreis der Verschwörung nicht in die
Hände des Himmlerschen Sicherheitsdienstes fallen. Selbstmord hatte ich mir
vorgenommen nur zu verüben, wenn keine andere Möglichkeit bestand, mich der
Verfolgung zu entziehen. Überlaufen war das Richtigste, es stand jedoch im Widerspruch zu den Begriffen und Traditionen, in denen ich erzogen war. Es blieb,
den Tod durch die feindliche Kugel zu suchen. Dies konnte nichts Schreckendes
(?) haben, da uns am Umsturz Beteiligte täglich der Gedanke an ein schnelles Ende begleiten mußte.
Auf der Fahrt zum Gefechtsstand bog ich zur Front ab und bewegte mich rasch
auf die russische Linie zu. Im Dorf Starosielce hielt ich mich auf, um das Weitere
zu überlegen, wurde aber, durch polnische Bauern angegeben, von einer russischen Streife im Keller eines Bauernhauses überraschend gefangengenommen.“27
„Das Schicksal des Generals v. ZIEHLBERG und der anderen Offiziere,
deren Haltung mir praktisch ermöglichte, der Verhaftung zu entgehen, ist
mir unbekannt“, schreibt KUHN.28 Dieses Schicksal war indes tragisch:
Generalleutnant Gustav Heistermann v. ZIEHLBERG, der KUHNS Flucht
ermöglicht hatte, wurde in einem ersten Verfahren „wegen Ungehorsams“
zu neun Monaten Gefängnis verurteilt. Nach Hitlers Einspruch gegen das
Urteil verhängte der 3. Senat des Reichskriegsgerichtes in Torgau am 21.
November 1944 das Todesurteil. Am 2. Februar 1945 wurde General v.
ZIEHLBERG in der Berlin-Spandauer Murellenschlucht erschossen.29 Ob
KUHN am Tode v. ZIEHLBERGS schuldig war, ist eine schwere moralische Frage, die aber nicht verschwiegen werden darf.30
1944 in der SD-Berichterstattung, S. 129, 190; von Herwarth, Hans: Zwischen Hitler und
Stalin. Erlebte Zeitgeschichte 1931 bis 1945. Frankfurt a.M. – Berlin – Wien 1982, S.
304; Widerstand gegen den Nationalsozialismus, hrsg. v. P. Steinbach und J. Tuchel.
Berlin 1994. S. 534.
27
CA FSB, „Anklage gegen Kuhn, Joachim“, Р-46988, Bl. 58.
28
Ebenda.
29
Haase, Norbert: Das Reichskriegsgericht und der Widerstand gegen die nationalsozialistische Herrschaft. Berlin 1993, S. 240–248.
30
Dazu der Teilnehmer des militärischen Widerstandes und Kuhns Kamerad aus den
Jahren 1943–1944 Hans von Herwarth: „Vielleicht schämte er sich [Kuhn – B. Ch., A. K]
seiner Handlungsweise, die nicht nur von den Nationalsozialisten, sondern auch von
manchen seiner Freunde kritisiert wurde, die ihn für den Tod seines Divisionskommandeurs verantwortlich machten. Ich bin überzeugt, daß Kuhn, als er in kürzester Zeit die
Major i.G. KUHN war Zeuge des Todes von Generalmajor Henning von
TRESCKOW:
„Infolge der Kampflage erfuhr ich von den Ereignissen des 20. Juli erst durch die
Rundfunk-Mitteilung am 21. um 7.00 Uhr. Wenige Stunden später teilte der Chef
des Stabes des Korps, Major von SCHÖNAU, daß der Chef des Stabes der Armee
– General v. TRESCKOW – käme, um sich über die Frontlage durch persönlichen
Einblick zu unterrichten. Er hätte um meine Begleitung in das Gelände gebeten.
