5 Gemeinwesenentwicklung: Handlungsfeld Sozialer Arbeit

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Stadtteilbezogene soziale Arbeit versteht sich
nicht als Methode im klassischen Sinn. Mit
Methoden sollen Menschen verändert werden, stadtteilbezogene soziale Arbeit will soziale Räume verändern.
Wolfgang Hinte
5
Gemeinwesenentwicklung:
Arbeit
Handlungsfeld
Sozialer
Gemeinwesenentwicklung als ein Handlungsfeld Sozialer Arbeit zu verstehen,
scheint zumindest auf den ersten Blick ein, der Sozialen Arbeit innewohnender,
Wiederspruch zu sein. Schließlich geht es bei „Entwicklung“ bzw. beim „Entwickeln“ doch um ein aktiv-gestalterisches und planmäßiges „Handeln“. Hier bezogen auf eine größere soziale Einheit – dem „Gemeinwesen“ (siehe Kapitel
2.5.1). Dass die Profession der Sozialen Arbeit das Wissen dazu hat, zeigt ein
Blick in die Geschichte der Gemeinwesenarbeit. Aufgrund der Tatsache, dass
die im Feld Sozialer Arbeit geleisteten Hilfen - seit dem 19. Jahrhundert - unter
dem Paradigma von „Hilfe und Kontrolle“ standen und noch heute stehen, lässt
ein aktives Tun der Profession, quasi von sich aus, recht unwahrscheinlich erscheinen. Zu nah steht Soziale Arbeit ihrem wichtigsten Auftraggeber - dem
Staat: ihre Tätigkeit steht eindeutig auf Grundlage des und im Auftrag für das
„System“. Die maßgeblichen gesetzlichen Grundlagen Sozialer Arbeit sind das
KJHG und das BSHG. Hier scheinen daher wichtige Handlungskompetenzen im
Sinne von Gestaltungsmacht zu fehlen.
Gleichwohl wird die Profession an Orten tätig, an denen sich die Auswirkungen
gesellschaftlichen Wandels als deutlich wahrnehmbare Ungleichheit manifestieren: im sozialen, im urbanen Raum: Die Straße der mittelalterlichen Stadt, die
„Ghettos“ der Armut in der Industriestadt des 19. Jahrhunderts, in den Mietskasernen des Wilhelminischen Deutschlands und der Weimarer Republik, in den
Altbauquartieren und den neugebauten Satelliten- und Trabantenstädten im
Nachkriegsdeutschland. Anwaltschaft für die Menschen an diesen Orten gehört
daher – genauso wie die Gestaltung sozialer Räume -, und das ist bei genauerem Hinsehen eigentlich selbstverständlich, zum Auftrag und zur Funktion Sozialer Arbeit (vgl. Hinte 2003, S.19).
70
5.1
Sozialraumbezug inklusive: Gemeinwesenarbeit
Definition
Dieter Oelschlägel definiert Gemeinwesenarbeit (GWA) im „Handbuch Sozialarbeit/Sozialpädagogik“ als
„eine sozialräumliche Strategie, die sich ganzheitlich auf den Stadtteil und nicht pädagogisch auf
einzelne Individuen richtet. Sie arbeitet mit den Ressourcen des Stadtteils und seiner BewohnerInnen, um seine Defizite aufzuheben. Damit verändert sie dann allerdings auch die Lebensverhältnisse seiner BewohnerInnen“ (Oelschlägel in: Otto/Thiersch 2001, S.653).
Oelschlägel bezeichnet GWA weiter als „sozialkulturelle Interventionsstrategie“,
der er folgende Merkmale zuschreibt (vgl. Oelschlägel in: Otto/Thiersch 2001,
S.653):
GWA ist ganzheitlich-integrativ: Sie stellt die Erkennung, Erklärung und Bearbeitung sozialer Probleme in einen ganzheitlichen Zusammenhang, d.h. sie bezieht
deren raum-zeitliche, historische und gesellschaftliche Dimensionen mit ein. Zu
diesem Zweck integriert sie relevante Theorien aus allen für sie bedeutsamen Wissenschaftsdisziplinen.
GWA ist interdisziplinär: GWA verbindet Methoden verschiedener Disziplinen zu
„Strategien professionellen Handelns in sozialen Feldern“. GWA löst sich damit aus
dem traditionellen Verständnis Sozialer Arbeit mit der GWA als „dritte Methode“
(neben Einzelfall- und Gruppenarbeit) und verfolgt eine methodenpluralistische
Sichtweise entsprechend den lokalen Erfordernissen.
