Gedenkschrift für Richard Dedekind - IHK Braunschweig

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Harborth, Heuer, Löwe, Löwen, Sonar
Gedenkschrift
für Richard Dedekind
IHK Braunschweig
IHK Braunschweig
Gedenkschrift für Richard Dedekind
Heiko Harborth, Maria Heuer, Harald Löwe,
Rainer Löwen, Thomas Sonar
Gedenkschrift
für Richard Dedekind
Ein Beitrag der Wirtschaft, vertreten durch die Industrieund Handelskammer Braunschweig
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in
der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
Impressum:
Herausgeber
Industrie- und Handelskammer Braunschweig
Postfach 3269, 38022 Braunschweig
Telefon 0531 · 4715-0, www.braunschweig.ihk.de
Redaktion
Carl Langerfeldt, Jochen Hotop
Layout
Peter Pohl, DPP Designbüro
Fotografien
Susanne Hübner, Rainer Löwen, Peter Pohl
Druck
Ruth Printmedien, Braunschweig
ISBN 00: X-XXXX-XXXX-0
ISBN 00: XXX-X-XXXX-XXXX-0
INHALT
Vorwort ...................................................................................... 7
Prof. Dr. Heiko Harborth
Zum Leben des Mathematikers Richard Dedekind ...............9
Prof. Dr. Thomas Sonar
Richard Dedekind und seine Beziehungen
in der Gelehrtenrepublik . ...................................................... 13
Prof. Dr. Rainer Löwen
Eudoxos, Dedekind und Cantor:
Die Geburt des heutigen Zahlbegriffs .................................. 27
Prof. Dr. Harald Löwe
Dedekinds Theorie der Ideale ................................................ 51
Prof. Dr. Thomas Sonar
Die Bändigung des Unendlichen.
Richard Dedekind und die Geburt der Mengenlehre .......... 85
Maria Heuer
Faszination Mathematik . ....................................................... 99
Prof. Dr. Heiko Harborth
Einige Selbstzeugnisse,
zum Beispiel Briefe, Richard Dedekinds ............................103
Autoren................................................................................... 107
Förderer der Gedenkschrift................................................... 1 1 1
Vorwort
Mit der Gedenkschrift für Richard Dedekind
anlässlich der Auszeichnung Braunschweigs
als „Stadt der Wissenschaft 2007“ möchte
die Industrie- und Handelskammer Braunschweig, der Technischen Universität Braunschweig vielfach verbunden, gemeinsam
mit deren Carl-Friedrich-Gauß-Fakultät das
menschliche Interesse an Leben und Wirken
dieses bedeutenden Braunschweiger Mathematikers mit einer Einladung in die Welt der
Mathematik verknüpfen.
Die Mathematik entspringt nicht nur einer ganz besonderen Fähigkeit menschlichen
Denkens1; sondern sie ist auch geeignet, mit
ihrer weltweit gültigen Formelsprache Naturgesetze so zu beschreiben, dass wir diese anwenden und technisch nutzen können.
Auf dieser wahrhaft erstaunlichen Tatsache beruhen unsere ganze heutige erdumspannende Technik und Wirtschaft. Mathematik ist der Schlüssel zum Verständnis aller
Naturwissenschaft und Technik, deren Entwicklung unser Leben, unsere von Menschen
geschaffene Lebenswelt und unsere gesamte
Erde umfassend prägt und in rasantem Tempo
revolutionär verändert. Sie dient der internationalen Finanzwelt zur Steuerung von Kapital
und Liquidität und ist Voraussetzung für die
unauf haltsame Globalisierung unserer Zeit.
Daher ist Mathematik heutzutage unverzichtbarer Bestandteil einer grundlegenden
Allgemeinbildung, die nicht nur überhaupt
ein Grundverständnis unserer Gegenwart
und unseres Alltages ermöglicht, sondern
uns auch erst zur Ausübung vieler anspruchsvollerer Tätigkeiten und Berufe befähigt. Darüber hinaus vermitteln mathematische Strukturen und Beweise immer wieder das Erlebnis
von Schönheit und Eleganz. Aufgeschlossenheit und Wissensdurst, vielleicht sogar Lust
an der Mathematik, gerade auch bei Schülern
der Oberstufe und Studenten zu wecken, ist
deshalb erklärtes Ziel dieser Gedenkschrift.
Dem Initiator, Vizepräsident Carl Peter
Langerfeldt, sowie allen Mitwirkenden und
Förderern sei herzlich gedankt!
Dr. Wolf-Michael Schmid
Dr. Bernd Meier
Präsident der IHK Braunschweig
Hauptgeschäftsführer der IHK Braunschweig
1 Dehaene, Stanislas, Der Zahlensinn oder warum wir rechnen können, Birkhäuser Basel 1999 ISBN 3-7643-5060-9;
Butterworth, Brian, The Mathematical Brain, Macmillan London 1999 ISBN 0 333 73527 7
Richard Dedekind,
Ölgemälde im Forum-Gebäude
der TU Braunschweig
© TU Braunschweig
Zum Leben des Mathematikers Richard Dedekind
Prof. Dr. Heiko Harborth, TU Braunschweig
R i c h a r d D e d e k i n d wurde am 6. Oktober 1831 in Braunschweig geboren, wo er seine Kindheit sowie den Großteil seines Berufslebens verbrachte und wo er am 12. Februar
1916 starb. Getauft wurde Richard Dedekind
in St. Katharinen, seine letzte Ruhestätte fand
er in der Familiengrabstätte auf dem Braunschweiger Hauptfriedhof.
Sein familiäres Umfeld kann als repräsentativ für das Braunschweiger Bildungsbürgertum in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gelten. Der Vater, Julius Levin Ulrich
Dedekind (1795-1872), war Jurist und lehrte
als Professor am Collegium Carolinum. Hier
war schon Richard Dedekinds Großvater, Professor Johann Ferdinand Friedrich Emperius (1759-1822), tätig, der außerdem ab 1806
als Direktor dem Herzoglichen Museum in
Braunschweig (heute: Herzog Anton Ulrich
Museum) vorstand. Zu den bleibenden Verdiensten von Emperius gehört es, dafür Sorge
getragen zu haben, dass ein Großteil der von
den Franzosen, die das Herzogtum seit der
Niederlage der preußischen Truppen bei Jena
und Auerstedt 1806 besetzt hielten, nach Paris verbrachten Kunstschätze 1815 nach Braunschweig zurückkehren konnte.
Richard Dedekind wuchs in der väterlichen
Dienstwohnung des Collegium Carolinum am
Bohlweg auf. Nach der Bürgerschule besuchte
er das Martino-Katharineum und anschließend
das Collegium Carolinum (1848-1850). Zwischen 1850 und 1852 studierte er in Göttingen
und wurde dort nach nur vier Semestern mit
einer Arbeit „Über die Elemente der Theorie
der Eulerschen Integrale“ als letzter Doktorand
bei dem großen Braunschweiger und Göttinger
Mathematiker Karl Friedrich Gauß (1777-1855)
promoviert. Weitere zwei Jahre darauf folgten
1854 die Habilitation und bis 1858 eine Tätigkeit als Privatdozent in Göttingen.
Im Jahre 1858 erhielt Richard Dedekind
einen Ruf als Professor für Mathematik an
das Polytechnikum in Zürich. Trotz des hohen Ansehens dieses Lehrstuhls zog es ihn
in seine Heimatstadt zurück, wo 1862 eine
Professur für Mathematik am Collegium Carolinum (dem späteren Polytechnikum und
der heutigen Technischen Universität) antrat.
Als Hochschullehrer in Braunschweig wirkte
Richard Dedekind dann mehr als drei Jahrzehnte. Nach 32 Jahren Lehrtätigkeit trat er
1894 in den Ruhestand, hielt allerdings auch
danach weiterhin Vorlesungen.
Von 1872 bis 1875 war Richard Dedekind
der erste gewählte Direktor des Collegium
Carolinum. In seine Amtszeit fielen eine Reihe schwieriger Verhandlungen. Seinem Entschluss und seiner Überzeugungskraft ist es
zu danken, dass das Collegium Carolinum
nicht nur in seinem Bestand erhalten blieb,
sondern dass man ihm 1872 sogar die erhebliche Summe von einer halben Million Talern
für einen Neubau des Polytechnikums bewilligte. Dedekind hatte den ersten Vorsitz in der
Baukommission, und 1877 konnte das neue
Gebäude in der Pockelsstraße, damals noch
im Außenbereich der Stadt, eingeweiht werden. Durch die Zerstörungen des Zweiten
Weltkriegs blieb von diesem Gebäude leider
nur die Fassade erhalten.
Auch an der Errichtung eines der bedeutendsten Braunschweiger Denkmäler, des
Gauß-Denkmals, war Richard Dedekind maßgeblich beteiligt. Von ihm stammt die Anre-
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Zum Leben des Mathematikers Richard Dedekind
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Zum Leben des Mathematikers Richard Dedekind
gung, am Sockel ein regelmäßiges Siebzehneck anzudeuten, das dann als vergoldeter
Stern eingemeißelt wurde.
1930 und 32 in drei Bänden vom Vieweg-Verlag herausgegeben worden.
Zwei kleine Schriften von Dedekind (Was
sind und was sollen die Zahlen? Stetigkeit
und Irrationale Zahlen.) werden noch heute
gedruckt. In Stichwortverzeichnissen von Geschichten der Mathematik wird Dedekind ebenso häufig wie Gauß genannt. Man liest, dass
Dedekind „über 50 Jahre die Zierde der heutigen Technischen Universität Braunschweig“
war. Nach E. T. Bell (1967, Die großen MatheRichard Dedekind war Mitglied der Akade- matiker) ist Dedekind „einer der größten und
mien der Wissenschaften in Berlin, Paris und
originellsten Mathematiker Deutschlands.“ B.
Rom sowie der Leopoldinisch-Carolinischen L. van der Waerden schreibt: „E. Galois und
Akademie der Naturforscher. In Anerkennung R. Dedekind sind es, die der modernen Algebseiner großen wissenschaftlichen Verdienste
ra ihre Struktur gegeben haben. Das tragende
wurden ihm Ehrendoktorate in Kristiania, Zü- Skelett stammt von ihnen“. Nach W. Felscher
rich und Braunschweig verliehen.
(1978, Naive Mengen und abstrakte Zahlen)
„kann der Einfluss, welchen Dedekinds MethoDie Ergebnisse seiner wissenschaftlichen
den auf die Entwicklung der Algebra gehabt
Forschungen veröffentlichte Richard Dede- haben, in seiner Bedeutung kaum überschätzt
kind in über 50 Publikationen, wobei sein werden“.
Hauptarbeitsgebiet die Algebraische Zahlentheorie war. Richard Dedekind hat sich in
Richard Dedekind hat Rufe auf bedeutende
seinen Arbeiten sehr um die Bewahrung der Lehrstühle ausgeschlagen, unter anderem
Werke von Carl Friedrich Gauß, Peter Gus- nach Zürich, Hannover, Straßburg, Gießen,
tav Lejeune-Dirichlet und Bernhard Riemann Karlsruhe, Göttingen (zweimal). Er ist seiner
verdient gemacht. Außerdem nahm er durch Heimatstadt immer mit Überzeugung treu geseine enge Freundschaft mit Georg Cantor blieben. Er war damit ein echter Braunschweian dessen grundlegenden Arbeiten zur Men- ger Bürger, dessen Bedeutung für die Mathegenlehre intensiven Anteil. Die gesammelten
matik auf der ganzen Welt auch heute noch
Werke von Richard Dedekind sind zwischen bekannt und unbestritten ist.
n
Nach dem Tod seines Vaters (1872) wohnte
der Junggeselle Richard Dedekind mit Mutter
und älterer Schwester Julie zusammen in der
Petrithorpromenade 24 (heute Inselwall 12).
Im Jahre 1894 siedelte er zusammen mit seiner Schwester in die erste Etage der Kaiser-Wilhelm-Straße 87 (heute Jasperallee 87) über.
1 Adolf Dedekind (1829–1909), Bruder von Richard Dedekind
2 Julie (1825–1914) und Mathilde (1827–1860) Dedekind, Schwestern von Richard Dedekind
3 J. L. Ulrich Dedekind (1795–1872), Vater von Richard Dedekind
4 Caroline Dedekind, geb. Emperius (1799–1882), Mutter von Richard Dedekind
5 Richard Dedekind, 37 Jahre alt
6 Richard Dedekind, 55 Jahre alt
7 Richard Dedekind, 72 Jahre alt, am 6. März 1904
11
12
In der ersten Etage des Hauses Jasperallee 87 hatte Dedekind seit 1894 mit seiner Schwester Julie gewohnt.
13
Richard Dedekind
und seine Beziehungen in der Gelehrtenrepublik
Prof. Dr. Thomas Sonar, TU Braunschweig
„Gelehrtenrepublik“
B e r e i t s i n d e r A n t i k e wurde die Vorstellung geboren, ein Staat unter der Führung
von gelehrten Philosophen würde Glück und
Wohlstand garantieren. Der Begriff der Gelehrtenrepublik blieb bis in das 18te Jahrhundert
hinein als die „res publica literaria“ synonym
für die Gemeinschaft von Poeten, Bibliothekaren und Philosophen, die über Korrespondenz, Bücher und Besuchsreisen länderübergreifend Kontakt hielten. In der Zeit der absoluten Herrscher sollte es gerade unter den
Gelehrten eine „Republik“ sein, um sich gegen die Herrschaftsformen der Regierenden
abzugrenzen. Lokale Realisierungen waren
Friedrich Gottlieb Klopstock
die „Salons“ des 18ten Jahrhunderts, in denen
man sich über schöngeistige Dinge ebenso zu
informieren versuchte wie über Physik.
Im Jahr 1774 legte Friedrich Gottlieb Klopstock sein Werk „Die deutsche Gelehrtenrepublik 1“ vor. Es handelt sich dabei um die fiktive
Verfassung einer Gemeinschaft von Gelehrten,
in der das Volk nur als „Pöbel“ auftritt, und
um die Beschreibung eines Landtages dieser
Republik. Klopstocks Plädoyer für eine Befreiung der Gelehrten vom Broterwerb zeigt die
Absurdität einer Gelehrtenrepublik in unserer
Zeit und Welt. Von dem demokratischen Charakter einer Gelehrtenrepublik ist durch die
Unterdrückung des Volkes nichts mehr geblieben, andererseits persifliert Klopstock die fehlende Einigungsbereitschaft der Gelehrten. So
verständlich der Wunsch nach einer Staatsführung durch die wissenschaftliche und künstlerische Elite sein mag – er ist unrealistisch und
war es schon zu Zeiten Klopstocks. Im 19ten Jahrhundert verblasste dieser Begriff, denn an Stelle der „literarisch“ Gebildeten
traten durch die umfassenden Entwicklungen
in Physik, Chemie, Mathematik mehr und
mehr die naturwissenschaftlich gebildeten
Kreise in den Vordergrund. So ging der Begriff der „Gelehrtenrepublik“ verloren, um in
unseren Tagen in Form des Begriffes „scientific community“ wieder aufzuerstehen. Diese „Gemeinschaft der Wissenschaftler“ strebt
allerdings nicht mehr nach der Idee einer eigenen Republik. In neuerer Zeit, 1957, hat der
Schriftsteller Arno Schmidt die Idee der Gelehrtenrepublik 2 noch einmal aufgegriffen
und nach einer fast völligen Vernichtung der
Erde eine schwimmende künstliche Insel beschrieben, auf der erstrangige Wissenschaftler des Westens und des Ostens in zwei getrennten Republiken leben. Auf diese Weise
gelingt ihm eine satirische Überspitzung der
14
Richard Dedekind und seine Beziehungen in der Gelehrtenrepublik
Folgen des kalten Krieges. Interessanterweise
taucht die „Gelehrtenrepublik“ bei Schmidt
noch einmal in einem anderen Zusammenhang auf 3 , und zwar in dem Rundfunkdialog
„Das schönere Europa. (Zur Erinnerung an die
erste große wissenschaftliche Gemeinschaftsleistung unseres Kontinents, den Venusdurchgang
von 1769.)“. Es geht dort um die Expedition
zur Beobachtung des Venusdurchgangs im
Jahr 1769. Eine Gruppe von Wissenschaftlern
hatte sich auf den beschwerlichen einjährigen
Weg gemacht, um mit Hilfe des Venusdurchgangs die Entfernung von Erde und Sonne zu
messen. Schmidt schreibt 4:
... ausgerechnet in den entferntesten Teilen des Globus waren die wichtigsten Beobachtungsstationen erwünscht; und damals f log man noch nicht in 4 Stunden
im Düsenbomber über den Atlantik! Aber
es gelang den vereinten Anstrengungen
der europäische Gelehrtenrepublik – vor
allem eben unter Hinweis auf die zu erwartenden praktischen Ergebnisse – die
Unterstützung der Regierungen oder finanzkräftiger Privatleute zu gewinnen.
Und weiter 5:
Aber einmal wenigstens war man doch, und
auf‘s Erhabenste, einig gewesen: Siebzehnhundertneunundsechzig! ... Am dritten Juni!
Der Begriff der Gelehrtenrepublik wird hier
also in moderner Zeit wieder in einem positiven Sinne verwendet: Die „Gemeinschaft der
Wissenschaftler“ unternimmt eine Expedition,
deren Ziel Erkenntnis ist.
Wir wollen „Gelehrtenrepublik“ im Zusammenhang mit Dedekind in einem dualen Sinn
verstehen: Zum einen werden wir seine Rolle
in der (kleinen!) Gemeinschaft der deutschen
Mathematiker beleuchten, zum anderen aber
auch seine Stellung in der Braunschweiger
Bürgergesellschaft und innerhalb gebildeter
Kreise, in denen er sich bewegte.
Jugend und Studium
Richard Dedekind ist das jüngste Kind eines
Professors der Rechtswissenschaften am
Braunschweiger Collegium Carolinum, Julius Levin Dedekind, und wird somit in eine
bürgerliche Bildungsfamilie hinein geboren.
Drei ältere Geschwister – Julie, Mathilde und
Adolf – leben mit ihren Eltern in der Dienstwohnung des Vaters im Collegium Carolinum.
Der Vater hat eine ärmliche Kindheit und beschwerliche Jugend hinter sich gebracht, aber
Dedekinds Mutter stammt aus der in Braunschweig berühmten Familie der Emperius.
Dieses Elternhaus sorgt dafür, die Kinder früh
wissenschaftlichen und schöngeistigen Einf lüssen auszusetzen. Im Innenhof arbeiteten
der Bildhauer Howaldt und der Maler Heinrich Brandes.
Richard Dedekind hat das absolute Gehör
und wird sein Leben lang die Liebe zur Musik
bewahren; er wird sich als begnadeter Cello- und Klavierspieler einen Namen machen.
Seine größte Liebe wird jedoch die Mathematik. Schon als Achtzehnjähriger unterrichtet
er den zwölfjährigen Hans Zincke, genannt
Sommer, den Stiefsohn des Gründers der Voigtländer-Werke und begründet eine lebenslange
Freundschaft. Beide teilen sowohl die Liebe
zur Mathematik, als auch zur Musik.
Am 2. Mai 1848 trägt sich der 16-jährige
Richard Dedekind in das Matrikelbuch des
Collegium Carolinum ein. Das Collegium war
keine Universität in heutigem Sinne, sondern
Richard Dedekind und seine Beziehungen in der Gelehrtenrepublik
Hans Zincke genannt „Sommer“
sollte auf den Besuch einer solchen vorbereiten. Ab 1850 finden wir den jungen Richard
Dedekind in Göttingen. Er studiert nun Mathematik, während sein Bruder Adolf dort
Jura studiert. Im Zuge der Revolution 1848
wird Adolf Mitbegründer der studentischen
Verbindung Brunsviga. Im Jahr 1849 begeht
der größte Mathematiker seiner Zeit, Carl
Friedrich Gauß, in Göttingen sein 50-jähriges
Doktorjubiläum. Diese Feier wird sicherheitshalber ganz im Stillen abgehalten, denn man
befürchtet Störungen und Unruhen durch revolutionäre Kräfte.
Carl Friedrich Gauß
konnten, wurden sogar vom Prorector gezwungen, einen ihm zugedachten Fackelzug zu unterlassen. Übrigens soll er viele
Decorationen, z.B. den Orden „Heinrich
des Löwen“, sowie das Braunschweiger
Ehren=Bürgerrecht erhalten.
Adolf schreibt über das Ereignis an seinen Vater6:
Richard Dedekind hört Vorlesungen 7 bei
Moritz Abraham Stern, G.K.J. Ulrich, Wilhelm
Weber, Johann Benedict Listing, Quintus Icilius, Benjamin Goldschmidt und bei Carl Friedrich Gauß. Bereits nach viersemestrigem Studium reicht Dedekind bei Gauß seine Doktorarbeit über sogenannte Eulersche Integrale
ein. Er schreibt am 11. Juni 1852 in einem
Brief an seine Schwester Julie 8:
Das Gauß’sche 50jährige Doctor=Jubiläum
ist ohne allen Prunk vorbei gegangen
und die Studenten, die sich nicht einigen
Mir ist am Anfang dieses Semesters auch
noch ein Urtheil der Fakultät, namentlich
von Gauss, über mich durch ein Mitglied
15
16
Richard Dedekind und seine Beziehungen in der Gelehrtenrepublik
Friedrich Gustav Jacob Henle
derselben, das ich nicht nennen darf, zugekommen, und das hat mich sehr angenehm gestimmt.
Dedekind ist also schon früh dem alten
Gauß aufgefallen und im Alter von 21 Jahren ist er bereits ein junger Doktor, und zwar
der letzte Gaußsche Doktorsohn. So wird der
Braunschweiger Dedekind der letzte wissenschaftliche Abkömmling des Braunschweigers
Gauß. Höchst eindrucksvoll ist Dedekinds Bericht einer Gaußschen Vorlesung über die Methode der kleinsten Fehlerquadrate 9 .
In der Göttinger „Gelehrtenrepublik“ findet
Dedekind einen besonderen Platz bei dem Physiker Wilhelm Weber und in der Familie des
Anatomen Friedrich Gustav Jacob Henle. Dedekinds Mutter schreibt in einem Brief vom 8.
Mai 1853 10:
Wilhelm Weber
Nur bei Webers und Henles glaubt er fester
Fuß gefasst zu haben. Bei den anderen hohen Personen (mit seinen eigenen Worten
zu reden) wo er nur Visite macht, wenn er
einmal förmlich eingeladen ist (stolz wie
ein Spanier) – glaubt er sich nicht um seiner selbst willen geliebt ...
Richard arbeitet an einer akademischen Karriere und bereitet seine Habilitation vor. Offenbar gab es durch Kränklichkeit von Gauß einige
Verzögerungen, aber am 30. Juni 1854 schreibt
er in einem Brief an seinen Vater 11, dass das zur
Habilitation erforderliche Kolloquium erfolgreich bestanden sei. Dedekind ist nun Privatdozent an der Universität Göttingen und hat sich
damit einen Platz in der Welt der Gelehrten gesichert, und zwar nicht nur durch seine mathematischen Leistungen, sondern auch durch die Musik, der er weiter mit großer Freude nachgeht.
Richard Dedekind und seine Beziehungen in der Gelehrtenrepublik
In der Göttinger Gelehrtenrepublik
Seine ersten Schritte als Universitätslehrer
verlaufen deprimierend. In seinem ersten
„Colloquium“ sitzen ganze zwei Hörer, einer
davon der Freund Hans Sommer, der inzwischen ebenfalls in Göttingen studiert. Jeder
Hörer hatte ein Hörergeld zu entrichten, von
dem die Privatdozenten zu leben hatten, so
dass zwei zahlende Hörer den Magen sicher
nicht füllen konnten. Besser sah es aus in der
öffentlichen, aber kostenlosen, Vorlesung, die
er zur gleichen Zeit anbietet und in der er 16
bis 18 Hörer zählt, darunter „alte Leute, Hannöversche Lieutenant’s mit Bärten“12 . Auch
in den folgenden Jahren werden seine Vorlesungen nicht gut besucht. Im Jahr 1856 wissen wir von einer Vorlesung mit zwei Hörern
(einer davon Hans Sommer) und von einer mit
nur einem einzigen Hörer (Hans Sommer).
Bei diesen kärglichen Einkünften verwundert es nicht, wenn Dedekind beim Herzog
von Braunschweig Anträge auf einen Freitisch,
d.h. kostenloses Mittagessen, stellte und gewährt bekam 13 . Im Winter 1856 hält er eine
Epoche machende Vorlesung 14 zur modernen
Algebra; es ist wohl die erste dieser Art überhaupt.
Im Jahr 1855 war Gauß gestorben. Der Nachfolger wird Peter Gustav Lejeune Dirichlet, der
für Dedekind prägend wird. War Gauß ein verschlossener Mensch, der ungern Vorlesungen
hielt und keine Schule im eigentlichen Sinne
auf baute, so zeigte Dirichlet an seinen Schülern und Mitarbeitern ein lebhaftes Interesse
und förderte sie, wo es nur ging. Ab 1856 ist
Dedekind fast ständig mit Dirichlet zusammen und lernt von ihm. Er schreibt über Dirichlet: „bei dem ich eigentlich erst recht zu
lernen anfange“15 und wir dürfen uns durch-
aus vorstellen, dass durch Dirichlet, der von
Alexander von Humboldt 1827 nach Berlin geholt wurde und der auf zahllosen Gebieten der
Mathematik bahnbrechende Arbeiten leistete, auch die Mathematik in Göttingen einen
Schub der Erneuerung erfuhr. Zudem ist Dirichlet mit Rebecca Mendelssohn-Bartholdy
verheiratet, einer Schwester von Felix Medelssohn-Bartholdy, und die Musik bestimmt das
Privatleben der Dirichlets zu Dedekinds Freude ganz erheblich.
Neben der Förderung, die er durch Dirichlet
erhält, wird Dedekind ab 1856 durch den vier
Jahre jüngeren Bernhard Riemann beeinflusst.
Riemann, ein introvertierter Sohn eines protestantischen Geistlichen aus Breselenz bei
Dannenberg, ist ein junges mathematisches
Genie in Göttingen. Von 1846 bis 1847 studierte er Mathematik in Göttingen und ging dann
nach Berlin, um seine Studien fortzusetzen –
unter anderen auch bei Dirichlet. Im Jahr 1849
ist er wieder in Göttingen und arbeitet an seiner bahnbrechenden Dissertation über Funktionentheorie, mit der er 1851 promoviert wird.
Im Jahr 1854 habilitiert er sich. Gauß, der das
Thema des Habilitationsvortrages auswählte – „Über die Hypothesen, die der Geometrie zugrunde liegen“ – war tief beeindruckt.
Riemann entwickelte hier eine Differentialgeometrie von Flächen in Räumen mit beliebiger
Dimension, ohne auf die Einbettung der Flächen in diese Räume zurückzugreifen.
Die beiden jungen Männer fühlten sich
offenbar früh zueinander hingezogen. Am 3.
November 1856 schreibt Richard Dedekind an
seine Schwester Julie 16:
Außerdem verkehre ich sehr viel mit
meinem vortreff lichen Kollegen Riemann,
der ohne Zweifel nach oder gar mit Dirich-
17
18
Richard Dedekind und seine Beziehungen in der Gelehrtenrepublik
Gustav Lejeune Dirichlet
let der tiefsinnigste Mathematiker ist und
bald als solcher anerkannt sein wird, wenn
seine Bescheidenheit ihm erlaubt, gewisse
Dinge zu veröffentlichen, die allerdings
vorläufig nur Wenigen verständlich sein
werden.
Es steht außer Frage, dass die beiden Männer gegenseitig das verwandte Genie erkannten:
Hier Dedekind, der ruhige Durchdenker, der
alle Zusammenhänge verstehen wollte, dort
Riemann, das eher stürmische Genie, das Zwischenschritte gerne ausließ, um an ein Ziel zu
gelangen. Aber Riemann geht es nicht gut. Von
Geburt an kränklich, überarbeitet er sich nun
in Göttingen bis hin zum Zusammenbruch,
der 1857 eintritt. Der Freund Richard Dedekind
sorgt für einen erholsamen Aufenthalt in Bad
Harzburg im Schoß seiner Familie. Er schreibt
am 13. August 1857 17:
Bernhard Riemann
Zunächst muß ich mich dahin entscheiden, das Zusammentreffen mit Euch in
Harzburg aufzugeben. ... Statt meiner
empfehle ich Euch für die wenigen Tage
die beiden Herren Doctoren Riemann und
Ritter; der erstere, von dem ich Euch soviel erzählt habe, ist jetzt sehr unglücklich; er ist den ganzen Sommer bis vor
Kurzem in Bremen geblieben, um dort gewisse höchst bedeutende Arbeiten für den
Druck zu vollenden; aber sein einsames
Leben und dazu körperliche Leiden haben
ihn im höchsten Grade hypochondrisch
und misstrauisch gegen die Menschen
und gegen sich selbst gemacht, wenn er
auch äußerlich ganz freundlich erscheint.
Er hat übrigens diese Arbeiten vollendet,
und es steht zu hoffen, dass ein ruhiger
Aufenthalt in Harzburg und ein harmloser Umgang mit Menschen sehr günstig
Richard Dedekind und seine Beziehungen in der Gelehrtenrepublik
auf ihn einwirken wird. ... Man muss alles auf bieten, um einen so vortreff lichen
und wissenschaftlich höchst bedeutenden
Menschen wie Riemann aus seinem jetzt
höchst unglücklichen Zustand herauszureißen; ... Er hat hier die wunderlichsten
Dinge gemacht, blos aus solchen Gründen,
weil er glaubt, Niemand mag ihn leiden
u.s.w.
Die eigentlichen Arbeitsgebiete von Dedekind und Riemann waren grundverschieden.
Dedekind zog es unter dem Einf luss von Dirichlet in die Zahlentheorie und Algebra, während Riemann an Fragen der mathematischen
Analysis - Funktionentheorie, Differentialgeometrie - interessiert war. Trotzdem – oder gerade deswegen – sind die Göttinger Gespräche
zwischen Riemann und Dedekind wohl entscheidend gewesen. Ohne Begriffsbildungen
Riemannscher Prägung wäre Dedekind vermutlich nicht einer der Väter der Mengenlehre geworden. So benutzt Riemann das Wort
„Mannigfaltigkeit“ für eine Menge von Punkten, die eine Fläche im Raum beschreiben.
Diesen Begriff, den man in der Mathematik
noch immer verwendet, benutzt auch Georg
Cantor in den ersten Abhandlungen zur Mengenlehre für das, was wir heute „Menge von
Punkten“ nennen. Riemann beschäftigte sich
intensiv mit der Geometrie von Teilmengen
in einem höherdimensionalen Raum; Cantor
versuchte sich an der „Maßbestimmung“ solcher Gebilde. Als Dedekind auf Cantor traf 18
war Dedekind durch die revolutionären Ideen
Riemanns sozusagen schon vorbereitet.
Dedekind etabliert sich durch seine Arbeiten
in der Göttinger Privatdozentenzeit aber nicht
nur in Göttingen. Auch im zweiten großen
Zentrum der deutschen Mathematik, Berlin,
Georg Cantor
wird sein Name mit Anerkennung genannt.
Dort arbeitet Leopold Kronecker an ähnlichen
Fragestellungen wie Dedekind (Algebra und
Zahlentheorie) und steht im Briefwechsel mit
ihm. Dieser schreibt am 3. Juli 1857 an seinen
Vater 19:
Mit meinem Berliner Rivalen Kronecker
stehe ich im freundschaftlichsten Briefwechsel, und die Achtung, die er mir über
meine Arbeiten ausdrückt, gefällt mir
sehr; es sind jetzt auch einige von meinen
Aufsätzen gedruckt, und ich hoffe, daß sie
Beifall finden werden.
Nicht zu vergessen ist Dedekinds Verankerung in der Göttinger Gesellschaft durch
seine Liebe zur Musik. In seiner Privatdozentenzeit hat er über zahlreiche Gesellschaften,
Musikfeste, Hausmusikabende und von Aus-
19
20
Richard Dedekind und seine Beziehungen in der Gelehrtenrepublik
Leopold Kronecker
f lügen berichtet. Er wird auch Mitglied im
Göttinger Bildungsverein. Es ist schon fast
tröstlich, wenn der hart arbeitende Dedekind
am 26. Januar 1856 an die Schwester Julie
schreibt 20, dass nach einem Herrendiner zu
Ehren Dirichlets „noch immer der Champagner und unzählige andere Weine mit dem Verstande um die Oberherrschaft“ in ihm kämpfen. Er selbst kämpft derweil um etwas Ruhe
und Zeit für die wissenschaftliche Arbeit,
denn der Preis für die Mitgliedschaft in der
Gelehrtenrepublik ist die wachsende Zahl der
gesellschaftlichen Verpf lichtungen.
Professor in Zürich
Im Januar 1858 wurde eine Professur für Mathematik am Züricher Polytechnikum, der
heutigen Eidgenössischen Technischen Hochschule, europaweit ausgeschrieben, worauf
fast 50 Bewerbungen eingingen 21 . Unter den
ersten Bewerbern waren Dedekind und Riemann. Dirichlet empfahl beide in einem Brief
an den damaligen Schulratspräsidenten Karl
Kappeler nachdrücklich, gibt aber Riemann
„den ersten Rang“22 . Darauf hin reiste Kappeler selbst nach Göttingen, um sich die beiden
Bewerber genauer anzusehen. Über Riemann
schrieb er, er sei „zu stark in sich gekehrt, um
zukünftige Ingenieure zu lehren.“, denn es
galt nicht, zukünftige Mathematiker auszubilden, sondern das Polytechnikum war die
Ingenieursschmiede der Schweiz. Kappelers
Wahl fiel also auf Dedekind und man muss im
Nachhinein die Menschenkenntnis und das
sichere Urteilsvermögen dieses Schulratspräsidenten – heute würden wir Universitätspräsident sagen – bewundern.
Schon am 21. April 1858 trifft Dedekind
in Zürich ein – er ist nun vom Privatdozenten
zum Professor aufgestiegen, allerdings nicht
in einer Lebensstellung. Dedekinds Vorgänger am Polytechnikum, ein Professor Raabe,
hatte sich 1857 aus gesundheitlichen Gründen entpf lichten lassen, hatte aber noch die
Vorlesungen „Elemente der Differentialgleichungen“ (7-stündig) und „Integralrechnung
mit Anwendung auf die Geometrie“ (2-stündig) angekündigt, die der Nachfolger nun halten muss. Dedekind beginnt damit am 26.
April morgens um 6 Uhr. Einen guten Eindruck von seiner eigenen Einschätzung der
Lehrtätigkeit gibt er in einem Brief an die
Schwester Mathilde vom 27. Januar 1859 23:
Ich kann auch nicht sagen, dass ich so ganz
und gar glücklich mit meiner Schulmeisterei bin; von den mir überlieferten älteren
Schülern will ich gar nicht sprechen, die
sind zum grossen Theil verdorben; von meinen neuen ist ein Drittel ganz vorzüglich,
Richard Dedekind und seine Beziehungen in der Gelehrtenrepublik
schnell und er berichtet seiner Familie über
vielfältige Kontakte. Gleichzeitig hält er den
brief lichen Kontakt mit der Familie Henle in
Göttingen aufrecht.
Karl Kappeler
ein anderes Drittel mässig gut, der Rest
schwach, zum Theil erbärmlich. Meine
Ideen von Freiheit, freier Entwicklung der
Schüler sind radical vernichtet; so wie Österreich in Italien, so bin ich auch eine Zeit
lang zu milde gewesen; die Schüler verstehen das nicht zu würdigen, es sind Kinder
wie unsere Progymnasiasten, wenigstens in
ihrem Benehmen. Jetzt genire ich mich gar
nicht mehr, einen Übelthäter vor versammelter Menge so niederzudonnern, dass er
zusammensinkt und Respect kriegt. Das
hat eine sehr heilsame Wirkung. Aber ärgerlich ist es immer und mir zuwider.
Neben diesen Klagen, die über alle Zeiten
hinweg bis heute wohl immer gleich geblieben sind, fühlt sich Dedekind aber recht wohl
in Zürich. Als Professor gelingt ihm die Aufnahme in die Zürcher Gelehrtenrepublik sehr
Am 5. Mai 1859 stirbt Dirichlet im Alter
von 54 Jahren an den Folgen eines Herzinfarktes. Dedekind wird davon durch einen
Brief seines Freundes Riemann informiert.
Dirichlet hat in seinem Vermächtnis Richard
Dedekind eine noch nicht fertiggestellte Arbeit und ein Buch aus seiner mathematischen
Bibliothek zum Andenken hinterlassen. Aber
offenbar hat Riemann ganz vergessen, diese
Dinge auch tatsächlich an Dedekind zu schicken. Erst zehn Wochen nach Dirichlets Tod
kann Dedekind die Papiere und das Buch in
Händen halten.
Dedekind wird 1879 Dirichlets „Vorlesungen über Zahlentheorie“ herausgeben.
Heute sind in in diesem Buch die „Supplemente“ berühmt, in denen Dedekind ganz entscheidend die algebraische Zahlentheorie und
die Idealtheorie entwickelt. Es ist bezeichnend
für den zurückhaltenden und bescheidenen
Dedekind, dass er seine bahnbrechenden Entwicklungen nicht im Rahmen eines eigenen
Buches publizierte, sondern dem Buch seines
Lehrers und Freundes beigab.
Am 25. Juli 1861 stirbt der Mathematikprofessor am Braunschweigischen Collegium Carolinum, August Wilhelm Julius Uhde, und
Dedekind bewirbt sich auf die vakante Stelle
in seiner Heimatstadt.
Zurück in der
Braunschweiger Gelehrtenrepublik
Dedekind war offenbar in Zürich unzufrieden
mit der Art der Mathematik, die er zu lehren
hatte. Für einen tiefen Denker wie Dedekind,
21
22
Richard Dedekind und seine Beziehungen in der Gelehrtenrepublik
der sich mit Fragen der abstrakten Algebra,
der Zahlentheorie und mit dem Auf bau des
Zahlensystems beschäftigte, muss es wie eine
Strafe gewesen sein, für mehr oder weniger
unwillige Ingenieurstudenten die eher niedere
Mathematik zu lesen und sich in unzähligen
Prüfungen zu verzehren. Daher ist es nicht
verwunderlich, dass er sich bei der Bewerbung
um Uhdes Stelle ausbedungen hatte, sich nicht
um die niedere Mathematik kümmern zu müssen. Durch diese Forderung gab es wohl eine
Verzögerung bei seiner Berufung, denn Dedekinds Tante Minna von Wolffradt schreibt in
einem Brief vom 13. Oktober 1861 24:
Hoffentlich ist die Unentschiedenheit wegen Richards Anstellung ausgeglichen –
ich bin ihm beinah etwas böse, dass er so
eigen ist, und nicht allenfalls etwas niedere Mathematik lehren will – um hier zu
bleiben, wo er so viele Herzen dadurch erfreuen würde – Wilhelm hatte mir schon
von dieser Klausel, die er gemacht, gesagt,
der es von Zimmermann gehört. Wenn
also davon gesprochen wird, so ist es nicht
durch mich geschehen. Hoffentlich ist die
Sache aber nicht von Belang und wir hören bald, daß der liebe Herr Professor gern
und auf seine eigenen Bedingungen hier
bleibt.
Schließlich lässt sich alles zur Zufriedenheit Dedekinds regeln: Ostern 1862 nimmt er
von Zürich Abschied und nimmt seine Tätigkeit als Professor am Collegium Carolinum
auf. Bereits 1863 erhält er einen ehrenvollen
Ruf nach Hannover – in der Republik der Mathematiker galt der Name Dedekind zu dieser
Zeit etwas. Weitere Rufe werden folgen – immer wird Dedekind ablehnen und bis zu seinem Tod 1916 in Braunschweig bleiben.
Dedekind beteiligt sich an der Herausgabe
der Gaußschen Werke und kann so bei Reisen
nach Göttingen alte Bekanntschaften auffrischen. Auch die Göttinger Freunde schauen
von Zeit zu Zeit bei Dedekind herein, der nun
mit seinem Bruder Adolf in einer Wohnung
am Hagenmarkt lebt. Leider kommt es zwischen Dedekind und Ernst Schering, einem
ebenfalls an der Herausgabe der Gaußschen
Werke beteiligten Göttinger Mathematiker, zu
Verstimmungen, über die wir bis heute nichts
Näheres wissen. Anfang 1864 zieht sich Dedekind jedenfalls wegen dieser Verstimmungen von der Herausgebertätigkeit zurück. Aus
den vorliegenden Briefen 25 scheint sicher, dass
Schering einen Streit mit Dedekind vom Zaun
gebrochen hat, der sich noch Jahrzehnte später
keines Verschuldens bewusst war.
Nach dem Tod des Vaters 1872 bezieht Dedekind ein Haus am heutigen Inselwall gemeinsam mit seiner Mutter und der Schwester Julie,
die beide die Dienstwohnung im Collegium Carolinum räumen mussten. Ab 1894 lebt er dann
mit seiner Schwester Julie in der ersten Etage
eines Hauses in der heutigen Jasperallee.
Da die technischen Fächer eine immer größere Rolle spielten, wurde das Collegium Carolinum 1878 in die Herzogliche Technische
Hochschule Carolo-Wilhelmina überführt,
nachdem der Neubau an der Pockelsstraße
(der heutige Altbau) am 16. Oktober 1877 feierlich eingeweiht werden konnte. Von 1872 bis
1875 fungierte Richard Dedekind als Direktor
der Hochschule und als Vorsitzender der Baukommission für den Neubau, den er maßgeblich mitbestimmt hat.
Es liegt nun nahe, Richard Dedekinds
Rolle in der Braunschweiger Gesellschaft als
Richard Dedekind und seine Beziehungen in der Gelehrtenrepublik
eine allgemein anerkannte und von den meisten Braunschweigern respektierte Autorität
zu verklären. Nach den uns bekannten Ereignissen, die sich in den in Wäschekörben gefundenen Briefen der Familie widerspiegeln,
sah die Realität aber anders aus. Dedekind
war zumindest im letzten Drittel seines Lebens offenbar in der Braunschweiger Gesellschaft aus politischen Gründen isoliert. Das
hing mit dem überall in Deutschland auff lackernden Nationalismus zusammen, den
man nach der Thronbesteigung von Kaiser
Wilhelm II. im Jahr 1888 durchaus als „Preußifizierung“ bezeichnen kann. Die Familie
Dedekind war aber den braunschweigischen
Welfen zugewandt, und 1897 kam es in
Braunschweig zu einem Eklat, der die beiden
Brüder Richard und Adolf Dedekind direkt
betraf. Welfisch engagierte Braunschweiger
pf legten in zwei Parteien organisiert zu sein,
der Braunschweigischen Welfenpartei bzw.
der Braunschweigischen Landesrechtspartei 26 . Im Jahr 1897 wurde durch das Braunschweigische Ministerium allen Beamten und
Offizieren des Landes Braunschweig per Dekret verboten, Mitglied in einer dieser Parteien zu sein. Landesgerichtspräsident Adolf
Dedekind, der Bruder unseres Richard, hält
einen solchen Eingriff für nahe am Hochverrat und äußert dies auch öffentlich, worauf
hin eine bevorstehende Ordensverleihung an
ihn gestrichen wird. Adolf Dedekind ist nun
massiv unter Druck und damit seine ganze
Familie. Einer der Söhne übernimmt die Verteidigung des Vaters, gegen den nun ein Disziplinarverfahren eingeleitet wird. Es besteht
kein Zweifel, dass auch der Bruder Richard
eindeutig auf der welfischen Seite seines Bruders zu finden war. Erst etwa 25 Jahre später
bezieht die Zeitung Volksfreund Stellung zu
den Ereignissen und schreibt 27 :
Es gehörte immerhin ein persönlicher
Mut dazu, in Braunschweig für das damals verpönte Welfenhaus gegen die Regierungsmänner der Regentschaft und die
hinter ihr stehende preußische Regierung
in Berlin aufzutreten. Diesen Mut haben
die Dedekinds aufgebracht ...
Wir wollen an dieser Stelle den Vorgängen nicht im Einzelnen nachgehen, obwohl
eine genauere Analyse sicherlich lohnenswert
wäre; so schlägt ein Gedicht der Schwester Julie Dedekind, in dem das Welfenhaus verteidigt wird, selbst im Braunschweigischen Landtag hohe Wellen. Für uns bleibt an dieser Stelle nur festzuhalten, dass Richard Dedekinds
Stellung in der Braunschweiger Gelehrtenrepublik gerade zum Ende seines Lebens hin sicher nicht einfach war. Sein gesellschaftlicher
Umgang wird sich ganz wesentlich auf die Familie und auf die welfisch gesinnten Kreise in
Braunschweig beschränkt haben, was ihm andererseits aber sicher auch mehr Zeit für seine
mathematischen Forschungen ließ.
Epilog
Richard Dedekind ist als Schöpfer großer Teile
der modernen Mathematik in vielen Gelehrtenrepubliken zu Hause gewesen. Unter den
Mathematikern war er früh anerkannt und
seine zahlreichen Rufe an auswärtige Universitäten belegen die Wertschätzung, die man
seinen Leistungen zumaß. Er war mit einigen der größten Mathematiker des 19ten Jahrhunderts wie Dirichlet, Cantor und Riemann
gut befreundet; Gauß war sein akademischer
Lehrer. Auch in der Gelehrtenrepublik der
Künstler war er durch seine Liebe zur Musik
kein Unbekannter. Am 12. Februar 1916, mitten im ersten Weltkrieg, stirbt er hochbetagt
23
24
Richard Dedekind und seine Beziehungen in der Gelehrtenrepublik
in Braunschweig. Da er sich geweigert hatte,
ein „Intellektuellenmanifest“ zu unterzeichnen, in dem die Greuel deutscher Soldaten in
Belgien verharmlost und die Schuld am Ausbruch des Krieges den Alliierten Frankreich
und England zugeschoben werden sollten, erscheint am 14. März 1916 eine Würdigung Dedekinds aus Anlass seines Todes von der Pariser Akademie der Wissenschaften – noch vor
jeder Ehrung aus seinem Heimatland.
n
Seite 13
1 Friedrich Gottlieb Klopstock: Die deutsche Gelehrtenrepublik. Erster Theil. Hamburg 1774.
2 Arno Schmidt: Die Gelehrtenrepublik. Kurzroman aus den Roßbreiten. 15te Auflage, Fischer Verlag 2004.
Seite 14
3 Den Hinweis auf diese Textstelle verdanke ich Herrn Manfred Zieger, dem ich dafür herzlich danke.
4 Arno Schmidt: Bargfelder Ausgabe Werkgruppe II Dialoge, Band 1, Bargfeld (Arno-Schmidt-Stiftung),
Zürich (Haffmans Verlag), S. 269, 1990.
5 ebenda S.274.
Seite 15
6 Ilse Dedekind: Unter Glas und Rahmen. Briefe und Aufzeichnungen 1850-1950.
Ein Jahrhundert aus der Sicht einer Braunschweiger Familie. S. 74, Appelhans Verlag 2000.
7 Karl Gerke, Heiko Harborth: Zum Leben des Braunschweiger Matehmatikers Richard Dedekind. S. 659,
Städtisches Museum Braunschweig 1981.
8 I. Dedekind: a.a.O. S.76.
Seite 16
9 Hans Wußing: Carl Friedrich Gauß. S. 83, BSB B.G. Teubner Verlagsgesellschaft 1982.
10 ebenda S. 77.
11 ebenda.
Seite 17
12 ebenda S. 78.
13 in: Winfried Scharlau (Hrsg.): Richard Dedekind 1831-1981. Vieweg Verlag 1981.
14 ebenda.
15 I. Dedekind: a.a.O. S.81.
16 ebenda S.82.
Seite 18
17 ebenda S.82f.
Seite 19
18 siehe den Beitrag zur Mengenlehre in diesem Band
19 I. Dedekind: a.a.O. S.83.
Seite 20
20 ebenda
21 Die geringe Zahl der Bewerbungen bei einer europaweiten (!) Ausschreibung ist heute kaum noch nachvollziehbar, wo man auf
die lokale Ausschreibung einer weit unbedeutenderen Stelle bereits 50 und mehr Bewerbungen erhält. Die Zahlen sind aber belegt,
vergl. Max-Albert Knus, Winfried Scharlau: Einleitung zu Dedekinds Vorlesung über Differential- und Integralrechnung,
in: Richard Dedekind: Vorlesung über Differential- und Integralrechnung. S.9, Vieweg Verlag 1985.
22 ebenda.
23 ebenda S.331.
Seite 22
24 I. Dedekind: a.a.O. S.116.
25 ebenda S.128f.
Seite 23
26 ebenda S.233.
27 ebenda S.235.
25
Relief von Richard Dedekind an der Fassade
der Technischen Universität in der Pockelsstraße 4, gestaltet von Jürgen Weber
Foto: Rainer Löwen
26
ΕUDOXOΣ
EUKLΕΙDΗΣ
DEDEKIND
27
Eudoxos, Dedekind und Cantor:
Die Geburt des heutigen Zahlbegriffs
Prof. Dr. Rainer Löwen, TU Braunschweig
I n d e r H a u p t s a c h e sind es zwei Dinge,
durch die sich Richard Dedekind als Mathematiker unsterblich gemacht hat. Das eine ist die
Theorie der (mathematischen) „Ideale“, in dieser Gedenkschrift in einem eigenen Abschnitt
behandelt, und das andere ist die Vollendung
des modernen Zahlbegriffs, des Begriffs der
„reellen Zahlen“. Dieser Leistung Dedekinds
und ihrer mehr als tausendjährigen Vorgeschichte wollen wir uns in diesem Abschnitt
was im folgenden dargestellt werden soll, komplett unverständlich. Die Zahlenwelt des Rechners ist diskret (sie macht Sprünge), hier geht
es um eine kontinuierliche Veränderbarkeit der
Zahlen.
Im Jahre 1872 erschien im Braunschweiger
Verlag Friedr. Vieweg & Sohn (dessen damaliger Sitz heute das Braunschweigische Landesmuseum beherbergt) Dedekinds Schrift
„Stetigkeit und irrationale Zahlen“,
zuwenden. Dabei soll beleuchtet werden, woher die Probleme kommen, die durch Dedekind gelöst wurden, was er an Lösungsansätzen aus der Vergangenheit vorgefunden hat,
wie er durch einen entscheidenden Dreh zum
endgültigen Durchbruch gelangt ist, und was
seine Konkurrenten mehr oder weniger zur
gleichen Zeit gemacht haben. Schließlich soll
auch angedeutet werden, wie es nach Dedekind weitergegangen ist mit der Entwicklung
des Zahlbegriffs, denn etwas endgültiges (wie
ich es eben suggeriert habe) gibt es in der Mathematik nicht.
Bevor wir einsteigen können, ist eine Warnung unbedingt erforderlich. Sie richtet sich
an diejenigen, deren Denkwelt durch den Gebrauch von (Taschen-)rechnern geprägt ist. Um
eine reelle Zahl anzugeben, benötigt man unendlich viele Nachkommastellen. Ein Rechner
kann nur endlich viele Stellen verarbeiten. Daher kennt ein Rechner prinzipiell nicht den Begriff der reellen Zahl, um den es hier gehen
wird. Für die Mathematik ist dieser Begriff
aber unentbehrlich. Als denkender Mensch
muß man sich also von der Beschränktheit der
Rechner emanzipieren! Ansonsten wird alles,
ein schmales Bändchen von nur 24 Seiten. Im
Vorwort berichtet der Autor über die Entstehungsgeschichte und sagt:
„Die Betrachtungen, welche den Gegenstand dieser kleinen Schrift bilden, stammen aus dem Herbst des Jahres 1858. Ich
befand mich damals als Professor am eidgenössischen Polytechnikum zu Zürich
zum ersten Male in der Lage, die Elemente
der Differentialrechnung vortragen zu
müssen, und fühlte dabei empfindlicher
als jemals früher den Mangel einer wirklich wissenschaftlichen Begründung der
Arithmethik 1 . Bei dem Begriffe der Annäherung einer veränderlichen Größe an
einen festen Grenzwerth und namentlich
bei dem Beweise des Satzes, daß jede Größe,
welche beständig, aber nicht über alle Grenzen wächst, sich gewiß einem Grenzwerth
nähern muß, nahm ich meine Zuf lucht zu
geometrischen Evidenzen.“
Dabei muß man sich vor Augen halten,
daß die Züricher Studenten wohl künftige Ingenieure waren, und daß Ingenieurstudenten
naturgemäß und mit Recht nicht in erster Linie an den gedanklichen Grundlagen der Ma-
28
Eudoxos, Dedekind und Cantor: Die Geburt des heutigen Zahlbegriffs
thematik, sondern an anwendbaren Rechenverfahren interessiert sind. Um diesem Publikum eben jene für seine Bedürfnisse gemachte „höhere Mathematik“ befriedigend zu
erklären, fehlte Dedekind und seinen Zeitgenossen, wie er feststellte, immer wieder eine
ganz bestimmte wesentliche begriff liche
Grundlage, etwas, worauf man sich hätte berufen müssen, was aber nicht da war.
Es handelt sich dabei um etwas ganz Unauffälliges, dessen immense Bedeutung keineswegs auf den ersten Blick ersichtlich ist.
Wir wollen daher den knappen Hinweisen von
Dedekind an dieser Stelle etwas nachgehen
und erläutern, was es auf sich hat mit dem im
obigen Text (von mir) hervorgehobenen „Satz,
daß jede Größe, …. sich gewiß einem Grenzwerth nähern muß“ und wozu man diesen
Satz denn braucht.
Quadratwurzeln
und das Supremumsprinzip.
Dazu (und nur dazu) will ich ein etwas handgestricktes Verfahren schildern, das die Berechnung der Quadratwurzel einer reellen
Zahl erlaubt (es ist angeregt durch ein von
Isaac Newton stammendes, viel professionelleres Verfahren). Wir denken uns eine Zahl
c größer als 4 gegeben und suchen eine Quadratwurzel dazu, also eine Zahl b mit ​b​2​ = c.
Wir wollen uns dem gesuchten b schrittweise
nähern und beginnen, indem wir die ganzen
Zahlen 1,2,3,… durchprobieren und die größte
nehmen, deren Quadrat nicht größer ist als c;
wir nennen sie a. Dann ist also
4 < c; 1 < a; ​a​2​≤ c; (a + 1​)2​ ​> c.
Die gesuchte Zahl sollte also die Form b = a
+ x haben mit einem x zwischen 0 und 1. Wir
wollen (a + x​)2​ ​ = ​a​2​ + 2ax + ​x​2​ = c haben, aber
diese Gleichung ist eher schwerer zu lösen als ​
b​2​ = c, deshalb vereinfachen wir sie (zunächst
noch ohne Rechtfertigung, warten Sie etwas
ab!) zu
​a​2​+ 2ay +ay = c.
Im Gegensatz zu x läßt sich dies y leicht berechnen, aber was ist es wert? Nun, schauen
wir uns das einmal an. Die Gleichung für y
zusammen mit der ausmultiplizierten Ungleichung ​a​2​ + 2a + 1 = (a + 1​)2​ ​ > c ergibt ​a​2​ + 2a +
1 > ​a​2​+ 2ay + ay, woraus nach Subtraktion von ​
a​2​ folgt 2a + 1 > 2ay + ay > 2ay + y (am Schluß
haben wir noch a > 1 benutzt). Division durch
die positive Zahl 2a + 1 ergibt y < 1; mit 1 < a
zusammen haben wir 0 < ​y​2​< ay und somit
0 < ay – ​y​2​< ay.
Nun vergleichen wir einmal ​a​2​ mit dem Quadrat von a’ = a + y. Wir haben c = ​a​2​+ 3ay (hierdurch haben wir y ja eingeführt), und somit
c – (a + y​)​2​= ​a​2​+ 3ay – (​a​2​+ 2ay + ​y​2​) = ay – ​y​2​.
Das bedeutet aber, dass der Abstand von (a’​)2​ ​
zu c gleich ay – ​y​2​ist, und von dieser Zahl hatten wir gesehen, daß sie zwischen 0 und ay
liegt, also höchstens ein Drittel des Abstandes von c und ​a​2​ ausmacht, welcher ja genau
3ay beträgt. Mit anderen Worten: das Quadrat
von a’ ist zwar immer noch nicht gleich c, aber
es liegt nicht mehr so sehr daneben wie das
Quadrat von a.
Wiederholen wir diese Prozedur unendlich oft,
so erhalten wir eine Folge von Zahlen
​b​1 ​= a, ​b​2 ​= a’, ​b​3 ​= a’’, ... ..,
deren Quadrate dem Ziel c immer näher kommen, sie konvergieren gegen c:
li​mn​ ​​bn2​ ​ ​​=​ c.
Das sieht schon sehr verführerisch aus, aber
jetzt kommt Dedekinds Problem: Können wir
aus der zuletzt gemachten Feststellung den
Schluß ziehen, daß die Zahlen ​b​n ​ selbst konvergieren, und daß ihr Grenzwert b die Eigen-
Eudoxos, Dedekind und Cantor: Die Geburt des heutigen Zahlbegriffs
schaft ​b​2​= c hat, womit sich b als Quadratwurzel qualifizieren würde? Ist also wirklich, wie
wir vermuten,
_
​​lim​ ​​n ​​bn​ ​= √
​ c ​ ??
Die Antwort auf diese Frage ist ja, aber um so
zu schließen, brauchen wir den Satz von den
beständig, aber nicht über alle Grenzen wachsenden Größen, von dem Dedekind spricht:
Jedes ​b​n ​ ist größer als sein Vorgänger in der
Folge, und alle sind kleiner als c, also gibt es
den Grenzwert b; auch um die Gleichung ​b​2​
= c zu begründen, muß man allerdings noch
einmal argumentieren, dazu später mehr. Der
besagte Satz heißt heute das Supremumsprinzip, und daß dieses Prinzip für reelle Zahlen
gilt und eine fundamentale Aussage über sie
macht, ist die eigentliche Erkenntnis und das
Anliegen Dedekinds.
Das Unendliche im Endlichen.
Nun versuchen Sie bitte einmal, sich die Folge
der Zahlen ​b​n ​aus der obigen Überlegung bildlich vorzustellen. Dazu benutzen wir die zu
Dedekinds Zeiten längst übliche Vorstellung,
daß die Zahlen auf einer Geraden angeordnet liegen, und zwar liegt eine positive Zahl
d im Abstand d rechts von einem willkürlich
gewählten, mit 0 bezeichneten Bezugspunkt,
und die negative Zahl –d liegt im gleichen Abstand links von 0.
–d 0
d
​b​1 ​ ​b​2 ​ ​b​3 ​​b​4 ​
_
​√ c ​ c