General v. TRESCKOW kannte ebenfalls nur die Rundfunk-Nachricht vom
Fehlschlag und vom Tode BECKS, STAUFFENBERGS und OLBRICHTS. Kurz
nach Beginn der Fahrt ins Gelände eröffnete er mir:
‚Sie wissen, vor STAUFFENBERG war ich unter BECK der geistige Vorarbeiter dessen, was gestern fehlschlug. Ich kenne jede Einzelheit der Organisation
und fühle wie BECK und STAUFFENBERG die Mitantwortung für das Geschehene. So ist auch meine Uhr abgelaufen.‘ [...]
Er gab mir die Hand und sagte: ‚Adieu, Sie haben, wenn es Ihnen gelingt, am
Leben zu bleiben, und wenn es an der Zeit ist, zu sagen, was wir gewollt haben.‘
Als ich mich ungefähr auf 100 m entfernte, hörte ich, wie die Handgranate, die
v. TRESCKOW bei sich hatte, explodierte.
Auf meine offizielle Meldung über seinen Tod durch Partisanenhand wurde
General v. TRESCKOW mit allen militärischen Ehren beigesetzt. Der OKWBericht erwähnte seinen Heldentod. Ich hatte in General v. TRESCKOW einen
Kameraden verloren, der, wie keiner, Vorbild war.“31
Nach seiner Gefangennahme am 27 Juli 1944 verfügte KUHN über keine
genaue Information aus Deutschland. Auf diese Weise lassen sich die unbeabsichtigten Fehler, die im Text der „Eigenhändigen Aussagen“ vorkommen, erklären.
So schreibt er: „Am 4. August wandte ich mich an einen im Lager Volkovysk anwesenden russischen Stabsoffizier und äußerte ihm meinen
Wunsch, wichtige Aussagen zu machen. Viel später erfuhr ich, daß gerade
an diesem Tage ich in Berlin zum Tode verurteilt wurde.“32
Die KUHN sowjetischerseits übermittelte Nachricht, er sei am 4. August
1944 in Deutschland zum Tode verurteilt worden, war keine beabsichtigte
Desinformation. Davon, daß KUHN durch das deutsche Gericht in Abwedamalige Entscheidung hatte treffen müssen, sich ihre Konsequenzen nicht klargemacht
hatte.“ –von Herwarth, Hans: Zwischen Hitler und Stalin. Erlebte Zeitgeschichte 1931 bis
1945, S. 304.
31
CA FSB, „Anklage gegen Kuhn, Joachim“, Р-46988, Bl. 57.
32
Ebenda, Bl. 58–59.
senheit zum Tode verurteilt wurde, war auch im Schreiben des „SMERŠ“Chefs Abakumov an das GKO-Mitglied Malenkov vom 23. September
1944 die Rede.33 Gewiß war Abakumov weit davon entfernt, Malenkov bewußt irrezuleiten. Diese Version basierte auf den Materialien der Telegrafenagentur der Sowjetunion (TASS) vom 9. August 1944; die TASS stützte
sich ihrerseits auf eine Meldung der Agentur Transozean.34
In Wirklichkeit aber wurde KUHN zunächst nicht zum Tode verurteilt,
sondern aus der Wehrmacht ausgestoßen. Am 4. August 1944, nach der
Verurteilung durch den Volksgerichtshof, „wurden im Zusammenhang mit
den Ereignissen des 20.7.1944 durch den Führer auf Vorschlag des Ehrenhofes des Heeres aus der Wehrmacht ausgestoßen: [...] 11) Major i.G. Joachim KUHN, 1a 28. Jg.Div., geflüchtet.“35 Der erste Name in dieser Verurteilungsliste war der von TRESCKOWS: „Generalmajor Henning von
TRESCKOW, Chef Gen. Stab 2. Armee, freiwillig ins feindliche Feuer gelaufen.“36 Der nach KUHNS offizieller Meldung „über seinen Tod durch
Partisanenhand mit allen militärischen Ehren“ beigesetzte General v.