GWA ist lokal-lebensweltlich: Analysen und Strategien sind auf das „Gemeinwesen“, „d.h. den Ort, wo die Menschen samt ihren Problemen aufzufinden sind“ ausgerichtet (Quartier oder Stadtteil, Institution etc.). Der ganzheitliche Blick richtet sich
auf die Lebensverhältnisse, Lebensformen und Lebenszusammenhänge der Menschen, „auch so, wie diese selbst sie sehen (Lebensweltorientierung)“. Dabei sind
alle Probleme relevant, die von den Menschen im Quartier für wichtig gehalten
werden.
GWA ist entwicklungsorientiert: „Sie möchte das Gemeinwesen, die Lebenswelt
verändern, so dass Menschen dadurch handlungsfähiger werden; sie möchte
gleichzeitig Menschen handlungsfähiger machen, ermutigen, unterstützen, damit
diese ihre Lebenswelt verändern können.“
GWA ist aktivierend: Die Aktivierung der Menschen in ihrer Lebenswelt ist der zentrale Aspekt der GWA (Empowerment-Gedanke).
Gemeinwesenarbeit ist abzugrenzen vom Begriff der „Gemeinwesenorientierung“. Hier geht es um die Öffnung einer Institution gegenüber dem Gemeinwesen, um 1) Zielgruppen besser zu erreichen (VHS, Jugendheime, Erziehungsberatungsstellen) und/oder 2) die Ressourcen des Gemeinwesens für die eigene Arbeit und die Zielgruppe besser zu nutzen (Schulen, Kitas, ASD) (vgl.
Oelschlägel 2004a, S.11).
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Arbeitsfeld und Arbeitsprinzip
Gemeinwesenarbeit hat einen doppelten Charakter: sie ist Arbeitsfeld und Arbeitsprinzip zugleich. Betrachtet man das Arbeitsfeld der GWA, so betrachtet
man die zum Zwecke der GWA eingerichteten Institutionen und deren Mitarbeiter. Diese sind in der Regel in folgenden Bereichen tätig (vgl. Oelschlägel in:
Otto/Thiersch 2001, S.654):
Bereitstellung von Ressourcen (materielle: Räume, Materialien; personelle: Zeit,
Beratungskompetenz, Anwaltschaft, emotionale Unterstützung)
Beratung und Aktivierung zur Selbsthilfe (Orientierung an den Möglichkeiten und
Perspektiven der Beteiligten)
Förderung der Kulturarbeit (Kultur als Teil der menschlichen Existenz; GWA bietet
Möglichkeitsräume zur Entwicklung einer Stadtteilkultur)
Lokalpolitik („GWA als Gestaltung von sozialen Räumen ist immer auch Politik und
bedarf unterschiedlicher Formen der Einmischung“)
Vernetzung im Stadtteil (Gewinnen von AkteurInnen mit Erweiterungspotential im
Stadtteil)
GWA als Arbeitsprinzip meint eine „grundsätzliche professionelle Herangehensweise an soziale Probleme“ entsprechend der oben genannten Prinzipien
(vgl.Oelschlägel in: Otto/Thiersch 2001, S.654), die „in allen Bereichen der Sozialen Arbeit und darüber hinaus (!) handlungsleitend sein [können]“ (vgl.
Oelschlägel 2004a, S.11).
5.2
Schlaglichter der GWA-Entwicklung
Settlements
Die Wurzeln der GWA in Deutschland reichen zurück bis zur englischen „Settlement-Bewegung“1 des 19. Jahrhunderts. In „Toynbee-Hall“ und „OxfordHouse“ (1884) sollten die Hilfsbedürftigen der Industriellen Revolution durch
„Bildung, Organisation und Gemeinschaftsarbeit“ zur Selbsthilfe erzogen werden. Auch sollten die Einrichtungen Verständnis zwischen Besitzlosen und Besitzenden stiften. Das Konzept wurde in den USA u.a. von Jane Addams (HullHouse, Chicago) weiterentwickelt. Im Jahre 1901 wurde in Hamburg ein sozialistisch orientiertes Nachbarschaftsheim gegründet (Volksheim Hamburg). In
Berlin gründete der ehemalige Potsdamer Pfarrer Siegmund-Schultze 1911 die
„Soziale Arbeitsgemeinschaft Berlin Ost“. Mit ihr sollte die Trennung zwischen
1
Zur ausführlichen Geschichte der „settlement“-Bewegung bzw. der „social settlements“ von Jane Adams
vgl.: C. Wolfgang Müller (31997): Wie Helfen zum Beruf wurde. Weinheim, Belz.