Wir haben unendlich viele Zahlen ​b​n ​. Sie
werden ständig größer (sie rücken weiter nach
rechts), bleiben aber alle unterhalb einer festen Schranke c. Welche Alternative gibt es
denn zu der gewünschten Eigenschaft, daß
solche Zahlen einem Grenzwert zustreben?
Die Anschauung sagt, daß sie aus Platzgründen immer enger zusammenrücken müssen,
und wenn an der Stelle, wo das passiert, keine
Zahl ist, dann hat die Gerade an dieser Stelle
ein Loch, ein schwarzes Loch gewissermaßen,
das unsere Zahlen ​b​n ​für großes n verschlingt.
Woher wissen wir also, daß das nicht passiert?
Das ist Dedekinds Problem. Wohlgemerkt, es
handelt sich hier nicht um eine Frage über die
wirkliche Welt, denn weder Zahlen noch die
Punkte einer Geraden finden in der wirklichen
Welt statt, es sind vielmehr Abstraktionen unseres Geistes, begriff liche Schöpfungen des
Menschen. Die Antwort auf die Frage, ob die
Gerade Löcher hat oder nicht, kann also nur
dadurch gegeben werden, daß man den Zahlbegriff in einer Weise präzisiert, die zu einer
definitiven Entscheidung unserer Frage führt.
Mit anderen Worten, der Mathematiker muß
selbst entscheiden, ob er eine Zahlengerade
mit oder ohne Löcher haben will. Dedekind
erkennt und benennt dies mit der für ihn typischen Klarheit, wenn er sagt 2:
Und wüßten wir gewiß, daß der Raum unstetig 3 wäre, so könnte uns doch wieder
nichts hindern, falls es uns beliebte, ihn
durch Ausfüllung seiner Lücken in Gedanken zu einem stetigen zu machen; diese Ausfüllung würde aber in einer Schöpfung von neuen Punct-Individuen bestehen ...
Das hört sich verführerisch einfach an,
man füllt einfach die Lücken aus, wenn welche da sind, ist es aber nicht. Zuerst ist die
Frage, woran erkennt man, wo Löcher sind?
Wie spricht man einzelne von ihnen an? Womit füllt man sie aus? Wie garantiert man, daß
man beim Ausfüllen alter Löcher keine neuen
reißt? Wie arbeitet man mit dem schließlich
29
30
Eudoxos, Dedekind und Cantor: Die Geburt des heutigen Zahlbegriffs
entstehenden Zahlsystem, ist es überhaupt
handhabbar, kann man damit rechnen? Fragen über Fragen! Um weiterzukommen, müssen wir weit ausholen und die Vorgeschichte
seit der Antike, die Dedekind natürlich bestens bekannt war, in einem zwangsläufig etwas f lüchtigen Durchgang vorstellen.
Daß hier etwas Unheimliches vorgeht,
wenn unendlich viele Zahlen auf endlichem
Raum Platz finden, haben zuerst die Griechen
der Antike bemerkt, namentlich Zenon von
Elea (etwa 490 bis 430 v.u.Z, Bild siehe im Abschnitt über das Unendliche), von dem uns das
Paradox von Achill und der Schildkröte überliefert ist, das in dieser Gedenkschrift im Beitrag
über die Bändigung des Unendlichen (S. 85 ff)
noch einmal auftritt. Der für seine Schnelligkeit berühmte Achill tritt gegen die Schildkröte zum Wettrennen an. Fairerweise gibt er ihr
einen Vorsprung, sagen wir 100 Meter. Nehmen wir an, Achill brauche 10 Sekunden für
diese 100 Meter, aber die Schildkröte ist die
schnellste unter ihren Artgenossen und schafft
in den 10 Sekunden 10 Meter. Nach einer weiteren Sekunde ist Achill an dieser Stelle angekommen, aber auch die Schildkröte hat schon
wieder 1 Meter zurückgelegt. Achill macht das
1
in ​ __
​ Sekunde wett, nur um zu sehen, daß die
10
Schildkröte immer noch einen Vorsprung hat,
1
der jetzt ​ __
​Meter beträgt. Wie man sieht, kann
10
Achill die Schildkröte nicht einholen, weil beim
Zurücklegen des alten Vorsprungs immer ein
neuer entsteht.
Jede der eben betrachteten Stationen des Wettlaufs findet zu einem Zeitpunkt statt, der als
endliche Teilsumme der unendlichen Summe

1
1
1
10 + 1 + ​ __
​+ ​ ___ ​+ ​ ____
​ + ...
10 100 1000
angegeben werden kann. Dies entspricht ex-
akt der Situation in unseren Betrachtungen
zum Wurzelziehen, wo wir die unendliche
Summe
a + ​y​1 ​+ ​y​2 ​+ ​y​3 ​+ ...
antrafen, auf deren endliche Teilsummen ​
b​n ​ das Supremumsprinzip paßt; ebenso ist
es auch hier, und aus heutiger Sicht ist es so,
daß das Supremumsprinzip uns für die Folge
der Achill-Zahlen einen endlichen Grenzwert
(nämlich die Zahl 11,111111…, unendlich viele
Einsen hinter dem Komma) liefert, und genau zu diesem Zeitpunkt sind Achill und die
Schildkröte exakt gleichauf; danach gewinnt
Achill einen Vorsprung.
Für die alten Griechen war dieses Auftreten des Unendlichen im Endlichen extrem beunruhigend, aber ihre ungeheure Leistung ist,
daß sie es erstens bemerkt haben und zweitens
überaus konstruktiv auf die Beunruhigung reagiert haben, nämlich indem sie eine außerordentlich aufwendige Untersuchung über den
Zahlbegriff und über die Geometrie der Strecken auf einer Geraden angestellt haben. Davon soll im nächsten Abschnitt die Rede sein.
Euklid und die
Proportionenlehre des Eudoxos.
Die Erfahrung mit Zenons Paradox hatte die
griechischen Mathematiker äußerste Vorsicht
gelehrt; sie wußten, daß allzu naßforsche mathematische Argumente sehr schnell in eine
Aporie, d.h. in die Ausweglosigkeit, führen
konnten. Daher bestanden sie darauf, eine
strenge Trennung zwischen den Begriffen
Zahl und Länge (von Strecken) durchzuhalten; dabei waren Zahlen nur die zum Zählen
geeigneten, also 2, 3, 4 und so weiter. Schon
die Einbeziehung der Eins war nicht selbstverständlich, an eine Zahl 0 war nicht zu denken,
Eudoxos, Dedekind und Cantor: Die Geburt des heutigen Zahlbegriffs
ganz zu schweigen von negativen Zahlen. Außerdem wurden mathematische Argumente
nur akzeptiert, wenn sie auf wenigen klar formulierten Grundlagen (Axiomen) fußten und
jeder kleine Gedankenschritt mit größtmöglicher Strenge durchgeführt war.
Euklid von Alexandria (etwa 360 –300
v.u.Z.) hat in einer in 13 „Bücher“ gegliederten
Enzyklopädie mit dem Titel Elemente das mathematische Wissen seiner Zeit festgehalten.
In Buch V, etwa aus dem Jahre 325, stellt er
die Proportionenlehre seines älteren Kollegen
Eudoxos von Knidos (etwa 410 – 350 v.u.Z.)
dar. Es geht dabei um eine Art von „Rechnen“
mit Streckenlängen, das ausschließlich auf geometrischen Überlegungen beruht und daher
als gut gefeit gegen unerwartete Aporien gelten konnte. Wie wir sehen werden, hat Eudoxos diese Streckenrechnung zu solcher Reife
gebracht, daß man sich schon große Mühe geben muß, um zu erkennen, daß er Dedekinds
Leistung nicht etwa vorweggenommen hat.
Bei all dem darf man nie vergessen, daß die
Griechen dieses Niveau des Denkens um des
Denkens willen ohne ebenbürtige Vorläufer in
sehr kurzer Zeit erreicht haben.
Zunächst muß klar gesagt werden, daß
die Proportionenlehre ohne eine Definition des Begriffs der Länge von Strecken auskommt; nur der Begriff der Strecke ist nötig.
Er ist durch die Axiome der Geometrie abgesichert. Nun ist zunächst zu klären, wann zwei
Strecken als gleichlang (oder, kurz gesprochen, als gleich) anzusehen sind --- nämlich
dann, wenn man sie durch Verschieben und
nötigenfalls Drehen der einen Strecke zur völligen Deckung bringen kann. Nun kann man
Strecken addieren (d.h., längs einer Geraden
aneinandersetzen), und man kann eine kürze-
re von einer längeren abziehen. Das Resultat
ist jeweils wieder eine Strecke. Nun ist klar,
dass man auch sinnvoll von der doppelten,
dreifachen, vierfachen Strecke und so weiter
sprechen kann. Bezeichnen wir Strecken einfach indem wir die Namen ihrer Endpunkte
nebeneinander schreiben, etwa AB, und ist n
eine der natürlichen Zahlen 1,2,3,…, so wollen
wir das n-fache der Strecke AB mit nAB bezeichnen.
Kommensurable Streckenpaare.
Dies genügt offensichtlich noch nicht, um
zwei beliebige Strecken der Länge nach vergleichen zu können. Zum Beispiel könnte das
Verhältnis der Längen, in heutiger Ausdrucksweise gesagt, ein Bruch sein, 2​_3 ​ zum Beispiel.
Diese Situation wird bei Eudoxos durch den
Begriff der kommensurablen Streckenpaare erfaßt. Zwei Strecken AB und CD heißen kommensurabel, wenn sie ein gemeinsames Vielfaches haben, wenn es also Zahlen m und n
gibt, derart, daß
nAB = mCD
ist. Die folgende Figur zeigt das Beispiel
2AB = 3CD:
A
B
C
D

U
V
Die Figur zeigt außerdem, daß es eine dritte
Strecke UV gibt, von der beide gegebenen Strecken Vielfache sind; es ist nämlich AB = 3UV
31
32
Eudoxos, Dedekind und Cantor: Die Geburt des heutigen Zahlbegriffs
und CD = 2UV. Dies ist der Grund, warum die
gegebenen Strecken kommensurabel heißen:
sie haben das gemeinsame Maß UV. Wählt
man dieses Maß als Grundeinheit, so kann
man beide Strecken durch ganze Zahlen (hier
2 und 3) beschreiben. Das ist nicht nur bei diesem Beispiel so. Um zunächst ein weiteres Beispiel zu betrachten, nehmen wir an es sei 3AB
= 5CD; dann kann man die Strecke CD verdoppeln und davon die Strecke AB abziehen, um
ein gemeinsames Maß UV zu erhalten (probieren Sie es aus!). Allgemein gilt für ein Streckenpaar mit nAB = mCD, daß es ein gemeinsames
Maß UV gibt, und daß AB = mUV sowie CD =
nUV ist. Um das so allgemein einzusehen, benutzt Euklid das Verfahren der Wechselwegnahme, das heute noch jeder Mathematikstudent
im ersten Semester in algebraischem Gewand
und unter der Bezeichnung Euklidischer Algorithmus kennenlernt.
Wir neigen dazu, den Sachverhalt nAB =
mCD sofort mit unserer heutigen Interpretation zu versehen. Wir bleiben nicht wie Eudoxos und Euklid dabei stehen, zu sagen, dass
die Strecke AB sich zur Strecke CD verhält
wie die Zahl m zur Zahl n; wir wollen gleich
den weiteren Schritt machen und sagen, daß
dies Verhältnis wieder durch eine Zahl ausgedrückt wird, nämlich durch den Bruch m
​__n ​.
Es ist ganz wichtig, sich klarzumachen, das
Euklid aus Sicherheitsgründen nicht wagen
kann und darf einen solchen Schritt zu tun.
Proportionen sind für ihn keine Zahlen, sondern Verhältnisse zwischen zwei Strecken oder
allenfalls zwischen zwei Zahlen. So etwas wie
unsere Brüche hatte er einfach nicht!
Stattdessen betrachten Eudoxos und Euklid die Proportionen als selbständige neue
Objekte ihres Denkens. Ein kommensurables
Streckenpaar mit nAB = mCD hat die Proportion
AB : CD = m : n,
und ein anderes Streckenpaar A’B’, C’D’ hat
dieselbe Proportion wie das Paar AB, CD, falls
mit denselben Zahlen m und n die Gleichung
nA’B’ = mC’D’ gültig ist.
Bis jetzt ist die Welt in Ordnung. Die Beschreibung der Längenverhältnisse von Streckenpaaren durch Zahlen funktioniert so gut,
und sie hat obendrein, wenn man an Längen
von Saiten eines Musikinstruments denkt, einen unmittelbaren Bezug zur Harmonie der
Töne, daß aus diesen Erkenntnissen ein großartiger Traum wurde, der Traum, alle Verhältnisse zwischen beliebigen Dingen, die es
in der Welt gibt, irgendwann einmal durch
Zahlenverhältnisse beschreiben zu können.
Daß das zumindest bei Streckenpaaren immer geht, hielt man für ausgemacht. Diesen
Traum nährte die Schule der Pythagoreer, benannt nach Pythagoras, dessen Satz über die
Seitenlängen in rechtwinkligen Dreiecken wir
alle in der Schule gelernt haben und auch heute auf Schritt und Tritt brauchen (seine Ursprünge sind aber älter als Pythagoras). Aber
der Traum der Pythagoreer hatte ein jähes
Ende:
Der Schock der Inkommensurabilität.
Ausgerechnet an ihrem eigenen Logo, einem
sternförmig gezeichneten regelmäßigen
Fünfeck, mußten die Pythagoreer feststellen, daß nicht einmal alle Streckenpaare sich
durch Zahlenverhältnisse vergleichen lassen.
Die Diagonale eines regelmäßigen Fünfecks
ist nicht kommensurabel zur Seite desselben
Fünfecks. Die Pythagoreer würde man heute
als Geheimbund bezeichnen, und man weiß
Eudoxos, Dedekind und Cantor: Die Geburt des heutigen Zahlbegriffs
nicht sicher, wer der Unglückliche war, der
das heilige System zum Einsturz brachte, indem er dies bewies und die peinliche Kunde
aus dem Geheimbund nach außen schleuste; man vermutet es sei Hippasos von Metapont gewesen. Verschiedene Legenden besagen, daß er geächtet und schließlich ermordet
oder in den Selbstmord getrieben wurde, oder
aber von den Göttern bestraft wurde, die ihn
durch Schiff bruch umkommen ließen.
Man merkte dann, daß es einfachere Beispiele von inkommensurablen Streckenpaaren
gibt, zum Beispiel Seite und Diagonale eines
Quadrats. Nehmen wir an, daß die Quadratseite die Länge 1 hat (in moderner Denkweise, für Euklid ist die Länge keine Zahl!), dann
sagt der Satz des _Pythagoras, daß die Diagonale die Länge ​√ 2 ​ hat. Wären die Strecken
kommensurabel, so müßte diese Zahl sich als
p
Bruch ​_q ​ schreiben lassen, mit ganzen Zahlen
p und q.