TRESCKOW wurde von den Nazis ausgegraben. Seine Leiche wurde nach
Berlin gebracht und im KZ Sachsenhausen verbrannt,37 die Asche in alle
Winde zerstreut. KUHN aber konnte das nicht wissen.
Den in KUHNS Aussagen enthaltenen Fehlern lag wahrscheinlich die
absichtliche Desinformation seitens der sowjetischen Seite zugrunde. Möglich ist auch, daß der im September 1944 mit KUHN arbeitende SMERŠOffizier Hauptmann Kopeljanskij nicht über die ganze aus Deutschland
kommende Information zum Fall KUHN verfügte. So wurden KUHNS Eltern Arthur Kuhn und Hildegard-Maria Kuhn, schon am 27. Juli 1944, dem
Tag seiner Flucht aus der Wehrmacht, in Sippenhaft genommen, aber Joachim KUHN (wie auch Hauptmann Kopeljanskij) wußten das nicht.38
33
Ebenda, nach Materialien des Hauptverwaltung „SMERŠ“.
Die TASS erwähnte Major Kuhn unter Berufung auf die Transozean unter den Personen, die in den Prozeß einbezogen waren. Die Auskunft enthielt keinen Hinweis darauf,
daß Kuhn in Abwesenheit zum Tode verurteilt worden sei.
35
Aufstand des Gewissens. Militärischer Widerstand gegen das NS-Regime 1933–1945.
Katalog zur Wanderausstellung. Hrsg. von Heinrich Walle. Berlin – Bonn – Herford
1994, S. 189.
36
Ebenda.
37
Finkler, Kurt: Stauffenberg und der 20. Juli 1944. Berlin 1988, S. 266.
38
Widerstand gegen den Nationalsozialismus, S. 385; Die Angeklagten des 20. Juli vor
dem Volksgerichtshof. Berlin 2001, S. 60.
34
Trotz seiner Flucht zu den Russen entging Joachim KUHN der Verurteilung zum Tod durch die Nazis nicht. Am 6. Februar 1945 verurteilte der 3.
Senat des Reichskriegsgerichtes unter Generalstabsrichter SCHMAUSER
den Angeklagten wegen der „Fahnenflucht zum Feind und des Kriegsverrates“ in contumaciam zum Tode. Hitlers persönliche Bestätigungsverfügung
vom 20. Februar 1945 verlangte: „Das Urteil ist zu vollstrecken, sobald der
Täter in die deutschen Hände gerät.“39
Vom 12. August 1944 bis zum 1. März 1947 blieb der Kriegsgefangene
KUHN im Innengefängnis des NKVD in Moskau. „Aus operativer Notwendigkeit heraus“ trug er in der Haft einen anderen Namen. In den Gefängnisakten wurde KUHN als Joachim Malowitz geführt.40 Die Behandlung des Gefangenen und die Haftbedingungen waren relativ gut. Im Spital
des Butyrskaja-Gefängnisses wurde ihm ärztliche Hilfe erwiesen. In all dieser Zeit führte „SMERŠ“ eine aktive „operative Arbeit“ mit Kuhn durch.
Zwecks „operativer Arbeit“ wurde KUHN laut den Weisungen des SMERŠChefs Generaloberst Viktor ABAKUMOV vom 15. Februar 1945 und vom