72
„Kapitalisten“ und „Proletariat“ aufgehoben werden und wieder Friede zwischen
den Klassen einkehren. Angebote für Kinder und Jugendliche wurden geschaffen, Beratungsangebote, eine Jugendgerichtshilfe, Begegnungsstätten.
Im Jahre 1925 schlossen sich die Arbeitsgemeinschaften und Volksheime in
Deutschland zur „Deutschen Vereinigung der Nachbarschaftssiedlungen“ zusammen. Merkmale solcher „settlements“ waren: Quartiersorientierung, Einrichtung von Begegnungsstätten (Volkshäuser), Aktivierung der Nachbarschaft und
Beteiligung derselben bei der Ursachen- und Lösungsforschung (vgl. Oelschlägel in: Otto/Thiersch 2001, S.655f).
„community organisation“
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde in Deutschland die Sozialarbeit zunächst
„rekonstruiert“ (Oelschlägel). Nach und nach stellte sich durch die Wiederherstellung der Institutionen auch wieder eine Differenzierung im sozialen Feld ein,
die eine Professionalisierung Sozialer Arbeit mit sich brachte bzw. erste ermöglichte (vgl. Oelschlägel in: Otto/Thiersch 2001, S.656). Hertha Kraus veröffentlichte mit dem Artikel „Amerikanische Methoden der Gemeinschaftshilfe“ im
Jahre 1951 den ersten Artikel zum Thema in der jungen BRD und präsentierte
damit den „community organisation“-Ansatz einem deutschen Fachpublikum,
rund neun Jahre vor dem ersten Curriculum an einer Schule für Sozialarbeit.
Das Gehör einer breiten Fachöffentlichkeit fand sie allerdings nicht. Ein Grund
dafür liegt möglicherweise in den unterschiedlichen sozialpolitischen Systemen:
„In Deutschland findet man eine starke Verantwortung des Staates für das Gemeinwohl der BürgerInnen, während in Amerika diese Verantwortung, für die
soziale Infrastruktur zu sorgen, viel stärker den BürgerInnen und den kirchlichen
Vereinigungen überlassen bleibt“ (Schnee 2004, S.10).
Kraus umreißt die Arbeitsweise der „community organisation“, die sie im Prinzip
als eine ehrenamtliche Tätigkeit für den Stadtteil darstellt und die neben dem
„normalen“ Arbeitsleben stattfindet: Analyse des Gemeinwesens (kontinuierliche Suche nach Schwachstellen, Bedarfslücken); Aktivierung potentieller Akteure zur Problembekämpfung; Erhebung detaillierter Informationen über
Reichweite und Ursachen der Probleme zur Erschließung weiterer Ressourcen;
aktionale Phase, d.h. konkrete Arbeit an den Problemen, ggf. Fundraising, ggf.
Erweiterung des Aktionsfeldes in die breitere Öffentlichkeit (vgl. Müller 1997,
73
S.100f). Hinter dem Konzept stand ein sehr „harmonistisches Gesellschaftsverständnis“, das gesellschaftliche Widersprüche und Konflikte nicht zur Kenntnis
nahm (vgl. Oelschlägel in Otto/Thiersch 2001, S.656).
Das Engagement von Hertha Kraus unterstützte die Reaktivierung der Nachbarschaftsheime in Deutschland, die sich 1951 zu einem Verband zusammenschlossen. Allerdings waren die Nachbarschaftsheime methodisch eher an der
sozialen Gruppenarbeit orientiert, so dass hier (noch) keine Rezeption des Programms erfolgte (vgl. Müller 1997, S.103). Daran änderte auch die akademische Berufung der „community organisation for social welfare“ zu einer der
„grundlegenden Methoden“ der Sozialen Arbeit durch Herbert Lattke (in seinem
Buch „Soziale Arbeit und Erziehung“) nichts (vgl. Müller 1997, S.102).