_
​√ 2 ​ 1
1
Wenn das geht, dann gibt es auch einen gekürzten Bruch mit demselben Wert und wir
können annehmen, daß unser Bruch schon
gekürzt ist. Dann kann höchstens eine der
beiden Zahlen p und q eine gerade Zahl sein.
Andererseits ergibt sich aus unserer Annahme
sofort, daß
​p​2​= 2​q​2​
ist, also muß p gerade sein und q ist dann ungerade. Aber wenn man p = 2r in obige Gleichung einsetzt und durch 2 kürzt, sieht man,
daß q doch auch gerade sein muß, ein Widerspruch zu dem was wir wissen. Also kann es
solche Zahlen p und q nicht geben.
Irrationale Proportionen.
Man würde es gut verstehen, wenn die Griechen nach dieser niederschmetternden Erkenntnis ihre kühnen Träume einfach aufgegeben hätten. Das haben sie aber nicht getan,
sondern jetzt kommt die eigentliche Leistung
des Eudoxos: Er zeigte, wie man über die Proportionen inkommensurabler Streckenpaare nicht nur sprechen und (das ist das erste
Grundbedürfnis) erklären kann, wann zwei
solche Proportionen gleich sind, sondern wie
man mit diesen Proportionen im erweiterten
Sinne all das machen kann, was man bis dahin für die Proportionen der kommensurablen
Paare schon konnte. Man konnte sie bereits
der Größe nach ordnen, und man konnte mit
ihnen rechnen – also all das, was wir mit Brüchen gewohnt sind zu tun. Im Grunde handelt
es sich ja auch nur um eine andere Betrachtungsweise der Brüche.
Nun mache man sich das erste Problem,
vor dem Eudoxos stand, zunächst einmal klar.
Ein kommensurables Streckenpaar ist vergleichbar, man kann seine innere Beziehung
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Eudoxos, Dedekind und Cantor: Die Geburt des heutigen Zahlbegriffs
durch die eines Zahlenpaares ausdrücken.
Ein inkommensurables Paar ist eben nicht
vergleichbar (in sich selbst), wie kann man da
hoffen, zwei in sich unvergleichbare Paare miteinander zu vergleichen? Aber Eudoxos schafft
genau das! Seine Definition der Gleichheit
lautet wie folgt:
Zwei beliebige (eventuell inkommensurable)
Streckenpaare definieren dieselbe Proportion,
geschrieben
AB : CD = A’B’ : C’D’,
wenn diejenigen Zahlenpaare m,n, für die
nAB < mCD ausfällt, genau dieselben sind, für
die die Beziehung nA’B’ < mC’D’ gilt.
Dabei bedeutet das Zeichen < einfach,
daß die links stehende Strecke kürzer ist als
die rechts stehende, was ebenso wie bei der
Gleichheit von Streckenlängen durch Verschieben der Strecken festgestellt wird.
Die obige Definition ist einleuchtend:
wenn man kein Zahlenpaar findet, das genau
paßt, um die Proportion zu beschreiben, dann
verlegt man sich darauf, zu prüfen, bei welchen Zahlenpaaren die linke Strecken nAB zu
kurz bzw. zu lang wird. Aber sie ist kompliziert und entsprechend schwierig in der Handhabung. Es ist eine wirkliche Meisterleistung,
daß Eudoxos und Euklid es schaffen, auf der
Grundlage dieser Definition ein komplettes
Lehrgebäude zu errichten, in dem unter anderem gezeigt wird, wie man diese erweiterten
Proportionen der Größe nach vergleichen und
mit ihnen rechnen kann.
Erweiterungen des Zahlbegriffs.
In gewisser Weise ist das System der Proportionen ebenbürtig dem System der reellen Zahlen, wie es Dedekind viel später geschaffen
hat, und es beruht auf demselben Grundgedanken. Der Hauptnachteil des Systems von
Eudoxos besteht in der kompletten Abhängigkeit von der Geometrie. Um zu zeigen, daß es
eine bestimmte Proportion gibt, muß man ein
Streckenpaar mit dieser Proportion geometrisch konstruieren. Man weiß heute, daß das
nicht immer geht; zum Beispiel ist es nicht
möglich, den Umfang eines Kreises auf diese
Weise zu erfassen.
Aber es fehlen noch viele andere Dinge,
die wir heute für selbstverständliche Aspekte
eines funktionierenden Zahlensystems halten: es fehlte die Null, es fehlten die negativen
Zahlen, vor allem gab es keine Division. Man
lasse sich nicht täuschen, die Proportionen
erscheinen uns zwar so, als würde Bruchrechnung getrieben, aber dabei wurde nicht
ans Teilen gedacht! In diesem Abschnitt wollen wir daher kurz skizzieren, wie in kleinen
Schritten über die Jahrhunderte der Begriff
der Zahl immer mehr erweitert wurde.
Typisch für diese Entwicklung ist, daß
jeder neue Erweiterungsschritt mit großem
Mißtrauen aufgenommen wurde, Mißtrauen,
von dem wir heute oft nichts mehr spüren, außer bei den jüngsten Schritten wie etwa der
Einführung der komplexen Zahlen. Aber die
Namen der jeweils neuen Zahlentypen sind
geblieben, und sie drücken dieses Mißtrauen
manchmal sehr unverblümt aus: irrationale
Zahlen, transzendente Zahlen, imaginäre
Zahlen, surreale Zahlen, Nichtstandard-Zahlen – aber jetzt gehe ich schon über Dedekind
hinaus, also zurück zur historischen Reihenfolge!
Brüche in unserem Sinne kannten schon
die Babylonier vor viertausend Jahren. Ein
Eudoxos, Dedekind und Cantor: Die Geburt des heutigen Zahlbegriffs
n
Bruch ​ __
m ​ soll ausdrücken, daß ein ganzes in
m gleiche Teile gebrochen wird und daß wir n
solche Teile zusammen in die Hand nehmen.
Sie konnten damit auch rechnen, sogar quadratische Gleichungen lösen. Zu uns gekommen
ist diese Kunst auf dem Umweg über die Araber,
zuerst wohl in dem 1202 erschienenen Liber Abbaci von Leonardo von Pisa, genannt Fibonacci,
der uns hauptsächlich durch seinen Versuch
bekannt ist, die Vermehrung von Kaninchen
mathematisch zu beschreiben, was sich allerdings mehr für die Mathematiker als für die
Kaninchenzüchter segensreich ausgewirkt hat.
Gleichzeitig brachte Fibonacci die heute übliche Zahlenschreibweise (die Dezimalzahlen)
zu uns, womit das Elend der schwerfälligen römischen Zahlen endlich ausgestanden war. Im
gleichen Buch hat er auch dritte Wurzeln eingeführt und näherungsweise berechnet, während Quadratwurzeln schon den Babyloniern
und auch den Griechen bekannt waren.
Eine Seite aus dem Liber Abbaci
Gedanklich scheint besonders die Einführung der Null schwierig gewesen zu sein. Sie
ist ebenfalls durch Fibonacci zu uns gelangt,
aber es gibt eine lange Vorgeschichte, auf die
wir hier nicht eingehen können. Jedenfalls
muß man unterscheiden zwischen der Rolle
der Null in der Dezimalschreibweise von Zahlen und ihrer Rolle als gleichberechtigte Zahl,
mit der man rechnen kann wie mit jeder anderen. Beides kostete langwierige Kämpfe.
Noch länger dauerte es, bis negative Zahlen voll akzeptiert waren. Negative Zahlen
als Lösungen von Gleichungen wollte erst
der französische Mathematiker Albert Girard
1629 erlauben.
Schon wesentlich früher, nämlich 1585,
hatte sich der Belgier Simon Stevin dafür stark
Simon Stevin
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Eudoxos, Dedekind und Cantor: Die Geburt des heutigen Zahlbegriffs
Girolamo Cardano
Carl Friedrich Gauß
gemacht, Lösungen von Polynomgleichungen lamo Cardano 1545 eine entsprechende Forals richtige Zahlen anzusehen (wenn sie po- mel für kubische Gleichungen (n = 3), danach
sitiv sind). Dabei handelt es sich um die Lö- leistete sein Schüler Lodovico Ferrari (1522
sungen von Gleichungen wie 4​x​3​+ 25x – 1 = 0, – 1565) dasselbe für die Gleichungen vierten
oder, in der allgemeinsten möglichen Form,
Grades (n = 4). Das nährte bei den Matheman
n–1
 ​a​n ​​x​ ​+ ​a​n –1 ​​x​ ​+ ··· + ​a1​ ​​x + ​a0​ ​= 0,
tikern die Überzeugung, nun müsse es für
mit ganzzahligen Koeffizienten ​a0​ ​, ..., ​a​n ​. Um größere Grade n genauso weitergehen, mit
die Berechnung der Lösungen dieser Art von
einer passenden Formel für jeden Grad, die
Gleichungen wurde jahrhundertelang gerun- allenfalls vielleicht etwas schwieriger zu fingen, und dies hat sehr erheblich zur Entwick- den und zu gebrauchen sein würde, wenn der
lung der Mathematik beigetragen. Am An- Grad groß wird. Hier gab es jedoch eine herfang steht die allgemein bekannte Formel für be Enttäuschung. Nachdem viele Mathematiquadratische Gleichungen (das ist der Fall n
ker sich vergeblich bemüht hatten, war wohl
= 2), die schon die Babylonier kannten: die
der in Braunschweig geborene Carl Friedrich
2
Gleichung ​x​ ​ + px + q = 0 hat die beiden Lö- Gauß (1777 – 1855) der erste, der den Versungen
dacht äußerte, daß es eine solche Formel viel_____
p_
​__
p​2​
leicht nicht geben könne, daß sie also nicht
x = – ​2 ​± ​ ​4 ​ – q ​. nur schwer zu finden, sondern eine UnmögDanach gab es rasche Fortschritte erst im lichkeit sei. Im Jahre 1824 hat das dann für
16. Jahrhundert. Zunächst entwickelte Giro- den Grad 5 ein sehr junger norwegischer Ma-
√ Eudoxos, Dedekind und Cantor: Die Geburt des heutigen Zahlbegriffs
Nils Henrik Abel
Evariste Galois
thematiker bewiesen, der bald darauf infolge
seiner Mittellosigkeit an Schwindsucht starb,
Nils Henrik Abel (1802 – 1829). Noch etwas
weitergehend zeigte der Franzose Evariste Galois (1811 – 1832, also ebenfalls sehr jung verstorben, und zwar in einem Duell), daß es oft
genug auch nicht möglich ist, für eine einzelne
Lösung einer einzelnen Polynomgleichung irgendeine Beschreibung zu finden, in der nur
die gegebenen ganzzahligen Koeffizienten der
Gleichung ​a ​0 ​​, ..., ​a n​ ​ sowie die Rechenoperationen Addition, Subtraktion, Multiplikation
und Division sowie Wurzeln (vom Grad zwei
oder höher, auch ineinandergeschachtelt) verwendet werden.

Und was gibt es noch für Krankheiten?
sie endlich einen Überblick über alle denkbaren Bedrohungen erhalten. Ähnlich ist es
mit den Mathematikern (wahrscheinlich sollte
man hier die ganze Menschheit einbeziehen),
die wissen wollen, ob all diese Bemühungen
um den ultimativen Zahlbegriff denn jemals
von einem abschließenden Erfolg gekrönt sein
können, ob es eine Erweiterung des Zahlenreiches gibt, nach der keine weitere Erweiterung mehr nötig ist.
Diese Frage stellte meine Tochter mir als
kleines Kind immer wieder. Offenbar wollte
Blicken wir noch einmal zurück auf die
Hierarchie der Zahlen, wie sie sich uns jetzt
darstellt. Am Anfang stehen die natürlichen
Zahlen 1,2,3,…, die zum Zählen verwendet
werden. Ergänzt durch Null und die negativen
Zahlen -1,-2,-3,… bilden sie die ganzen Zahlen,
im Gegensatz zu den gebrochenen oder rationalen Zahlen. Dann kommen als wiederum
umfassenderer Bereich die algebraischen Zah-
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Eudoxos, Dedekind und Cantor: Die Geburt des heutigen Zahlbegriffs
Sir Isaac Newton
Leonhard Euler (schweizer Banknote)
len, darunter die Wurzeln, aber auch andere
Zahlen, die sich durch keinen noch so komplizierten Wurzelausdruck darstellen lassen.
Ist nun endlich Schluß?

Leider nein! Oder, je nach Standpunkt,
glücklicherweise nicht. Um es zunächst einmal
vom heutigen Wissensstand aus zu betrachten:
Im Abschnitt über die Bändigung des Unendlichen können Sie nachlesen, daß es überab-
Joseph Liouville
zählbar viele reelle Zahlen gibt. Die Anzahl der
algebraischen Zahlen ist aber noch abzählbar,
denn für die Koeffizienten eines Polynoms gibt
es abzählbar viele Möglichkeiten (die ganzen
Zahlen), und ein einzelnes Polynom hat nur
endlich endlich viele Nullstellen; daher kann
man eine Abzählung ähnlich einrichten wie
Cantor es für die rationalen Zahlen getan hat.
Die Hauptmasse der Zahlen ist unseren Bemühungen also immer noch entgangen!
Der erste, der gesehen hat, daß offenbar
noch etwas fehlt, war der Brite Sir Isaac Newton (1643 – 1727). In Buch I seiner Principia
Mathematica untersucht er Kurven in der Ebene. In Lemma 28 stellt er fest, daß der Inhalt
der von einer ovalen Kurve umschlossenen Fläche niemals eine algebraische Zahl sein kann.
Unter diese Feststellung fällt insbesondere die
Fläche eines Kreises, womit also die Kreiszahl
Eudoxos, Dedekind und Cantor: Die Geburt des heutigen Zahlbegriffs
Dabei bedeutet zum Beispiel 4! (lies: 4 Fakultät)
die Zahl 4! = 1 · 2 · 3 · 4 = 24, und allgemein ist
n! das Produkt der ersten n natürlichen Zahlen. Die obige Summe kann man sich gut in
Dezimalschreibweise vorstellen. Sie hat eine
Null vor dem Komma und überall hinter dem
Komma außer an den wenigen Stellen, deren
laufende Nummer eine Fakultät n! ist; an diesen Stellen steht immer eine 1. Weitere konkrete und prominente Beispiele transzendenter
Zahlen sind die Kreiszahl π, wie schon erwähnt
und unabhängig von Newton bewiesen durch
Ferdinand von Lindemann (1852 – 1939), sowie
die Euler-Zahl e, die Basis des naürlichen Logarithmus. Auch diese Zahl ist der Grenzwert
einer unendlichen Summe, nämlich
e = 1 + __
​ 1 ​ + __
​ 1 ​ + __
​ 1 ​ + __
​ 1 ​ + ···.
1! 2! 3! 4!
Carl Louis Ferdinand von Lindemann
π als nicht algebraische Zahl erkannt ist. Für
solche nicht algebraischen Zahlen prägte der
schweizerische Mathematiker Leonhard Euler
(1707 – 1783) später den Begriff transzendent.
Die Argumente von Newton mögen noch
etwas lückenhaft sein. Besser begründete
Nachweise für die Existenz transzendenter
Zahlen lieferte der Franzose Joseph Liouville
(1809 – 1992). Er konstruierte transzendente
Zahlen zuerst 1844 durch sogenannte unendliche Kettenbrüche, auf die wir hier nicht
näher eingehen wollen, sodann 1851 durch
unendliche Summen, wie wir sie schon bei
Achill und der Schildkröte, und davor bei der
Quadratwurzelberechnung kennengelernt haben. Er zeigt beispielsweise, daß der Grenzwert der folgenden Summe transzendent ist:
1 1!
1 2!
1 3!
1 4!
(​ __
​) ​ ​+ (​__
10
​) ​ ​+ (​__
10
​) ​ ​+ (​__
10
​) ​ ​+ ···
10
Dedekind-Schnitte.
Noch immer konnte man den Eindruck haben, es würde immer so weitergehen mit der
uferlosen Entdeckung neuer Zahlentypen
und man würde nie einen Überblick gewinnen. Aber nun kommt die Leistung Dedekinds. Er zeigt, wie man in einem einzigen
Schritt, ausgehend von den rationalen Zahlen, also den Brüchen, das System der Zahlen
zum Abschluß bringen kann, wobei dann alle
algebraischen und transzendenten Zahlen auf
einmal erfaßt sind. Er geht dabei von der alten Idee des Eudoxos aus; lesen Sie vielleicht
an dieser Stelle noch einmal dessen Definition der Gleichheit von Proportionen im nicht
kommensurablen Fall nach.
Er kombiniert diese Idee nun aber mit der
radikal neuen Denkweise, die er in die Mathematik hineingebracht hat und die auch seiner
Idealtheorie zugrundeliegt. Er wagt es, nicht
nur bekannte Objekte, zum Beispiel Zahlen,
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40
Eudoxos, Dedekind und Cantor: Die Geburt des heutigen Zahlbegriffs
zu Mengen zusammenzufassen, nein, er geht
noch einen Schritt weiter und bildet auf noch
höherer Stufe Mengen, deren Elemente selbst
Mengen (z.B. von Zahlen) sind. Anders gesagt,
er betrachtet Mengen von bekannten Zahlen
als neue Zahlen und fügt sie den alten hinzu.
Wie geht das? Nun, ganz einfach:
Um das Vorgehen mit dem von Eudoxos
vergleichen zu können, stellen wir uns vorübergehend die Zahlen als Längen von Strecken
vor. Ist d die Länge von A und hat CD die Länge Eins, so können wir außerdem die Zahl d
mit der Proportion AB : CD gleichsetzen (Eudoxos hört uns nicht, es würde ihn grausen). Um
diese Proportion mit anderen zu vergleichen,
bildet Eudoxos bereits eine Menge von Zahlenpaaren, auch wenn er diesen Begriff gar nicht
kennt – nämlich die Menge derjenigen Zahlenpaare m,n, für die nAB < mCD gilt (Sie erinnern
sich?). In heutiger Lesart heißt das
AB ​< ​m
__ ​.
d = ​ ___
n
CD
Für Eudoxos ist die Proportion (Zahl) d
also bestimmt durch die Menge aller O(d) aller Brüche, die größer sind, die Obermenge
von d. Ebenso bilden wir jetzt die Untermenge
U(d); sie besteht aus allen Brüchen, die kleiner sind als d oder gleich d. Nun können wir
die Geometrie und Eudoxos wieder vergessen, wir halten einfach fest, daß jede bisher
bekannte Zahl d auf diese Weise eine Unterund eine Obermenge definiert, die folgende
Eigenschaften haben: Jeder Bruch aus U(d)
ist kleiner als jeder Bruch aus O(d), und jede
rationale Zahl gehört genau einer dieser beiden Mengen an. Man nennt ein solches Paar
von zwei Mengen rationaler Zahlen, das diese beiden Eigenschaften hat, heute einen Dedekind-Schnitt. Der Dedekind-Schnitt, der zur
Zahl d gehört, beschreibt genau deren Positi-
on, sie paßt in die Lücke zwischen U(d) und
O(d), und sie ist die einzige, die dort hineinpaßt.
Soweit ist noch alles wie bei Eudoxos. Jetzt
kommt die genial einfache und doch unerhörte Idee: Wenn ein Dedekind-Schnitt nicht
von einer schon bekannten Zahl herrührt (in
der beschriebenen Weise), dann nimmt Dedekind ihn einfach als neue Zahl zu den bestehenden hinzu! Wenn auf der anderen Seite ein
Dedekind-Schnitt von einer bereits bekannten
(rationalen) Zahl herrührt (dieser Fall wird ja
auch auftreten), dann soll er diese Zahl künftig ersetzen. Das läuft darauf hinaus, daß man
alle alten Zahlen vergessen kann und als neue
Zahlen sämtliche Dedekind-Schnitte in der Menge der rationalen Zahlen erklärt. Alle DedekindSchnitte zusammen bilden somit das System
der reellen Zahlen. Man muß dann allerdings
auch noch sagen, wie man solche neuen KunstZahlen der Größe nach ordnen und wie man
mit ihnen rechnen will, aber das hat im Grunde alles Eudoxos schon vorgemacht.
Was ist nun gewonnen?
Der Anspruch dieser Erweiterung des Zahlsystems lautet, daß danach keine weitere Erweiterung mehr nötig ist. Alle algebraischen
und transzententen Zahlen und sonstigen
Gespenster sind ein für allemal eingefangen.
Wie kann man da so sicher sein? Nun, dafür
gibt es eine ganze Reihe von Gründen, die Dedekind alle aufführt:
Das Supremumsprinzip gilt, das heißt, alle
Lücken auf der Zahlengeraden sind nun geschlossen. Das liegt unmittelbar daran, daß
eine eventuell vorhandene Lücke einen Dedekind-Schnitt definieren würde (U(d) ist al-
Eudoxos, Dedekind und Cantor: Die Geburt des heutigen Zahlbegriffs
les links von der Lücke, O(d) ist alles rechts
von ihr), und dieser würde die Lücke ausfüllen. Hieraus folgt, daß man das ganze Lehrgebäude der Differential- und Integralrechnung nunmehr bestens absichern kann und
es den Ingenieurstudenten in Zürich erklären kann.
Eine Wiederholung der Prozedur würde
nichts neues mehr bringen. Ja, denn wenn alle
Lücken schon geschlossen sind, findet man
auch keine Dedekind-Schnitte mehr, in die
keine bereits bekannte Zahl hineinpaßt.
Die Rechenoperationen Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division sind stetig.
Hören wir hierzu Dedekinds eigene Worte:
Noch viel größere Weitläufigkeiten scheinen in Aussicht zu stehen, wenn man
dazu übergehen will, die unzähligen Sätze der Arithmetik der rationalen Zahlen …
auf beliebige reelle Zahlen zu übertragen.
Dem ist jedoch nicht so; man überzeugt
sich bald, daß hier alles darauf ankommt,
nachzuweisen, daß die arithmetischen
Operationen selbst eine gewisse Stetigkeit
besitzen.
Hiermit ist gemeint, daß die Summe (das
Produkt, der Quotient) zweier Zahlen sich nur
geringfügig ändern, wenn man die beteiligten
Zahlen selbst geringfügig ändert. Diese Tatsache (die leicht einzusehen ist), reicht aus um
jedes Gesetz, das im Bereich der rationalen
Zahlen gültig ist, auf die reellen Zahlen zu
übertragen. Dabei spielt es eine wesentliche
Rolle, daß die rationalen Zahlen in der Menge aller reellen Zahlen dicht liegen, das heißt,
beliebig nah bei jeder reellen Zahl findet man
rationale Zahlen; auch dies eine unmittelbare
Folge der Definition der reellen Zahlen mit
Hilfe der Dedekind-Schnitte.
An dieser Stelle können wir die letzte offene Frage über unser eingangs beschriebenes
Verfahren zur Quadratwurzelberechnung klären. Die Zahlenfolge ​bn​ ​ konvergiert gegen b,
also konvergiert wegen der Stetigkeit der Multiplikation die Folge ​bn2​ ​ ​gegen ​b2​ ​. Da wir früher
gezeigt haben, daß sie auch gegen c konvergiert, muß ​b​2​ = c sein, denn eine Folge kann
nicht zwei verschiedene Grenzwerte haben.
Cauchy-Folgen konvergieren. Was mit dieser in moderner Terminologie formulierten
Aussage gemeint ist, lassen wir am besten wieder Dedekind selbst sagen:
Läßt sich in dem Änderungsprocesse einer Größe x für jede positive Größe δ auch
eine entsprechende Stelle angeben, von
welcher ab x sich um Weniger als δ ändert,
so nähert sich x einem Grenzwerth.
Heute sagen wir so: um zu zeigen, daß eine
Folge konvergiert, muß man den Grenzwert
nicht im Voraus kennen; dann kann man zwar
nicht nachweisen, daß sich die Glieder der Folge diesem Grenzwert beliebig stark annähern,
aber das muß man auch gar nicht, es reicht, zu
zeigen, daß sich die Glieder untereinander beliebig stark annähern. Folgen mit der zuletzt genannten Eigenschaft heißen heute Cauchy-Folgen nach Augustin Louis Cauchy, 1789–1857.
Die oben formulierte Aussage ist für sich
allein schon wichtig, aber uns interessiert sie
hier besonders deshalb, weil sie die Brücke
zwischen Dedekind und seiner Konkurrenz
schlägt, wovon im nächsten Abschnitt die Rede
sein soll. In diesem Zusammenhang sei auch
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Eudoxos, Dedekind und Cantor: Die Geburt des heutigen Zahlbegriffs
erwähnt, daß außer der Konvergenz der Cauchy-Folgen auch das Supremumsprinzip und
die Stetigkeit der Rechenoperationen in Cauchys Werken schon auftauchen, wenn auch
ohne befriedigende Begründung und ohne
die Einsicht, welche Bedeutung diese Eigenschaften haben.
Wege anderer Mathematiker
zu den reellen Zahlen.
Hier ist in erster Linie Georg Cantor zu nennen, von dem im Beitrag über die Bändigung
des Unendlichen ausführlich die Rede ist. Er
war mit Dedekind befreundet und schickte
ihm 1872, gerade als Dedekind das Vorwort
zu „Stetigkeit und Irrationalzahlen“ schrieb,
eine Arbeit zu, in der er einen unabhängigen
eigenen Zugang zu den reellen Zahlen beschreibt. Lassen wir Dedekind mit seiner Reaktion selbst zu Wort kommen:
Und während ich an diesem Vorwort schreibe (20. März 1872), erhalte ich die interessante Abhandlung „Über die Ausdehnung
eines Satzes aus der Theorie der trigonometrischen Reihen“, von G. Cantor (Math.
Annalen von Clebsch und Neumann, Bd. 5),
für welche ich dem scharfsinnigen Verfasser meinen besten Dank sage. Wie ich bei
raschem Durchlesen finde, so stimmt das
Axiom in §.2 derselben, abgesehen von der
äußeren Form der Einkleidung, vollständig mit dem überein, was ich unten in §.3
als das Wesen der Stetigkeit bezeichne 4 .
Welchen Nutzen aber die wenn auch nur
begriffliche Unterscheidung von reellen
Zahlgrößen noch höherer Art gewähren
wird, vermag ich gerade nach meiner Auffassung des in sich vollkommenen reellen
Zahlgebietes noch nicht zu erkennen.
Augustin Louis Cauchy
Die Bemerkung am Schluß dieses Zitats
legt den Finger in eine Wunde: Dedekind hat
sofort eine Unausgegorenheit in Cantors Artikel erkannt und benennt sie, ohne im mindesten verletzend zu sein, auf sehr vornehme
Weise. Dazu unten mehr.
Zunächst halten wir fest, daß auch Cantor
die reellen Zahlen konstruiert und daß sein
Produkt dem von Dedekind mathematisch völlig gleichwertig ist. Jedoch wählt er eine völlig
andere Konstruktionsmethode: Er geht aus von
den Cauchy-Folgen rationaler Zahlen, von denen sehr viele im Bereich der rationalen Zahlen
keinen Grenzwert haben. Seine Idee ist nun,
die Cauchy-Folgen von rationalen Zahlen selbst
als die neuen Zahlen zu nehmen. Nur gibt es
dabei ein technisches Problem, denn mehrere Cauchy-Folgen können z.B. gegen dieselbe
rationale Zahl konvergieren, und es ist zu er-
Eudoxos, Dedekind und Cantor: Die Geburt des heutigen Zahlbegriffs
wünschenswerten Zahlen erreicht hat. In diesem Fall ist das die Eigenschaft, daß in den reellen Zahlen jede Cauchy-Folge bereits konvergent ist. Wir erinnern uns, daß Dedekind die
entsprechende Eigenschaft für seine reellen
Zahlen bewiesen hat. Umso verblüffter muß
er gewesen sein, daß Cantor in seinem Artikel
zumindest den Eindruck macht, als glaubte
er, man müsse seine Prozedur mehrfach, vielleicht unendlich oft, wiederholen. Darum geht
es in der oben schon kommentierten Bemerkung aus Dedekinds Vorwort.
Georg Kantor
warten, daß auch dann, wenn der Grenzwert
eine Zahl ist, die erst neu erschaffen werden
muß, dasselbe passiert. Das heißt, man muß
stets (unendlich) viele Cauchy-Folgen zu einer
neuen Zahl bündeln. Wann zwei Folgen zusammengehören, ist klar: genau dann, wenn aus
ihnen durch Zusammenfügen nach dem Reißverschluß-Prinzip wieder eine Cauchy-Folge
entsteht. Somit ist bei Cantor jede reelle Zahl
eine Menge von unendlich vielen Cauchy-Folgen rationaler Zahlen, ein nicht minder kühner
Gebrauch des Mengenbegriffs als bei den Dedekind-Schnitten.
Die Technik läuft nach dieser Idee dann
wieder geradlinig ab; man muß zeigen, daß
sich alle wesentlichen Eigenschaften der rationalen Zahlen auf die reellen Zahlen übertragen, daß aber eine neue Eigenschaft hinzukommt, die besagt, daß man nunmehr alle
In Wirklichkeit ist es so, daß auch Cantors Verfahren nach einmaliger Anwendung
endgültig abgeschlossen ist. Aus manchen
Gründen wird es heute gegenüber dem Dedekindschen oft bevorzugt. Einer der Gründe ist,
daß Dedekind eine Ordnung (die Begriffe größer und kleiner) unter den rationalen Zahlen
braucht um seine Schnitte zu definieren. Cantors Verfahren bewährt sich auch dann, wenn
eine solche Ordnung nicht gegeben ist, was in
vielen für die Mathematik interessanten Situationen der Fall ist (aber natürlich nicht bei den
rationalen Zahlen).
Um zu verstehen, warum Cantor glaubt,
seine Konstruktion müsse mehrfach angewendet werden, muß man sich anschauen, was eigentlich sein Anliegen war. Der Titel seiner Arbeit (in obigem Dedekind-Zitat erwähnt) sagt es
deutlich: seine Arbeit handelt von einem sehr
konkreten Problem der Analysis, das mit dem
Konvergenzverhalten sogenannter trigonometrischer Reihen zu tun hat (wie man sie bei der
Frequenzanalyse von Schwingungsvorgängen
antrifft). Um sein Ergebnis formulieren zu
können, mußte er eine Unterscheidung zwischen verschiedenen Typen von Zahlenmengen
einführen, und eigentlich war die Hinzunah-
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44
Eudoxos, Dedekind und Cantor: Die Geburt des heutigen Zahlbegriffs
me von Grenzwerten aller Cauchyfolgen nur
dazu gedacht, zu zeigen, daß alle die von ihm
unterschiedenen Mengentypen tatsächlich auftreten. In diesem Zusammenhang spielte dann
die Anzahl der Wiederholungen dieser Konstruktion eine Rolle. Cantor hat aber dann bemerkt, daß seine Konstruktion nebenbei auch
das alte Problem löst, das System der Zahlen zu
einem endgültigen Abschluß zu bringen, und
er hat das ebenso nebenbei und etwas hastig in
dieselbe Arbeit eingebaut, ohne sich darüber
klar zu sein, oder zumindest ohne dem Leser
deutlich zu sagen, daß er an einigen Stellen der
Arbeit an Teilmengen des Systems der reellen
Zahlen denkt und an anderen Stellen an das
System aller reellen Zahlen.
Man spürt einen gewaltigen Kontrast zwischen diesen beiden Mathematikercharakteren. Dedekind hat nach jahrelangem Nachdenken eine abgeklärte und in jedem Detail
perfekte und ausgereifte Lösung eines klar
umrissenen Problems vorgelegt. Cantor dagegen steht mitten in einem Kampfgetümmel,
bei dem es um etwas ganz anderes geht, man
spürt, wie er von den neuen Ideen und Feststellungen hingerissen ist, und ohne sich Zeit
nehmen zu können um die Dinge sich setzen
zu lassen, schreibt er eine Arbeit, in der alles
heraus muß, was er gefunden hat.