28. Februar 1947 zweimal auf einem Sonderobjekt des NKVD untergebracht.
Das Ergebnis dieser Zusammenarbeit von KUHN mit SMERŠ war
sensationell: Am 17. Februar 1945 fanden SMERŠ-Offiziere nach KUHNS
Angaben im Mauerwald bei Rastenburg (Ostpreußen) im früheren Hauptquartier der OKH die von KUHN auf STAUFFENBERGS Weisung im
Herbst 1943 in der Erde versteckten Glas- und Metalldosen. In den Dosen
war die geheime Dokumentation der Anti-Hitler-Verschwörung versteckt.41
1947 wurde KUHN auf Weisung von ABAKUMOV, damaliger Minister
für Staatssicherheit (MGB), auf eine MGB-Datscha (Sonderobjekt) zur Erholung gebracht; dort bereitete man ihn auf die Repatriierung nach OstDeutschland als künftiger Mitarbeiter der neuen Administration vor. Aber
auf dem Sonderobjekt äußerte sich KUHN negativ über die Sowjetmacht:
39
Haase, Norbert: Aus der Praxis des Reichskriegsgerichtes. Neue Dokumente zur Militärgerichtsbarkeit im Zweiten Weltkrieg. – In: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Heft
39/1991, S.393; ders.: Das Reichskriegsgericht und der Widerstand gegen die nationalsozialistische Herrschaft, S 240; Widerstand gegen den Nationalsozialismus, S.534.
40
Siehe: CA FSB. Delo arestovannogo KUNA (Malovitc) Ioachima [Der Fall des Inhaftierten KUHN (Malowitz), Joachim], Р-46988 – Gefängnisakte „Р-46988“ des Inhaftierten KUHN (Malowitz), Joachim.
41
Siehe dazu: Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte 1/2001, S. 355-358.
In einem Privatgespräch soll er gesagt haben, die Zusammenarbeit mit den
Sowjetbehörden falle ihm zur Last, er wolle sich zu den Amerikanern begeben42.
1948 wurde KUHN wieder ins Gefängnis gebracht. Er war ab 21. April
1948 im Gefängnis Lefortovo und ab 5. April 1950 im ButyrskajaGefängnis in Moskau inhaftiert.43 Juristisch betrachtet jedoch war er in dieser Zeit kein Häftling. Sein Haftbefehl wurde erst am 30. August 195144
aufgestellt (siehe Dokument 2). Darin hieß es, daß Hauptmann MAMAEV
KUHN „am Ort seines Aufenthalts verhaften und durchsuchen soll.“45 Der
Aufenthaltsort von Major KUHN war in dieser Zeit die Strafanstalt Butyrka.
Joachim KUHN wurde aufgrund von „Punkt 1 a Art. II des Gesetzes Nr.
10 des Kontrollrates in Deutschland“ „wegen Planung und Durchfürung
von aggressiven Kriegshandlungen gegen die UdSSR“ angeklagt und für
schuldig erklärt. Am 17. Oktober 1951 verurteilte die Sonderberatung beim
MGB der UdSSR KUHN zur 25jährigen Gefängnisstrafe ab 27. Juli 1944
(siehe Dokument 3).46 Die Beteiligung KUHNS an der deutschen AntiHitler-Opposition betrachteten die stalinistischen Untersuchungs- und Strafrichter ebenfalls als seine Schuld.
Wie es in der Anklageschrift hieß, „wurde festgestellt, daß die Teilnehmer der Verschwörung folgendes Ziel hatten: Vernichtung Hitlers; Abschluß
42
Ebenda, „Anklage gegen Kuhn, Joachim“, Р-46988, Bl. 244 – 246.
Siehe: Ebenda, „Der Fall des Inhaftierten КUHN (Маlowitz), Joachim“ Р-46988 –
Gefängnisakte „Р-46988“ des Inhaftierten KUHN (Malowitz), Joachim.
44
Die juristische Ausgestaltung der Verhaftung Kuhns im August 1951 erfolgte sofort
nach den Ereignissen vom Juli 1951: dem Ausschluß des Ministers für Staatssicherheit
V.S. Abakumov aus der KPdSU, seiner Absetzung und dann seiner Verhaftung; unter
anderem wurde ihm die Verschleppung der Untersuchung besonders gefährlicher Verbrechen zur Last gelegt. Zum neuen Minister für Staatssicherheit wurde im August 1951 der
Parteifunktionär S.D. Ignat’ev ernannt. Er ging daran, „Ordnung zu schaffen“ und die
Untersuchungssachen aller in der Verfügung seines Ministeriums befindlichen deutschen
Kriegsgefangenen zur Abgabe an die Gerichtsinstanzen vorzubereiten; meist wurden die
Gefangenen zu 25 Jahren Freiheitsentzug verurteilt. – Siehe darüber: Konasov, V.B.:
Gerichtliche Verfolgung der deutschen Kriegsgefangenen in der UdSSR. Moskau 1998,
S. 67–68.
45
CA FSB, „Anklage gegen Kuhn, Joachim“, Р-46988, Bl. 4.