Erst die beiden internationalen Seminare zu Gemeinwesenarbeit, die die Berliner Senatsverwaltung für Arbeit und Sozialwesen 1963 und 1965 im Anschluss
an die Konferenzen von München (1956) und Rio de Janeiro (1962) veranstaltete, und eine intensive Methodendiskussion um die Einführung der GWA als
Handlungsprinzip in den Nachbarschaftsheimen, führte zu einer breiteren - und
teilweise von Skepsis geprägten - Rezeption der GWA in der Bundesrepublik.
(vgl. Oelschlägel in: Otto/Thiersch 2001, S.656; Schnee 2004, S.10)
Mit dem Ende des „Wirtschaftswunders“ zerplatzte allerdings der Traum vom
unendlichen Wirtschaftswachstum inklusive Vollbeschäftigung. Der Bedarf nach
„sozialen Dienstleistungen“ wuchs und konnte weder mit den bestehenden Methoden, noch mit den zur Verfügung stehenden finanziellen Mitteln gedeckt
werden. Zudem geriet das Soziale und auch die Soziale Arbeit1 zunehmend in
den Sog der ideologischen Auseinandersetzungen zwischen Ost und West. Die
Widerstandskräfte der Bevölkerung setzten die Politik unter heftigen Legitimationsdruck. Schließlich suchte die Soziale Arbeit selbst – zwischen verstärkter
Leistungsnachfrage und zunehmenden Leistungsdefiziten sozialer Dienste stehend – nach neuen professionellen Strategien (vgl. Oelschlägel in: Ot-
1
Ein gutes Beispiel für eine gesellschaftskritische Auseinandersetzung zwischen Sozialer Arbeit einerseits
und der „kapitalistischen Gesellschaft“ andererseits vor dem Hintergrund der Auswirkungen dieses „antagonistischen“ Konflikts ist das Buch von C. Wolfgang Müller und Peter Nimmermann (1971): Stadtplanung
und Gemeinwesenarbeit. Texte und Dokumente. München: Juventa.
74
to/Thiersch 2001, S.656). In diesem Spannungsfeld sollte die Gemeinwesenarbeit ihre Wirkungen entfalten.
Die Politisierung der bundesdeutschen Gesellschaft zum Ende der 1960er und
zu Beginn der 1970er Jahre, brachte die Emanzipation der GemeinwesenarbeiterInnen mit sich. Sie begründete das Selbstverständnis einer eigenen Berufsgruppe und löste eine GWA-Rezeption und –Diskussion aus. Die bereits 1948
„zur Rettung der Deutschen Jugend“ gegründeten Victor-Gollancz-Stiftung,
wurde zur Plattform von Diskussion und Aus- bzw. Fortbildung (Victor-GollanczAkademie) Sozialer Arbeit. Gemeinwesenarbeit wurde hier, in Seminaren und
Diskussionen, als Arbeitsprinzip verstanden und als „ökologischer Ansatz“ vertreten. Dieser Ansatz verstand sich als „eine stadtteilbezogene, problemorientierte, kooperative und methodenintegrierende Form kommunaler Fürsorge“
(vgl. Oelschlägel 1997, S.37).
Integrative GWA
In den Diskursen über Inhalt und Methodik einer GWA wurde heftig gestritten.
Dabei wurden die Ansätze der nord-amerikanischen GWA kritisch hinterfragt.
Der Begründer der „Integrativen GWA“, Murray G. Ross, wurde von der bundesdeutschen GWA als ungeeignet für den „Klassenkampf“ befunden, da sein
Konzept die eigentlichen Ursachen gesellschaftlicher Ungleichheit nicht bekämpfe, so die damalige Ansicht, sondern nur – funktional für das bestehende
System – beschwichtige. Die gesellschaftlichen Verhältnisse würden wie in der
wohlfahrtsstaatlichen GWA nicht hinterfragt bzw. verändert. Müller merkt zu
dem Konzept von Ross an, das vor allem auf Planung und Integration beruht:
„Das Konzept [...] ist ein gemäßigt reformpädagogisches Konzept; es geht von
der Notwendigkeit der aktiven Beteiligung möglichst aller Bewohner eines
Wohnquartiers bei der Beseitigung partikularer Missstände aus, in der Hoffnung, dass die Verantwortung dieser Bürger für das Gemeinwohl ihrer Kommune eine als ursprünglich angenommene und prinzipiell wiederherstellbare Harmonie rekonstruieren könne“ (Müller 1971, S.232f). Und Hinte weiter: Ross
„geht es nicht darum gesellschaftliche Ursachen für lokale Probleme anzugehen, sondern unerträgliche Belastungen lediglich [...] erträglicher zu machen“
(Hinte in Schnee/Stoik 2002, S.6).