Zumindest erwähnen wollen wir, daß
auch der Berliner Mathematiker Karl Weierstraß (1815–1897) in seinen unveröffentlichten
Vorlesungen 1865 eine gleichwertige, aber im
Weg abweichende Konstruktion der reellen
Zahlen durchgeführt hat. Dieser Zugang wurde 1867 von seinem Schüler Hermann Hankel (1839–1873) veröffentlicht und ist damit die
erste im Druck erschienene Konstruktion der
reellen Zahlen. Zwei weitere, ungefähr gleich-
Karl Weierstraß
zeitige Veröffentlichungen mit ähnlichem
Inhalt stammen von Heinrich Eduard Heine
(1821–1881) und Charles Méray (1835–1911).
Der früheste bekannte Versuch, die reellen
Zahlen zu konstruieren, wurde in den Jahren
nach 1817 von dem Prager Bernard Bolzano
(1781–1848) unternommen, aber nicht veröffentlicht. Er erkannte seine Arbeit später selber als fehlerhaft, soll allerdings dann auch
eine erfolgreiche Korrektur gefunden haben.
Heutige Mathematikstudenten lernen übrigens Bolzano und Weierstraß in ihrem ersten
Semester als Gespann kennen, weil ein fundamentaler Satz der Analysis, der eng mit dem
Supremumsprinzip zusammenhängt, von ihnen stammt und nach ihnen benannt ist.
Diese Häufung von mehr oder weniger erfolgreichen Angriffen auf das Problem, die re-
Eudoxos, Dedekind und Cantor: Die Geburt des heutigen Zahlbegriffs
Bernard Bolzano
René Descartes
ellen Zahlen auf eine solide Grundlage zu stel- auf hingewiesen, daß das nicht ganz ernstlen, zeigt offenkundig, daß das Problem „sturm- gemeint ist. In der Mathematik ist nie etwas
reif“ war. Die Mathematiker hatten es lange ge- endgültig in dem Sinne, daß danach nichts
nug umkreist und von allen Seiten betrachtet, mehr kommen kann (wohl in dem anderen
und die Begriffe der Mengenlehre, die in der Sinn, daß mathematische Wahrheiten nicht
Luft lagen, gaben genügend Hilfsmittel her, „verfallen“ können). Tatsächlich war lange vor
um die Festung zu besiegen. Dennoch bleibt Dedekind klar, daß nach den reellen Zahlen
es das Verdienst Dedekinds, als erster einen er- noch mehr kommen muß.
folgreichen Zugang gefunden zu haben; außerdem ist seine gedankliche Durchdringung des
Beim Lösen quadratischer Gleichungen
ganzen Komplexes wohl die ausgereifteste und
stößt man bereits auf den Fall, daß man nach
tiefschürfendste unter den Konkurrenten.
der Quadratwurzel einer negativen Zahl zu su
chen hat, etwa bei der Gleichung ​x2​​+ 1 = 0. Eine
Jedes Ende ist zugleich ein Anfang.
reelle Lösung kann es dafür nicht geben, denn
das Quadrat einer reellen Zahl ist nie negativ.
Auf den vorangegangenen Seiten haben wir Hier war es noch möglich, zu sagen, daß diese
mehrmals das Wort „endgültig“ für die an- Gleichung eben keine Lösung besitzt, aber bei
gestrebte und schließlich durch Dedekind Gleichungen dritten Grades kann es vorkomerreichte Erweiterung des Zahlbegriffes ge- men, daß die Gleichung drei reelle Lösungen
braucht, aber wir haben von Anfang an dar- hat (mehr kann es nicht geben), und dennoch
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Eudoxos, Dedekind und Cantor: Die Geburt des heutigen Zahlbegriffs
in den Lösungsformeln von Cardano als Zwischenstadium der Berechnung Wurzeln aus negativen Zahlen gebildet werden müssen. Man
fing also irgendwann an, auch mit Wurzeln aus
negativen Zahlen zu rechnen, allerdings mit
großem Unbehagen, das sich in dem von René
Descartes (1596–1650) geprägten Namen imaginäre Zahlen (d.h. soviel wie scheinbare, bloß
vorgestellte Zahlen) ausdrückt. Carl Friedrich
Gauß prägte viel später den Ausdruck komplexe
Zahlen für Zahlen, die aus einem reellen und
einem imaginären Bestandteil als Summe zusammengesetzt sind, und er stellte diese Zahlen als Punkte einer Ebene, der komplexen Zahlenebene, dar. Noch wichtiger war, daß Gauß in
seiner Doktorarbeit 1799 (also mit etwa 22 Jahren) den Fundamentalsatz der Algebra bewies,
der besagt, daß jede Polynomgleichung mindestens eine komplexe Lösung besitzt. (Natürlich sind dabei Gleichungen der Form a = 0 ausgenommen, in denen gar keine Unbekannte x
auftritt). Dies hatten bereits Descartes und der
ebenfalls schon einmal erwähnte Albert Girard
ohne Beweis behauptet. Durch Dedekinds Absicherung des Begriffs der reellen Zahlen standen auch die komplexen Zahlen auf solidem
Grund, denn man kann sie leicht aus den reellen Zahlen entwickeln (etwa als Paare reeller
Zahlen mit bestimmten einfachen Rechenregeln).
Nun könnte man wieder meinen, daß damit endlich allen moralisch gerechtfertigten
Bedürfnissen abgeholfen wäre, aber weit gefehlt. Schon früh entwickelte der Ire Sir William Rowan Hamilton (1805–1865) den Traum,
auch mit Tripeln reeller Zahlen so rechnen
zu können wie Gauß mit Paaren. Das verlockte ihn deshalb, weil man die Drehungen der
Ebene mit den komplexen Zahlen (aufgefaßt
als Gaußsche Zahlenebene) wunderschön be-
Sir William Rowan Hamilton
schreiben kann, und er hoffte, daß ihm etwas
ähnliches mit den viel schwierigeren Drehungen des Raumes gelingen könnte. Darum
hat er viele Jahre gekämpft, bis er einsah, daß
es nicht ging (und man weiß heute, daß es
nicht gehen konnte), aber daß es mit Quadrupeln (aus 4 reellen Zahlen bestehend) möglich
ist. Statt der komplexen Zahlen mit der imaginären Einheit i und dem Rechengesetz ​i2​ ​= –1
schuf er nun 1843 die Quaternionen mit gleich
drei imaginären Einheiten i,j,k und den Gesetzen ​i2​ ​= ​j​2​= ​k2​ ​= –1 sowie ij = –ji = k , jk = –kj = i ,
ki = –ik = j. Man sieht, daß es bei dieser Multiplikation auf die Reihenfolge der Faktoren ankommt, eine für „Zahlen“ höchst merkwürdige Eigenschaft. Dennoch, oder gerade deshalb, erwiesen sich die Quaternionen als äußerst nützlich, wenn auch vielleicht nicht ganz
so nützlich wie Hamilton es meinte. Aber es
stimmt, daß sie hervorragend für die Berech-
Eudoxos, Dedekind und Cantor: Die Geburt des heutigen Zahlbegriffs
Arthur Cayley
Ferdinand Georg Frobenius
nung von Drehungen geeignet sind. Ein Fachmann für Raketensteuerung hat mir erzählt,
daß der winzige Computer an Bord der ApolloMondfähre niemals in der Lage gewesen wäre,
die Raketenmanöver zu berechnen, wenn nicht
bei seiner Programmierung diese Vorteile der
Quaternionen ausgenutzt worden wären. Nachzutragen ist hier, daß Hamilton sich auch eine
zeitlang vergeblich um die Konstruktion der
reellen Zahlen bemüht hatte.
and Georg Frobenius (1849–1917) zeigt nämlich im Jahre 1878, daß eine nochmalige Verdopplung der Oktaven nichts sinnvolles mehr
bringen kann, ja, daß in gewissem Sinne nun
mit diesen vier Systemen (reelle und komplexe
Zahlen, Quaterionen und Oktaven) alle denkbaren Möglichkeiten ausgeschöpft sind.
Nun wundert es nicht mehr, daß es danach
eine weitere Station gibt: Arthur Cayley (1821
–1895) entwickelte 1845 die Oktaven mit nunmehr sieben imaginären Einheiten, mit deren
Hilfe man die Drehungen eines siebendimensionalen Raumes beschreiben kann. Eher ist
es jetzt überraschend, daß nun doch einmal
ein Satz bewiesen wird, der besagt, daß es auf
diesem Wege nicht mehr weitergeht. Ferdin-
Es ist dennoch keineswegs so, daß mit
dem Satz von Frobenius Grabesruhe eingekehrt wäre; die wird es in der Mathematik nie
geben, und der Satz besagt ja auch nur, daß es
auf diesem Wege nicht mehr weitergeht.
Eine durchschlagende Neuerung gab es
zum Beispiel in den 1960er Jahren, als Abraham Robinson (1918–1974) die sogenannten
Nichtstandard-Zahlen (heute auch als hyperreelle Zahlen bezeichnet) entwickelte. Dieses
Zahlsystem hat auch Platz für unendlich klei-
47
48
Eudoxos, Dedekind und Cantor: Die Geburt des heutigen Zahlbegriffs
ne Zahlen (näher bei Null als jede reelle Zahl)
und für unendlich große Zahlen (größer als
jede reelle Zahl). Damit läßt sich der Begriff
der infinitesimalen Größe, den Leibnitz und
Newton bei ihrer Einführung der Differentialund Integralrechnung sehr intuitiv verwendet
haben, rechtfertigen, und man hat klare Regeln, welche Schlüsse damit erlaubt sind und
welche nicht. Dies ist eine große Leistung;
sie war zunächst nur deshalb möglich, weil
in den Jahren zuvor die mathematische Logik
entscheidende Fortschritte gemacht hatte. Allerdings gibt es inzwischen auch einfachere
Zugänge zu diesem neuen Zahlenreich.
Wie um die Behauptung zu beweisen, daß
es in der Mathematik nie einen endgültigen
Schluß gibt, stellte John Conway dann noch-
mals eine Erweiterung vor, die über die hyperreellen Zahlen hinausgeht und mit einer
Konstruktion ähnlich den Dedekindschen
Schnitten erreicht wird. Donald E. Knuth, der
Schöpfer des wunderbaren (hier leider nicht
verwendeten) Textverarbeitungssystems TEX,
hat diese surrealen Zahlen 1974 in einem Roman ausführlich beschrieben. Erst danach erschien (1976) ein Fachbuch von Conway mit
dem Titel „On Numbers and Games“, in dem
diese Zahlen mathematisch präsentiert werden. Sie haben engen Bezug zu Spielen und
den darin verwendeten Strategien.
Wer wüßte jetzt nicht gerne, was in tausend
Jahren der Stand der „Zahlenfrage“ sein wird?
Und wer würde nicht gern etwas zu dieser unendlich spannenden Geschichte beitragen? n
Seite 27
1 Lehre von den Zahlen
Seite 29
2 a.a.O., §3
3 gemeint ist: das er Löcher hat
Seite 42
4 Gemeint ist die Eigenschaft, dass jeder Dedekind-Schnitt durch eine reelle Zahl ausgefüllt ist.
49
TU Braunschweig, links neben dem Eingang befindet sich das Relief von Richard Dedekind.
50
μαϑησις
μαϑηματικος
Mathematik
mathematics
mathématiques
wiskunde
математика
matematicas
51
Dedekinds Theorie der Ideale
Prof. Dr. Harald Löwe, TU Braunschweig
E i n e d e r a u s h e u t i g e r S i c h t herausragenden Leistungen Richard Dedekinds liegt in der
Einführung des Begriffs „Ideal“, ohne den die moderne Algebra nicht so recht denkbar ist und ohne
den die Zahlentheorie mitsamt ihren Anwendungen
in der Kryptographie (der Lehre vom Verschlüsseln)
nicht so rasante Fortschritte gemacht hätte.
Und doch hat kaum jemand außerhalb der Mathematik von dieser Errungenschaft
gehört. Das liegt vor allem an der recht abstrakten Natur dieses Begriffes, der sich – da
nicht innerhalb von fünf Minuten erklärbar – der heutigen Zeit doch sehr sperrt. Trotzdem, oder besser, gerade deswegen möchte ich in der vorliegenden Arbeit den Versuch
unternehmen, diesen Begriff, seine Herkunft, aber auch seine weiteren Auswirkungen
auf die Mathematik auch einem Nicht-Mathematiker verständlich werden zu lassen.
Ein ehrliches Wort vorweg: Bei diesem Unterfangen bin ich auf Ihre Mitwirkung angewiesen, denn die folgenden Seiten lesen sich durchaus nicht einfach so weg! Vielmehr
wäre es sehr nützlich, wenn Sie Papier und Bleistift parat hätten, um im Zweifelsfalle
eine Rechnung auch selbst einmal durchführen zu können. Der Taschenrechner kann
Ihnen dagegen nicht helfen (es sei denn, Sie besitzen einen der modernen Rechner mit
einem Computeralgebrasystem, der Sie an der einen oder anderen Stelle im Rechnen
unterstützen kann).
Nun stammt der Begriff des Ideals aus dem Bereich der Zahlentheorie, also der Lehre von den ganzen Zahlen und ihren Teilbarkeitsbeziehungen. Eine der Aufgaben der
Zahlentheorie besteht im Auffinden ganzzahliger Lösungen von „diophantischen Gleichungen“, beispielsweise der Gleichung ​x​2​+ ​y​2​= ​z​2​oder ​x​3​+ ​y​3​= ​z​3​(die dem Kenner des
„großen Satzes von Fermat“ vertraut vorkommen werden) oder auch ​x​2​+ 2 · ​y​2​= ​z​3​. Schon
früh haben die Mathematiker herausgefunden, dass man bei den Lösungsversuchen zu
52
Dedekinds Theorie der Ideale
diesen Gleichungen nicht nur in den ganzen Zahlen arbeiten sollte, sondern mit großem
Nutzen diesen Rechenbereich erweitern kann.
Genau um diese Erweiterung des Rechenbereichs der ganzen Zahlen oder der Brüche
geht es im ersten Teil. Um Ihnen das Verständnis nicht schon hierbei schwer werden zu
lassen, habe ich mich bemüht, möglichst viele Beispiele derartiger Erweiterungen zu beschreiben. Ganz am Ende dieser Einführung gelangen wir dann an die Grenze des Rechnens und stoßen auf ernsthafte Probleme. Dies ist der Startschuss zur Einführung der
Ideale, die sich erst recht spät in diesem Abschnitt einfinden. Im weiteren Verlauf sehen
wir dann auch die Anwendungen in der Zahlentheorie, um derentwillen Dedekind den
Begriff des Ideals geprägt hat.
Zum Abschluss möchte ich Ihnen noch eine vage Vorstellung davon geben, warum
die Ideale auch in der Algebra eine so steile Karriere hinter sich haben. Wir beschäftigen
uns mit einem recht merkwürdigen Zahlbereich, in dem die Gleichung 1 + 1 = 0 gilt, der
aber dennoch das Fundament der ganz handfesten Codierungstheorie bildet, ohne die es
weder die CD noch das Hubble-Teleskop gäbe. Dieser Zahlbereich ist auch der Anlass für
eine erneute Beschäftigung mit den zu Beginn eingeführten algebraischen Zahlkörpern,
denn auch diese kann man mit Hilfe von Idealen besser beschreiben.
So soll diese Arbeit nicht nur den Zugang von Dedekind zu den Idealen aufzeigen, sondern auch die immense Bedeutung des Begriffes in der gesamten Mathematik belegen. Ich
hoffe, es ist mir gelungen und hoffe noch viel mehr, dass Sie hieran Spaß finden.
Dedekinds Theorie der Ideale
1. Erweiterungen von Zahlbereichen
1.1 Die quadratischen Zahlkörper
Wir setzen voraus, dass wir die ganzen Zahlen und die rationalen Zahlen (die Brüche) gut
kennen und damit auch rechnen können. Zumindest aus algebraischer Sicht liegt diese
Voraussetzung auf der Hand – schließlich kennen wir die Zahlen 0 und 1, und mit Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division erhalten wir hieraus die rationalen Zahlen,
zum Beispiel
1+1
– ​2_3 ​ = 0 – ​ _______
​. 1+1+1
Somit bildet die Menge Q der rationalen Zahlen sozusagen das Minimalgerüst, um
überhaupt mit den elementaren Rechenoperationen +,–,·,÷ hantieren zu können.
In den rationalen Zahlen können wir in gewohnter Weise Gleichungen des Typs
a · x + b = 0 nach x auflösen. Die Gleichung ​x​2​ – 9 = 0 stellt uns ebenfalls vor keinerlei
Schwierigkeiten – die Lösungen x = ±3 lesen wir einfach ab. Auch wissen wir aus der Mit_
telstufe, dass die – ganz ähnlich aussehende – Gleichung ​x2​ ​ –7 = 0 die Lösungen x = ±​√ 7 ​
besitzt. Doch gerade bei der letzten Gleichung lohnt es sich, inne zu
_ halten und Rechenschaft darüber abzulegen, ob wir wirklich
wissen,
was
das
Symbol
​
7 ​bedeutet. Klar, auch
√
_
das wissen wir aus der Mittelstufe: ​√ 7 ​ ist diejenige positive Zahl, deren Quadrat 7 ergibt.
Da wir hier aber
_ nur die rationalen Zahlen als bekannt voraussetzen, müssen wir uns fragen, ob denn ​√ 7 ​ solch eine Zahl ist. Die Antwort lautet – nein, es gibt keinen Bruch, dessen Quadrat 7 ergibt!
_
Zum Beweis dieser
Behauptung
nehmen
wir
an,
dass
​
7 ​ doch eine rationale Zahl ist.
√
_
Dann können wir ​√ 7 ​ als vollständig
gekürzten
Bruch
schreiben,
d.h. wir finden teiler_ p
fremde ganze Zahlen p und q mit ​√ 7 ​= ​_q ​. Multiplizieren mit q und quadrieren dieser Gleichung führt zu 7 · ​q2​ ​ = ​p2​ ​. Da nun 7 ein Teiler von ​p2​ ​ ist, muss p ebenfalls ein Vielfaches
von 7 sein. Also können wir p schreiben als p = 7 · ~
p, wobei auch ~
p eine ganze Zahl ist. Wir
2
2
2
2
~
~
setzen ein und erhalten 7 · ​q​ ​ = (7 · ​
p)​ ​ = ​7​ ​ · ​ ​
p ​ und nach Kürzen ​q2​ ​ = 7 · ​ ~
p 2​ ​. Damit ist auch
q durch 7 teilbar – aber p und q sollten nach Voraussetzung teilerfremd sein.
Da wir in der
_
Argumentation keinerlei Fehler gemacht haben, muss die Annahme „​√ 7 ​ kann als Bruch
geschrieben werden“ falsch gewesen
sein – wir haben die Behauptung bewiesen.
_
Demnach liegt die „Zahl“ ​√ 7 ​ nicht in unserem Rechenbereich,
den rationalen Zahlen.
_
Nun, kein Problem (sagt jedenfalls die Schule), denn ​√ 7 ​ist ein „unendlicher aperiodischer
Dezimalbruch“ beziehungsweise eine „reelle Zahl“. Jetzt müssten wir erklären, was wir genau unter einer reellen Zahl (oder einem „unendlichen Dezimalbruch“) verstehen wollen.
Eine solche Erläuterung benötigt mehr als die Grundrechenarten und ist somit nicht ohne
weiteres innerhalb der Algebra formulierbar.
_
Und trotzdem schlägt jetzt die Stunde der Algebra! Wir fassen ​√ 7 ​ als Symbol auf und
fügen dieses unserem Rechenbereich hinzu, wobei wir erklären müssen,
_
_ wie mit diesem
_
neuen Symbol zu hantieren ist. Zunächst einmal legen wir fest: ​√ 7 ​ · ​√ 7 ​ = 7, denn ​√ 7 ​ soll
schließlich die Lösung der Gleichung ​x2​ ​ – 7 = 0 sein. Außerdem wollen wir weiterhin ad-
53
54
Dedekinds Theorie der Ideale
dieren und multiplizieren können. Als minimale Voraussetzung
ist zu stellen,
_
_ dass in dem
2
8
__
__
neuen Rechenbereich Zahlen der Gestalt ​ ​ + ​ 27 ​ ​√ 7 ​oder, allgemein, a + b · ​√ 7 ​für beliebige
13
rationale Zahlen a, b liegen. Jetzt können wir addieren und multiplizieren, ohne unseren
neuen Rechenbereich zu verlassen:
_
_
_

(
a
+
b
· ​
7 )
​
+
(
x
+
y
· ​
7 ​
)
=
(a
+
x)
+
(b
+
y)
· ​
7 ​, und
√
√
√
_
_
_
_
_
_
(a + b · ​√ 7 )​ · (x + y · ​√ 7 )​ = ax + ay · ​√ 7 ​ + bx · ​√ 7 ​ + by · (​√ 7 )​​ 2​ ​ =_ (ax _+ 7by) + (ay + bx) · ​√ 7 ​,
wobei wir bei der letzten Umformung von der Gleichung ​√ 7 ​ · ​√ 7 ​ = 7 Gebrauch gemacht
haben. Wie aber steht es mit dem Dividieren im neuen Rechenbereich? Hierzu bedienen
wir uns des Tricks, der schon in der Schule zum „rational machen des Nenners“ verwen_
_
det wurde:
_
_
(a + b · ​√ 7 ​) · (x – y · ​√ 7 ​)
ax – 7by –ay
+ bx
a_______
+ b · ​√ 7 ​
__________________
_ _ _ ​
​ = ​
​ = ​______
​ + ​______
​ · ​
√ 7 ​
2
2
2
2
x + y · ​√ 7 ​
(x + y · ​√ 7 ​) · (x – y · ​√ 7 ​)
​x​ ​ – 7​y​ ​
_
​x​ ​ – ​7y​ ​
Der zuletzt erhaltene Ausdruck hat wieder die Form r + s · ​√ 7 ​mit rationalen Zahlen r und
s, so dass auch die Division den neu gewonnenen Zahlbereich nicht verlässt.
Ohne Kenntnis der reellen
_ Zahlen können wir daher den Zahlbereich Q der rationalen
Zahlen durch die Lösung ​√ 7 ​der Gleichung ​x2​ ​ –_7 = 0 erweitern. Um anzudeuten, dass unser neuer
Zahlbereich durch Hinzufügen
von ​√ 7 ​zu Q entsteht, verwenden
wir als Symbol
_
_
_
Q(​√ 7 )​ . Die Elemente von Q(​√ 7 )​ sind_ daher die Ausdrücke a + b · ​√ 7 ​, wobei a und b rationale Zahlen sind. Rechnen in Q(​√ 7 )​ ist eine völlig natürliche Erweiterung der gewöhnlichen Rechenoperationen.
An dieser Stelle wollen
_ wir uns den folgenden Sachverhalt vor Augen führen. Eine der
neuen Zahlen a + b · ​√ 7 ​ kann
_ nur dann gleich 0 sein, wenn sowohl a = 0 als auch b = 0
ist. Wäre_ nämlich a + b · ​√ 7 ​ und b von 0 verschieden, so könnten wir die Gleichung zu
– a / b _= ​√ 7 ​umformen. Da a und b Brüche sind, ist aber auch –a / b ein Bruch und kann nicht_
mit ​√ 7 ​übereinstimmen – siehe oben. Hieraus lesen wir ab, dass
die Darstellung
a + b · ​√ 7 ​
_
_
für unsere neuen Zahlen eindeutig ist: Gilt
_ nämlich a + b · ​√ 7 ​ = x + y · ​√ 7 ​(wobei a, b, x, y
Brüche sind), so folgt (a – x) + (b – y) · ​√ 7 ​ = 0 und hieraus nach dem eben Gesagten a – x =
b – y = 0 bzw. a = x, b = y.
Genau wie oben können wir durch Hinzufügen
einer Lösung der Gleichung
​x2​ ​ – 11 = 0
__
__
2
oder__
​x​ ​ – 21 = 0 zu den Zahlbereichen__
Q(​√ 11 ​) (mit den Elementen a + b · ​√ 11 ​, a, b Q ) bzw.
Q(​√ 21 ​) (mit den Elementen a + b · ​√ 21 ​, a, b Q ) gelangen.
Natürlich kommen wir an dieser Stelle
_ auch in die Versuchung, dieses Verfahren auch
einmal mit einer „formalen Lösung“ ​√ 9 ​ der Gleichung ​x2​ ​ – 9 = 0 zu erproben. Spätestens
jetzt geraten wir in große Bedrängnis, wenn wir dividieren wollen:
_
_
_
3_ + ​√ 9 ​ _
+ ​√ 9 ​ 3_____
√ 9 ​ 1 _
​ _____
​ = ​ _____________
​ = ​3_____
​ = ​ + ​
​ ,
2
0
3 – ​√ 9 ​ (3 – ​√ 9 ​) · (3 + ​√ 9 ​)
​3​ ​ – 9
was in einem „anständigen Zahlbereich“ nicht angeht. Eine genauere
Analyse dieser Rech_
nung zeigt, dass wir auf die beschriebene Weise nur dann ​√ d ​ zu den rationalen Zahlen
Dedekinds Theorie der Ideale
dazufügen können, wenn d nicht schon selbst Quadrat einer rationalen Zahl ist. Außer_
_
​√ 6 ​
3_ __
dem reicht es für
_ unsere Bedürfnisse aus, wenn d eine ganze Zahl ist (anstelle von ​ ​2​ ​= ​2 ​ reicht es aus, ​√ 6 ​ hinzuzufügen), die
quadratfrei
_ ist, d.h. durch kein ganzzahliges
__zudem _
Quadrat geteilt wird (anstelle von ​√ 12 ​ = 2 · ​√ 3 ​ füge ​√ 3 ​ hinzu). Zusammenfassend treffen
wir daher folgende Vereinbarung:
√ Ist d_ eine quadratfreie ganze Zahl, so verstehen
wir unter dem quadratischen Zahlkörper
_
Q_(​√ d ​) die Menge _aller Zahlen a + b · ​√ d ​mit rationalen Zahlen a und b. Zwei Zahlen a + b · ​
√ d ​sowie x + y · ​√ d ​werden folgendermaßen addiert / subtrahiert / multipliziert / dividiert:
_
_
_
(a + b · ​√ d _ )​ ± (x + y · ​√ _d ​) = (a ± x) + (b ± y) · ​√ d ​ _
(a + b · ​√ d ​) · (x + y · ​√ d )​ = (ax + byd) + (ay + bx) · ​√ d ​
_
_
_
– byd -ay
+ bx
+ b · ​√ d ​ ax
_ ​a_______
​= ​______ ​ +
​ ______ ​ · ​√ d ​ (x + y · √
​ d ​≠ 0)
x + y · ​√ d ​
​x​ ​–​ dy​ ​
​x​ ​– ​d y​ ​
2
2
2
2
_
Wir sagen, der quadratische Zahlkörper Q(​√ d )​ entsteht aus Q durch Adjungieren einer Lösung der Gleichung ​x2​ ​ – d = 0.
_
Unter den quadratischen Zahlkörpern befindet sich natürlich auch unser Beispiel Q(​√ 7 )​ ,
das wir ja schon oben eingehend studiert haben. Dieses Beispiel erscheint uns auch völlig
vertraut; die Rechnungen
in diesem Zahlbereich sind uns so geläufig, dass uns die Verallge_
meinerung auf Q(​√ d )​ schon fast selbstverständlich erschien. Allerdings haben wir nirgends
ausgeschlossen,
dass d negativ ist. Und in der Tat steht
__
___ mit dem Zahlkör_ der Mathematiker
per Q(​√ –2 )​ auf genauso vertrautem Fuß wie mit Q(​√ 7 )​ , auch wenn ​√ – 2 ​noch nicht einmal
eine reelle Zahl ist! Denn schließlich sind die Rechnungen ebenso einfach wie sonst, z.B.
___
___
___
___
___
___
(3 + 2 · ​√ – 2 ​) · (– 4 + ​√ – 2 ​) = 3 · (–4) + 3 · ​√ – 2 ​ + 2 · ​√ – 2 ​ · (–4) + 2 · ​√ – 2 ​ · ​√ – 2 ​
__
___
___
= (√
​ –2 ​​)​​=–2
= – 12 + 3 · ​√___
– 2 ​ – 8 · ​√ – 2 ​ + 2 · (–2)
= – 16 – 5 · ​√ – 2 ​
___
2
Das Verständnis dieser Rechnung liegt in der Tatsache, dass ​√ – 2 ​ ein Symbol für eine
Lösung der Gleichung ​x2​ ​ + 2 = 0 ist – und hier liegt auch die Schwierigkeit, denn eben diese Gleichung (so haben wir in der Schule gelernt) hat keine reelle Lösung. Daher liegt es
nahe, an dieser Stelle die reellen Zahlen ebenfalls zu erweitern, indem wir eine Lösung der
Gleichung ​x2​ ​ + 1 = 0 hinzufügen. Natürlich können wir das auf genau die gleiche Weise wie
schon bei den quadratischen Zahlkörpern in Angriff nehmen:
55
56
Dedekinds Theorie der Ideale
___
Eine komplexe Zahl ist ein Ausdruck x + y · √
​ – 1 ​ wobei x und y beliebige reelle Zahlen sind.
Gerechnet wird mit den komplexen Zahlen folgendermaßen: ___
___
___
(a + b · √​ –___1 )​ ± (x + y · √​ ___
– 1 ​) = (a ± x) + (b ± y) · √
​ – 1 ​ ___
(a + b · √​ – 1 ​) · (x + y · √​ – 1 ​) = (ax – by) + (ay + bx) · √​ – 1 ​ ___
___
___
+ by –ay
+ bx
+ b · ​√ –__1 ​ ax
​a_________
​ = ​______
​ + ​______
​ ·
√
​ – 1 ​ (x + y · √
​ – 1 ​ ≠ 0)
2
2
2
2
​x​ ​ + ​y​ ​
​x​ ​ + ​y​ ​
x + y · ​√ –1 ​ Eine kurze Überlegung zeigt nun, dass jeder qua__
x+y·√
​ –1 ​ dratische Zahlkörper ein Teil der komplexen Zahlen
ist. Trotzdem bleibt ein gewisses Unbehagen 1, denn
y
schließlich „sehen“ wir die reellen Zahlen auf dem
Zahlenstrahl, auf dem für die komplexen Zahlen
kein Platz mehr ist. In Wahrheit ist auch dies kein
großes Problem: Anstelle des Zahlenstrahls nehr
men wir die „Gaußsche
___Zahlenebene“ und denken
uns die Zahl x + y · ​√ – 1 ​ als Punkt (x | y) in dieser
Ebene. Mit dieser visuellen Anschauung einer koma
plexen Zahl verbindet sich ein ganz handfester algebraischer Hintergrund. Anstelle der Koordinaten
x
können wir nämlich mit gleichem Recht eine komGaußsche Zahlenebene
plexe Zahl (alias ein Punkt der Ebene) auch durch
seinen Abstand r zum Ursprung und den eingezeichneten Winkel a zur x-Achse angeben.
In dieser Darstellung erhält man das Produkt zweier komplexer Zahlen, indem man die
Abstände zum Nullpunkt multipliziert und die Winkel addiert.
1.2 Exkurs: Noch mehr Zahlkörper
_
Im letzten Abschnitt haben wir gesehen, wie wir durch Hinzufügen eines Symbols wie ​√ 7 ​ den Rechenbereich der rationalen Zahlen um die Lösungen der Gleichungen ​x2​ ​ – 7 = 0
bzw. ​x2​ ​ + 2 = 0 erweitern können, ohne die reellen oder komplexen Zahlen bemühen
zu
_
3
müssen. Natürlich können wir so auch höhere Wurzeln adjungieren, so etwa √ ​ 2​ als Lösung
der Gleichung ​x3​ ​ – 2 = 0. Hierbei
müssen wir allerdings
etwas_ aufpassen: Die Zahlen des
_
_
3
3
3
2
neuen Rechenbereichs Q(​√ 2​ ) haben
die Form a + b · ​√ 2​ +
c · (​√ 2​​
)​ ​ wobei a, b und c Brüche
_
3
sind; nur Zahlen des Typs a + b · ​√ 2​ zu
nehmen reicht hier nicht aus!
Hierfür gibt es einen tieferen Grund (und Mathematik betreiben heißt, diesen Grund
zu finden und zu verstehen), den wie hier nur kurz für diesen Spezialfall andeuten wollen.
Dedekinds Theorie der Ideale
_
_
gehört (​​√ 2​ )2​ ​
Nach dem Hinzufügen von √ ​ 2​ zu Q wollen wir multiplizieren und demzufolge
_
3
ebenfalls zum neuen Zahlbereich. Würden
nun Zahlen
der Form a + b · ​√ 2​ ausreichen,
so
_
_
3
3
2
gäbe es rationale
Zahlen
a
und
b
mit
(​​
2​
)​ ​ = a + b · ​√ 2​
. Wir multiplizieren die letzte Glei√ _
_
_
3
3
3
3
chung
mit
​
2​
, ersetzen die entstehende linke Seite (​√ 2​​
)​ ​ durch 2 und erhalten 2 = a · ​√ 2​ +
√ _
_
_
_
3
3
3
3
2
2
2
b · (​​√ 2​ )​ ​. Ersetzen von (​​√ 2​ )​ ​durch (​​√ 2​ )​ ​ = a + b · ​√ 2​ führt zur Gleichung
3
3
_
_
_
2 = a · √ ​ 2​ + b · (a + b · √ ​ 2​ ) = ab + (a + ​b2​ ​) · √ ​ 2​ .
3
3
3
Diese Gleichung kann nur dann gelten, wenn ab = 2 und a + ​b​2​= 0 erfüllt sind. Insgesamt
erhält man hieraus a = –​b​2​und daher 2 = ab = –​b3​ ​. Da aber b ein Bruch
ist, und kein
Bruch
_
_
3
3
2
zur dritten Potenz erhoben 2 ergibt, kann unsere Annahme „ (​​√ 2​ )​ ​ = a + b · √ ​ 2​ mit rationalen Zahlen a und b“ nicht richtig sein.
_
Damit wird das Rechnen in Q(​​√ 2​ )​ziemlich eklig. Erfordert schon die Multiplikation einiges
an
Rechnung,
so steht vor der Division noch die Hürde, mit einem Nenner der Form a + b · ​
_
_
3
3
2
√ 2​ + c · (​​√ 2​ )​ ​ zu hantieren. Die hierzu nötigen Werkzeuge 2 stehen uns nicht zur Verfügung,
so dass wir uns auf quadratische Zahlkörper beschränken. Wir notieren an dieser Stelle lediglich: Einen Zahlbereich, der aus den rationalen Zahlen durch Hinzufügen einiger oder
aller Lösungen einer oder mehrerer Polynomgleichungen
 ​ a​n ​· ​xn​ ​+ ​an​ –1 ​· ​xn–1
​ ​+ ... + ​a1​ ​· x + ​a0​ ​= 0 mit rationalen Zahlen ​ a​n ​,​a​n –1 ​,...,​ a​2 ​,​ a​1 ​,​ a​0 ​
entsteht, nennen wir einen (algebraischen) Zahlkörper. Die Beschäftigung mit den algebraischen Zahlkörpern ist eines der zentralen Themen der algebraischen Zahlentheorie.
3
1.3 Ganze komplexe Zahlen
Wir fangen diesen Abschnitt zur Motivation mit einem zahlentheoretischen 3 Problem an.
Gesucht werden sämtliche Primzahlen, die sich als Summe zweier Quadrate ganzer Zahlen
schreiben lassen.
Die 2 als einzige gerade Primzahl ist rasch erledigt, denn schließlich ist 2 = ​1​2​ + ​1​2​eine
Zerlegung der gewünschten Art. Mit ein wenig Ausprobieren gelangen wir zum Ergebnis,
dass 5 = ​2​2​ + ​1​2​, 13 = ​3​2​ + ​2​2​und 17 = ​4​2​ + ​1​2​Primzahlen der gewünschten Art sind, während
sich 3, 7, 11 und 19 nicht als Summe zweier Quadrate schreiben lässt. Aber diese Beispiele
beantworten nicht die Frage! Denn von der Primzahl 97 wissen wir noch nicht, ob sie sich
in gewünschter Art zerlegen lässt 4.
Wir geben mit elementaren Methoden zunächst eine Teilantwort. Ist p eine ungerade
Primzahl, und gibt es ganze Zahlen x und y mit p = ​x​2​ + ​y​2​, so muss eine dieser Zahlen
gerade und die andere ungerade sein. Natürlich können wir hier voraussetzen, dass x die
gerade und y die ungerade Zahl ist. Damit ist x = 2 · n das Doppelte einer ganzen Zahl n,
während sich zu der ungeraden Zahl y eine ebenfalls ganze Zahl m mit y = 2 · m + 1 finden
lässt. Durch Einsetzen und Ausmultiplizieren erhalten wir p = ​x2​ ​ + ​y2​ ​ = (2n​)2​ ​ + (2m + 1​)​2​
57
58
Dedekinds Theorie der Ideale
= 4 · (​n2​ ​ + ​m2​ ​ + m) + 1. Aus dieser Gleichung lesen wir ab, dass die ungerade Primzahl p nur
dann als Summe zweier Quadrate geschrieben werden kann, wenn p bei Division durch 4
den Rest 1 hat – sonst nicht! Und umgekehrt? Alle bisherigen Beispiele lassen vermuten,
dass jede ungerade Primzahl p, die bei Division durch 4 den Rest 1 besitzt, sich auch tatsächlich als Summe zweier Quadrate schreiben lässt. Zum zweifelsfreien Nachweis dieser
Vermutung aber reichen die elementaren Methoden nicht! Um das Problem doch noch angehen zu können,
verlassen wir die ganzen Zahlen und gehen in den quadratischen Zahl__
körper Q(​√ –1 )​ . Dort können wir__
die Summe der
__ Quadrate als Produkt schreiben:

p = ​x2​ ​ + ​y2​ ​ = (x + y · ​√ –1 )​ · (x – y · ​√ –1 )​ mit ganzen Zahlen x und y.
Diese Rechnung geschieht nicht mehr in
__ den ganzen Zahlen, sondern im Rechenbereich
der „ganzen komplexen Zahlen“ x + y · ​√ –1 ​ (mit ganzen
Zahlen x und y). Die Menge aller
__
ganzen komplexen Zahlen bezeichnen wir mit Z(​√ –1 )​ , da einerseits Z für die Menge__aller
gewöhnlichen ganzen Zahlen steht,
__ und andererseits der Übergang von Z nach Z(​√ –1 )​ so
verläuft wie der von Q nach Q(​√ –1 )​ .
Natürlich
__ können wir ganze komplexe Zahlen addieren, subtrahieren und multiplizieren,
ohne Z(​√ –1 )​ zu verlassen. Dagegen führt – genau wie in Z – die Division__aus diesem Zahlbereich heraus. Daher
__ ist es nützlich, den Begriff der Teilbarkeit auf Z(​√ –1 )​ zu übertragen:
Sind 5 a, b aus Z(​√ –1 )​ , so heißt a ein Teiler von b (oder b durch a teilbar), wenn es eine wei__
tere ganze komplexe Zahl
__γ mit der Eigenschaft b = a · γ gibt. Somit ist etwa a = 1 – 2 · ​√ –1 ​ ein Teiler von b = 13 __
– ​√ –1 ,​ denn__
__
__
__
b
(13 – ​√ –1 ​) · (1 + 2 · ​√ –1 ​) 13
– ​
–1 ​ ___________________
15 + 25 · ​√ –1 ​ √
________
__
__ __ g = — = ​ ​ = ​ ​ = ​__________
​ = 3 + 5 · ​√ –1 ​ a
1 – 2 · ​√ –1 ​ 5
(1 – 2 · ​√ –1 ​) · (1 + 2 · ​√ –1 ​) __
ist eine ganze komplexe
Zahl und erfüllt offenbar b = a · γ. Dagegen ist a = 1 – ​√ –1 ​ kein
__
Teiler von b = 2 + ​√ –1 ,​ da der Quotient __
__
b
2 + ​√ __
–1 ​ 1_ 3_
— = ​______
​ = ​ ​ + ​ ​ · ​√ –1 ​ g
1 – ​√ –1 ​ 2
2
eben keine ganze komplexe Zahl ist.
Für die zweite Rechnung gibt
__ es einen eleganten Ersatz. Hierzu ordnen wir zunächst
jeder komplexen Zahl x + y · ​√ –1 ​ ihre so genannte
Norm __
__
__
N (x + y · ​√ –1 ​) = (x + y · ​√ –1 ​) · (x – y · ​√ –1 ​) = ​x2​ ​ + ​y2​ ​
zu und rechnen nach, dass die Norm eines Produktes gleich dem Produkt der Normen ist:
__
__
__
N ((x + y · ​√ –1 )​ · (u + v · ​√ –1 )​ ) = N ((xu – yv) + (xv + yu) · ​√ –1 )​ = (xu – yv​)2​ ​ + (xv + yu​)2​ ​
= ​x​2​ ​u​2​– 2xyuv + ​y2​ ​ ​v2​ ​ + ​x2​ ​ ​v2​ ​ + 2xyuv + ​y2​ ​ ​u2​ ​
= ​x​2​ ​u​2​+ ​y​2​ ​v2​ ​ + ​x2​ ​ ​v2​ ​ + ​y2​ ​ ​u2​ ​
= (​x​2​ + ​y​2​ ) · (​u2​ ​ + ​v2​ )​
__
__
= N (x + y · ​√ –1 ​) · N (u + v · ​√ –1 ​) Dedekinds Theorie der Ideale
Außerdem stellen wir fest, dass die Norm einer ganzen komplexen Zahl eine gewöhnliche ganze Zahl__ist. Damit erhalten wir eine interessante
Aussage: Ist nämlich a ein Tei__
ler von b in Z(​√ –1 )​ , so gibt es ja ein g aus Z(​√ –1 )​ mit b = a · g. Für die zugehörigen Normen N (a), N (b) und N (g) (die gewöhnliche ganze Zahlen sind) gilt dann die Gleichung
N (b) = N (a · g) = N (a) · N (g) – damit ist N (a) ein Teiler von N (b) im Rechenbereich Z der
ganzen Zahlen!
__
__
Das __
wenden wir auf a = 1 – ​√ –1 ​ und b = 2 + ​__
√ –1 ​ an! Wir berechnen die Normen N (a) =
N (1 – ​√ –1 )​ = ​1​2​ + (– 1​)​2​ = 2 und N (b) = N (2 + ​√ __
–1 )​ = ​2​2​ + ​1​2​= 5. Da 2 in den ganzen Zahlen
nun einmal kein Teiler von 5 ist, kann a in Z(​√ –1 )​ auch kein Teiler von b sein.
Ein wenig vorsichtig sollte man an dieser Stelle schon sein – auch wenn N (a) ein Teiler
__
von N (b) ist, braucht a noch lange kein Teiler von b zu sein! Denn a = 5 und b = 4 + 3 · ​√ –1 ​
haben beide die Norm 25 und trotzdem ist weder a ein Teiler von b noch umgekehrt, denn
keiner der beiden Quotienten
__
__
b
4 + 3 · ​√ –1 ​ 4_ 3_
— = ​________
​ = ​ ​ + ​ ​ · ​√ –1 ​ a
5
5 5
__
a
5 __ 4_ 3_
________
—
= ​ ​ = ​ ​ – ​ ​ · ​√ –1 ​ b
4 + 3 · ​√ –1 ​ 5 5
ist eine ganze komplexe Zahl.
__
Nachdem wir die Teilbarkeit
__in Z(​√ –1 )​ eingeführt und näher beleuchtet haben, liegt es
nahe, auch Primzahlen in Z(​√ –1 )​ einzuführen. Aber Vorsicht! Mit der Schulweisheit „eine
Zahl ist eine Primzahl, wenn sie nur durch 1 und sich selbst teilbar ist“ kommen wir nicht
sehr weit. Das gilt noch nicht einmal in den ganzen Zahlen, denn schließlich hat die Zahl
3 (die ja unbestreitbar eine Primzahl ist) die Teiler 1, 3, –1 und –3. Schuld an diesem Missstand trägt die in den natürlichen Zahlen nicht vorkommende Zahl –1, die als Teiler von 1
auch jede weitere Zahl teilt. Immerhin, es gibt nur zwei Zerlegungen der Zahl 3, nämlich
3 = 1 · 3 und 3 = (–1) · (–3). In beiden Zerlegungen steckt einer der Teiler von 1, so dass wir
einen ersten Ansatzpunkt für den Begriff einer „komplexen Primzahl“ haben:
__
Eine ganze komplexe Zahl a =__x + y · ​√ –1 ​ heißt unzerlegbar, falls für jede Zerlegung a = b · g
(mit Elementen b, g aus Z(​√ –1 )​ ) einer der beiden Faktoren b, g ein Teiler von 1 ist.
Teiler der 1 nennen wir auch kurz Einheiten, und diese wollen wir jetzt bestimmen. Wenn
a eine Einheit ist, dann teilt die Norm von a (eine positive ganze Zahl) die Zahl 1. Damit
kommen
nur
1, –1, ​
__
__ Zahlen a mit Norm 1 in Frage – und davon gibt es genau vier, nämlich__
–1 ​
und
–​
–1 ,
​
die
auch
sämtlich
Einheiten
sind.
Eine
unzerlegbare
Zahl
a
=
x
+
y
· ​
–1 √ √
√ ​ besitzt also tatsächlich genau vier Zerlegungen,
nämlich __
__
x + y · ​√ –1 ​ = 1 · (x + y · ​√ –1 ​) __
= (–__
1) · (– x – y · ​
√ –1 ​) __
= ​√ –1 ​ __
· (y – x · ​√ –1 ​) __
= (– ​√ –1 ​) · (– y + x · ​√ –1 ​) 59
60
Dedekinds Theorie der Ideale
Warum aber nennen wir solche Zahlen „unzerlegbar“ und nicht „Primzahl“? Nun, uns
reicht die Eigenschaft der „Unzerlegbarkeit“ noch nicht aus. Wir erwarten vielmehr, dass
eine Primzahl nur dann ein Produkt teilt, wenn sie ein Teiler einer der beteiligten Faktoren
ist. Wir legen daher fest:
__
__
Eine ganze komplexe Zahl a = x + y · ​√ –1 ​ heißt eine Primzahl __
in Z(​√ –1 )​ , wenn a nur
dann ein Teiler eines Produktes b · g (mit Elementen b, g aus Z(​√ –1 )​ ) sein kann, wenn a
einen der Faktoren b oder g teilt.
__
Glücklicherweise fallen im Rechenbereich Z(​√ –1 )​ die Begriffe „Primzahl“ und „unzerlegbar“ zusammen – dieses Glück wird uns weiter unten in anderen Rechenbereichen jedoch verlassen! Mit dieser Information (die wir an dieser Stelle nicht belegen, sondern nur
zur Kenntnis nehmen) können wir endlich unser Ausgangsproblem angehen. Zur Erinnerung: p bezeichnet eine gewöhnliche Primzahl mit Rest 1 bei Division durch 4. Von dieser
Primzahl wollen wir feststellen, ob sie sich als Summe p = ​x​2​ + ​y​2​ von Quadraten zweier
ganzer Zahlen x und y schreiben lässt.
Da p bei Division durch 4 den Rest 1 besitzt, finden wir eine natürliche Zahl n mit p =
4n + 1. Wir setzen u = (2n)!= 1 · 2 · 3 ·...· (2n). Dann lässt sich ​u2​ ​ + 1 durch p __
teilen, wobei wir
diese Tatsache nur zitieren und nicht zeigen wollen.
Im
Rechenbereich
Z
(​
–1 )​ gilt natürlich
√
__
__
ebenfalls, dass p ein Teiler von__
​u2​ ​ + 1 = (u + ​√ –1 __
​) · (u + ​√ –1 ​) ist.__Andererseits kann p kein
Teiler eines der Faktoren u ± ​√ –1 ​ sein, __
da u​_p ​ ± ​1_p ​ ​ √ –1 ​ nicht in Z(​√ –1 )​ liegt – schließlich ist 1/
p keine ganze Zahl. Damit ist p in Z(​√ –1 )​ keine Primzahl mehr und
__ lässt sich demzufolge
in ein Produkt p = a · b zweier Nicht-Einheiten a und b aus Z(​√ –1 )​ zerlegen6. Übergang
zu den Normen liefert die Gleichung ​p2​ ​ = N (p) = N (a) · N (b) in den ganzen Zahlen. Als
Nicht-Einheiten haben a und b eine von 1 verschiedene Norm. Da p in den ganzen Zahlen
__
eine Primzahl ist, schließen wir hieraus N (a) = N (b) = p. Ist nun etwa a = x + y · ​√ –1 ,​ so
erhalten wir endlich das gewünschte__Ergebnis
p = N (a) = N (x + y · ​√ –1 ​) = ​x2​ ​ + ​y2​ ​ mit ganzen Zahlen x und y.
1.4 Exkurs: Dreiecke und ganze komplexe Zahlen
Kennen Sie Pythagoräische Tripel? Das sind jeweils drei ganze Zahlen x, y und z, die als
Längen der Seiten eines rechtwinkligen Dreiecks auftreten können. Nach dem Satz des Pythagoras ist das der Fall, wenn x, y und z folgender diophantischer Gleichung genügen:
​x2​ ​ + ​y2​ ​ = ​z2​ ​.
Eine Lösung kennt vermutlich jeder, nämlich x = 3, y = 4 und z = 5. Eine weitere Lösung
wäre x = 6, y = 8 und z = 10; aber diese Lösung haben wir aus der ersten durch Verdoppeln
erhalten. Es stellt sich natürlich die Frage, ob es noch grundlegend andere Lösungen gibt.
Dedekinds Theorie der Ideale
__
Dazu gehen wir in unseren neuen Rechenbereich Z(​√ –1 )​ , zerlegen dort die linke Seite der
Gleichung mit der dritten binomischen Formel
__ und erhalten
__

​x2​ ​ + ​y2​ ​ = (x
+
y
· ​
–1 ​) · (x – y · ​√ –1 ​) = ​z2​ ​
√
__
Wenn jetzt beide Faktoren x ± y · ​√ –1 ​ Quadrate
wären,
__
__ dann hätten wir weitere
__ Lösungen.
2
2
2
Also setzen wir kurzerhand an: x ± y · ​√ –1 ​ = (m ± n · ​√ –1 )​​ ​ ​= (​m​ ​ – ​n​ ​) ± 2mn · ​√ –1 ​ mit ganzen
Zahlen m und n. Damit haben wir weitere Lösungen gefunden! Sind m und n beliebige ganze
Zahlen, so ist
x = ​m2​ ​ – ​n2​ ​
y = 2mn
z = ​m2​ ​ + ​n2​ ​
ein pythagoräisches Tripel – und diese erhalten wir jetzt wie Sand am Meer. So wählen wir
zum Beispiel m = 12, n = 7, erhalten hieraus das pythagoräische Tripel
x = ​12​2​ – ​72​ ​ = 95
y = 2 · 12 · 7 = 168
z = ​12​2​ + ​72​ ​ = 193
und in der Tat gilt ​95​2​ + ​168​2​ = 37249 =​193​2​. Sicherlich hätte man dieses Beispiel nicht durch
Probieren gefunden…
1.5 Ganze Zahlen in quadratischen Zahlkörpern
Bevor wir ganze Zahlen auch in den anderen quadratischen Zahlkörpern kennen lernen,
wollen wir auch hierfür eine Begründung unseres Interesses skizzieren. Ausgangspunkt
der schon in Leonhard Eulers (1707–1783) Buch „Vollständige Anleitung zur Algebra“ aufgeführten Fragestellung ist wieder einmal ein zahlentheoretisches Problem: Gesucht sind
diejenigen ganzen Zahlen x, für die ​x2​ ​ + 2 eine Kubikzahl ist, d.h. gesucht werden alle ganzzahligen Lösungen x und y der Gleichung ​x2​ ​ + 2 = ​y3​ ​. Auch hier werden wir mit elementaren Methoden wenig zu bestellen haben; auch hier führt der Lösungsweg wieder über die
ganzen Zahlen in einem quadratischen Zahlkörper. Zunächst überlegen wir uns, dass x ungerade ist: Wäre nämlich x durch 2 teilbar, so ist sicherlich auch ​y​3​= ​x​2​+ 2 und damit auch y
gerade. Folglich wäre 4 ein Teiler von ​y​3​– ​x​2​=___
2, was aber nicht zutrifft. Wir zerlegen nun___
die
3
2
3
linke Seite
der
Gleichung
y
​
​
​
=
x
​
​
​
+
2
in
Q
(​
–
2 ​
)
und
erhalten
die
Gleichung
y
​
​
​ =
(x
+ ​
–
2 ​) ·
√
√
___
___
(x – ​√__
– 2 ​) in Z(​√ – 2 ​). Ohne weitere Begründung nehmen wir an, dass die beiden Faktoren
x ± ​√ –2 ​mit ungeradem x keine gemeinsamen Teiler besitzen (was stimmt und weiter unten
bewiesen wird). Dann, so Euler weiter, müssten beide Faktoren
ebenfalls
__
__ Kubikzahlen sein,
und es gibt folglich ganze Zahlen a und b, so dass x + ​√ –2 ​ = (a + b · ​√ –2 )​​ 3​ ​gilt (was ebenfalls
richtig ist). Wir multiplizieren
die rechte
Seite aus und erhalten
__
__
__
x + ​√ –2 ​ = (a + b · ​√ –2 )​​ 3​ ​ = (​a3​ ​ – 6a​b2​ ​) + (3​a2​ ​ b – 2​b3​ ​) · ​√ –2 ​.
Ein Vergleich der linken und rechten Seite ergibt die beiden Bedingungen
x = ​a3​ ​– 6a​b2​ ​= (​a2​ ​ – 6​b2​ ​) · a
1 = 3​a2​ ​ b – 2​b3​ ​ = (3​a2​ ​ – 2​b2​ ​) · b
61
62
Dedekinds Theorie der Ideale
Damit haben wir das Problem erneut in die ganzen Zahlen verschoben, wo wir es mit
elementaren Mitteln lösen können! Aus der zweiten Bedingung folgt nämlich

3​a2​ ​ – 2​b2​ ​ = b – ± 1,
denn anders kann das Produkt dieser beiden Zahlen nicht 1 ergeben. Jedenfalls gilt ​b2​ ​ = 1
und Einsetzen in 3​a2​ ​ – 2​b2​ ​= ±1 liefert 3​a2​ ​ = 2 ±1. Da das Dreifache des Quadrates der ganzen
Zahl a nicht 2 – 1 = 1 ergeben kann, kommt nur das positive Vorzeichen in Betracht. Daher
entnehmen wir der zweiten Bedingung sogar 3​a2​ ​ – 2​b2​ ​= b = 1 . Für a verbleiben lediglich die
beiden Zahlen 1 und – 1. Setzen wir nun b = 1 und a = ±1 in die erste Gleichung x = ​a3​ ​ – 6a​b2​ ​
ein, so erhalten wir als einzige Möglichkeit x = ±5. In der Tat ist dann ​x2​ ​ + 2 = (±5​)​2​ + 2 = 27
die dritte Potenz von 3. Wir haben daher zwei Lösungen der Gleichung ​x2​ ​ + 2 = ​y3​ ​gefunden
und gleichzeitig sichergestellt, dass es keine weiteren Lösungen gibt.
Offenbar haben wir mit den ganzen Zahlen in den quadratischen Zahlkörpern ein gutes
Mittel gefunden, zahlentheoretische Probleme besser anpacken zu können – es lohnt sich,
einiges an Arbeit hier zu investieren! Allerdings gibt es auf dem Weg noch allerlei Fallstricke. Zunächst ist noch nicht wirklich klar, was denn eine ganze Zahl in einem quadratischen
(oder einem
sonstigen)
Zahlkörper überhaupt sein soll. Zwar liegt es nahe, ein Element a
_
_
+ b · ​√ d ​ aus Q(​√ d ​) als ganzzahlig zu bezeichnen, wenn beide Koeffizienten a und b ganze
Zahlen im üblichen Sinne sind. Doch aus verschiedenen Gründen ist dies nicht nur unbefriedigend, sondern auch irreführend. Stattdessen legen wir fest, wann wir eine beliebige
komplexe Zahl als „ganze Zahl“ ansprechen wollen:
Eine komplexe Zahl ϑ heißt ganzalgebraische Zahl, wenn sie die Lösung einer Gleichung
 ​x​n​+ ​a​n –1 ​ · ​x​n–1​ + ... + ​a​1 ​ · x + ​a​0 ​ = 0
mit ganzzahligen Koeffizienten ​a​n –1 ​, ​a​n –2 ​, ..., ​a​1 ​, ​a​0 ​ist.
Beachten Sie hierbei, dass der Koeffizient vor der höchsten Potenz ​x​n​gleich 1 sein muss
– sonst wäre ja auch 3/7 als Lösung der Gleichung 7 · x – 3 = 0 eine ganzalgebraische Zahl.
Warum aber gerade diese Definition? Nun, solch eine Polynomgleichung mit ganzzahligen Koeffizienten (und einer 1 als Koeffizient vor der höchsten Potenz) hat eine Eigenschaft, die der Algebraiker auch in anderen Zahlkörpern nicht missen mag: Jede rationale
Lösung einer derartigen Gleichung ist nämlich automatisch eine ganze Zahl. Und so soll
es auch in den quadratischen Zahlkörpern bleiben.
Die Rettung der lieb gewordenen Eigenschaft erkauft man sich allerdings
_ mit einer Seltsamkeit, die schon in den quadratischen Zahlkörpern zu Tage tritt. In Q(​√ d )​ sind sämtliche
nicht-rationalen Elemente _bereits Lösungen von quadratischen Gleichungen, was wir durch
Einsetzen von x = a + b · ​√ d ​in die Gleichung ​x​2​– 2ax + (​a​2​– ​b​2​d) = 0 unmittelbar einsehen.
Der Koeffizient vor der höchsten Potenz ​x​2​ ist dabei wunschgemäß 1. Sind
_ a und b ganze
Zahlen, so auch alle Koeffizienten der Gleichung, und damit ist a + b · ​√ d ​ (a, b ganze Zah-
Dedekinds Theorie der Ideale
len) eine ganzalgebraische Zahl. Sind umgekehrt die Koeffizienten –2a und ​a2​ ​ – ​b2​ ​ d ganzzahlig, so haben wir zwei Fälle zu betrachten, je nachdem ob a bereits eine ganze Zahl oder
ein Bruch der Form a = ​u_2 ​ mit einer ungeraden ganzen Zahl u ist. Im ersten Fall (a ist ganz)
gibt es keine Probleme, denn dann ist auch (​a​2​– ​b​2​d) – ​a​2​= ​b​2​d ganzzahlig, so dass b ebenfalls eine ganze Zahl sein muss. Im zweiten Fall ( a = ​u_2 ​ mit ungeradem u) muss, damit ​a2​ ​ – ​b2​ ​ d ganzzahlig sein kann, b die gleiche Gestalt haben: b = ​ _v2 ​mit ungeradem v. Wir schreiben u = 2n + 1 und v = 2m + 1, und setzen in den Ausdruck ​a​2​– ​b 2​ ​d ein:
13
13
13
13
13
13
13
13
2
2
+ 1 2 2m
+1 2
–d
_____
_____
​a2​ ​ – ​b2​ ​ d = ​u_2 ​ – ​ _v2 ​ · d = ​2n
​ – ​
​ · d = [​n2​ ​ + n – (​m2​ ​ + m)d] + ​1____
​.
2
2
4
Der Ausdruck in den eckigen Klammern ist ganzzahlig. Daher hängt die Ganzzahligkeit
– d von ​a2​ ​ – ​b2​ ​ d nur davon ab, ob 1​____
​ eine ganze Zahl ist (also Division von d durch 4 den
4
Rest 1 ergibt) oder nicht.
Damit erhalten wir in einigen quadratischen Zahlkörpern
mehr ganzalgebraische Zah_
3______
+ 7​√ 5 ​
len als erwartet. Ist etwa d = 5, so ist die Zahl ​ ​ ganzalgebraisch, da sie eine Lösung
2
2
13
143
13
2
13
13
1
43
der Gleichung 0 = ​x2​ ​ – 2 · ​3_2 ​ · x + ​3_2 ​ – ​7_2 ​ · 5 = ​x2​ ​ – 3x – 59 ist. Immerhin, so halten wir ohne
Beweis fest, haben wir jetzt alle ganzrationalen Zahlen in quadratischen Zahlkörpern gefunden.
Es sei d eine quadratfreie natürliche Zahl7.
_
Sind a und b ganze Zahlen, dann ist die Zahl a = a + b · ​√ d ​ganzalgebraisch.
Ergibt Division von
d durch 4 den Rest 2 oder 3, so sind dies schon alle im quadratischen
_
Zahlkörper Q(​√ d )​ liegenden ganzalgebraische Zahlen.
Ergibt Division
von d durch 4 den Rest 1, so sind außer den Genannten auch die Zahlen
_
a_______
+b·√
​ d ​
​
​; a, b ungerade, ganzalgebraisch. Mehr gibt es nicht.
2
Um die umständliche
Sprechweise „ganzalgebraische Zahl aus dem quadratischen Zahl_
körper Q(​√ d )​ “ zu vermeiden, benennen wir die Menge _all dieser Zahlen kurzerhand mit ​
W​​√ _d ​​ . Außerdem vereinbaren wir, dass – analog zu Q(​√ d )​ – für eine komplexe Zahl ϑ die
Menge aller Zahlen der Form a + b · ϑ; a, b ganze Zahlen, mit Z(ϑ) bezeichnet wird. Dann
erhalten wir den ersten Teil unseres Ergebnisses in folgender, sehr viel einprägsamerer
Form.
_
Ist d eine quadratfreie Zahl mit Rest 2 oder 3 bei Division durch 4, so gilt ​W​​√ _d ​​= Z(​√ d ​) .
In einigen Zeilen Rechnerei (die hier ausgelassen werden) erhalten wir auch den zweiten
Teil.
63
Dedekinds Theorie der Ideale
_
13
13
+ ​√ d ​
Ist d eine quadratfreie Zahl mit Rest 1 bei Division durch 4, so gilt ​W​​√ _d ​​= Z ​1_____
​ .
2
Wir halten inne und vergegenwärtigen uns den Inhalt der letzten Aussage für d = –7.
Dann ist d –1 = –7 –1 = –8 durch 4 teilbar. Somit ergibt Division von d durch 4 in der Tat
den Rest 1. Damit ist hier der kurze Satz im letzten Kasten zuständig,
Satz be__ und dieser
__
sagt Folgendes:
Sind
a
und
b
rationale
Zahlen
(dann
liegt
a
+
b
·
​
–7 ​
in
Q
(​
–7 )
​
),
und
ist a
√
√
__
n
n–1
+ b · ​√ –7 ​ die Lösung einer Gleichung
__ ​x​ ​+ ​a​n –1 ​ · ​x​ ​ + ... + ​a​1 ​ · x + ​a​0 ​ = 0 mit
__ganzzahligen
Koeffizienten
(das
heißt
a
+
b
·
​
–7 ​
ist
eine
ganzalgebraische
Zahl
in
Q
(​
–7 )​ bzw. a + b ·​
√
√
__
​
),
dann
gibt
es
ganze
Zahlen
u
und
v
mit
√ –7 ​ ist ein Element von ​W​​√ __
–7 ​
__
__
__
1 + ​√ –7 ​ a+b·√
​ –7 ​ = u + v · ______
​ 2 ​
__
__
13
__
13
1 + ​√ –7 ​ (das heißt a + b · √
​ –7 ​ ist ein Element von Z ______
​ 2 ​ ). Sind umgekehrt u und v ganze Zahlen,
13
1 + ​√ –7 ​ 1 + ​√ –7 ​ so ist u + v · ______
​ 2 ​ (eine Zahl aus Z ______
​ 2 ​ ) die Lösung einer Gleichung ​x​n​+ ​a​n –1 ​ · ​x​n–1​ +
13
64
__
... + ​a​1 ​ · x + ​a​0 ​ = 0 mit
(das heißt a + b · ​√ –7 ​ ist eine ganzalgeb__ ganzzahligen Koeffizienten
__
raische Zahl in Q(​√ –7 )​ bzw. a + b · √
​ –7 ​ ist ein Element von ​W​​√ __
–7 ​​).
Wir sehen daran, dass durch die Rückführung der Symbole und Benennungen auf ihre
Bedeutung aus einem recht kurzen Satz eine ziemlich lange Erläuterung wird. Das ist in
der Mathematik (und nicht nur da) völlig normal – die Aufgabe von Bezeichnungen und
Symbolen ist es, recht kurze und einprägsame Sätze bilden zu können; so einen Satz kann
aber nur der verstehen, der aus den Bezeichnungen und Symbolen die ursprüngliche Bedeutung zurückgewinnen kann.
Der nächste Punkt auf unserem Programm besteht in einer genaueren Betrachtung von ​
W​​√ d ​​. Zunächst stellen wir fest, dass wir in ​W​​√ _d ​​ ganz normal addieren, subtrahieren und
multiplizieren können und dabei stets wieder Elemente aus ​W​​√ _d ​​erhalten. Dass hierbei die
gewohnten Rechenregeln gelten, bedarf nahezu keiner Erklärung – denn diese Regeln gelten in den komplexen Zahlen und übertragen sich natürlich auf die Teilmenge ​W​√​ _d ​ ​. Nur
mit der Division, deren Ergebnisse im allgemeinen nicht mehr in ​W​​√ _d ​​liegen, hapert es. Der
Mathematiker sagt an dieser Stelle „​W​​√ _d ​​ist ein Ring“ und meint damit genau das, was wir
eben gesagt haben8.
_
_
Teilbarkeit
__ und die Einheiten (Teiler der 1) des Ringes ​W​​√ d ​​ werden so wie im Beispiel ​
_
W​​√ –1 ​ ​= Z(​√ –1 ​) eingeführt, genauer: Sind a und b aus ​W​​√ d ​​, so heißt a ein Teiler von b, wenn
es eine Zahl g aus ​W​​√ _d ​​mit b = a · g gibt. Für von 0 verschiedene Zahlen a ist dies gleichbeb
deutend damit, dass g = —
in ​W​√​ _d ​ ​liegt. Eine Einheit a bzw. einen Teiler der 1 erkennt man
a
_
1
somit daran, dass der Kehrwert —
__ von Einheiten
a wieder ein Element von ​W​​√ d ​​ist. Beispiele
_
__
sind (in jedem ​W​​√ d ​​) die Zahlen 1 und –1. In ​W​​√ –1 ​ ​hatten sich bereits ± ​√ –1 ​ als weitere Ein__
Dedekinds Theorie der Ideale
heiten vorgestellt.
Für positive d ist die Angelegenheit nicht so einfach überschaubar. So ist
_
8 + 3 · ​√ 7 ​ eine Einheit in ​W​​√ _7 ​ ​, denn schließlich
liegt ihr
Kehrwert
_
_
_
_
8 –_ 3 · ​√ 7 ​
8
–
3
· ​
7 ​
8 – 3 · ​√ 7 ​
√
1 _ _________________
_______
_______
​ ​ = ​ _ ​ = ​ ​ = ​_______
​ = 8 – 3 · ​√ 7 ​
8 + 3 · ​√ 7 ​
wieder in ​W​​√ _7 ​​.
(8 + 3 · ​√ 7 ​) · (8 – 3 · ​√ 7 ​)
8​ ​2​ – ​3​2​ · 7
1
–
_
Die
_ Norm in ​W
_ ​​√ d ​​ erhalten wir auf
_ einem kleinen Umweg: Wir nennen die_Zahl a = a – b ·​
​ d ​konjugierte
Zahl. Die Konjugation in Q(​√ d ​) passiert daher
√ d ​die in Q(​√ d )​ zu a = a + b · √
_
_
„formal“, indem man die Lösung ​√ d ​der Gleichung ​x2​ ​ – d = 0 gegen die zweite Lösung – ​√ d ​
austauscht. Da wir ohnehin diese beiden Lösungen nicht recht auseinander
halten können,
_
sollte dieser Austausch für die Struktur des Rechenbereichs Q(​√ d )​ ohne weitere Auswirkung sein. Tatsächlich gelten die leicht nachrechenbaren Gleichungen
––––– – –
 a+b=a+b
_
––––– – –
a · b = a · b für alle a, b aus Q(​√ d )​ .
=
a=a
Jetzt setzen wir N_ (a) = a · a– als
Norm von
__ die
_ a fest; es gilt
_ daher
_
––––––––––