46
Ebenda, Bl. 229. Der Historiker Michael Borchard schreibt: „‚25 Jahre Zwangsarbeit‘
lautete in über 85 Prozent der Fälle der monotone Urteilsspruch der sowjetischen Richter.“ –Borchard, Michael: Zwischen den Fronten des Kalten Krieges. Die deutschen
43
eines Separatfriedens mit England, Frankreich und den USA; Fortsetzung
des Krieges gegen die Sowjetunion gemeinsam mit diesen Staaten.“47
Als Anklagebeweis wurden in den Akten die Zeugnisse des in der Lubjanka inhaftierten SS-Hauptsturmführers und Mitarbeiters des SD Roman
GAMOTA vom 28. Februar 194948 über eine (in Wirklichkeit inexistente)
Organisation „Erneuerung“ und der Artikel von A. LEONIDOV „Die internationale Rolle der englisch-amerikanisch-deutschen-Schröder-Bank“ (Wochenschrift Neue Zeit, Moskau, Heft 9/1947) angegeben.
Die Hauptthese des Artikels in der Neuen Zeit lautete: „Die Tätigkeit der
amerikanischen militärpolitischen Aufklärung war nicht nur gegen die Faschisten, sondern auch gegen die echte Widerstandsbewegung gerichtet,
weil die Teilnehmer dieser Bewegung nicht wollten, daß die Sache der Befreiung ihrer Heimat zur Ersetzung der einen imperialistischen Clique durch
eine andere führte.“49 Die Niederlassung der Schröder-Bank in der Schweiz
sei eine Filiale der amerikanischen Aufklärung gewesen, sie habe Kontakte
mit der Anti-Hitler-Opposition in Deutschland aufgenommen. „Wer war
diese ‚Opposition‘? Reaktionäre Offiziere, Vertreter der preußischen Aristokratie und der höheren deutschen Finanzkreise. Es war ihnen bereits klar,
daß Hitler den Krieg gegen die Sowjetunion verloren hatte, und sie entschieden sich für eine Palastrevolution. Bekanntlich bestand ihr Plan darin,
in einem passenden Augenblick Hitler zu beseitigen und schnell einen Separatfrieden mit den westlichen Alliierten zu schließen. Damit wollten sie –
solange es noch nicht zu spät war – den deutschen Imperialismus retten.“50
11 Tage nach KUHNS Verurteilung verfügte sein Untersuchungsrichter
Major der Staatssicherheit KIŠIGIN, KUHN „zur Abbüßung der Strafe nach
der Verurteilung als Kriegsverbrecher in einem Sondergefängnis unterzubringen.“51
Das Sondergefängnis, in dem KUHN die Jahre 1951–1956 verbrachte,
war das in ganz Rußland bekannte und berüchtigte AleksandrovskijZentralzuchthaus in der sibirischen Stadt Irkutsk. Eine Ironie des SchickKriegsgefangenen in der Sowjetunion 1949–1955. – In: „Kriegsgefangene – Военнопленные“. Düsseldorf 1995, S. 88.
47
CA FSB, „Anklage gegen Kuhn, Joachim“, Р-46988, Bl. 225.
48
Ebenda, Bl. 201–203.
49
Ebenda, Bl. 208.
50
Ebenda, Bl. 209.
51
Ebenda, Bl. 228.
sals: Der 1944 an der Vorbereitung des militärischen Sturzes Hitlers beteiligte deutsche Offizier saß in demselben Gefängnis, in dem 1826 russische
Offiziere, Teilnehmer am Militärputsch gegen den russischen Zaren von
1825, ihre Haft verbüßt hatten.