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Aggressive GWA
Die „aggressive GWA“ war eine Antwort auf das eher unpolitische Konzept von
Ross bzw. einer eher systemkonformen wohlfahrtsstaatlichen GWA. Die Antworten, die die wohlfahrtsstaatliche Soziale Arbeit gerade in den Neubausiedlungen oder Sanierungsgebieten liefern konnte, reichte vielen SozialarbeiterInnen nicht aus. Der Zusammenhang zwischen der Wohnungswirtschaft und
Stadtplanern auf der einen und der beschwichtigend-kontrollierenden Sozialen
Arbeit auf der anderen Seite, regte die Profession zunehmend auf. Man wollte
nicht mehr nur „helfen“, sondern auch die Ursachen für Unrecht und Ungleichheit anpacken. Es müsse daran gearbeitet werden, so eine damalige Position,
dass die Stadt als „Raum des denkenden Aufstandes“ erhalten bleibe. Dazu
müsste „Stadt“, sozusagen als Klient, in die Soziale Arbeit einbezogen werden,
um aus einer „Masse“ von Menschen wieder Individuen zu machen (vgl. z.B.
Balg 1968).
Die Rezeption von Saul Alinsky1 und Harry Specht2 zu Beginn der 1970er Jahre
als Protagonisten einer ausgesprochen politischen Form Sozialer Arbeit, der
„disruptiven Gemeinwesenarbeit“, brachte eine Erweiterung der Handlungsmöglichkeiten in die Arbeitsformen der Sozialen Arbeit. Die Entscheidung, ob das
Handlungssystem des (politischen) Gegners in einer mehrstufigen Strategie für
eine begrenzte Zeit ausgeschaltet werden soll (disruption), lag in der
Verantwortung der jeweiligen Interessengruppe (vgl. Müller 1997, S.118).
Projekte die mit solchen Strategien operierten waren politisch sehr aktiv. Mit
marxistischen Idealen ausgestattet, versuchten GemeinwesenarbeiterInnen die
vermeintlichen gesellschaftlichen „underdogs“ zu aktivieren: ArbeiterInnen, die
auch MieterInnen waren, organisierten sich in Mieterinitiativen vor allem in den
Stadtrandsiedlungen
und
Sanierungsgebieten.
Das
Motto:
„Von
der
Hilfestellung bei akuten Konflikten durch Aufklärung zur Organisation“
(Oelschlägel 2004, S.41). Durchsetzten konnte sich diese Form der GWA
allerdings nicht: Radikalenerlass, Berufsverbote, Wirtschaftskrise, Sozialabbau
frustrierten die Aktivisten und es begann, sich eine „allgemeine Mutlosigkeit“
auszubreiten (vgl. Oelschlägel in Otto/Thiersch 2001, S.657). Erhalten
1
Vgl. z.B. Saul Alinski: Anleitung zum Mächtig-Sein.
Vgl. z.B. Harry Specht: Disruptive Taktiken in der Gemeinwesenarbeit. In: Müller/Nimmermann 1971,
S.208-227.
2
76
Otto/Thiersch 2001, S.657). Erhalten geblieben ist der Anspruch, der Sozialen
Arbeit sich auf lokaler Ebene „einzumischen“ (vgl. Oelschlägel 2004, S.42).
Katalytisch-aktivierende GWA
Die „katalytisch-aktivierende Gemeinwesenarbeit“ (z.B. von Wolfgang Hinte)
versuchte die Konzepte wohlfahrtsstaatlicher und aggressiver GWA miteinander
zu kombinieren, indem sie gleichzeitig an den akuten Missständen und an den
„Ursachen von Benachteiligung und Unterdrückung“ arbeitete. Man ging davon
aus, dass die Betroffenen in der Lage sind, sich selbst zu helfen. Aktivierung
stand im Mittelpunkt der Arbeit, wobei die Themen und Bedürfnisse der Betroffenen (Lebensweltorientierung) den Weg vorgaben (vgl. Schnee 2004, S.13).
Aus diesem Konzept entwickelten sich später Milieu-, Netzwerk- und „stadtteilbezogene Soziale Arbeit“ (vgl. Schnee/Stoik 2002, S.7).
