Daran denken und aktiv ansprechen! - Familienmedizin

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Suizidprävention in der Hausarztpraxis
Daran denken und aktiv ansprechen!
Hans-Michael Mühlenfeld
Auch wenn der Verlust eines Patienten durch eine Selbsttötung im
hausärztlichen Alltag selten vorkommt, ist es für den Kollegen ein
schreckliches Erlebnis. Die Fragen
„Habe ich die Schwere der Erkrankung falsch eingeschätzt?“ oder
„Hätte ich es verhindern können? “
beschäftigen einen über Tage und
Wochen. Wie kann man eine Suizidgefährdung frühzeitig erkennen und
den Selbstmord abwenden?
Der Suizid ist ein evidentes Problem unserer Gesellschaft. In Deutschland sterben
doppelt so viele Menschen durch Suizid
als im Straßenverkehr. Suizidprävention
ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe,
zum einen durch Enttabuisierung, zum
anderen durch den Verzicht auf Publikation in den Massenmedien, um Nachahmungen zu vermeiden. Aber auch der
Hausarzt steht hierbei wieder einmal im
Mittelpunkt. Studien zeigen, dass in den
Wochen vor dem Suizid viele Menschen
Der Allgemeinarzt 16/2008
häufiger als sonst einen Arzt aufsuchen.
Dabei wird jedoch oftmals das Ausmaß
der Suizidgefährdung nicht erkannt.
Obwohl uns die „erlebte Anamnese“, das
Lebensumfeld und die berufliche Situation unserer Patienten bekannt sind, ist
es dennoch sehr schwierig, in der vollen
Sprechstunde immer auch an diesen gefährlichen – nicht immer abwendbaren
– Verlauf zu denken.
Wie kann der Hausarzt Suizidalität
erkennen?
Um an Suizidalität überhaupt denken zu
können, ist es wichtig, die Risikofaktoren
(vgl. Übersicht 1) zu kennen. Patienten,
die ein erhöhtes Risiko haben, sollten wir
gezielt diesbezüglich befragen.
Ich spreche z. B. jeden depressiven Patienten in folgender Weise auf Selbsttötungsgedanken an:
● „Ich kann verstehen, dass es Ihnen
schlecht geht, haben Sie auch schon
einmal daran gedacht, Ihr Leben zu
beenden?“ oder
● „Haben Sie sich gewünscht, nicht wieder aufzuwachen?“ oder
● „Sind Sie des Lebens müde?“ oder
● „Ich mache mir Sorgen über Sie, wie
kann ich Ihnen helfen?“
Allein schon dieses Ansprechen reduziert
bei den Patienten den Krankheits- und
Leidensdruck, da ich damit auch Verständnis für ihre Situation signalisiere.
Was sollten wir möglichst nicht tun?
Ein Bagatellisieren der vom Patienten
empfundenen Belastungen, wie „Na, so
schlimm ist das doch nicht“ oder „Das
wird schon wieder“ ist in der Regel im
Rahmen von depressiven Episoden wenig
hilfreich, auch wenn es inhaltlich stimmen mag. Ebenso ist eine Konfrontation
mit Konflikten bei schweren Depressionen in der akuten Phase zu vermeiden.
Auch wenn ich oftmals zunächst mit dem
Patienten im Rahmen einer suizidalen
Krise alleine bin, versuche ich ihn von
der Sinnhaftigkeit einer Kooperation mit
einem Nervenarzt zu überzeugen, was
mir aber nicht immer gelingt. Die Mitbehandlung durch einen Nervenarzt entlastet mich (geteilte Verantwortung) und ist
zudem hilfreich, wenn eine komplexere
Medikation notwendig wird.
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Wie können wir weiter vorgehen?
Meistens distanziert sich der Patient in
der Sprechstunde von aktuellen Suizidgedanken (ansonsten vgl. Kasten rechts
unten). Da in der Regel ein Nervenarzt
nicht unmittelbar greifbar ist, haben sich
bei mir kurzfristige Wiedereinbestellungen bewährt. Zum einen kann die Situation am nächsten Tag neu eingeschätzt
werden, zum anderen erhält der Patient
dadurch eine – wenn auch geringe – Perspektive. Als Alarmzeichen einer zunehmenden Suizidgefährdung gelten dabei:
● schriftliche oder verbale Suizidäußerungen
● konkrete Vorbereitungen zu einer suizidalen Handlung
● weiterer Rückzug aus zwischenmenschlichen Beziehungen
● abwehrend-aggressives Verhalten
● plötzliche Veränderung der Stimmung
oder des Verhaltens.