Im Aleksandrovskij-Zentralzuchthaus litt KUHN an Unterernährung.52
Die MGB-Offiziere vermuteten aber, daß KUHN auch psychisch erkrankt
war. Ihre Vermutung beruhte auf einigen von KUHN im AleksandrovskijZuchthaus geschriebenen ungewöhnlichen Briefen:
„Graf von der Pfalz-Zweibrücken
Generalmajor
Irkutsk, den 15. Februar 1952
(Zweitschrift 27. Mai 1952).
An den Herrn Minister der Sicherheit
Moskau
Ich fühle die Verpflichtung meiner Haltung der Einstellung der Freundschaft u.
Aufrichtigkeit der Sowjetunion seinem Ministerium gegenüber treu zu bleiben. So
habe ich den Vorschlag getan u. die Ermächtigung zur erfolgten Bekanntgabe in
den Nachrichtenmitteln erworben.
Ich bin gezwungen gewesen den Namen Kuhn zu tragen und unter ihm zu leben aufgrund der Forderung der deutschen Regierung. Ich bin aber von Geburt
des Namens Graf von der Pfalz-Zweibrücken. Dies nach dem Erlaß des
Reichspräsidenten vom 13.6.1926 (sechsundzwanzig).
Meinen Personalangaben habe ich nur hinzuzufügen meine vom Oberst i.G. erfolgte Beförderung zum Generalmajor im Heere Westdeutschlands.
Das Ersuchen um Ermächtigung erfolgte auch, da mir erfindlich wurde, daß
das hier Stattgefundene nach dem Gesetz internationaler Höflichkeit u. diplomatischen Gebrauchs der Sowjetregierung mitgeteilt zu werden verlangt.
Auf mir nahm ein Prozeß der Wissenschaft u. Technik seinen Anfang u. fand
zum einen Teile statt – die Passion – welcher geleitet war von deutschen Ingenieuren u. Universitätsprofessoren, zunächst ohne mein Wissen um das Stattfinden
desselben, u. welcher der amerikanischen Erfindung folgte, gleich wie heute.
Es fand statt die Bilderführung u. schließlich das H. u. Fr.-G. (US Pat.). Es
fand statt die Bl. Frssbstz (sang).
Ziel u. Resultat des Prozesses von 34 Jahre Länge, für den ich ausgesucht war,
ist gewesen, das Superkurzwelleng. – der Zweck des Hohen Verfahrens ist die
Erhaltung (statt 81/3 – 120). Im Vordergrund steht als Zielsetzung das breite inwendiger kostspielige Hinausschieben des Al.
52
Ebenda, Bl. 237.
Dieses bitte ich zur Unterlage des Beweises zu nehmen. Weitere Angaben kann
ich nur nach der Anweisung durch die westdeutsche Regierung u. die U.S.A. in
Moskau geben. Ich darf u. werde, da im übrigen inzwischen bei mir die Distrophie
eingetreten ist, nur weitere Mitteilung machen, wenn ich in einem Hotel untergebracht u. mit reichlicher, normaler Zivilverpflegung versehen werde, sowie wenn
die mir übermittelte Zusage auf die bevorstehende Befreiung, auf Grund welcher
ich handelte, die Entlassung in die Heimat in der allernächsten Zeit nicht angelastet zu werden bestätigt wird.
Graf Zweibrücken
Zweitschrift geschlossen
den 27. Mai 1952, Irkutsk.“53
Im Brief vom 30. Juli 1952 schrieb der stellvertretende Abteilungsleiter des
MGB-Gefängnisses Oberstleutnant MASLENNIKOV: „Es gibt Gründe zu
vermuten, daß KUHN entweder krank und schizophren ist oder daß er eine
Veränderung des Behandlungsregimes verlangt und deswegen unsere Organe bewußt desinformiert.“54 Wahrscheinlich war er auch geistig angeschlagen, aber die Gefängnisärztin Fr. Vera Leksikova, die KUHN am 21.