Mit dem Verlust einer Utopie (oder Utopien) von einer besseren (gemeinsamen)
Welt gegen Ende der 1980er Jahre, verlor sich auch die „revolutionäre“ Kraft in
der GWA (vgl. z.B. Oelschlägel 2004, S.45). Und das obwohl die aufgekommene „Neue Armut“ die Gegensätze in Deutschland zunehmend verschärfte. Für
Oelschlägel war damit die GWA als „dritte Methode der Sozialen Arbeit“ verloren (vgl. Oelschlägel in: Otto/Thiersch 2001, S.657). Als Arbeitsprinzip und Arbeitsfeld blieb sie aber erhalten. Und: gesellschaftliche Ungleichheiten blieben
erhalten – trotz „Neuer sozialer Bewegungen“. Daher konstatiert Hinte: „Die
Radikalität der alten GWA-Konzepte ist heute weiterhin hoch aktuell – doch haben sich der gesellschaftliche Kontext und die Themen der Menschen verändert. Felder der Aktivität sind immer noch Wohnquartiere (`soziale Räume´),
und dort gerät zunehmend die konstruktive Ausgestaltung der Schnittstelle Milieu/Sozialbürokratie in den Blick“ (Hinte 2004, S.7f).
Neuere Konzepte
Als neuere Konzepte in der Gemeinwesenarbeitsentwicklung lassen sich - ohne
Anspruch auf Vollständigkeit - benennen:
Milieuarbeit: in Dänemark entwickelter ressourcenorientierter Ansatz
zur Aktivierung von Gemeinwesen (vgl. Schnee/Stoik 2002, S.7);
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Netzwerkarbeit: will den dänischen Ansatz dahingehend weiter entwickeln, dass bestehende Ressourcen vernetzt werden sollen (vgl.
Schnee/Stoik 2002, S.7);
Community organisation (revisited): seit Anfang/Mitte der 1990er Jahre zwingen knappe öffentliche Kassen und die wachsenden gesellschaftlichen Probleme viele GWA-Projekte zur Organisationsstraffung. Das führte zu einer neuen Rezeptionswelle von Alinski´s Konzept. Das „Forum für community organisation“ (FOCO1) wurde gegründet, um als Plattform für einen theoretischen und praktischen
Wissenstransfer in diesem Arbeitsfeld zu dienen (vgl. Oelschlägel in:
Otto/Thiersch 2001, S.658);
Gemeinwesenökonomie: Entwicklung von Sach- und Dienstleistungsmärkten auf Quartiersebene unterhalb oder neben des monetären Systems der Gesamtgesellschaft unter Nutzung lokaler Ressourcen (z.B. Tauschbörsen). Diese „basisökonomischen Ansätze“ verbindet, „dass sie aus der Not geboren, von der Nutzung der Arbeitsund Gestaltungskraft der Menschen in den Gemeinwesen als der
entscheidenden und oft einzigen sozialproduktiven Ressource ausgehen und Grundbedürfnisse in den Nahräumen decken“ (Oelschlägel in: Otto/Thiersch 2001, S.658).
Agenda 21: Weniger ein Konzept der GWA als ein Leitbild für (institutionelles) Handeln im urbanen Raum. Bereits 1992 wird eine grundlegende Neuorientierung der Stadtentwicklungspolitik gefordert: „Nachhaltige Siedlungsentwicklung und Armutsbekämpfung durch die Stärkung der Rolle wichtiger sozialer Gruppen, durch neue Konzepte und
integriertes/interdisziplinäres Handeln“ (Krautzberger/Richter 2002,
S.36).
5.3
„Stadtteilbezogene Soziale Arbeit“
Die Entwicklung des stadtteilbezogenen Ansatzes in der Sozialen Arbeit ist eng
mit dem Essener „Institut für Stadtteilbezogene Soziale Arbeit und Beratung“
1
Sehr guten Zugang zum „forum community organizing e.V.“ liefert das Internet über http://www.fo-co.info
.