Suizid in Deutschland: Die Fakten
● Ca. 9 500 Suizide in Deutschland im Jahr 2006, ca. 18 000
Suizide im Jahr 1980.
● Suizidraten: 18/10 000 Männer, 7/100 000 Frauen.
● Männer wählen konsequentere Methoden (Erschießen, Erstechen,
Erhängen) als Frauen (Schlafmittel).
● Mit zunehmendem Alter steigen die Suizidziffern an, insbesondere
bei Frauen.
● In Deutschland existieren deutliche regionale Unterschiede mit deutlich höheren Suizidraten in Sachsen und Bayern und niedrigen Ziffern
in Nordrhein-Westfalen und Sachsen-Anhalt.
● Es gibt eine saisonale Häufung von März bis Oktober.
● Bei Verheirateten (besonders wenn Kinder da sind) finden sich die
geringsten, bei Verwitweten, Alleinstehenden und Geschiedenen die
höchsten Suizidraten.
● Suizidversuche sind vermutlich zehnfach häufiger als vollendete Suizide.
● 40 bis 50 % der Menschen, die sich umbrachten, hatten im
letzten Monat ihres Lebens einen Arzt aufgesucht (20 bis
25 % sogar in der letzten Woche).
Science
Risikofaktoren für einen Suizid
Psychische Erkrankungen
● Depressionen (vorausgehend bei
65 – 95 % aller Suizide)
● Schizophrenie
● Manisch-depressive Störungen
● Angststörungen
● Persönlichkeitsstörungen
● Schlafstörungen
● Behandlung mit Antidepressiva
Alkoholmissbrauch und anderer
Drogenkonsum
● Alkoholabhängigkeit: Suizidrisiko et-
wa um das Zehnfache erhöht
● Drogenabhängigkeit: Suizidrisiko et-
wa um das 20-Fache erhöht
● Auch Kinder und Jugendliche aus
suchtbelasteten Familien neigen häufiger zu suizidalem Verhalten
Schwere Erkrankung
Gewalttätige Umgebung
Psychosoziale Belastungsfaktoren
● Berufliche Überforderung
● Finanzielle Belastungen
● Arbeitslosigkeit
Frühere Suizidversuche und -gedanken
Isolation, Alleinleben und Verlust von
Unterstützung
Übersicht 1
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Es gilt die Regel: Je konkreter die Suizidgedanken sind, desto größer ist die Gefahr und desto mehr Handlungsbedarf
besteht!
Eine Vereinbarung mit einem Therapievertrag sowie die Verabredung für ein
Treffen am nächsten Tag, gegebenenfalls
auch die Möglichkeit einer „Notrufnummer“ (meine Handynummer oder auch
das Krisentelefon der Gemeinde), deeskalieren die Situation. Hilfreich kann die
Frage des Arztes sein, ob er sich darauf
verlassen kann, dass der Patient sich bis
zum nächsten Treffen nichts antut. Auch
die gemeinsamen Überlegungen, Partner,
Angehörige oder Freunde zur Stärkung
des sozialen Netzes in die aktuelle Krankheitssituation mit einzubinden, können
entlasten.
Angehörige einbeziehen
Suizidprävention sollte generell die Angehörigen mit einbeziehen, denn von jedem
Suizid bzw. Suizidversuch sind auch die
Angehörigen betroffen. Suizidales Verhal-
ten von Angehörigen führt aufgrund von
depressiven Syndromen mit Gedanken
an Schuld häufig zu weiterem suizidalen
Verhalten.
Neben Risikofaktoren gibt es natürlich
auch schützende Faktoren:
● soziale Kompetenzen
● ein gut ausgebildetes Gesundheitsbewusstsein
● Persönlichkeitsmerkmale wie Neugierde und Offenheit, Selbstvertrauen
Einweisung bei akuter Suizidalität
Sofern der Patient von floriden Selbstmordgedanken berichtet, biete ich meinen Patienten eine (selbst)„schützende“
Einweisung an. Im Setting einer Klinik ist
eine Entlastung (psychotherapeutisch
und medikamentös) besser möglich.
Dieses Angebot wird meistens angenommen. Die Ausnahme, dass eine
Zwangseinweisung bei akuter Suizidalität notwendig wird, habe ich nur im
Rahmen von Psychosen erlebt.
Kasten
Der Allgemeinarzt 16/2008
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Therapeutische Grundregeln bei depressiven
Patienten
● An erster Stelle steht das ärztliche Gespräch, das mit
Zuhören begonnen hat.
● Akute Episoden klingen in der Praxis oft in kurzer Zeit
spontan ab.
● Bei Patienten mit leichter und mittelschwerer Depression, die keine Therapie wünschen, ist ein beobachtendes
Abwarten möglich.