53
54
Ebenda, Bl. 232–233.
Ebenda, Bl. 234.
November 1952 untersuchte, stellte fest, daß „KUHN keine Symptome einer psychischen Krankheit zeigt.“55 Die Erklärung von KUHN wurde vom
MGB sorgfältig geprüft.
„Laut Angaben der Untersuchungsabteilung der 2. Hauptverwaltung des MGB der
UdSSR“, schrieb Oberstleutnant MASLENNIKOV, „heißt der Verfasser der Erklärung nicht Generalmajor Joachim Graf von der Pfalz-Zweibrücken, er heißt in
Wirklichkeit Major Joachim KUHN, geboren 1913 in Berlin, ehemaliger Stabschef der 23. deutschen Jägerdivision. Diese Angaben stammen aus erbeuteten
deutschen Akten, die keinem Zweifel unterliegen. In diesen Akten ist Major
KUHN als aktiver Teilnehmer der Verschwörung gegen Hitler angegeben.“56
Der aktive Teilnehmer der Verschwörung gegen Hitler wurde am 21. und
22. November 1952 nochmals vom operativen Bevollmächtigten Leutnant
des MGB OVČINNIKOV in Irkutsk verhört. Im Verhörprotokoll in russischer Sprache57 ist als Name des Verhörten „Joachim KUHN“ angegeben,
aber jede Seite und jede Antwort des Verhörten im Protokoll ist mit dem
Namen „Pfalz-Zweibrücken“ in Deutsch unterschrieben.58
KUHN erzählte dem Untersuchungsrichter, bis zum 13. Juni 1926 habe
er nicht gewußt, daß er in Wirklichkeit Graf von der Pfalz-Zweibrücken
heiße: Arthur Kuhn sei nicht sein Vater, sondern sein Stiefvater, der richtige
Vater sei Graf von der Pfalz-Zweibrücken gewesen. Auf Bitte seiner Mutter
und seines Stiefvaters habe Joachim KUHN bis Februar 1952 nirgendwo
und niemandem über seine wirkliche Herkunft erzählt. Erst im Februar
1952 habe er im Schreiben an den Minister für Staatssicherheit seinen richtigen Namen „Graf von der Pfalz-Zweibrücken“ angegeben. KUHN erzählte auch, er sei im Juli 1944 zuerst zum Obersten und dann zum Generalmajor befördert worden.59 Auf die Frage des operativen Bevollmächtigten
OVČINNIKOV: „Gehörten Sie zu der anti-Hitlerischen Verschwörerorganisation?“ antwortete KUHN:
55
Ebenda, Bl. 243–244.
Ebenda, Bl. 234.
57
Es gab kein deutsches Verhörprotokoll. Das Verhör wurde von der Dolmetscherin
SKVORCOVA, Unterleutnant des MGB, ins Deutsche übersetzt.
58
CA FSB, „Anklage gegen Kuhn, Joachim“, Р-46988, Bl. 240–242.
59
Ebenda, Bl. 242.
56
„Ja, ich gehörte dazu. Der Anti-Hitler-Oganisation trat ich 1942 bei und war einer
von deren Leitern in der Armee. Am 20. Juli 1944 entfachte die Organisation einen Aufstand gegen das Hitler-Regime im Hinterland und an der Front. Ich
persönlich habe die Angriffe auf die Hauptquartiere von Hitler, Goering, Himmler
und Ribbentrop geplant, um sie der Macht zu entheben und die Antifaschisten an
die Macht zu bringen. Aber der Aufstand wurde niedergeschlagen, und meine
Zugehörigkeit zur Anti-Hitler-Organisation kam ans Licht. Wie mir am 15. August 1944 vom NKVD mitgeteilt wurde, bin ich in Abwesenheit zum Tode verurteilt worden.“60
Alle Bemühungen KUHNS, die Aufmerksamkeit der sowjetischen
Behörden auf sich zu lenken, blieben erfolglos. Trotzdem setzte er seinen
Kampf fort.