78
(ISSAB) und dessen Leiter, Wolfgang Hinte, verknüpft. Oelschlägel beschreibt
die „Stadtteilbezogene Soziale Arbeit“ folgendermaßen:
„Es geht um eine nicht-pädagogische Kompetenz der Professionellen, die die Wünsche
und Interessen der Betroffenen in den Vordergrund stellen und deshalb im Stadtteil Moderationsfunktion übernehmen und um eine Beteiligung an Einflussnahme auf das öffentliche politische Leben im Stadtteil, in der Gesamtstadt und gegebenenfalls in der Region
durch die GWA, die Verwaltungen nicht prinzipiell als Gegner, sondern bis zum Beweis
des Gegenteils als Bündnispartner sieht und deshalb eine Scharnierfunktion als intermediäre Instanz im Stadtteil übernimmt“ (Oelschlägel in: Otto/Thiersch 2001, S.657).
Der Ansatz nach dem Hinte seit 1981 Stadtteilarbeit realisiert, verfolgt einen
konsequenten Sozialraumbezug und wurde an seinem Institut systematisch
weiterentwickelt (Theorieentwicklung, institutionelle Zusammenarbeit, Entwicklung aktivierender Handlungskonzepte, Entwicklung eines Tätigkeitsprofils,
Entwicklung von Fortbildungsangeboten usw.) (vgl. Hinte 1992, S.119).
Mit den wachsenden Problemen in den Stadtteilen vor dem Hintergrund leerer
öffentlicher Haushaltskassen stieg, so Hinte bereits 1992, die Nachfrage an
GWA-Kompetenz seitens öffentlicher und privater Träger von Sozialleistungen.
Damit ist eine besondere Verantwortung der GWA bezogen auf die Adressaten
verbunden. Denn: „einerseits ergibt sich die Chance fachlicher Innovationen [...]
und andererseits läuft dieser Ansatz Gefahr, zu einem besonders ausgeklügelten Instrument staatlicher und verbandlicher Sozialpolitik zu werden, mit dem
man Menschen einen nur unzureichenden Ersatz für staatlicherseits nicht mehr
garantierte Leistungen unterjubelt, sie quasi unter dem Mäntelchen von Aktivierung und Selbsthilfe davon ablenkt, ihnen zustehende Ressourcen einzuklagen“
(Hinte 1992, S.120). Einen solchen „Missbrauch“ zu verhindern, sei Teil dieser
Aufgabe.
Im Kern bietet der Ansatz bekannte GWA-Perspektiven:
Orientierung an Selbsthilfekräften und der Betroffenheit von Bürgern,
Prävention,
Ganzheitlichkeit,
Verbesserung der materiellen Situation,
Dezentralisierung,
Kooperation und Koordination.
Indem er auf die Konfliktorientierung der 1970er Jahre verzichtet, sei dieser Ansatz, so Hinte, ein möglicher Weg, die „unstrittige Theoriesubstanz“ des Sozialraumbezugs einer breiten Rezeption zuzuführen. Denn: „Bei der Implementati79
on von Prinzipien der Gemeinwesenarbeit muss man Wege suchen, die den
umfangreichen Apparat institutioneller sozialer Dienste bei den großen Trägern
auf kommunaler Ebene nutzen und ihn innovativ bereichern“ (Hinte 1992,
S.121).
„Stadtteilbezogene Soziale Arbeit“ stellt für Hinte keine Methode im klassischen
Sinn dar, da sie als solche nicht die Menschen, sondern soziale Räume verändern will:
„Es geht nicht um eine `Besserung´ von Menschen, um eine zielgerichtete Veränderung
ihrer Lebensgewohnheiten oder erzieherischer Interventionen bezüglich ihrer Kommunikationsstile, sondern um konkrete Verbesserungen der materiellen Lebensbedingungen
der jeweiligen Wohnbevölkerung unter aktiver Beteiligung der betroffenen Menschen und
eine darauf ausgerichtete und diese Blickrichtung unterstützende Lebenswelt- und Bedürfnisorientierung der sozialen Dienste“ (Hinte 1992,S.121).
Der Ansatz ist strategisch nicht festgelegt. Vielmehr werden aus dem „Methodenkoffer“ die jeweils passenden Arbeitsformen entnommen und eingesetzt.
Wichtig ist der prozesshafte Charakter dieser Vorgehensweise: nicht das Ergebnis, sondern der Prozess steht im Vordergrund: „Stadtteilarbeit wird als interaktiver Prozess verstanden, der nicht, gerichtet auf `wünschenswerte´ Ergebnisse professionell gesteuert wird, sondern in Kontakt und Auseinandersetzung zwischen Professionellen und Stadtteilbewohnern diskursiv verläuft – mit
ungewissem Ausgang“ (Hinte 1992, S.121).