● Je ausgeprägter die Symptomatik, desto früher sollte
man den Einsatz von Antidepressiva erwägen.
● Verwendung von wenigen Medikamenten, mit denen
man Erfahrung hat
● der Situation angepasste Verhaltensweisen (adäquate Copingstrategien)
● soziale Integration und die Unterstützung durch Familie und Freunde
● persönliche und berufliche Perspektiven
Diese gilt es zu finden und zu stärken.
Behandlungsmöglichkeiten bei
bestehender Depression
Die häufigste Ursache für Suizidalität in
der Hausarztpraxis wird sicherlich eine Dekompensation einer depressiven
Episode sein. Gerade hierbei haben wir
eine gute Prognose, einerseits durch den
spontanen Verlauf und andererseits durch
psychotherapeutische und pharmakologische Optionen, wenn wir die suizidale
Krise erkennen und behandeln.
Depressive Episoden in der Sprechstunde
zu erkennen ist jedoch meistens nicht
Mögliche Gründe einer Überweisung zum Psychiater bei depressiven Patienten
● unklare psychiatrische Diagnose
● mittelschwere bis schwere anhaltende Symptomatik
einfach, da einerseits
die Patienten körperliche Symptome (wie
Kopf-, Bauch- und
Rückenschmerzen)
präsentieren und
andererseits es sich
zu zwei Dritteln
um leichte Formen
handelt, die bei vielen hausärztlichen
Patienten ohne spezifische Therapie
nach sechs bis zwölf
Monaten verschwinden.
● Kein abruptes Absetzen, sondern „Ausschleichen“ bevorzugen.
● Ausreichend lange Erhaltungstherapie (mindestens
sechs bis neun Monate).
● Unterschiede in der antidepressiven Wirksamkeit zwischen den einzelnen chemisch definierten Antidepressiva wurden bislang nicht sicher gezeigt.
● Die Differenzialindikation der einzelnen Wirkstoffe ergibt sich aus den Neben- und Wechselwirkungsprofilen.
● Für viele Patienten in der hausärztlichen Praxis, insbesondere für Patienten mit kardiovaskulären Erkrankungen oder höherem Alter, sind SSRI aufgrund ihres
Nebenwirkungsprofils zu bevorzugen.
● Bei aktivierenden Antidepressiva und Suizidgefahr ggf.
anfangs dämpfende Medikamente ergänzen, da für
diesen Fall eine anfängliche Erhöhung der Suizidgefahr
immer wieder diskutiert wird.
Übersicht 3
Bedeutsam jedoch ist das Erkennen des
abwendbar gefährlichen Verlaufes, eben
der Suizidalität. Wichtig ist es sicherlich
zudem, immer die Schnittstelle der Überweisung zum Spezialisten (Übersicht 2)
sowie die Grundregeln der Therapie zu
beachten (Übersicht 3).
▪
Internetadressen:
www.suizidprophylaxe.de
www.suizidpraevention-deutschland.de
Weitere Literatur bei Verfasser
● psychotische Symptome
● schwere psychosoziale Probleme
● akute suizidale Gefährdung
● psychiatrische Komorbidität und
Substanzabhängigkeit/-missbrauch
● fehlende Besserung nach sechs
Wochen Behandlung
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● Mögliche Nebenwirkungen frühzeitig ansprechen.
● Einschleichende Dosierung (Tropfen!) unter erhöhter
Kontaktfrequenz anstreben.
Dr. med. Hans-Michael
Mühlenfeld
Arzt für Allgemeinmedizin
Gemeinschaftspraxis für
Familienmedizin
28197 Bremen
practica-Seminare
„Hausbesuchsmanagement“
und „Freude am
Beruf“
Der Autor dieses Beitrags zur Suizidprävention, Dr. med. Hans-Michael Mühlenfeld – Allgemeinarzt, Lehrarzt in Göttingen und stellv. Vorsitzender des Instituts
für hausärztliche Fortbildung (IhF) im
Deutschen Hausärzteverband – ,ist wie
bereits in den letzten beiden Jahren auch
2008 wieder auf der practica vertreten.
Diesmal bietet er zwei Seminare an:
1. Hausbesuchsmanagement: Mitarbeiterqualifizierung in und für die Praxis
der Zukunft im Rahmen der Qualifizierung zur Versorgungsassistentin in der
Hausarztpraxis – VERAH®. Termin: Mittwoch, 22.10.2008, 15.00 bis 18.30 Uhr
2. Freude am Beruf – Ehrlich und gut
verdienen. Termin: Donnerstag,
23.10.2008, 9.00 bis 12.30 Uhr
Näheres unter www.practica.de
Übersicht 2
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