N (a + b · √
​ d )​ = (a + b · √
​ d) ​ · (a + b · √
​ d )​ = (a + b · √
​ d ​) · (a– b · √
​ d ​) = ​a2​ ​ – d​b2​ ​.
––––
–
– · b · –b = N (a) · N (b) erhalten wir diejeWegen N (a · b) = a · b · a · b = a · b · a– · b = a · a
__
nige Eigenschaft der Norm geschenkt, die uns schon in Z(​√ –1 )​ so hilfreiche Dienste erwiesen hat. Speziell gilt wieder, dass die Norm einer ganzalgebraischen Zahl eine gewöhnlich
ganze Zahl ist, und dass sich Teilbarkeit von Elementen aus ​W​​√ _d ​ ​ auf Teilbarkeit der Normen überträgt.
Weiterhin können wir feststellen, dass genau den Einheiten in ​W​​√ _d ​​ die Norm ±1 zu– = 1 folgt unmittelbar, dass a ein Teiler von 1 ist.
kommt. Klar, denn aus ± N(a) = a · (±a)
Umgekehrt teilt die Norm einer Einheit a die Norm von 1, was N(a) = ±1 nach sich zieht.
So gerüstet können wir das Eingangsbeispiel
dieses
__
__Abschnitts erneut in Angriff neh__
__
men und zeigen, dass die Elemente x + ​√ –2 ​und
x
– ​
–2 ​
für
ungerades
x
in
W
​
​
​​ = Z(​√ –2 ​)
√
​
–2 √
__
stets teilerfremd sind. Denn ist a __
= a + b · ​√ –2 ​ ein
gemeinsamer
Teiler
dieser
Zahlen,
so
__
__
teilt a auch deren Differenz (x + ​√ –2 ​) – (x – ​√ –2 ​) =__
2 · ​√ –2 .​ Somit muss die Norm
__
N(a) = N(a + b ·​√ –2 ​) = ​a2​ ​ + 2​b2​ ​
von a ein Teiler von N(2 · ​√ –2 ​) = 2 · ​2​2​ = 8 sein. Der Betrag der ganzen Zahlen a und b darf
daher
sein; eine nähere Inspektion liefert a = ±1 (also Einheiten), a = ±2, a =
__ nicht sehr groß__
±​√
–2 ​ und a = ±2 · ​√ –2 ​ als einzige Möglichkeiten.
__
__ Bis auf a = ±1 ergibt die Division von x +​
__
–2 ,​ x ≠ 0, durch
a
kein
Element
aus
W
​
​
​ =
Z(​
–2 ​), so dass jeder gemeinsame Teiler von x
√ __
√
​√ –2 ​
__
__ +​
√ –2 ​ und
__ x – ​√ –2 ​ eine Einheit ist. Das wiederum besagt gerade die Behauptung „x + ​√ –2 ​ und
x – ​√ –2 ​sind teilerfremd“.
65
66
Dedekinds Theorie der Ideale
2. Eulers Fehler, Kummers Ansatz und Dedekinds Ideale
2.1 Ein ernstes Problem
Wir fahren mit einem Problem fort, das dem im letzten Abschnitt geschilderten sehr ähnelt.
Gesucht sind diesmal sämtliche ganzzahligen Lösungen x und y der Gleichung ​x2​ ​ + 5 = ​y2​ ​,
d.h. wir stellen uns die Frage, wann ein um 5 vermehrtes Quadrat wieder ein Quadrat ist.
Wieder zerlegen wir die linke Seite mit__Hilfe der dritten binomischen Formel und erhalten
die folgende Gleichung in ​W​​√ __
–5 ​ ​ = Z(​√ –5 ​):
___
__
 ​y2​ ​ = (x + √
​ – 5 ​) · (x – ​√ –5 ​)
__
Auch den nächsten Schritt kennen wir gut:
​ –5 ​ein
__ Ist a = a +
__b · √
__ von den Einheiten ±1
verschiedener gemeinsamer Teiler von x + ​√ –5 ​und x – ​√ –5 ​in Z (​√
–5 ​), so sind jedenfalls a
__
und b von__0 verschieden, denn sonst ergibt die Division von x__
+ ​√ –5 ​durch
__a kein Element
__
von Z (​√ –5 ​). Außerdem ist a ein Teiler der Differenz __
(x + ​√ –5 ​) – (x – ​√ –5 ​) = 2 · ​√ –5 ;​ die
Norm N(a) = ​a2​ ​ + 5​b2​ ​muss dann ein Teiler
· ​√ –5 ​ = 20) sein. Solche ganzen Zahlen
__ von N(2 __
a und b gibt es aber nicht, womit x + ​√ –5 ​und x – ​√ –5 ​als teilerfremd enttarnt sind.
__
Wir zerlegen nun y innerhalb des Rechenbereichs Z(​√ –5 ​), in ein Produkt__von Primfak__
2
toren y = ​p​1 ​ · ​p​2 ​ · ... · ​p​n ​. Hieraus erhalten
wir ​y__
​ ​= ​p​1 2​​​ ​ · ​p​2 2​​​ ​ · ... · ​p​n 2​ ​ = (x + ​√ –5 ​) · (x – ​√ –5 ​).
__
Jeder der Primfaktoren teilt x + ​√ –5 ​ oder x – ​√ –5 ​ und aufgrund der Teilerfremdheit kann
keiner der Primfaktoren
beide Terme teilen. Sind
__
__nun etwa ​p​1 ​, ​p​2 ​,..., ​pk​ ​ diejenigen Primfaktoren,
die
x
+
​
–5 ​ teilen,
so
erhalten
wir
x
+
​
–5 ​ = ​p​1 2​​​ ​ · ​p​2 2​​​ ​ ·...· ​
p​k 2​ ​ = (​p​1 ​ · ​p​2 ​ ·...· ​p​k ​)2​ ​ und
√
√
__
__
__
x – ​√ –5 ​ = (​p​k+1 ​ · ​pk​ +2 ​ ·...· ​pn​ ​)2​ ​. Also ist x + ​√ –5 ​ ein Quadrat in Z(​√ –5 ​); wir finden daher ganze Zahlen a und b mit
__
__
__
x + ​√ –5 ​ = (a + b · √
​ –5 )​​ 2​ ​ = (​a2​ ​ – 5​b2​ ​) + 2ab · √
​ –5 ​.
__
Aus der letzten Gleichung folgt durch Vergleich der Faktoren vor √
​ –5 ​ aber die Bedingung 2ab = 1, was in den ganzen Zahlen einfach nicht zu machen ist. Daher gibt es überhaupt keine ganze Zahl x, für die ​x2​ ​ + 5 wieder eine Quadratzahl ist – oder doch?
In unserer Rechnung muss ein Wurm stecken! Setzen wir nämlich x = 2, so erhalten
wir wegen ​x2​ ​ + 5 = ​2​2​ + 5 = 9 = ​3​2​ doch eine ganzzahlige Lösung der Gleichung. Nun ist
nach erneuter sorgfältiger Prüfung die einzige faule Stelle in unserer Argumentation die,
an der wir y in „Primfaktoren“ zerlegt haben: Weder haben wir genau erläutert, was denn
eigentlich eine Primzahl ist, noch haben wir gezeigt, dass sich tatsächlich jede Zahl y als
Produkt solcher Primzahlen schreiben lässt. Klar, in den ganzen Zahlen kennen wir den
Begriff der Primzahl und auch die Zerlegung einer ganzen Zahl in Primfaktoren
ist uns
___
geläufig. Und wahr ist auch, dass sich unser neuer Zahlbereich Z(​√ – 5 ​) in vielerlei Hinsicht wie der alte Bereich der ganzen Zahlen verhält – aber eben nicht in jeder Hinsicht!
In dieser Beziehung verhält sich die Mathematik recht unwirsch: Solange wir den Begriff
der Primzahl in den neuen Rechenbereichen nicht unmissverständlich festgelegt haben,
dürfen wir auch keinerlei Aussagen über Primzahlen machen. Nach einer solchen Festle-
Dedekinds Theorie der Ideale
gung dürfen wir immer noch nicht sagen, dass „alles genauso wie in den ganzen Zahlen
geht“, sondern müssen vielmehr zum einen mit Hilfe der Begriffe klar formulierte Aussagen aufstellen und zum anderen deren Gültigkeit nachweisen.
2.2 „Unzerlegbare Zahl“ versus „Primzahl“
Wir übertragen zunächst den Begriff der „Primzahl“ aus der Welt der ganzen Zahlen in
die neue Welt des Rechenbereichs ​W​​√ _d ​ ​. Wie das zu geschehen hat, haben wir für den Fall
d = –1 bereits besprochen und bei dieser Gelegenheit auch schon angedeutet, dass wir zwei
verschiedene Festlegungen
__ des Wortes „Primzahl“ unterscheiden wollen (und, im Gegensatz zur Situation in Z(​√ –1 ​) , auch müssen). Hier nun der erste der zuständigen Begriffe:
Ein Element a von ​W​​√ _d ​ ​, das keine Einheit ist, heißt unzerlegbar oder irreduzibel 9 , wenn in
jeder Zerlegung a = b · g von a einer der beiden Faktoren eine Einheit ist.
Bitte passen Sie hierbei höllisch auf, in welchem Rechenbereich Sie sich
__befinden! So
__
ist zwar 2__
in Z irreduzibel,
aber
die
gleiche
Zahl
2
lässt
sich
in
W
​
​
=
​
Z(​
–1 ​) zerlegen
√
​√ –1 ​
___
___
___ in
__
__
2 = (1 + ​√ –1 ​) · (1 – ​√ –1 ​) . In ​W​​√ –2 ​​ = Z(​√ – 2 ​) ist 2 ebenfalls zerlegbar:
√ – 2 ​. In ​
___
___2 = (–​√ – 2 ​) · ​
___
W​​√ ___
​ =
Z(​
–
5 )
​
wiederum
ist
2
irreduzibel,
denn
ist
2
=
(a
+
b
·
​
–
5 )
​
·
(x
+
y
·
​
–
5 ​) eine
√
√
√
– 5 ​
Zerlegung, so zeigt die Betrachtung
der
Normen
___
___
N(2) = 4 = N(a + b · √
​ – 5 ​) · N(x + y · √
​ – 5 ​) = (​a2​ ​ + 5​b2​ ​) · (​x2​ ​ + 5​y2​ ​),
dass b und y gleich 0 sein müssen (sonst werden
_ die ganzzahligen Faktoren auf
_ der rech_
ten
Seite
der
Gleichung
zu
groß).
In
W
​
​
=
​
Z(​
3 )
​
dagegen
zeigt
2
=
(5
+
3
· ​
√
√ 3 ​) · (–5 + 3 · ​
​√ 3 ​ _
√ 3 ​) die Zerlegbarkeit von 2.
Jedenfalls bedeutet „irreduzibel“, dass die betreffende Zahl keine „echten“ Teiler besitzt, also genau die Eigenschaft besitzt, die innerhalb der ganzen Zahlen die Primzahlen
auszeichnet. Damit können wir die Zerlegung eines beliebigen Elements a des Rings ​W​​√ _d ​ ​
in irreduzible Faktoren genau wie in Z nachweisen: Entweder ist a bereits irreduzibel
(dann sind wir fertig) oder a lässt sich echt zerlegen in a = b · g. Die beiden Faktoren sind
entweder beide irreduzibel (dann sind wir fertig) oder einer der beiden (sagen wir g) lässt
sich wieder in ein Produkt von zwei Nicht-Einheiten j und y zerlegen. Im zweiten Fall
erhalten wir a = b · j ·y und machen so weiter wie oben: Entweder sind die drei Faktoren
irreduzibel, oder ... – und so weiter. Jetzt müssen wir nur noch dafür Sorge tragen, dass
dieses Verfahren irgendwann ein Ende findet 10, und haben zum Schluss die gesuchte
Zerlegung von a in irreduzible Faktoren dastehen. Da bei jedem Schritt des Verfahrens
ein Faktor hinzukommt, müssen wir hierfür uns nur vergewissern, dass die Anzahl n von
Nicht-Einheiten ​d1​ ​, ​d2​ ​,..., ​dn​ ​ in einer (beliebigen) Zerlegung a = ​d1​ ​ · ​d2​ ​ ·...· ​dn​ ​ von a nicht
67
68
Dedekinds Theorie der Ideale
beliebig groß werden kann. Da nur Einheiten die Norm ±1 haben, zieht aber die Zerlegung
a = ​d​1 ​ · ​d​2 ​ ·...· ​d​n ​eine Zerlegung N(a) = N(​d​1 ​) · N(​d​2 ​) ·...· N(​d​n ​) der Norm in echte Teiler N(​d​1 ​),
N(​d​2 ​),..., N(​d​n ​) nach sich – und diese Zerlegung findet innerhalb des Rechenbereichs der
ganzen Zahlen statt. Damit kann die Anzahl n irreduzibler Faktoren in a = ​d​1 ​ · ​d​2 ​ ·...· ​d​n ​
nicht größer sein als die Anzahl der (gewöhnlichen) Primfaktoren der ganzen Zahl N(a).
Wir fassen zusammen:
Jede Zahl a aus ​W​​√ _d ​​ lässt sich in ​W​​√ _d ​​ als Produkt a = ​d​1 ​ · ​d​2 ​ ·...· ​d​n ​ irreduzibler Faktoren​
d​1 ​, ​d​2 ​,..., ​d​n ​schreiben.
Diese Zerlegung ist aber nur ein schwacher Ersatz für die gewohnte Primfaktorzerle__
gung in den ganzen Zahlen! Schreiben wir die Zahl y innerhalb von Z(​√ –5 ​) als Produkt
y = ​p​1 ​ · ​p​2 ​ · ... · ​p​n ​irreduzibler Faktoren, so erhalten
​y2​ ​ = ​x2​ ​ + 5 selbstverständlich
___ wir aus ___
2
2
2
2
auch die Gleichung ​y​ ​ = ​​p​1 ​​ ​ · ​​p​2 ​​ ​ · ... · ​​p​n ​ ​ = (x +​√ – 5 ​) · (x –​
√ – 5 ​). Hieraus
___
___aber folgern zu
wollen, dass ​p1​ ​ ein Teiler einer der beiden Faktoren x + ​√ – 5 ​ oder x – ​√ – 5 ​ sein muss, ist
schlichtweg falsch. Unser (und übrigens auch Leonhard Eulers) Fehler liegt daher in dem
Irrtum, dass irreduzible Faktoren sich so verhalten wie Primzahlen:
Ein Element p von ​W​​√ _d ​​, das keine Einheit ist, heißt Primzahl in ​W​​√ _d ​​, wenn gilt: Teilt p ein
Produkt b · g , dann teilt p wenigstens einen der beiden Faktoren b oder g.
Jetzt müssen wir noch viel mehr darauf Acht geben, über welchen Rechenbereich wir
reden! So können wir über die Zahl 3 (die uns eben noch wohlvertraut und unkompliziert
vorgekommen ist) je nach Rechenbereich ganz unterschiedliche Aussagen treffen:
·
·
·
·
In den ganzen Zahlen und in ​W​​√ __
–1 ​​ist 3 sowohl irreduzibel
als auch eine Primzahl.
_
_
In ​W​​√ _7 ​ ​gilt 3 = (2 + ​√ 7 ​) · (–2 + ​√ 7 ​) und damit ist 3 nicht irreduzibel
und auch keine Primzahl.
_
In ​W​​√ _3 ​​ist 3 „sogar“ ein Quadrat: 3 = (​√ 3 )​​ 2​ ​und damit ebenfalls weder
irreduzibel noch eine Primzahl.
In ​W​√​ __
–5 ​ ​ist 3 zwar irreduzibel, aber trotzdem keine Primzahl,
was wir etwas weiter unten begründen werden.
Bei diesen verschiedenen Möglichkeiten ist es tröstlich zu wissen, dass jede Primzahl
p in ​W​​√ _d ​ ​ auch irreduzibel zu sein hat. Ist nämlich p = b · g eine Zerlegung, so teilt p das
Produkt b · g und damit auch einen der Faktoren, sagen wir g. Damit erhalten wir g = d · p
und damit wiederum durch Einsetzen p = b · g = b · d · p. Kürzen liefert nun 1 = b · d, womit der Faktor b der Zerlegung p = b · g als Einheit enttarnt ist.
Dedekinds Theorie der Ideale
Umgekehrt gilt das nicht! Ist nämlich p lediglich irreduzibel, und teilt p das Produkt
b · g, so erhalten wir hieraus die Gleichung a · p = b · g mit
___ passendem a. Und bei dieser
Gleichung hängen wir fest. Hierzu ein Beispiel aus Z(​√ – 5 ​), das wir in kleinen Schritten
untersuchen:
___
Zunächst stellen wir
fest,
dass
es
in
Z(​
– 5 ​) keine Zahl mit___
Norm 3 gibt.
√
___
Wäre nämlich a + b · ​√ – 5 ​ eine derartige Zahl, so ist N(a + b · ​√ – 5 ​) = ​a2​ ​ + 5​b2​ ​ = 3. Da a und
b ganze Zahlen sind, muss b = 0 gelten, da anderenfalls schon 5​b​2​wenigstens 5 betragen
würde. Aus b = 0 folgt aber ​a2​ ​ = 3, was für keine ganze Zahl a gelten kann.
___
Damit
erhalten wir, dass 3 in Z(​√ – 5 ​) irreduzibel ist, denn jede Zerlegung 3 = a · b in
___
Z(​√ – 5 ​) zieht eine entsprechende Zerlegung 9 = N(3) = N(a) · N(b) der Normen nach sich.
Da keine Zahl die Norm 3 haben kann, muss eine der beiden Normen N(a) und N(b) gleich
1 sein – damit ist aber
a beziehungsweise
b eine Einheit.
___ das entsprechende Element
___
___
Nun teilt 3 in Z(​√ – 5 ​) das Produkt (2 + ​√ – 5 ​) · (2 – ​√ – 5 ​), was wir direkt aus der Gleichung
___
___
3 · 3 = 9 = (2 + ​√ – 5 ​) · (2 – ​√ – 5 ​)
ablesen. Da der Quotient
___
___
2______
± ​√ – 5 ​ 2_ 1_
 ​
​ = ​3 ​ ± ​3 ​ · ​√ – 5 ​
3
___
___
nicht in Z(​√ – 5 ​) liegt, ist 3 aber kein Teiler von 2 ± ​√ – 5 ​. Wir erhalten insgesamt:
___
In Z(​√ – 5 ​) ist die Zahl 3 zwar irreduzibel, aber keine Primzahl.
___
Es ist sogar schlimmer: Keine einzige Primzahl___
in Z(​√ – 5 ​) teilt 3. Denn wäre p so ein
Teiler, so wäre 3 = a · p mit passendem a aus Z(​√ – 5 ​). Da 3 irreduzibel ist, wäre dann a
eine Einheit und 3 doch eine Primzahl – ist es aber nicht.
2.3 Kummers Idee: Die idealen Teiler
___
___
___
Es ist an der Zeit, die uns in Z(​√ – 5 ​) so ärgernde Gleichung 3 · 3 = 9 = (2 + ​√ – 5 ​) · (2 – ​√ – 5 ​) nochmals genau zu betrachten.
Unsere Schwierigkeiten rühren von der Tatsache her, dass
___
sich die Zahl 9 in Z(​√ – 5 ​) auf zwei wesentlich verschiedene Arten in irreduzible Faktoren
zerlegen lässt, die allesamt keine Primzahlen sind. Dagegen hätten wir erwartet, dass es
zwei Zahlen j und y gibt, die den Bedingungen
j · y = 3 ___
​j​2​ = 2 + ​√ ___
– 5 ​
2
​y​ ​ = 2 – ​√ – 5 ​
genügen – dann nämlich wäre
___
___
​3​2​ = (j · y​)2​ ​ = ​j2​ ​ · ​y2​ ​ = (2 + ​√ – 5 ​) · (2 – ​√ – 5 ​).
69
70
Dedekinds Theorie der Ideale
___
Solche Zahlen gibt es (allerdings natürlich nicht in Z(​√ – 5 ​)):
__

___
__
___
​√ 10 ​ + ​√ – 2 ​
​√ 10 ​ – ​√ – 2 ​
j = ​________
​ und y = ​________
​
2
2
4
2
erfüllen sämtliche Anforderungen und sind zudem als Lösungen der Gleichung
___ ​x​ ​ – 4 · ​x​ ​ +
9 = 0 ganzalgebraische Zahlen. Mit dieser Zerlegung verlassen wir aber Q(​√ – 5 ​) und gehen
in einen nicht-quadratischen Zahlkörper, in dem das Hantieren mit ganzalgebraischen
Zahlen noch viel schlimmer wird.
Diese Beobachtung machte auch der Mathematiker Ernst Eduard Kummer (1810-1883). Sein Lösungsvorschlag in dieser Situation war ebenso einfach wie wirkungsvoll: Anstelle die Zerlegung 3 =
j · y mit konkreten Werten für j und y anzugeben,
nehmen wir diese Symbole einfach mit dazu und
sprechen von „idealen Teilern“ (im Gegensatz zu
den „realen“, wirklich vorhandenen Teilern).
Glücklicherweise kennen wir dieses Erweitern
eines Zahlbereichs ja schon vom Übergang von
den rationalen Zahlen zu einem der algebraischen
Zahlkörper, so dass wir uns Einzelheiten ersparen können. Auch wollen wir an dieser Stelle keine Rechenschaft darüber ablegen, ob es in jeder
Ernst Eduard Kummer (1810–1883)
ähnlichen Situation eine derartige Erweiterung
überhaupt gibt. Stattdessen sehen wir uns an, wie die Vermeidung von unangenehmen
Rechnungen mit konkreten Zahlen erst der Auslöser für ein vertieftes Verständnis eines
mathematischen Sachverhaltes ist – wie so häufig!
Wir stellen uns daher___vor, wir hätten eine passende Erweiterung (nennen wir sie K)
des Rechenbereichs Q(​√ – 5 ​) gefunden, in dem es einen vernünftigen
Begriff von „ganzen
___
Zahlen“ gibt. Hierbei soll natürlich jedes Element von Z(​√ – 5 ​) nach wie___
vor als ganze Zahl
angesprochen
werden.
Umgekehrt
soll
jede
in
K
ganze
Zahl,
die
zu
Q(​
–
5 ​) gehört, bereits
√
___
in Z(​√ – 5 ​) liegen. Zu guter letzt möge es in K ganze Zahlen j und y geben, die folgende
Gleichungen erfüllen:
____
___
j · y = 3, ​j2​ ​ = 2 + ​√ – 5 ​ und ​y2​ ​ = 2 – ​√ – 5 ​.
___
Wir sehen uns den gemeinsamen „idealen Teiler“ j von 3 und 2 + ​√ – 5 ​ an. Da uns
der neue Rechenbereich
K nicht wirklich etwas angeht, wollen wir von j auch nur die
___
„Schatten“
in
Q(​
–
5 )
​
sehen.
Vor allen Dingen interessiert uns, welche Zahlen g aus
√
___
Z(​√ – 5 ​) durch j teilbar sind – aber das, bitteschön, wollen wir in unserem Rechenbereich
Dedekinds Theorie der Ideale
___
Q(​√ – 5 ​) feststellen können! Damit taugt der Ansatz „g ist durch j teilbar, falls g = j · ϑ ___
mit
einer ganzen Zahl ϑ gilt“ für unsere Zwecke nichts, weil wir ein derartiges ϑ in Q(​√ – 5 ​)
nicht___
finden. Jetzt hilft nur noch ein Trick: Wir multiplizieren die Gleichung g = j · ϑ mit
2 – ​√ – 5 ​= ​y2​ ​und erhalten
___
g · (2–​√ – 5 ​) = j · ϑ · ​y2​ ​= (j · y) · (ϑ · y) = 3 · (ϑ · y).
Als Produkt ganzer Zahlen ist ϑ · y ebenfalls eine ganze Zahl. Außerdem lesen wir ab,
___
dass
g · (2–​√ – 5 ​)
ϑ · y = ​ ________
​
3
___
___
ein Element von Q(​√ – 5 ​) ist, da die rechte Seite nur mit Zahlen aus ___
Q(​√ – 5 ​) gebildet wird.
Vereinbarungsgemäß
sind
die
in
K
ganzen
Zahlen,
die
auch
in
Q(​
–
5 ​) liegen, bereits Ele√
___
mente von Z(​√ – 5 ​). Rekapitulieren wir:
___
Der gemeinsame „ideale Teiler“
dann ein Teiler einer belie___ j von 3 und 2 + ​√ – 5 ​ ist genau ___
bigen ganzen
Zahl g aus Z(​√ – 5 ​) , wenn 3 ein Teiler
von g · (2–​√ – 5 ​) ist. Ob 3 aber ein Teiler
___
___
g · (2–​√ – 5 ​) ist oder nicht, das können wir in Z(​√ – 5 ​) überprüfen!
___
___
Dazu nehmen wir eine Zahl g = x + y · ​√ – 5 ​. Ist nun 3 ein Teiler von g · (2–​√ – 5 ​), so liegt
die Zahl
___
___
___
___
+y·√
​ – 5 ​) · (2 – ​√ – 5 ​)
2x + 5y 2y
–x
g ________
· (2–​√ – 5 ​) (x
 ​
​ = ​__________________
​ = ​______
​ + ​____
​ · ​√ – 5 ​
___
3
3
3
3
in Z(​√ – 5 ​). Dann müssen die beiden Zahlen 2x + 5y = (2y – x) + 6x und 2y – x durch 3 teilbar sein. Dies wiederum ist offenbar genau dann der Fall, wenn 2y – x ein Vielfaches von
3 ist. Nochmals geben wir eine Zusammenfassung:
___
___
Genau die Zahlen g = x + y · ​√ – 5 ​ aus Z(​√ – 5 ​), bei denen 2y – x ein Vielfaches von 3 ist,
werden durch den „idealen Faktor“
j geteilt. Wir nennen die Menge dieser Zahlen I und
___
beachten, dass I ganz in Z(​√ – 5 ​) enthalten ist.
Statt___
des „idealen Faktors“ j können
wir daher die Menge I der durch j teilbaren Zahlen aus
___
Z(​√ – 5 ​) betrachten, ohne Z(​√ – 5 ​) zu verlassen. Dedekinds wirklich geniale Leistung, auf die
wir im nächsten Abschnitt zu sprechen kommen, besteht nun, derlei von „idealen Teilern“ herrührenden
Teilmengen zu kennzeichnen – und das nur mit Ausdrücken, für deren Beschreibung
___
Z(​√ – 5 ​) völlig ausreichend sind.
2.4 Dedekinds Geniestreich: Die Geburt des Idealbegriffs
Wir betrachten nunmehr wieder den Zahlbereich ​W ​​√ _d ​​. In diesem nehmen wir eine Teilmenge I her, die aus denjenigen Zahlen besteht, die von einer – sei es „idealen“ oder
71
72
Dedekinds Theorie der Ideale
„gewöhnlichen“ – Zahl j geteilt wird. Eine derartige Teilmenge nennt Dedekind ein Ideal
von ​W​​√ _d ​ ​. Dedekind stellt nun fest, welche wesentlichen Eigenschaften eine solche Menge
haben sollte:
1.) Die Null wird von j geteilt.
2.) Mit zwei Zahlen werden auch Summe und Differenz durch j geteilt.
3.) Mit einer Zahl werden auch beliebige Vielfache dieser Zahl durch j geteilt.
Das können wir unmittelbar übersetzen:
Eine Teilmenge I von ​W​​√ _d ​ ​heißt ein Ideal, wenn folgende Forderungen erfüllt sind:
1.) Die Null liegt in I.
2.) Sind a und b aus I, so liegen auch Summe a + b und Differenz a – b wieder in I.
3.) Ist a aus I und ist g ein beliebiges Element von ​W​​√ _d ​​, so liegt das Produkt a · g in I.
Die bislang gelernten Begriffe wollen wir jetzt Stück für Stück in eine neue Sprache
übersetzen, in der die Ideale die Hauptrolle spielen. Zunächst stellen wir fest, welche Ideale den Zahlen j aus ​W​​√ _d ​​entsprechen:
Ist j eine Zahl aus ​W​​√ _d ​​, so bezeichnet j · ​W​​√ _d ​​ die Menge aller Vielfachen j · a ; a aus ​
W​​√ _d ​ ​. Dann ist j · ​W​​√ _d ​ ​ein Ideal 11 .
Ideale dieser Form bezeichnen wir als die Hauptideale von ​W​​√ _d ​​.
Um mit dem neuen Begriff recht gut vertraut zu werden, sehen wir uns als Beispiel einige Hauptideale in dem Rechenbereich Z der ganzen Zahlen 12 an. Dort haben wir etwa
das Hauptideal 2 · Z, das aus allen Vielfachen der 2 und damit aus allen geraden Zahlen
besteht:
2 · Z : ..., –14, –12, –10, –8, –6, –4, –2, 0, 2, 4, 6, 8, 10, 12, 14, ...