Im Rahmen eines Diskurses1 bringt jede am Gestaltungsprozess beteiligte Institution ihre Kompetenzen (Macht, Ressourcen usw.) im Hinblick auf das Handlungsziel (Chancen und Grenzen) ein. Offenheit und Lösungsorientierung charakterisieren die Kommunikation unter den Beteiligten. Der soziale Raum des
Stadtteils wird dabei unter systemischen Gesichtspunkten betrachtet: „Die
Wohnumwelt wird dabei als – in ein städtisches Ganzes eingebundenes – System sehr komplex miteinander verzahnter Teile und Subsysteme verstanden,
die gegenseitig in Zusammenhang und Abhängigkeit stehen und gleichzeitig in
ihren Möglichkeiten autonom sind“ (Hinte 1992, S.121).
„Stadtteilmanager“, angestellt bei Kommunen, freien Trägern oder auch Hochschulen, sollen einen solchen Prozess anregen oder unterstützen. Ihre Aufgabe
1
zum Diskursbegriff siehe z.B. Habermas´ Theorie des kommunikativen Handelns.
80
ist eine doppelt „intermediäre“: sie sind Bindeglied zwischen den Systemen innerhalb des „Stadtteils“ sowie zwischen Stadtteil und „Politik und Verwaltung“
(vgl. Hinte 1992, S.121).
Als Ziele dieser Aufgabe nennt Hinte (vgl. Hinte 1992, S.122):
Nutzbarmachung von Verwaltungsressourcen für den Stadtteil bzw. deren
Anpassung an die Bedürfnisse der BewohnerInnen;
Aktivierung und Unterstützung der BewohnerInnen;
Ausrichtung der Arbeit an den Selbsthilfemöglichkeiten und Interessen der BewohnerInnen;
Integration/Berücksichtigung und Unterstützung bestehender formeller und informeller Netze im Stadtteil;
„Rechtzeitige“ Einmischung;
(Konflikt-)Moderation und Mediation, um die Teilnahme Aller am Diskurs im
Stadtteil zu sichern;
die Bildung nachhaltiger und unabhängiger lösungsorientierter Netzwerkstrukturen initiieren.
Bauliche oder infrastrukturelle Maßnahmen bzw. die Ergänzung oder Veränderung der materiellen Ausstattung des Stadtteils ergänzen gegebenenfalls diese
Ziele.
Für Oelschlägel haben sich GWA und der Ansatz der „stadtteilbezogenen Sozialen Arbeit“ so weit angenähert, dass es kaum noch Unterschiede gibt und die
Begriffe heute quasi synonym verwendet werden (Oelschlägel in: Otto/Thiersch
2001, S.657).
5.4
Zusammenfassung
Die Gestaltung sozialer Räume als dritte Methode Sozialer Arbeit ging, laut
Oelschlägel, mit den Utopien von einer besseren Welt in den 1980er Jahren
verloren. Erhalten geblieben ist GWA als Arbeitsfeld und vor allem als Arbeitsprinzip. Wolfgang Hinte hat dieses Prinzip konsequent zu seinem Ansatz „Stadtteilbezogene Soziale Arbeit“ weiterentwickelt und damit den Stadtteil als Arbeitsfeld für die Profession der Sozialen Arbeit potentiell erschlossen. Er stellt
sich mit diesem Ansatz zwar in die Tradition der GWA, verortet und bezieht sich
aber eindeutig auf das bestehende politische System.
Ziel ist die Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen im sozialen
Raum unter deren maßgeblichen Beteiligung. Damit dies gelingt, müssen sich
alle relevanten Kompetenzträger an diesem Prozess lösungsorientiert beteiligen. Dem „Stadtteilmanager“ kommt dabei eine intermediäre Funktion zu: er
81
sorgt durch seine Arbeit u.a. dafür, dass einerseits innerhalb des Stadtteils die
wirkenden Kräfte vernetzt werden und andererseits dasselbe zwischen Stadtteil
und Politik bzw. Verwaltung geschehen kann. Seine Tätigkeitsbereiche liegen
daher sowohl im Stadtteil als auch darüber hinaus auf der gesamtstädtischen
Ebene. Sein primäres Ziel ist die Veränderung des Stadtteils und nicht die Veränderung einzelner Menschen.
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