Am 10. November 1953 schrieb KUHN eine Erklärung an den sowjetischen Regierungschef. In den KUHN-Akten hat sich die auf dünnem Papier
mit Bleistift geschriebene russische Übersetzung dieses Briefes erhalten.
Der Brief in Russisch trägt die deutsche Unterschrift „Graf von der PfalzZweibrücken“.
Der Text der Erklärung lautet (Rückübersetzung ins Deutsche):
„An den Vorsitzenden des Ministerrates der UdSSR Herrn Malenkov.
Erklärung des Häftlings Graf von der Pfalz-Zweibrücken (Kuhn).
Herr Vorsitzender,
wie der 2. Verwaltung des MGB bekannt ist, war ich in Moskau von 1944 bis
1951 inhaftiert. Das geschah trotz der Tatsache, daß ich ein kriegsgefangener Offizier bin, gegen den, wie mir in Anwesenheit von Zeugen wiederholt erklärt wurde, keine Anklagen erhoben werden dürfen. Nach einer Reihe von Verhören im
September/Oktober 1951 teilte mir der Untersuchungsrichter der 2. Verwaltung
folgendes mit: ‚Im Ermittlungsverfahren wurde festgestellt, daß keine Gründe
mehr vorliegen, Sie in der Haft zu belassen.‘ Dann gratulierte er mir dazu durch
die Dolmetscherin: ‚Also kann man Ihnen gratulieren.‘ Anschließend fügte er hinzu, daß ich nach Deutschland zurückkehren müßte. Statt dessen schickte man
mich in das Aleksandrovskij-Gefängnis, wo ich mich immer noch befinde.
Deutsche Kriegsgefangene wurden bereits vor langer Zeit auf freien Fuß gesetzt. Außerdem wurde im August d.J. vereinbart, daß auch gerichtlich verurteilte
deutsche Kriegsgefangene zu entlassen sind.
Demgemäß liegen keine Gründe vor, mich weiter in Haft zu behalten. Deshalb
bitte ich Sie darum, mich als freien Menschen nach Deutschland zurückkehren zu
lassen.
60
Ebenda.
Aleksandrovsk, den 10. November 1953.
Graf von der Pfalz-Zweibrücken.“61
Zwischen diesem Schreiben an den sowjetischen Regierungschef und der
Entlassung Joachim KUHNS vergingen zwei Jahre und zwei Monate.
Obwohl sein Gesundheitszustand bedenklich war, galt KUHN in dieser
Zeit weiterhin als haftfähig und zum Arbeitseinsatz tauglich. Immerhin bestand ab Juni 1954 die Möglichkeit, Pakete aus Deutschland zu empfangen.
Die Gefängnisakte weist insgesamt 43 Vermerke über Warensendungen von
KUHNS Mutter auf.62
Aufgrund eines Erlasses des Präsidiums des Obersten Sowjets der
UdSSR vom 28. September 195563 wurde Joachim KUHN vorzeitig entlassen (siehe Dokument 4) und am 16. Januar 1956 der Bundesregierung
übergeben.
KUHN kehrte aus der Gefangenschaft zurück, nahm jedoch die Verbindung zu seinen früheren Freunden nie mehr auf.64
So endet die Geschichte von Joachim KUHN.
Jetzt wissen wir also von einem weiteren Menschen, dessen Leben von
Hitler und Stalin zerstört wurde.
61
Ebenda, Bl. 251.
Die Angeklagten des 20. Juli vor dem Volksgerichtshof, S. 60.
63
Den deutschen Text des Erlasses des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom
28. September 1955 siehe: Stalins Willkürjustiz gegen die deutschen Kriegsgefangenen.
Dokumentation und Analyse von Günther Wagenlehner. Bonn 1993, S. 16.
64
von Herwarth, Hans: Zwischen Hitler und Stalin. Erlebte Zeitgeschichte 1931 bis 1945,
S. 304.
62
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