An dieser Stelle ist anzumerken, dass das zu –2 gehörende Hauptideal genau die gleichen Zahlen enthält. Ganz allgemein können wir sagen, dass die Hauptideale zu zwei
Zahlen a und b genau dann gleich sind, wenn sich a und b nur um eine Einheit unterscheiden (also b = a · g mit einer Einheit g gilt).
Ein weiteres Hauptideal ist das zur Zahl 6 gehörende, das die durch 6 teilbaren Zahlen enthält:
 6 · Z : ..., –24, –18, –12, –6, 0, 6, 12, 18, 24, ...
Jede durch 6 teilbare Zahl ist natürlich erst recht durch 2 teilbar. Daher ist es kein Wunder, dass 6 · Z eine Teilmenge von 2 · Z ist. Und das gilt nicht nur speziell für die Zahlen
Dedekinds Theorie der Ideale
2 und 6 oder nur in den ganzen Zahlen, sondern ganz allgemein für die zu zwei Elementen
j und y aus ​W​​√ _d ​ ​gehörenden Hauptideale j · ​W​​√ _d ​​beziehungsweise y · ​W​​√ _d ​ ​: Ist j ein Teiler
von y, so ist jedes Vielfaches von y erst recht ein Vielfaches von j. In diesem Fall umfasst
daher j · ​W​​√ _d ​​das Ideal y · ​W​​√ _d ​ ​. Ist umgekehrt y · ​W​​√ _d ​​eine Teilmenge von j · ​W​​√ _d ​​, so liegt
insbesondere y = y · 1 in j · ​W​​√ _d ​​, womit y ein Vielfaches von j beziehungsweise j ein Teiler von y ist. Kurz und griffig können wir für die Ideale sagen: Teilen heißt umfassen.
Um nun den Begriff der Teilbarkeit ganz allgemein für sämtliche Ideale einzuführen, lassen wir uns von der eben beobachteten Situation leiten:
Sind I und J zwei Ideale von ​W​​√ _d ​​, so heißt I ein Teiler von J, wenn J in I enthalten ist.
2.5 Der Idealbegriff auf dem Prüfstand
Nachdem wir die Teilbarkeit von Zahlen mit Hilfe der Hauptideale ausdrücken können, haben wir hoffentlich ein wenig Zutrauen zu dem Begriff gefasst. Aber trotzdem haben wir
Ideale nicht für diese wohlvertraute Situation eingeführt, sondern wollten damit eine Präzisierung des Begriffs des „idealen Teilers“ von Kummer in der Hand haben. Daher ist es
an der Zeit, dem neuen Begriff in dieser Beziehung sehr genau auf den Zahn zu fühlen.
Wir erinnern
Abschnitt 2.3: Dort hatten wir festgestellt, dass
___ uns an das Beispiel im ___
___
in ​W​√​ – 5 ​ ​ = Z(​√ – 5 ​) die Zahlen 3 und 2 + ​√ – 5 ​einen gemeinsamen „idealen Teiler“ j besitzen.___
Weiterhin haben wir uns überlegt, dass___
die Menge I der durch j teilbaren Zahlen aus
Z(​√ – 5 ​) genau aus denjenigen g = x + y · ​√ – 5 ​ besteht, bei denen der Ausdruck 2y – x ein
Vielfaches von 3 ist. Wenn die Ideale nun tatsächlich etwas mit „idealen Teilern“ zu tun haben sollten, dann müssen sich in dieser Situation folgende Behauptungen zeigen lassen:
___
1.) Die Menge I der durch j teilbaren Zahlen ist ein___
Ideal in Z(​√ – ___
5 ​).
___
2.) Das Ideal I ist ein Teiler der Hauptideale 3 · Z(​√ – 5 ​) und (2 + ​√ – 5 ​) · Z(​√ – 5 ​).
___
Zu 1.) Die Menge I besteht aus genau denjenigen Zahlen g = x + y · ​√ – 5 ​, bei denen 2y – x
ein Vielfaches von 3 ist. Für diese Menge können wir die drei Idealeigenschaften schlicht
und einfach nachrechnen:
___
· Die Null 0 + 0 · ​√ – 5 ​liegt
= 0 ist durch 3 teilbar.
___in I, denn 2 · 0 – 0___
· Stammen a = x + y · ​√ – 5 ​ und b = u + v · √
​ – 5 ​ aus I, so sind 2y – x und 2v – u
durch 3 teilbar. Dann ist auch 2(y ± v) –___
(x ± u) = (2y – x) ± (2v – u) durch 3 teilbar.
Daher liegt a ± b = (x ± u) + (y ± v) · ​√ – 5 ___
​ebenfalls in I.
· Wir betrachten
ein
Element
g
=
x
+
y
·
​
– 5 ​ aus I sowie eine beliebige Zahl a =
√
__
___
a + b · ​√ –5 ​aus Z(​√ – 5 ​). Zu zeigen ist, dass auch das Produkt a · g = (xa – 5yb) +
73
74
Dedekinds Theorie der Ideale
___
(xb + ya) · ​√ – 5 ​wieder zu I gehört: Zu diesem Zweck berechnen wir 2 · (xb + ya)
– (xa + 5yb) = (2y – x) · (a – 2b) + 9yb und stellen fest, dass dieser Ausdruck durch
3 teilbar ist, da 2y – x ein Vielfaches von 3 ist. Damit liegt a · g in der Tat in I.
Wie gewünscht haben wir die Idealeigenschaften von I nachgerechnet.
___
___
Zu 2.) Die Zahlen 3 = 3 + 0 · ​√ – 5 ​ und 2 + ​√ – 5 ​ liegen beide im Ideal I. Damit liegt jedes
Vielfache___
dieser Zahlen wieder
in ___
I (dritte Idealeigenschaft). Demnach sind die Hauptidea___
le 3 ·___
Z(​√ – 5 ​) und (2 + ​√ – 5 ​) ___
· Z(​√ – 5 ​) ___
in I enthalten – und somit I ein Teiler sowohl von 3
· Z(​√ – 5 ​) als auch von (2 + ​√ – 5 ​) · Z(​√ – 5 ​).
Wir stellen fest, dass der Idealbegriff
hat, denn
___die erste Probe voll und
___ganz bestanden
___
I ist ein Ideal, das sowohl A = 3 · Z(​√ – 5 ​) als auch B = (2 + ​√ – 5 ​) · Z(​√ – 5 ​) teilt. Darüber
hinaus wollen wir uns überlegen, dass I sogar ___
der größte gemeinsame Teiler ist. Dazu betrachten wir ein beliebiges Element g = x + y · ​√ – 5 ​ von I und erinnern uns, dass dann 2y – x
ein Vielfaches von 3 ist. Daher
+ 3n und erhalten
___ finden wir eine ganze
___ Zahl n mit x = 2y
___
g = x + y · ​√ – 5 ​= (2y + 3n) + y · ​√ – 5 ​ = n · 3 + y · (2
+ ​
–
5 ​).
√
___
Als Vielfaches von 3 liegt
der zweite
___ der erste Summand in A = 3 · Z(​
___√ – 5 ​), während
___
als Vielfaches von (2 + ​√ – 5 ​) aus dem Hauptideal B = (2 + ​√ – 5 ​) · Z(​√ – 5 ​) stammt. Jedes
Element g aus I lässt sich daher als Summe g = a + b mit a aus A und b aus B schreiben.
Ist umgekehrt a aus A und b aus B, so liegen a und b in I (denn A und B sind in I enthalten). Damit ist auch a + b ein Element aus I. Daher besteht I genau aus den Summen a +
b, mit a aus A und b aus B, wofür wir symbolisch I = A + B schreiben wollen. Ist nun J ein
beliebiger gemeinsamer Teiler von A und B, so sind A und B und damit natürlich auch die
Summe A + B Teilmengen von J – folglich teilt J das Ideal A + B. Kurzum:
___
___
___
Das Ideal I = A + B___
= 3 · Z(​√ – 5 ​) + (2 + ​
√ – 5 ​) · Z(​
√ – 5 ​) ist der größte gemeinsame Teiler der
___
___
Ideale A = 3 · Z(​√ – 5 ​) und B = (2 + ​√ – 5 ​) · Z(​√ – 5 ​).
___
___
Genauso
erhält man den größten
· Z(​√ – 5 ​) + (2 – ​√ – 5 ​) ·
___
___gemeinsamen Teiler
___ J = 3 ___
Z(​√ – 5 ​) der Hauptideale A = 3 · Z(​√ – 5 ​) und
C
=
(2
– ​
–
5 )
​
·
Z(​
–
5 ​); Nachrechnen zeigt
√
√
___
dann, dass J aus genau denjenigen x + y · ​√ – 5 ​besteht, bei denen 2y + x durch 3 teilbar ist.
2.6 Primideale und ein Ergebnis von Dedekind
Um den Begriff „Primideal“ einführen zu können, müssen wir noch kurz erläutern,
was wir unter dem Produkt A · B zweier Ideale A und B von ​W​​√ _d ​ ​ verstehen wollen. Ähnlich wie bei der im letzten Abschnitt erwähnten Summe könnten wir natürlich sämtliche
Produkte a · b mit a aus A und a aus B in einer Menge sammeln – dummerweise ist das
Dedekinds Theorie der Ideale
Ergebnis im allgemeinen kein Ideal mehr. Man kann nun mit einigen Überlegungen feststellen, dass man zusätzlich noch sämtliche Summen derartiger Produkte mit hinzunehmen muss; dann ist das Produktideal A · B wirklich ein Ideal.
Die Rolle der 1 beim Rechnen mit Idealen wird von dem Hauptideal ​W​​√ _d ​ ​= 1 · ​W​​√ _d ​​
übernommen, das natürlich jedes Ideal teilt. Ein zweites, manchmal recht ärgerliches Ideal
ist das Nullideal, das – wie der Name andeutet – lediglich die Zahl 0 enthält. Wir wollen ein
von ​W​​√ _d ​​und vom Nullideal verschiedenes Ideal in Zukunft als echtes Ideal bezeichnen.
Die folgende Festlegung sollte jetzt auf der Hand liegen:
Ein echtes Ideal P heißt Primideal, wenn gilt: Teilt P das Produkt A · B zweier Ideale A und
B, so teilt P eines der beiden Ideale.
Hierzu gleichwertig ist: Liegt ein Produkt a · b in P, so liegt wenigstens einer der Faktoren
ebenfalls in P.
Natürlich sollte wenigstens das zu einer Primzahl p aus ​W​​√ _d ​​ gehörende Hauptideal
p · ​W​√​ _d ​​stets ein Primideal sein. Das stimmt auch! Ist nämlich das Produkt a · b aus p · ​W​​√ _d ​​,
so ist (nach Definition der Hauptideale) p ein Teiler von a · b. Da p eine Primzahl ist, teilt p
eine der beiden Faktoren, etwa a. Damit gehört a zu p · ​W​​√ _d ​​und wir haben alles gezeigt.
In dem Rest dieses Abschnitts wollen wir lediglich festhalten, dass der Idealbegriff in
Zusammenhang mit den ganzalgebraischen Zahlen tatsächlich als Ersatz für die – nicht
in jedem ​W​​√ _d ​ ​vorhandene – eindeutige Primfaktorzerlegung eingesetzt werden kann. Das
ist (meiner Einschätzung nach) auch dasjenige Resultat Richard Dedekinds, das am Beginn einer wahrhaft stürmischen Entwicklung der algebraischen Zahlentheorie wie auch
der abstrakten Algebra stand, und das sich seinen Platz in der Geschichte der Mathematik gesichert hat.
Resultat (Dedekind): Ist d eine quadratfreie Zahl, so lässt sich jedes echte Ideal A von ​W​​√ _d ​​
eindeutig als Produkt von Primidealen schreiben.
Die gleiche Aussage gilt ganz allgemein im Ganzheitsring eines algebraischen Zahlkörpers13 und noch allgemeiner in der Klasse der „Dedekindringe“.
Mit Hilfe des Idealbegriffs können wir sogar sagen, wann wir in ​W​​√ _d ​​den Satz über die
eindeutige Zerlegung in Primfaktoren erwarten dürfen. Das ist so schwierig nicht – jede
Zahl aus ​W​√​ _d ​ ​ lässt sich als Produkt von „idealen Primfaktoren“ schreiben (das besagt ja
das oben aufgeführte Resultat von Dedekind). Wenn daher alle „idealen Primzahlen“ (also
Primideale) „tatsächliche Zahlen“ (also Hauptideale) sind, so ist alles klar. Es gilt sogar:
75
Dedekinds Theorie der Ideale
Resultat: Genau dann ist jedes Element a aus ​W​​√ _d ​​ eindeutig in ein Produkt von Primelementen zerlegbar, wenn jedes Ideal von ​W​​√ _d ​ ​ein Hauptideal ist.
Sollte tatsächlich jedes Ideal ein Hauptideal sein, so nennt man ​W​​√ _d ​​ kurz und bündig einen Hauptidealring. Beispiele für solche ​W​​√ _d ​​sind
___
1.) der Ring der ganzen Gaußschen Zahlen ​W​​√ __
​),
–1 ​​ = Z(​√ – 1 1______
+ ​√ – 3 ​
2.) der Ring der Eisensteinzahlen ​W​​√ __
​ , und nicht zuletzt
–3 ​ ​ = Z ​
2
3.) der Ring der ganzen Zahlen Z.
___
13
13
76
In diesen drei Rechenbereichen ist also jede Zahl eindeutig in Primfaktoren zerlegbar.
Ein Gegenbeispiel, nämlich ​W​​√ ___
– 5 ​ ​, haben wir ebenfalls kennen gelernt. Eine allgemeine
Antwort auf die Frage, für welche d der Rechenbereich ​W​​√ __d ​ ​ ein Hauptidealring ist und für
welche nicht, muss ich schuldig bleiben – es gibt derzeit keine Antwort! Natürlich interessieren sich gerade die Algebraiker und die Zahlentheoretiker brennend für eine solche
Antwort, so dass wir mit der Frage am aktuellen Rand der Forschung stehen.
2.7 Die Ideale bewähren sich – zum zweiten
___
Kehren wir ein letztes Mal zum Rechenbereich
Z(​√ – 5 ​) ___
und seinen Idealen
___
___
I = 3 · Z(​√ –___
5 ​) + (2 + ​√ ___
– 5 ​) · Z(​√ ___
– 5 ​)
J = 3 · Z(​√ – 5 ​) + (2 – ​√ – 5 ​) · Z(​√ – 5 ​)
zurück. Beide Ideale sind sogar Primideale, wie wir es von I sofort nachweisen werden
(und
gleiche Weise nachrechnen könnten):
Liegt nämlich das Produkt (a + b
___ von J auf die
___
___
·√
​ – 5 ​) · (x + y · √
​ – 5 ​) = (ax – 5by) + (ay + bx) · ​√ – 5 ​ in I, so ist 3 ein Teiler der Differenz 2 ·
(ay + bx) – (ax – 5by) = – (2b – a) · (2x – y) + 9by. Daher muss 3 auch ein Teiler von (2b – a)
· (2x – y) sein. Hier ist die Teilbarkeit in den ganzen Zahlen gemeint, und dort ist 3 eine
Primzahl und teilt folglich einen
___ der beiden Faktoren, etwa den ersten (2x – y). Das wiederum bedeutet, dass x + y · ​√ – 5 ​in I liegt, was den Beweis beendet.
Mit ein wenig Rechnerei (die wir hier
___weglassen wollen) ergibt sich noch für die Produkte:
I · J = 3 · Z(​√___
– 5 ​)
___
I · I = (2 + ​√ –___
5 ​) · Z(​√ –___
5 ​)
J · J = (2 – ​√ – 5 ​) · Z(​√ – 5 ​)
Wunderbar! Wir haben mit den Idealen
___ I und J also tatsächlich einen vollen Ersatz für die
Zerlegung der Zahlen 3 und 2 ± ​√ – 5 ​ in ihre „idealen Primfaktoren“ gefunden. Schöner
kann man sich das nicht mehr wünschen – die Ideale haben ihre erste Probe sogar mit
Auszeichnung bestanden!
Dedekinds Theorie der Ideale
3. Epilog: Ideale und Zahlbereichserweiterungen
Einen auf den ersten Blick seltsam anmutenden Rechenbereich erhält man so: Die einzigen Zahlen sind 0 und 1, mehr gibt es nicht. Die Addition und Multiplikation dieser beiden Zahlen entnimmt man den folgenden Tabellen:
+
0
1
0
0
1
1
1
0
·
0
1
0
0
0
1
0
1
So sonderbar ist es dann doch nicht, denn bis auf die Gleichung 1 + 1 = 0 ist alles wohlvertraut. Wenn Sie sich ein wenig mit digitalen Schaltungen auskennen, so haben Sie ohnehin bereits die Multiplikation als das logische „Und“ sowie die Addition als „ExklusivOder“ erkannt. Damit bekommt man eine Ahnung vom Nutzen dieses Rechenbereichs,
denn was sich als Schaltung realisieren lässt, das kann man für automatische Verfahren
nehmen. Es wundert uns daher nicht, dass der oben eingeführte Rechenbereich bei den
Computern eine wesentliche Rolle spielt.
Dennoch wollen wir einen mathematischen Standpunkt einnehmen. Genauso, wie der
Informatiker die 0 mit „fast keine Spannung“ und die 1 mit „viel Spannung“ übersetzt,
werden auch wir die beiden Symbole mit Bedeutungen belegen, indem wir die Symbole 0
und 1 durch die Worte „eine gerade Zahl“ (für 0) beziehungsweise „eine ungerade Zahl“
(für 1) ersetzen. So wird aus der Gleichung „1 + 0 = 1“ der Satz „eine ungerade Zahl plus
eine gerade Zahl ergibt eine ungerade Zahl“, während sich „0 · 1 = 0“ als das altvertraute
„gerade mal ungerade gleich gerade“ entpuppt. Auf diese Weise ist dann die Gleichung 1
+ 1 = 0 auch keine Ungeheuerlichkeit mehr, sondern lediglich die Kurzschreibweise der
Aussage „die Summe zweier ungerader Zahlen ist stets gerade“.
Hinter dieser Interpretation steht eine recht grobe Einteilung der ganzen Zahlen in
zwei Schubladen, nämlich die der geraden Zahlen und die der ungeraden Zahlen. Auf andere Weise ausgedrückt gelten zwei Zahlen als gleich, wenn sie beide gerade oder wenn sie
beide ungerade sind. Aus der Schublade der ungeraden Zahlen nimmt man deren prominentesten Vertreter, die 1, und rechnet zunächst 1 + 1 = 2. Anschließend sieht man, dass
das Ergebnis 2 aus der geraden Schublade stammt und ersetzt es durch deren Vertreter,
die 0. Das führt insgesamt auf die Gleichung 1 + 1 = 0.
Die Einteilung von Zahlen in „Schubladen“ und das anschließende Rechnen mit Repräsentanten dieser Schubladen erscheint daher eine wirklich nette Angelegenheit zu sein.
Voraussetzung ist allerdings, dass die Schubladen nicht allzu willkürlich gewählt werden
– sonst können wir nicht erwarten, dass etwas Sinnvolles entsteht. Wie sinnlos so etwas
werden kann, sehen wir anhand einer anderen Einteilung der ganzen Zahlen, diesmal in
Primzahlen und Nicht-Primzahlen. Damit geraten wir in ungeheure Schwierigkeiten, denn
77
78
Dedekinds Theorie der Ideale
nehmen wir die 2 und 3 aus der Schublade der Primzahlen, so liegt deren Summe 5 wieder
in dieser Schublade. Haben wir dagegen nach dem Griff in die Primzahlenschublade die
Zahlen 7 und 13 in der Hand, so erhalten wir als Summe 20 und somit eine Nicht-Primzahl.
Unser Schubladendenken führt völlig in die Irre, denn keine der beiden Aussagen „Primzahl plus Primzahl gleich Primzahl“ beziehungsweise „Primzahl plus Primzahl gleich NichtPrimzahl“ ist uneingeschränkt richtig.
Wir stellen uns natürlich die Frage, welche Schubladeneinteilungen der ganzen Zahlen
überhaupt zu einer vernünftigen Addition und Multiplikation führen. Vor der endgültigen
Antwort sehen wir uns nochmals den eingangs beschriebenen Rechenbereich an, der die
Zahlen in gerade und ungerade Zahlen unterteilt. Diese Einteilung können wir auch folgendermaßen beschreiben: Zwei Zahlen liegen in der gleichen Schublade, wenn ihre Differenz durch 2 teilbar ist, beziehungsweise wenn ihre Differenz im Ideal 2 · Z liegt. Genau
das ist dann auch die geeignete Bedingung, die wir verallgemeinern können! Wir nehmen
irgendein Ideal I zur Hand und erklären zwei Zahlen a und b zu derselben Schublade gehörend, wenn ihre Differenz im Ideal I liegt, oder – was die gleiche Tatsache ausdrückt
– wenn sich a und b nur durch ein Element von I unterscheiden: a = b + g mit g aus I. In
diesem Fall nämlich können wir aus zwei Schubladen ganz beliebige Elemente a und b
herausgreifen – die Summe a + b liegt immer in der gleichen Schublade; genauer: Ist a – a’
aus I (d.h. a und a’ stammen aus der gleichen Schublade), und ist b – b’ aus I, so liegt auch
(a + b) – (a’ + b’) in I (d.h. die Summen a + b und a’ + b’ liegen in der gleichen Schublade).
Entsprechendes gilt auch für die Multiplikation.
Warum der Aufwand? Könnten wir nicht Rechenbereiche wie den eingangs beschriebenen
einfach hinschreiben? Na klar könnten wir, aber trotzdem hat das Schubladendenken einen
gewaltigen Vorteil. Wir kennen nämlich die Rechengesetze in den ganzen Zahlen, und diese
übertragen sich automatisch. So gilt etwa das Distributivgesetz a · (b + c) = a · b + a · c ganz
automatisch im neuen Rechenbereich, da wir „eigentlich“ auch dort mit ganzen Zahlen rechnen. Dazu müssen wir nicht a, b und c in jeder denkbaren Kombination durch 0 und 1 ersetzen und in jedem so entstehenden Fall die Gültigkeit des Distributivgesetzes überprüfen!
Fein, dann kennen wir jetzt jede Menge Rechenbereiche, in denen die üblichen Rechengesetze ebenfalls gelten: Wir nehmen die ganzen Zahlen Z, eines der Ideale n · Z und stecken
diejenigen Zahlen in eine Schublade, deren Differenz in n · Z liegt oder, damit gleichwertig, deren Reste bei Division durch n gleich sind. Vertreter dieser Schubladen sind typischerweise die Zahlen 0,1,2,...,n–1. Da wir von den ganzen Zahlen Z ausgehen und die
Schubladen mit Hilfe des Ideals n · Z festlegen, wollen wir für den neuen Rechenbereich
symbolisch Z / n · Z schreiben. Für n = 3 ergeben sich in Z / 3 · Z folgende Tafeln zu Addition und Multiplikation:
Dedekinds Theorie der Ideale
+
0
1
2
0
0
1
2
1
1
2
0
2
2
0
1
·
0
1
2
0
0
0
0
1
0
1
2
2
0
2
1
In Z / 3 · Z können wir sogar dividieren, da der Kehrwert von 2 wieder 2 ist (was wir
aus der Gleichung 2 · 2 = 1 ablesen). Damit können wir in Z / 3 · Z so rechnen, wie wir es
aus den rationalen oder reellen Zahlen kennen – aus dem Ring Z ist der Körper Z / 3 · Z
geworden. In Z / 4 · Z aber geschehen absonderliche Dinge, denn hier gilt 2 · 2 = 0 (das
Produkt zweier Zahlen, die bei Division durch 4 den Rest 2 hinterlassen, ist durch 4 teilbar), obwohl doch 0 und 2 verschieden sind! Gerade Z / 4 · Z hätten wir für Belange der
Informatik gut nutzen können, da die vier Zahlen 0, 1, 2, 3 wunderbar den 2-Bit-Worten
00, 01, 10, 11 entsprechen. Zumindest bemerken wir an dieser Stelle, woran die Angelegenheit scheitert – im Gegensatz zu den Primzahlen 2 und 3 ist die 4 zusammengesetzt,
also nicht irreduzibel. Wir erkennen, dass Z / n · Z für zusammengesetzte n niemals ein
anständiger Rechenbereich werden kann. Für Primzahlen n dagegen ist das Ideal n · Z
eben ein Primideal – und damit (so lässt sich zeigen) ist ein Produkt in Z / n · Z nur dann
0, wenn einer der Faktoren 0 ist.
Dennoch wollen wir uns das Verfahren der Schubladenbildung in anderen Situationen
ansehen. Ausgangspunkt ist ein Rechenbereich (genauer: ein sogenannter Ring) R, in dem
wir addieren, subtrahieren und multiplizieren können und bei diesen Rechenoperationen
auch die üblichen Gesetze wie etwa das Distributivgesetz zur Verfügung haben. Eine Division, gleich welcher Art, muss es dagegen in diesem Rechenbereich nicht geben. Die
zweite Zutat ist ein Ideal I in R. Anschließend erfolgt die Schubladenbildung, wobei zwei
Elemente a und b aus R dann in der gleichen Schublade landen, wenn ihre Differenz a – b
aus dem Ideal I stammt. Das Symbol für die Menge all dieser Schubladen ist dann R / I. Für
die Addition zweier Elemente aus R / I nehmen wir aus den beiden beteiligten Schubladen
jeweils einen Vertreter heraus, addieren diese beiden und sehen anschließend nach, zu welcher Schublade das Ergebnis gehört. Die Multiplikation ist ebenso erklärt. Mit diesen Rechenoperationen wird R / I wieder ein Ring. Man kann nun zeigen, dass Dividieren in dem
neuen Rechenbereich genau dann möglich ist, wenn das Ideal I keine echten Teiler besitzt.
Direkt nach Definition der Teilbarkeit von Idealen ist hierzu gleichwertig, dass I nur in
den Idealen I und R enthalten ist. Solche Ideale nennt man maximal.
Hierzu sehen wir uns sofort ein Beispiel an: Als Rechenbereich R wählen wir die Menge
aller Polynome ​a​n ​​x​n​+ ​a​n –1 ​ ​xn–1
​ ​+ ... + ​a​2 ​ ​x2​ ​+ ​a​1 ​x + ​a​0 ​, deren Koeffizienten ​a​n ​,​a​n –1 ​,...,​a​2 ​,​a​1 ​,​a​0 ​
Brüche sind; diese Menge erhält als Symbol Q[x]. Das Addieren und Multiplizieren von
79
80
Dedekinds Theorie der Ideale
Polynomen kennen wir aus der Schule; wir wissen auch, dass die Ergebnisse stets wieder
Polynome sind. Die üblichen Rechenregeln gelten ebenfalls, so dass Q[x] tatsächlich ein
geeigneter Rechenbereich (ein Ring) ist.
Als zweite Zutat fehlt uns noch ein Ideal I, wobei wir ohne jeden Beleg zur Kenntnis
nehmen, dass Q[x] sogar ein Hauptidealring ist. Wir wählen I = (​x2​ ​ – 7) · Q[x] und sehen
uns die Beschaffenheit der zugehörigen Schubladen an. Ganz speziell liegen die Polynome
0 und ​x2​ ​ – 7 in der gleichen Schublade, so dass im Rechenbereich Q[x]/ (​x2​ ​ – 7) · Q[x] die
Gleichung ​x2​ ​ – 7 = 0 beziehungsweise ​x2​ ​ = 7 gilt. Ohne die Schublade zu wechseln, dürfen
wir daher bei jedem Polynom jedes auftretende ​x2​ ​ durch 7 ersetzen. So gilt in Q[x]/ (​x2​ ​ – 7)
· Q[x] die Gleichung
​x5​ ​ + 3 · ​x3​ ​ – 2 · ​x2​ ​ + x + 9 = x · (​x2​ ​​)​2​ + 3 · x · ​x2​ ​ – 2 · ​x2​ ​ + x +9
= x · ​72​ ​ + 3 · x · 7 – 2 · 7 + x + 9
= 71 · x – 5
In jeder Schublade ist daher genau ein lineares Polynom ax + b vorhanden. Addiert und
multipliziert werden solche Vertreter folgendermaßen:
(ax + b) ± (ux + v) = (a ± u) · x + (b ± v)
(ax + b) · (ux + v) = au​x2​ ​ + (bu + av) · x + bv
x​​​= 7
= (bu + av) · x + (7au + bv)
_
Ersetzen Sie jetzt einmal sämtliche vorkommenden x durch ​√ 7 ​. Dann werden Sie fest_
stellen, dass der Rechenbereich Q[x] / (​x2​ ​ – 7) · Q[x] identisch mit dem Zahlkörper Q(​√ 7 )​
ist. Und genauso erhalten wir auch alle anderen algebraischen Zahlkörper, indem wir vom
Ring Q[x] der Polynome samt einem Ideal I = p(x) · Q[x] (mit einem geeigneten Polynom
p(x)) zu dem neuen Rechenbereich Q[x] / p(x) · Q[x] übergehen. Damit in dem neuen Rechenbereich auch Dividieren möglich ist, muss I ein maximales Ideal sein. Hierfür reicht
in dem Hauptidealring Q[x] aus, dass sich das Polynom p(x) nicht zerlegen lässt – also p(x)
ein irreduzibles Element von Q[x] ist.
Nehmen wir anstelle der rationalen Zahlen den Rechenbereich K = Z / 2 · Z, so können wir ebenfalls sämtliche Polynome ​a​n ​ ​x​n​ + ​a​n –1 ​ ​x​n–1​ + ... + ​a​2 ​ ​x​2​ + ​a​1 ​ x + ​a​0 ​ mit Koeffizienten ​a​n ​,​a​n –1 ​,...,​a​2 ​,​a​1 ​,​a​0 ​ aus K ansehen. Derartige Polynome addiert und subtrahiert
man ebenfalls auf die gewohnte Weise; allerdings sind die Rechnungen mit den Koeffizienten (nicht mit den Exponenten) in K = Z / 2 · Z durchzuführen. Das führt zu solch
merkwürdigen Gleichungen wie (x + 1​)2​ ​ = ​x2​ ​ + 2 · x + 1 = ​x2​ ​ + 0 · x + 1 = ​x2​ ​ + 1; das Polynom ​x2​ ​ + 1 ist daher zerlegbar14 . Überlegen Sie sich jetzt, dass ​x2​ ​ + x + 1 das einzige irreduzible quadratische Polynom ist und versuchen Sie anschließend den Rechenbereich
K[x]/(​x2​ ​ + x + 1) · K[x] zu verstehen. (Hinweis: Es gibt genau vier Schubladen, und diese
tragen die Aufschriften 0, 1, x und x + 1.) Kann man in diesem Rechenbereich dividieren?
2
Ich hoffe, Sie haben einen Eindruck gewonnen, wie leistungsfähig der Begriff des
Ideals ist: Aus einem Rechenbereich (genauer: einem Ring) sowie einem Ideal in die-
Dedekinds Theorie der Ideale
sem Ring entsteht durch Schubladenbildung ein neuer Rechenbereich, dessen Güte von
der Zerlegbarkeit oder, besser, von der Unzerlegbarkeit des verwendeten Ideals abhängt.
Dieses Verfahren ist derartig vielseitig einsetzbar, dass seine Kenntnis mittlerweile für
einen Profimathematiker unabdingbar ist. Damit ist insbesondere der Dedekindsche Idealbegriff aus der Welt der Mathematik nicht mehr wegzudenken.
Am Schluss unseres anstrengenden Weges in die abstrakte Algebra steht noch eine
Anmerkung für diejenigen unter Ihnen, die den Abschnitt über die Geburt des heutigen
Zahlbegriffs bereits gelesen haben. Unter anderem wird dort berichtet, wie Georg Cantor
aus den rationalen die reellen Zahlen mit Hilfe der Cauchy-Folgen konstruiert. Nun, auch
dies kann man mit Hilfe der Ringe und Ideale ausdrücken: Die rationalen Cauchy-Folgen
bilden einen Ring, denn zwei Folgen kann man schließlich gliedweise addieren, subtrahieren und multiplizieren. Spezielle Cauchy-Folgen sind die Nullfolgen, also diejenigen, die
gegen die Zahl 0 konvergieren. Die Menge aller Nullfolgen wiederum bilden ein Ideal und
– Sie ahnen es sicherlich – durch die nun schon häufig genug gesehene Schubladenbildung
(zwei Cauchy-Folgen liegen in der gleichen Schublade, wenn ihre Differenzfolge gegen 0
konvergiert) entstehen die reellen Zahlen. Die Besonderheit dieser Geschichte liegt darin,
dass Richard Dedekind als Entdecker des Idealbegriffs eben nicht diesen Zugang gewählt
hat, sondern vielmehr die reellen Zahlen über die Dedekindschen Schnitte einführte. n
Seite 56
__
1 Dieses Unbehagen teilten unsere Vorfahren! Nicht umsonst bezeichnete man Zahlen der Form y · ​√ –1 ​ als „imaginäre
Zahlen“, die man zwar in Rechnungen vorteilhaft einsetzen
_ konnte, deren Existenz man aber nicht so richtig wahrhaben
wollte. Nun denn – auch das Wort „irrationale Zahl“ für ​√ 2 ​ zeugt ja nicht gerade von der Zuversicht, dergleichen
wirklich anzutreffen.
Seite 57
_
2 Zur Erinnerung: Das „rational machen“ eines Nenners der Form a + b · ​√ 7 ​haben wir mit der dritten binomischen Formel
_
_
2
2
(a + b · ​√ 7 )​ · ( a – b · ​√ 7 ​) = ​a​ ​– 7​b​ ​bewerkstelligt. In dem jetzt vorliegenden Fall bräuchten wir die folgende Monstergleichung
_
_ 2
_
_ 2
3
3
3
3
a + b · √ ​ 2 ​+ c · √ 2 ​​ ​​ ·
a2​​– 2bc + 2​c2​​– ab · √ ​ 2 ​+ b2​​– ac · √ 2 ​​ ​​ = ​
a3​​+ 2​b3​​+ 4​c3​​– 6abc.
(
(​ )
) ((​
) (
)
(​
) (​ )
)
Und auch bei Kenntnis dieser Gleichung wüssten wir immer noch nicht, wie diese zustande kommt.
3 Die Zahlentheorie beschäftigt sich mit den ganzen Zahlen und den Beziehungen zwischen diesen, insbesondere
der Teilbarkeit. Die Grundlage der Teilbarkeitslehre bilden die Primzahlen.
4 Ja, denn 97 = ​9​2​+ ​4​2​.
Seite 58
5 Mit kleinen griechischen Buchstaben bezeichnen wir Elemente der Zahlkörper, während kleine lateinische
Buchstaben immer für rationale bzw. ganze Zahlen stehen.
81
82
Dedekinds Theorie der Ideale
Seite 60
__
6 Hier brauchen wir, dass nur die Primzahlen in Z (​√ –1 ​) unzerlegbar sind.
Seite 63
7 Insbesondere ist 4 = ​22​ ​kein Teiler von d. Damit kommen als Reste von d bei Division durch 4
nur die Zahlen 1, 2 und 3 in Frage.
Seite 64
8 Genauer: Ein Ring besteht aus einer Menge R von Dingen (zum Beispiel komplexe Zahlen), die wir addieren und
multiplizieren können, d.h. wir kennen zu je zwei Elementen x und y aus R die Summe x + y und das Produkt x · y,
die beide wieder in R liegen. Hierbei verlangen wir, dass die folgenden Rechenregeln erfüllt sind:
1. Für x, y und z aus R gilt stets
x + y = y + x
und x · y = y · x
(Kommutativgesetz)
(x + y) + z = x + (y + z) und (x · y) · z = x · (y · z)
(Assoziativgesetz)
x · (y + z) = x · y + x · z und (x + y) · z = (x · z) + (y · z) (Distributivgesetz)
 2. Es gibt Elemente 0 und 1 aus R, so dass 0 + x = x und 1 · x = x für alle x gilt.
3. Zu jedem x aus R gibt es ein –x, so dass x + (–x) = 0 gilt.
Gibt es zusätzlich noch zu jedem von 0 verschiedenen x noch ein multiplikatives Inverses ​x–1
​ ​(mit x · ​x–1
​ ​= 1),
so sprechen wir von einem Körper.
Seite 67
9 Wir ziehen das Fremdwort „irreduzibel“ dem Wort „unzerlegbar“ vor, um nicht ständig von Zerlegungen
von unzerlegbaren Elementen reden zu müssen.
10 Ein Beispiel einer Zerlegung, die nie ein Ende findet, wäre etwa 1 = 1 · 1 = 1 · 1 · 1 = 1 · 1 · 1 · 1 = .... Da wir die
(bis auf die Reihenfolge der Faktoren) eindeutige Zerlegung ganzer Zahlen in Primfaktoren sehr schätzen, können Sie sich
jetzt sicherlich denken, warum 1 nicht als Primzahl angesehen wird, obwohl 1 „nur durch 1 und sich selber teilbar“ ist.
Seite 72
11 Rechnen Sie die drei Idealeigenschaften nach – Sie werden sehen, wie einfach das geht!
12 In den Definitionen ist zwar immer nur von ​W​ _ ​die Rede, aber natürlich gibt es den Idealbegriff auch im Rechenbereich
​√ d ​ der ganzen Zahlen. Falls Sie hier unsicher sind, so setzen Sie einfach ​W​​√ _1 ​​= Z, was zwar nur formal so gemacht werden sollte,
uns aber hier unnötige Fallunterscheidungen erspart.
Seite 75
13 Ein algebraischer Zahlkörper ist eine Erweiterung der rationalen Zahlen durch eine oder mehrere Nullstellen rationaler
Polynome. Der Ganzheitsring eines Zahlkörpers besteht aus den in ihm vorhandenen ganzalgebraischen Zahlen.
Seite 81
14 Auch das leuchtet sofort ein, denn wegen ​12​ ​+ 1 = 0 ist x = 1 eine Nullstelle des Polynoms ​x2​ ​+ 1.
83
84
Aristoteles Rad
85
Die Bändigung des Unendlichen
Richard Dedekind und die Geburt der Mengenlehre
Prof. Dr. Thomas Sonar, TU Braunschweig
Das Unendliche in der Antike
D a s U n e n d l i c h e hat die Menschen seit
allen Zeiten fasziniert, aber erst im 19ten Jahrhundert ist es innerhalb der Mathematik gelungen, tatsächlich mit der Unendlichkeit sauber
umzugehen. Richard Dedekind war maßgeblich an dieser Entwicklung beteiligt.
Bereits in der Antike erhoben Philosophen
warnende Einwände gegen eine Verwendung
des Unendlichen. Der Philosoph Zenon aus
der antiken Hafenstadt Elea im Süden Italiens
lebte zwischen 490 und 430 vor unserer Zeit.
Über seine Ideen und Arbeiten wüssten wir gar
nichts, wenn nicht Aristoteles (384–322 v.u.Z.)
in seiner Physikvorlesung von ihm berichtet
hätte. Demnach ist Zenon der Urheber von berühmten Paradoxien, die vor dem Umgang mit
dem Unendlichen warnen sollten und die bis
heute nichts von ihrer Verblüffungskraft verloren haben.
Das berühmteste Zenonsche Paradoxon
ist „Achill und die Schildkröte“. Der berühmte
Krieger und Sportler Achilles soll sich in
einem Wettlauf mit einer Schildkröte messen.
Da Achilles viel schneller ist als die Schildkröte, bekommt das Reptil einen gehörigen Vorsprung. Nehmen wir zum besseren Verständnis an, dass Achilles 10 mal so schnell ist wie
die Schildkröte und dass die Schildkröte einen
Vorsprung von 10 Metern bekommt. Nach dem
Startschuss laufen Athlet und Reptil los. Wenn
Achilles den Startpunkt der Schildkröte erreicht hat, dann ist diese einen Meter vor ihm.
Hat er diesen einen Meter zurückgelegt, dann
ist die Schildkröte noch 10 Zentimeter vor ihm.
Hat Achilles diese 10 Zentimeter zurückgelegt,
dann ist die Schildkröte noch einen Zentimeter
Zenon von Elea
vor ihm, und so geht das immer weiter – unendlich oft – und Achilles kann die Schildkröte
nie einholen!
Natürlich können wir diesen Einwand gegen eine Verwendung des Unendlichen leicht
entkräften. Zenon weiß nämlich nicht, dass die
Addition von unendlich vielen positiven Zahlen immer noch einen endlichen Wert ergeben
kann. Achilles und die Schildkröte laufen nämlich nur 10+1+0.1+0.01+0.001+... Meter weit,
und das sind ganze 11.11111111... Meter! Das
ist nämlich genau die Strecke, bei der Achilles
die Schildkröte überholen würde. Wieviel Zeit
ist bis dahin vergangen? Nach Zenon würde
es unendlich lange dauern, denn man hat unendlich viele Zeitabschnitte zu addieren. Nehmen wir an (die Zahlen sind ganz unerheblich)
dass Achilles für die 10 Meter genau eine Sekunde benötigt, d.h. er braucht für einen Me-
86
Die Bändigung des Unendlichen. Richard Dedekind und die Geburt der Mengenlehre.
ter eine Zehntel Sekunde, und so fort. Dann
treffen sich Achilles und die Schildkröte nach
der endlichen Zeit 1+0.1+0.01+0.001+...=1.1111
1... Sekunden.
Nun ist es nicht so, als hätte Zenon tatsächlich geglaubt, dass Achilles die Schildkröte nie
einholen kann. Das Paradoxon ist vermutlich
aus einem Kampf der Philosophen erwachsen,
bei dem es um die Frage ging, ob die Welt diskret oder ein Kontinuum ist. Die Idee einer aus
unteilbaren Teilchen gebildeten Welt kam etwa
im fünften Jahrhundert vor Christus auf und
wird Atomismus genannt. Frühe Vertreter dieser Theorie waren die Philosophen Demokrit
und Leukippos. Epikur entwickelte diese Ideen
dann weiter. Demnach ist die Welt (d.h. alle
Materie) aufgebaut aus unteilbaren, unendlich
harten und unveränderlichen Atomen. Bezogen
auf die Mathematik bedeutet der atomistische
Standpunkt, dass eine gerade Linie aus lauter
unendlich kleinen, unteilbaren Punkten aufgebaut ist. Der Atomismus wurde von vielen griechischen Philosophen abgelehnt, so etwa auch
von Aristoteles, der die Welt als Kontinuum
ansah. Ein Kontinuum ist beliebig oft teilbar,
aber nach jeder Teilung liegen wieder Kontinua
vor. Das heißt, dass man eine Strecke beliebig
oft teilen kann, ohne jemals auf eine kleinste
Strecke zu treffen. Die Griechen definierten die
Mathematik als die Wissenschaft vom Messen,
und Dinge die nicht messbar sind, sind auch
kein Gegenstand der Mathematik. Daher war
nach klassischer Ansicht für unteilbare und
unendlich kleine Punkte gar keine Mathematik
machbar, was die Ablehnung des Atomismus
von vielen alten Philosophen erklärt.
Stellen wir uns also eine Strecke als Kontinuum vor, dann können wir nicht von Punkten
in dieser Strecke sprechen, denn ein Punkt ist
gerade kein Kontinuum. Man kann die Strecke
halbieren, die halbe Strecke wieder halbieren,
und so fort – unendlich oft – und man erhält
immer wieder ein Kontinuum. Ist die Strecke
aber diskret, dann ist sie aus Punkten aufgebaut.
Im Paradoxon von Achilles und der Schildkröte
nimmt Zenon an, die Laufstrecke sei ein Kontinuum, und zeigt dann (vermeintlich), dass das
nicht möglich sein kann.
In einem weiteren Beispiel nimmt Zenon
an, eine Strecke sei aus diskreten Punkten aufgebaut. Es geht um einen Bogenschützen, der
einen Pfeil eine Strecke weit zur Zielscheibe
schießen soll. Besteht die Flugstrecke aus diskreten Punkten und die Zeit ebenfalls, dann
können wir den Pfeil in einem Zeitpunkt betrachten. In diesem Zeitpunkt ist eine Bewegung aber gar nicht mehr möglich, denn die
Pfeilspitze befindet sich an einem festen Raumpunkt. Da die gesamte Strecke aus diskreten
Punkten besteht, kann sich der Pfeil also in keinem Raumpunkt bewegen und damit ist eine
Bewegung überhaupt unmöglich! Also führt
auch die Annahme eines diskreten Raumes
und einer diskreten Zeit zu Widersprüchen.
Verwirrend, nicht? Der Philosophenkrieg um
das Kontinuum oder das unendliche Diskrete
hat dann noch das gesamte christliche Mittelalter beherrscht und ist bis auf den heutigen
Tag nicht ganz ausgestanden, wie wir sehen
werden.
Mathematisch eng verwand mit der Philosophenfrage ist der Unterschied zwischen dem
Aktual-Unendlichen und dem Potentiell-Unendlichen. Das Aktual-Unendliche ist ein wirklich
existierendes und erreichbares Unendlich;
etwa eine „Zahl“ ∞. Das Potentiell-Unendliche
hingegen ist keine jemals zu erreichende Zahl,
sondern beinhaltet nur die Möglichkeit eines
Die Bändigung des Unendlichen. Richard Dedekind und die Geburt der Mengenlehre.
Abbildung 1:
Alle Kreise haben die gleiche Anzahl von Punkten
Abbildung 2:
Eine Diagonale hat genau so viele Punkte
wie die Seite des Quadrats
Galileo Galilei
immer weiteren Fortschreitens zu immer größeren Zahlen. Auch auf diesen wichtigen Punkt
werden wir noch zurückkommen.
Mittelalterliche Spekulationen
Im Mittelalter wurden weitere Ungereimtheiten bei Verwendung des Unendlichen im
Licht der Aristotelischen Logik diskutiert. So
betrachtete man etwa konzentrische Kreise mit
unterschiedlichen Radien und damit auch unterschiedlichen Umfängen. Schnitt man diese
Kreise nun mit Strahlen wie in Abbildung 1,
dann erhielt man das paradox erscheinende Resultat, dass alle Kreise immer dieselbe Anzahl
von Punkten aufwiesen, obwohl sie vom Umfang her doch deutlich verschieden waren.
Ebenso zeigte eine Betrachtung am Quadrat, wie in Abbildung 2 gezeigt, dass die doch
längere Diagonale aus genauso vielen Punkten
zu bestehen schien wie die Seite.
Galileo Galilei
Kluge Gedanken zum Unendlichen finden wir
im Werk des großen Italieners Galileo Galilei
(1564–1642), den wir ohne Übertreibung als
den Großvater der modernen Physik bezeichnen dürfen. Wenn wir eine endliche Menge vor
uns haben, zum Beispiel eine Menge von fünf
Tomaten, dann ist für uns völlig klar, dass eine
echte Teilmenge davon weniger als fünf Tomaten enthalten muss. Haben von den fünf Tomaten drei noch einen Stiel, aber zwei nicht,
dann besteht die Teilmenge der Tomaten mit
Stiel aus genau drei Tomaten. In seinem Buch
„Discorsi i dimonstrazioni matematiche“ („Un-
87
88
Die Bändigung des Unendlichen. Richard Dedekind und die Geburt der Mengenlehre.
terredungen und mathematische Demonstrationen“), das im Jahr 1638 in Leiden erschien,
lässt er seine drei Protagonisten Salviati, Sagredo und Simplicio über die Anzahl der Quadratzahlen 1, 4, 9, 16, usw. sprechen1. Die drei kommen schließlich zu dem Schluß, dass es genau so viele Quadratzahlen geben muss wie es
natürliche Zahlen 1, 2, 3, 4, usw. gibt. Galilei
hatte die Idee, jeder Quadratzahl ihre „Wurzel“
zuzuordnen:
1
2
3
4
5 ...
eine echte Teilmenge der natürlichen Zahlen;
trotzdem gibt es nach Galilei genau so viele
Quadratzahlen wie natürliche Zahlen.
Ebenfalls bei Galilei finden wir eine weitere
interessante Diskussion, wenn er das „Aristotelische Rad“ bespricht. Er diskutiert ein reguläres Polygon mit n Seiten; sagen wir n=6, also
ein reguläres Sechseck so wie in Abbildung 3
gezeigt. Innerhalb dieses Sechsecks befinde
sich noch ein kleineres Seckseck. Beide seien
fest miteinander verbunden.
... .
1
4
9
16 25 ...
Genau so, wie wir unsere fünf Tomaten
durch die Zuordnung der Zahlen 1, 2, 3, 4, 5
abzählen können, werden hier die Quadratzahlen abgezählt. Jeder Quadratzahl ist genau
eine natürliche Zahl (ihre Wurzel) zugeordnet. Also muß es doch genau so viele Quadratzahlen wie Wurzeln geben, obwohl zwischen
0 und 37 doch nur sechs Quadratzahlen, aber
36 natürliche Zahlen liegen! Zwischen 0 und
1000001 gibt es gar nur 1000 Quadratzahlen,
aber 1000000 natürliche Zahlen, und so werden die Quadratzahlen immer „dünner“, je
weiter wir zu größeren Zahlen kommen. Hier
scheint nun ein viel ernsteres Paradoxon zu
lauern als bei Zenon.
Insbesondere gerät unsere durch den Umgang mit endlich vielen Dingen geschulte Anschauung ins Wanken: Bei endlichen Mengen
sind wir es gewohnt, dass echte Teilmengen
immer weniger Elemente enthalten als die
Ausgangsmenge. Mit anderen Worten: Der Teil
ist immer kleiner als das Ganze. Galileo Galilei
hat aber eindrucksvoll gezeigt, dass das beim
Umgang mit dem Unendlichen offenbar nicht
stimmen kann, denn die Quadratzahlen sind ja
Abbildung 3: Abrollende Sechsecke
Dieses Sechseck rollen wir nun ab, und
zwar im ersten Schritt um den Punkt D, so
dass schließlich das Sechseck wieder auf einer
Seite zu liegen kommt. Das in der Ursprungslage eingezeichnete Dreieck DOS befindet sich
dann in der Lage DSS’, so dass der Mittelpunkt
O jetzt in S liegt. Rollen wir auf diese Weise das
Sechseck fünf Mal ab, dann hat die untere Linie die Länge 6*a und das ist der Umfang des
äußeren Sechsecks. Den Umfang des inneren
Sechsecks finden wir in den angerollten Dreiecken wieder, aber nicht als durchgezogene Linie, sondern natürlich als unterbrochener Linienzug.
Jetzt überlegt Galilei was passiert, wenn
man kein Sechseck abrollt, sondern ein n-Eck
mit sehr großer Seitenzahl n. Dann werden
Die Bändigung des Unendlichen. Richard Dedekind und die Geburt der Mengenlehre.
die abgerollten Dreiecke in Abbildung 3 immer mehr und daher immer schmaler und die
Streckenstücke der Länge b rücken immer näher zusammen. Überschreitet die Anzahl der
Seiten alle Grenzen, dann werden aus unseren
n-Ecken schließlich Kreise. Wie wir am Beispiel der n-Ecke gesehen haben, müssen jetzt
die (unendlich kleinen) Streckenstücke der
Länge b, die den Umfang des inneren n-Ecks
ausgemacht haben, dicht nebeneinander liegen, denn unsere abgerollten Dreiecke sind
nun zu Linien degeneriert. Damit ist aber der
Umfang des großen Kreises genau so groß wie
der Umfang des kleinen!?
Bernard Bolzano
O
O
U
Abbildung 4: Das Rad des Aristoteles
Wir wollen nicht weiter auf Galileis wunderschöne Argumentationen zu diesem Problem beim Übergang vom Endlichen zum Unendlichen eingehen, sondern die Leser ermuntern, Galilei einmal selbst zur Hand zu nehmen! Wir halten nur fest, dass der Umgang mit
dem Unendlichen noch bis ins 19te Jahrhundert hinein die Mathematiker verblüffte und
verunsicherte.
Bernard Bolzano
und die Paradoxien des Unendlichen
In Prag studierte Bernard Bolzano (1781–1848)
Theologie, legte aber auch im Jahr 1800 eine
Zwischenprüfung im Fach Mathematik ab,
die der Prüfer so interessant gefunden hatte,
dass er sogar seine Gichtschmerzen vergaß 2.
Als ausgebildeter Theologe bezog Bolzano einen neu eingerichteten Lehrstuhl für Religionswissenschaft an der Prager Karls-Universität, wo er bald durch zu liberale Predigten
bei der Obrigkeit in Ungnade fiel. 1819 wurde
er fristlos entlassen und er erhielt ein Verbot
jeglicher Tätigkeit an der Universität; er durfte noch nicht einmal eine Assistentur am Astronomischen Institut annehmen. Nun hatte
Bolzano also Zeit, über Grundlagenfragen der
Mathematik nachzudenken und dieses Nachdenken war wirklich fruchtbar. Er gilt heute als
großer Denker, der vor Cantor und Dedekind
mathematische Antworten auf die Probleme
des Unendlichen finden wollte.
Im Jahr 1851 wird das Bolzanosche Buch Paradoxien des Unendlichen3 von seinem Freund
89
90
Die Bändigung des Unendlichen. Richard Dedekind und die Geburt der Mengenlehre.
Franz Prihonsky veröffentlicht. Es enthält auf
etwa 150 Seiten außerordentlich einsichtsvolle
Diskussionen von scheinbaren Paradoxien aus
der Mathematik, aber auch aus der Physik.
Bolzano untersucht auch Paradoxa des AktualUnendlichen mit Hilfe eines Mengen-Begriffs;
ganz so, wie wir es nun im Fall von Cantor und
Dedekind sehen werden. Bolzanos Leistungen
sind übrigens von Cantor gewürdigt worden;
allerdings ist Bolzano nicht zum eigentlichen
Kern der Mengenlehre vorgedrungen und daher nicht ihr Begründer.
Dedekind und die Geburt
der Mengenlehre
Im Jahr 1872 reisen zwei sich fremde Männer
in die Schweiz und begegnen einander zufällig.
Der eine ist der 1845 in Sankt Petersburg geborene Georg Cantor, der nach seinem Studium
an der Eidgenössischen Polytechnischen Schule in Zürich und an der Universität Göttingen
1867 in Berlin promoviert wurde. Seit 1869 arbeitet er an der Universität Halle, und zwar zuerst als Privatdozent, dann ab 1872 als Extraordinarius und schließlich ab 1877 bis zu seiner
Emeritierung 1913 als ordentlicher Professor.
Sowohl die Doktorarbeit, als auch die Habilitationsschrift, die Cantor im Frühjahr 1869 in
Halle vorlegt, beschäftigen sich mit Problemen
der Zahlentheorie. Schon früh, nämlich auch
1869, hat sich Cantor mit dem Aufbau der reellen Zahlen beschäftigt und dazu zwei Arbeiten veröffentlicht.
Gerade in Halle, wird Cantor sich mit den
Eigenschaften von trigonometrischen Reihen
beschäftigen. Er beweist einen Eindeutigkeitssatz für solche Reihen und wird im Rahmen
dieser Arbeiten auf Fragen geführt, mit denen die Geburtsstunde der Mengenlehre ein-
Georg Kantor
geläutet wird. Cantor möchte nämlich gerne
die „Größe“ von Zahlenmengen bestimmen,
auf denen seine trigonometrischen Reihen
nicht unbedingt mehr sinnvoll sein müssen,
die Darstellung als solche Reihe aber trotzdem
eindeutig bleibt. Im Jahr 1872 – es ist das Jahr
der Schweizer Begegnung – erscheint in den
Mathematischen Annalen die Arbeit Über die
Ausdehnung eines Satzes aus der Theorie der trigonometrischen Reihen. In dieser Arbeit entwirft
Cantor eine Theorie der reellen Zahlen, die er
mittels Folgen von rationalen Zahlen, also Brüchen, konstruiert. Diese Cantorsche Konstruktion steht völlig ebenbürtig neben den Dedekindschen Schnitten.
Wir sind noch nicht auf den zweiten Mann
der zufälligen Begegnung in der Schweiz eingegangen; es ist Richard Dedekind. Die beiden
Männer sind sich sympathisch und interessiert
Die Bändigung des Unendlichen. Richard Dedekind und die Geburt der Mengenlehre.
Wir wollen nicht den einzelnen Axiomen
nachspüren, aber hier handelt es sich genau
um die Cantorsche Konstruktion der reellen
Zahlen aus Folgen von Brüchen bzw. um die
Dedekindschen Schnitte, die in dieser Gedenkschrift an anderer Stelle gewürdigt werden.
Wichtig für uns ist nur, dass beide Männer offenbar eine saubere Konstruktion der Zahlengeraden vorgenommen haben, und_ zwar durch
Einfügen von Punkten wie etwa ​√ 2 ​ oder p, die
sich ja nicht als Brüche schreiben lassen.
Nun geht es den beiden Männern um die
Frage, wie viele reelle Zahlen es denn eigentlich
Wäre man nicht auch auf den ersten Anblick
geneigt zu behaupten, dass sich (n) nicht
p
eindeutig zuordnen lasse dem Inbegriffe ​_q ​
p_
aller positiven rationalen Zahlen ​q ​?
Und dennoch ist es nicht schwer zu zeigen,
dass sich (n) nicht nur diesem Inbegriffe,
sondern noch dem allgemeineren ... eindeutig zuordnen lässt, ...
13
Und während ich an diesem Vorwort schreibe (20. März 1872), erhalte ich die interessante Abhandlung: „Über die Ausdehnung
eines Satzes aus der Theorie der trigonometrischen Reihen“, von G. Cantor [...], für
welche ich dem scharfsinnigen Verfasser
meinen besten Dank sage. Wie ich bei raschem Durchlesen finde, so stimmt das
Axiom in §2 derselben, abgesehen von der
äußeren Form der Einkleidung, vollständig
mit dem überein, was ich unten in §3 als
das Wesen der Stetigkeit bezeichne.
gibt. Von den natürlichen Zahlen 1, 2, 3, 4, usw.
gibt es unendlich viele. Schon die Anzahl der
Brüche muss enorm viel größer sein als die
Anzahl der natürlichen Zahlen, denn zwischen
der 1 und der 2 liegen – wenn wir 1 und 2 mitzählen – ganze zwei natürliche Zahlen, aber
schon unendlich viele Brüche. Vielleicht hat
uns ja schon Galileo Galiei gelehrt, dass die
Dinge nicht mehr so einfach sind, wenn unendliche Zahlenmengen beteiligt sind! Und in
der Tat: Cantor muss schon um 1873 gewusst
haben, dass es nicht mehr Brüche gibt als natürliche Zahlen. Am 29ten November 1873
schreibt Cantor nämlich an Dedekind 4:
13
an den Grundlagenfragen der Mathematik. So
entspinnt sich ein Briefwechsel. Dedekinds
Schrift Stetigkeit und irrationale Zahlen, über
das wir an anderer Stelle genauer berichtet haben (S. 27 ff), hatte nach Aussagen ihres Autors
im Vorwort bereits im Herbst 1858 begonnen,
als Dedekind Professor am Eidgenössischen
Polytechnikum in Zürich war und bei Mathematikvorlesungen für Ingenieure eine rigorose
Begründung der reellen Zahlen vermisste. Die
Arbeit erschien erst 1872 – im Jahr der zufälligen Schweizer Begegnung – und Dedekind
schreibt im Vorwort:
In einem Brief an den Berliner Gymnasiallehrer Goldschneider, der sich an Cantor
mit einigen Fragen zu dessen „Mannigfaltigkeitslehre“ wandte, beweist Cantor dann am
18ten Juni 1886 aus Halle 5 die Abzählbarkeit
der Brüche:
I. Abstrahiert man bei einer gegeben, bestimmten Menge M, bestehend aus konkreten Dingen oder abstrakten Begriffen,
welche wir Elemente nennen, sowohl von
der Beschaffenheit der Elemente, wie auch
von der Ordnung ihres Gegebenseins, so
erhält man einen bestimmten Allgemeinbegriff, den ich die Mächtigkeit von M oder
die der Menge M zukommende Cardinalität nenne.
91
Die Bändigung des Unendlichen. Richard Dedekind und die Geburt der Mengenlehre.
II. Zwei bestimmte Mengen M und ​M​1 ​ heißen äquivalent, in Zeichen M ~ ​M1​ ​, wenn
es möglich ist, sie nach einem Gesetz gegenseitig eindeutig und vollständig, Element für Element einander zuzuordnen.
Ist M ~ ​M​1 ​ und ​M1​ ​ ~ ​M​2 ​, so ist auch M
~ ​M2​ ​.
..
.
Damit hat Cantor zur Feststellung der
Mächtigkeit von Mengen, also zur Feststellung
der „Anzahl der Elemente“, dasselbe Vergleichsprinzip definiert, das schon Galileo Galilei angewendet hatte, als er die Quadratzahlen abzählte. Zwei Mengen haben also genau dann gleich
viele Elemente, wenn man sie sich gegenseitig eindeutig, Element für Element, zuordnen
kann. Eine solche Zuordnung nennt man in der
Mathematik eine bijektive Abbildung.
Nun aber zurück zu der Frage nach der Anzahl der rationalen Zahlen, also der Brüche. In
demselben Brief an Goldschneider finden wir
die Passage:
VII. Nun mache ich Sie mit dem allgemeinen Begriff einer wohlgeordneten Menge
vetraut, ... .
Beispiele:
1. (a,b,c,d,e,f,g,h,i,k) ist eine wohlgeordenete Menge im Gegensatz zu
a
b c
d e f
g h i k;
2. die Reihe der endlichen Cardinalzahlen
in ihrer natürlichen Folge:
(1,2,3,..., v,..............)
die Menge aller positiven rationalen Zahlen in folgender Anordnung:
1–,–,–,–,–,–,–,–,–,–,–,–,–,–,–,–,–,...
1 2 1 3 1 2 3 4 1 5 1 2 3 4 5 6 .
1 2 1 3 1 4 3 2 1 5 1 6 5 4 3 2 1
13
III. Aus I und II schließt man, dass äquivalente Mengen immer dieselbe Mächtigkeit
haben und dass auch umgekehrt Mengen von derselben Cardinalzahl äquivalent
sind.
beide Mengen bestehen aus denselben
Elementen, haben also auch gleiche
Mächtigkeit.
13
92
Das Gesetz der Anordnung ist hier dieses,
dass von zwei in der irreduciblen6 Form
genommenen Rationalzahlen m
​__n ​ und m’
​__ ​
n’
die erstere einen niederen oder höheren
Rang als die andere erhält, je nachdem m
+ n kleiner oder größer als m’+ n’; ist aber
m + n = m’ + n’ so richtet sich die Rangbezeichnung nach der Größe von m und m’.
Mit der gewählten Anordnung der Brüche
ist aber jetzt sofort klar, dass wir alle positiven
Brüche durchnummerieren können. Nehmen
wir noch die Null hinzu und schreiben hinter jeden positiven Bruch noch den negativen,
dann erhalten wir in der Tat die Abzählung
0
1– ––1
1 1
1– ––1
2 2
2– ––2
1 1
1– ––1
3 3
1
2
4
6
8
3
5
7
3– ...
1
...
9 10 ...
und damit gibt es genau so viele Brüche wie es
natürliche Zahlen gibt!
In dem schon zitierten Brief von Cantor
an Dedekind vom 29ten November 1873 stellt
Cantor die Frage nach der Abzählbarkeit aller
Die Bändigung des Unendlichen. Richard Dedekind und die Geburt der Mengenlehre.
reellen Zahlen. Er schreibt, dass die Abzählbarkeit nicht möglich sein kann, denn die reellen Zahlen bildeten schließlich ein Kontinuum, aber er verweist darauf, dass man auch
nicht glauben mochte, dass die Brüche abzählbar seien.
Leider sind die meisten der Dedekindschen Antwortbriefe nicht erhalten, aber man
kann aus Cantors Schreiben jeweils auf den
Inhalt von Dedekinds vorhergehendem Brief
schließen oder auf Dedekinds eigene Aufzeichnungen zu diesen Briefen zurückgreifen 7. Im
Dedekindschen Antwortschreiben bekennt dieser, dass er die Frage nach der Abzählbarkeit
der reellen Zahlen ebenfalls nicht beantworten kann, aber er teilt Cantor einen Beweis mit,
dass die algebraischen Zahlen abzählbar sind.
Man nennt eine Zahl algebraisch, wenn sie Lösung der algebraischen Gleichung
​a​0 ​ + ​a​1 ​x + ​a​2 ​​x​2​ + ​a​3 ​​x​3​ + ··· + ​a​n ​x​n​= 0
ist, wobei die Koeffizienten ​a​k ​ ganze Zahlen
sind. Dedekind beweist die Abzählbarkeit solcher Zahlen über ein kluges Argument, wobei
die von Dedekind definierte Höhe einer algebraischen Zahl x,
h = n –1+ | ​a​0 ​ | + | ​a​1 ​ | +··· | ​a​n ​|,
eine wichtige Rolle spielt. Weil die Koeffizienten der algebraischen Gleichung ganze Zahlen sind, gehören zu jeder Höhe offenbar nur
endlich viele algebraische Zahlen, die man daher abzählen kann.
Cantor antwortet am 2ten Dezember 1873
und bedankt sich herzlich bei Dedekind. Interessanterweise schreibt Cantor 8:
Übrigens möchte ich hinzufügen, dass ich
mich nie ernstlich mit ihr [d.h. der Frage
nach der Abzählbarkeit der reellen Zahlen]
beschäftigt habe, weil sie kein besonderes
practisches Interesse für mich hat und ich
trete Ihnen ganz bei, wenn Sie sagen, dass
sie aus diesem Grunde nicht zu viel Mühe
verdient.
Die beiden Männer scheinen sich also zu
Beginn Ihrer gemeinsamen Überlegungen
über die Bedeutung der von ihnen diskutierten Probleme nicht klar gewesen zu sein. Erst
viel später ist Cantor von der Bedeutung der
frühen Arbeiten überzeugt9.
In einem Brief vom 7ten Dezember 1873
präsentiert Cantor schließlich seinem Freund
Dedekind den Beweis für die Nichtabzählbarkeit
der reellen Zahlen10! Der Beweis ist noch nicht
sehr elegant, aber schon im Brief von 9ten Dezember kündigt Cantor an, einen vereinfachten
Beweis gefunden zu haben11. Allerdings hatte
inzwischen Dedekind seinem Freund bereits
eine Vereinfachung des Beweises zugeschickt.
Unter dem Datum 7.12.1873 hatte Dedekind
notiert12:
C. theilt mir einen strengen, an demselben
Tage gefundenen Beweis des Satzes mit,
dass der Inbegriff aller positiven Zahlen ...
dem Inbegriff (n) nicht eindeutig zugeordnet werden kann.
Diesen, am 8. December erhaltenen Brief
beantworte ich an demselben Tage mit
einem Glückwunsch zu dem schönen Erfolg, indem ich zugleich den Kern des Beweises «wiederspiegele»; diese Darstellung
ist ebenfalls fast wörtlich in Cantor’s Abhandlung (Crelle Bd. 77) übergegangen; ...
Der vereinfachte Beweis enthält eine Technik, die heute als Cantorsches Diagonalverfahren
bekannt ist. Dieses Verfahren ist außerordent-
93
94
Die Bändigung des Unendlichen. Richard Dedekind und die Geburt der Mengenlehre.
lich einfach und deshalb wollen wir an dieser
Stelle den Beweis erbringen, dass schon die
Zahlen zwischen 0 und 1 nicht mehr abzählbar sind:
Wir schreiben alle Zahlen zwischen 0 und
1 als unendlichen Dezimalbruch 0,​a​1 ​​a​2 ​​a​3 ​​a​4 ​···.
Die Zahl 0,1 ist also 0,100000.... und so weiter. Die Null vor dem Komma ist allen unseren
Zahlen gemeinsam, deshalb reicht es, wenn
wir uns die Nachkommastellen ansehen. Ich
behaupte nun: Die reellen Zahlen zwischen 0
und 1 sind abzählbar!
Wenn meine Behauptung stimmt, dann
lassen sich alle überhaupt nur auftretenden
Nachkommastellen durchnummerieren, z.B.:
1 – 19826735412618....
2 – 79635374292901....
3 – 56374837282771....
4 – 52620000282726....
usw.
Jetzt werde ich eine neue Zahl konstruieren, und zwar aus den bereits durchnummerierten Nachkommastellen. Die Vorschrift zur
Konstruktion ist die folgende:
Die Zahl beginnt natürlich mit „0,“. Jetzt
nehmen wir die erste Ziffer der ersten Zahl
(das ist die 1) und addieren eine 1. Damit erhalten wir eine 2 und unsere neue Zahl beginnt
mit „0,2“. Von der zweiten Zahl nehmen wir
die zweite Ziffer (eine 9) und addieren eine 1.
Es ergibt sich die 10, aber wir wollen verabreden, aus der 9 eine 0 zu machen. Unsere neue
Zahl fängt also mit „0,20“ an. Von der dritten
Zahl nehmen wir die dritte Ziffer (3) und machen daraus durch Addition der 1 eine 4. Unsere neue Zahl ist jetzt „0,204“. Und so geht es
weiter. Von der k-ten Zahl nehmen wir die k-te
Ziffer, erhöhen um 1 (bzw. setzen eine 0, wenn
die Ziffer eine 9 war) und das ist die k-te Zif-
fer unserer neuen Zahl. Die so erhaltene neue
Zahl liegt ganz sicher auch zwischen 0 und 1,
aber ist sie auch in unserer Abzählung? Würde
meine Behauptung stimmen, dann müsste die
neue Zahl irgendwo in der Liste stehen, aber
das tut sie nicht! Warum nicht? Die neue Zahl
hat an der ersten Nachkommastelle eine andere Ziffer als die erste Zahl in unserer Liste, also
kann sie nicht die erste Zahl sein. Die zweite
Nachkommastelle unterscheidet sich von der
zweiten Nachkommastellen der zweiten Zahl,
also kann die neue Zahl auch nicht die zweite sein. Auch die dritte Nachkommastelle der
neuen Zahl ist verschieden von der dritten Stelle der dritten Zahl, so dass unsere neue Zahl
auch nicht die dritte sein kann. Aber so geht es
immer weiter! Die k-te Nachkommastelle unserer Zahl ist ungleich der k-ten Nachkommastelle der Zahl k, also kann unsere neue Zahl
nicht die k-te Zahl der Liste sein, und das gilt
für alle k! Damit haben wir aber eine Zahl zwischen 0 und 1 konstruiert, die nicht in unserer
Abzählung enthalten ist. Meine Behauptung
war also falsch und damit sind die reellen Zahlen zwischen 0 und 1 nicht abzählbar. Man sagt
auch, die reellen Zahlen sind überabzählbar.
Nach diesem schönen Erfolg, an dem Dedekind einen großen Anteil hatte, wendet sich
Cantor weiteren Fragen des Unendlichen zu.
In einem Brief 13 vom 5ten Januar 1874 stellt er
an Dedekind die Frage, ob es zu jedem Punkt
eines Quadrats genau einen Punkt auf einer
Strecke gibt, d.h. er fragt danach, ob die Menge der Punkte im Quadrat und die Menge der
Punkte auf einer Strecke von gleicher Mächtigkeit sind. Cantor ist sich sicher, dass das nicht
sein kann und er hält einen Beweis für fast
überflüssig, allerdings findet er keinen! Noch
scheint es zu ungeheuerlich, die Anzahl der
Punkte auf einer Strecke, einem eindimensi-
Die Bändigung des Unendlichen. Richard Dedekind und die Geburt der Mengenlehre.
oder 0,6=0,5999999... und dies macht folgendes
Problem: Auf der Strecke führt der Punkt
z=0,2304070707... nach Cantors Konstruktion
zu dem Punkt x=0,2, y=0,347777... im Quadrat.
Statt 0,2 können wir nun aber auch 0,19999....
schreiben, allerdings gehört zu dem Quadratpunkt x=0,199999..., y=0,347777... nicht der
Punkt z, sondern der Punkt z’=0,13949797...!
Vereinbaren wir also, alle Zahlen als unendliche Dezimalbruchdarstellungen zu schreiben, d.h. 0,5 als 0,49999... usw., dann gehört
der Punkt 0,2304070707... auf der Strecke zu
keinem Punkt im Quadrat! Cantor reagiert sofort auf Dedekinds Einwand und schreibt eine
Postkarte15 mit Poststempel 23. Juni 1877. Er
sieht sofort, dass der Dedekindsche Einwand
x,y 0,​a​1 ​​b​1 ​​a​2 ​ ​b​2 ​​a​3 ​​b​3 ​​a​4 ​​b​4 ​​a​5 ​​b​5 ​···
richtig ist, aber er stellt fest, dass er dadurch
mehr bewiesen hat, als er ursprünglich dachan. So wird also tatsächlich jedem Punkt im te! Die Punkte des Quadrates lassen sich sogar
Quadrat genau ein Punkt auf der Einheitsstre- auf eine Teilmenge der Punkte der Strecke abcke zugeordnet und umgekehrt.
bilden und umgekehrt. Es zeigt sich, dass die
„Ausnahmemenge“, also diejenigen Punkte der
Strecke, die nicht abgebildet werden, abzählbar ist. Schließlich gelingt es Cantor doch noch
sehr umständlich, das Quadrat auf die gesamte
y
Strecke abzubilden und umgekehrt. Den Beweis teilt er Dedekind in einem Brief vom 25.
Juni 1877 mit. Bereits in einem Brief 16 vom 23.
Oktober 1877 an Dedekind kann er stolz einen
einfachen und eleganten Beweis angeben.
onalen Gebilde, der Anzahl der Punkte eines
Quadrats (einem zweidimensionalen Gebilde)
gleichzusetzen. Erst in einem Brief vom 20ten
Juni 1877, drei Jahre nach der Fragestellung,
teilt Cantor Dedekind mit, dass er einen Beweis für die Gleichmächtigkeit von Quadrat
und Strecke gefunden habe und gibt diesen
Beweis an. Der Beweis besteht einfach in einer
Abbildung, die jedem Punkt im Quadrat genau
einen Punkt auf der Strecke zuweist und umgekehrt. Betrachten wir den Einheitsquadrat
und die Einheitsstrecke und bezeichnen wir
die x- bzw. y-Koordinate eines Punktes im Quadrat mit x = 0,​a​1 ​​a​2 ​​a​3 ​​a​4 ​​a​5 ​···, y = 0,​b​1 ​​b​2 ​​b​3 ​​b​4 ​​b​5 ​···,
dann gibt Cantor als Abbildung
x
z
Abbildung 5: Abbildung eines Quadrates auf eine Strecke
In seiner Antwort bezeichnet Dedekind14
das Cantorsche Resultat als „interessante
Schlussfolgerung“, macht allerdings einen Einwand. Die Dezimalbruchdarstellung der reellen
Zahlen ist nicht eindeutig, z.B. ist 1=0,999999...
Cantor weiß, dass er eigentlich etwas Ungeheuerliches bewiesen hat. So ist es nicht verwunderlich, wenn er seinen Freund Dedekind
bereits am 29. Juni 1877 schriftlich drängt, seinen Beweis zu überprüfen. Er schreibt 17:
Entschuldigen Sie es gütigst meinem Eifer für die Sache, wenn ich Ihre Güte und
Mühe so oft in Anspruch nehme; die Ihnen jüngst von mir zugegangenen Mitthei-
95
96
Die Bändigung des Unendlichen. Richard Dedekind und die Geburt der Mengenlehre.
lungen sind für mich selbst so unerwartet,
so neu, dass ich gewissermassen nicht eher
zu einer gewissen Gemüthsruhe kommen
kann, als bis ich von Ihnen, sehr verehrter
Freund, eine Entscheidung über die Richtigkeit derselben erhalten haben werde. Ich
kann so lange Sie mir nicht zugestimmt
haben, nur sagen: je le vois, mais je ne le
crois pas.
Dedekind antwortet in einem Brief 18 vom 2.
Juli 1877 und beglückwünscht Cantor zu seiner
unglaublichen Entdeckung. Der von Dedekind
überprüfte Beweis ist korrekt, aber auch Dedekind kann nicht glauben, dass ein zweidimensionales Gebilde von gleicher Mächtigkeit sein
soll wie ein eindimensionales. Ihm war aufgefallen, dass die Cantorsche Abbildung zwischen
Quadrat und Strecke überall unstetig war. Damit
ließ diese Abbildung eine wichtige Eigenschaft
vermissen, die sich Dedekind gewünscht hätte.
In bildhafter Sprache teilt er Cantor mit19:
... die Ausfüllung der Lücken zwingt sie,
eine grauenhafte, Schwindel erregende Unstetigkeit in der Correspondenz20 eintreten
zu lassen, durch welches Alles in Atome
aufgelöst wird, so dass jeder noch so kleine
stetig zusammenhängende Theil des einen
Gebietes in seinem Bilde als durchaus zerrissen, unstetig erscheint.
Nun vermutet er, dass es nur an der Unstetigkeit der Abbildung liegt, dass der Dimensionsunterschied zwischen Quadrat und Strecke im Licht der Mächtigkeit keine Rolle mehr
spielt. Er vermutet den folgenden Zuammenhang21:
Gelingt es, eine gegenseitige eindeutige
und vollständige Correspondenz zwischen
den Puncten einer stetigen Mannigfaltigkeit A von a Dimensionen einerseits und
den Puncten einer stetigen Mannigfaltigkeit B von b Dimensionen andererseits herzustellen, so ist diese Correspondenz selbst,
wenn a und b ungleich sind, nothwendig
eine durchweg unstetige.
Mit dieser Vermutung bewies Dedekind
wieder einmal sein mathematisches Gespür.
In etwas allgemeinerer Form wurde die Vermutung im Jahr 1911 von dem Mathematiker
Luitzen Egbertus Jan Brouwer bewiesen.
Epilog
Aus der heutigen Mathematik ist die Mengenlehre nicht mehr wegzudenken. Schöpfer dieser Theorie, die einen Umgang mit dem Unendlichen möglich macht, ist sicher Georg
Cantor, allerdings spielt Richard Dedekind,
wie wir gesehen haben, als Briefpartner in den
1870er Jahren eine ganz entscheidende Rolle.
Dedekind hat auch die eigentliche Definition
unendlicher Mengen gegeben, und zwar in seiner Schrift „Was sind und was sollen die Zahlen“. Cantor hat später diese Definition aufgegriffen22:
Ein System23 S heißt unendlich, wenn es
einem echten Teile seiner selbst ähnlich
ist; im entgegensetzten Falle heißt S ein
endliches System.
Im Unendlichen gilt also gerade nicht mehr,
dass ein Teil kleiner ist als das Ganze. Damit erlaubt die moderne Cantor-Dedekindsche Mengenlehre, die scheinbar paradoxen Ergebnisse
der Antike und des Mittelalters, die wir zu Beginn diskutiert haben, zu erklären. Cantor hat
dabei eine klare Entscheidung zwischen dem
Die Bändigung des Unendlichen. Richard Dedekind und die Geburt der Mengenlehre.
antiken Kontinuum und der diskreten Auffassung gefällt: Wer der Cantor-Dedekindschen
Auffassung folgt, und das sind heute fast alle
Mathematiker, baut das Kontinuum aus diskreten Punkten auf; eine für die antiken Philosophen unhaltbare Idee! Dafür haben wir eine
sichere Methode gewonnen die es uns erlaubt,
mit dem Unendlichen umzugehen. David Hil-
bert, einer der größten Mathematiker überhaupt, hat die Begeisterung über die Mengenlehre in dem Satz zusammengefasst 24:
Aus dem Paradies, das Cantor uns geschaffen,
soll uns niemand vertreiben können.
Seite 87
1 In der deutschen Übersetzung: Galileo Galilei – Unterredungen und mathematische Demonstrationen über
zwei neue Wissenszweige, die Mechanik und die Fallgesetze betreffend (Wiss. Buchgesellschaft, 1973) auf den Seiten 30-31.
Seite 89
2 Herbert Meschkowski – Denkweisen großer Mathematiker: Ein Weg zur Geschichte der Mathematik.
Vieweg Verlag, 3te Auflage 1990, S.123.
3 Dr. Bernard Bolzano – Paradoxien des Unendlichen. Nachdruck im VDM Verlag 2006.
Seite 91
4 E. Noether, J. Cavaillès (Hrsg.): Briefwechsel Cantor-Dedekind, S.13. Herman & Cie, Paris 1937.
5 Der vollständige Brief ist abgedruckt in: Herbert Meschkowski – Denkweisen großer Mathematiker. Ein Weg zur Geschichte
der Mathematik. S.189-196, Vieweg Verlag 1990.
Seite 92
6 „irreducible Form“ heißt hier, dass die Brüche gekürzt sein sollen.
Seite 93
7 E. Noether, J. Cavaillès: a.a.O., S.18–20.
8 E. Noether, J. Cavaillè: a.a.O., S.13.
9 H. Meschkowski: Probleme des Unendlichen. Werk und Leben Georg Cantors. S.27, Vieweg Verlag 1967.
10 E. Noether, J. Cavaillè: a.a.O., S.15.
11 ebenda S.16.
12 ebenda S.19.
Seite 94
13 ebenda S.20.
Seite 95
14 ebenda S.27.
15 ebenda S.28.
16 H. Meschkowski: a.a.O. S.39.
17 H. Meschkowski, W. Nilson (Hrsg.): Georg Cantor Briefe. S.44, Springer-Verlag 1991.
Seite 96
18 E. Noether, J. Cavaillès: a.a.O. S.37-38.
19 H. Meschkowski: a.a.O. S.41.
20 Damit ist die Abbildung zwischen Quadrat und Strecke gemeint.
21 H. Meschkowski, . Nilson: a.a.O. S.44.
22 R . Dedekind: Was sind und was sollen die Zahlen. S.13, Vieweg Verlag 1918.
23 Wir würden heute „Menge“ sagen.
Seite 97
24 D. Hilbert: Über das Unendliche. (Mathematische Annalen, Bd.95, S.161-190, 1926).
n
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99
Faszination Mathematik
Maria Heuer, Schülerin, Wilhelm Gymnasium Braunschweig
M e i n e L e i d e n s c h a f t für die Mathematik
entbrannte bereits, als ich im Kindergarten die
Zahlen kennen lernte. Wie viele Kinder, zählte
auch ich einfach so zum Spaß bis Hundert oder
bis Tausend und dabei kam eines Tages die Frage auf, ob man ewig weiter zählen könne. Gibt
es eine größte Zahl, nach der es nichts Höheres
mehr gibt?
te ich zum ersten Mal mein mathematisches
Wissen zu verteidigen, was es noch viel interessanter machte, da ich bemerkte, dass nicht
jeder diesen Verstand und diese Neugierde
hatte, wie ich.
Diese Wissbegier ließ mich immer mehr
Facetten der Mathematik entdecken, die noch
heute eine tiefe Faszination auslösen.
Die folgenden Ausführungen sollen einen
Einblick in meine Begeisterung von der Mathematik ermöglichen.
„Die Mathematiker sind eine Art Franzosen: redet
man zu ihnen, so übersetzen sie es in ihre Sprache,
Als ich meinem Vater die Frage stellte, und dann ist es alsobald ganz etwas anderes.“
konnte ich mich nicht damit zufrieden geben,
Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832)
dass „die Unendlich“ die höchste Zahl sei, die
aber eigentlich keine richtige Zahl sei. Nein,
Dieses „andere“ eröffnet völlig neue Perich verlangte eine richtige Antwort und so
spektiven, da die Sprache der Mathematik
fragte ich ihn, was die höchste Zahl sei, die er durch ihren Aufbau eigene Akzente setzt. Lokenne. Das war die Dezillion.
gische Zusammenhänge lassen sich in ihr
ohne viele Worte ausdrücken. Dadurch entDiese Sicherheit allein, dass ich eine Zahl
steht eine neue Denkweise, die es ermöglicht,
gefunden hatte, die eine Antwort auf meine
einen Sachverhalt von einer ganz anderen SeiFrage lieferte, reichte mir jedoch nicht aus. Ich
te her zu beleuchten.
wollte genau wissen, um was für eine Zahl es
sich handelte. Daraufhin erklärte mein Vater
Darüber hinaus ist die Logik der Mathemamir, dass es eine „Eins mit sechzig Nullen“ tik unendlich; es werden immer wieder neue
sei und wir nahmen ein Papier, malten sie auf Zusammenhänge und Formeln entdeckt. Desund hängten den zwei Meter langen Streifen
halb ist sie so umfangreich und spannend, da
an meine Zimmertür. Bis zur fünften Klasse, sie stets eine neue Überraschung bereithalten
in der ich die Dezilliarde kennen lernte, war kann. Die Logik der literarischen Sprache hindies die größte Zahl, die ich kannte.
gegen, die durch die Grammatik verkörpert
wird, ist endlich, da diese in wenigen Jahren
Meiner Kindergartenfreundin berichtete
erlernt werden kann. Die Mathematik jedoch
ich selbstverständlich von meiner neuen Er- lässt sich niemals vollständig begreifen.
kenntnis. Die jedoch wusste damit nicht viel
anzufangen und es begann eine Diskussion,
Durch die Fähigkeit, beide Sprachen zu beob es diese Zahl überhaupt gäbe. Dort lern- herrschen, die Sprache der Mathematik und
100
Faszination Mathematik
die eigene Muttersprache, wird das Verständnis der Welt erweitert. Selbst beim Vergleich
zweier literarischer Sprachen fällt auf, dass diese von der jeweiligen Kultur geprägt sind und
bestimmte Redewendungen und Wörter enthalten, die die Denkweise bestimmen. In der
Mathematik sind dies die Verknüpfungen, die
neue Zusammenhänge herstellen können.
Bezogen auf das Leben kann die Mathematik zwar vieles berechnen, jedoch kann sie
nicht in der Lage sein, die Handlungen der
Menschen vorauszusagen. Sie ist rational und
erfasst nicht alle Schicksale des richtigen Lebens.
Allerdings gibt es in der Physik, in der
die Mathematik sehr stark präsent ist, eine
Formel, die offenbart, dass auch keine andere
Sprache die Unvorhersehbarkeit der Gefühle,
wie der Liebe, voraussagen kann. Dies ist die
Heisenbergsche Unschärferelation. Sie besagt,
dass der Ort und Impuls eines Quantenobjekts
nicht eindeutig festgelegt sind. Dadurch sind
sie nicht vorhersagbar; es ist lediglich möglich, eine zugehörige Wahrscheinlichkeit auszurechnen. Die Mathematik veranschaulicht
somit, warum der Mensch bestimmte Situationen nicht voraussehen kann – weder mit
ihrer Sprache, noch mit irgendeiner anderen.
Infolgedessen hat ein Mathematiker nicht
mehr Macht, als ein anderer Mensch, diese
Welt zu verstehen. Er begreift sie nur auf eine
andere Weise: durch die Sprache der Mathematik.
Die Mathematik kann nicht nur das Leben
bereichern, sondern außerdem den Naturwissenschaften eine belegbare Grundlage geben,
so dass relativ exakte Beschreibungen und Voraussagen möglich werden können.
Neue Beweise und Entdeckungen erweitern das logische Konstrukt der Mathematik
fortwährend. Sie wird durch die Arbeit der
Mathematiker immer komplexer. Wird sie
vielleicht eines Tages in der Lage sein, die gesamte Welt zu beschreiben? Der Bauplan existiert schon; der Mensch muss die Mathematik
nur weiterentwickeln, bis sie so komplex wird
wie der Kosmos selbst. Ob die Menschen jemals in der Lage sein werden, das Universum
zu verstehen, wird sich zeigen. Das Potential,
es eines Tages vollständig zu beschreiben, hat
die Mathematik bestimmt.
Weiterhin ist die Mathematik vom Anfangspunkt an nachvollziehbar, da sie von Menschen
erfunden ist, die alle mit den einfachsten Axiomen begannen. Ihre Nachvollziehbarkeit und
Allgemeingültigkeit sind für jede Wissenschaft
erstrebenswert.
Je tiefer der Mensch in die Mathematik hervordringt, desto mehr öffnet sich ihre Schönheit und ihre Vollkommenheit. Es ist vielleicht
wie mit der Mandelbrotmenge: Auf den ersten
Blick ist sie nur eine Darstellung der komplexen Zahlen, doch die Details offenbaren eine
unbeschreibliche Schönheit, kreiert von der
Mathematik.
Auch werden Symmetrien allgemein von
Menschen als ästhetisch empfunden, woraufhin die Vielzahl an Symmetrien in der Mathematik der Schönheit entscheidend Ausdruck
verleihen. In vielen verschiedenen Fachgebieten können die gleichen Muster angewandt
werden, wodurch das Verständnis erheblich
erleichtert wird. Hat man sich diese mathematische Denkweise erst einmal angeeignet, steht
einem die Welt der Mathematik offen. Mit etwas Mühe lässt sich nun so gut wie jede The-
Faszination Mathematik
matik verstehen. Darüber hinaus ist es auch
möglich, mit der gelernten Sprache selber
neue Konzepte zu entwickeln.
Diese Vielseitigkeit, einerseits wichtige Berechnungen zu ermöglichen und andererseits
das Leben mit ihrer Logik zu bereichern, grenzt
an Perfektion. Nur derjenige, der mit der Mathematik auf einer Wellenlänge ist, kann ihre
Schönheit erfassen. Um all ihre faszinierenden
Facetten zu erfahren, ist es der Mühe durchaus
wert, sich durch die komplizierten Beweise immer wieder zur Verzweiflung zu bringen. Ähnlich einer Sinuskurve kommt nach einem Tiefpunkt wieder ein Hochpunkt, der die Begeisterung erweckt und die ganzen vorherigen Zweifel wieder in den Schatten stellt. Nur derjenige,
der den Mut hat, den Schwierigkeiten stand
zu halten, wird mit dem Einblick in eine wunderschöne Welt belohnt, die mit jedem Schritt
mehr von sich offenbart.
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Auszug aus dem Brief vom 14. Januar 1875
an Obermedizinalrat Henle in Göttingen.
103
Einige Selbstzeugnisse,
zum Beispiel Briefe Dedekinds
Prof. Dr. Heiko Harborth, TU Braunschweig
W i r d m a n i r g e n d w o in der Welt von
einem Mathematiker nach dem Herkunftsort
„ … Sein Leben theilt sich in Lernen und Musizieren. Oft begreife ich nicht, woher er die viele Zeit
zu diesem Letzteren nimmt, da er doch immer in
der Schule die besten Zeugnisse bekommt …“
Braunschweig gefragt, so ist es meistens eindrucksvoll, wenn man einer kurzen geographischen Einordnung hinzufügt, dass Gauß
und Dedekind hier geboren sind und dass
Richard Dedekind die meiste Zeit als Professor
hier Mathematik gelehrt hat.
Ein Kommilitone des älteren Bruders Adolf
von Richard schreibt 1850 an Adolf:
„… Der Kleine (Richard) soll also jetzt auch nach
der Paradiesischen Norddeutschen Hochschule
G.? – das ist recht. Da werden sie ihm schon
die verwünschten Zahlen aus dem Kopf bringen
und die eklige cycloide kann er praktisch studieren, wenn Sonntags Nachmittags nach Gleichen,
Witzenhausen gefahren wird. Die Brüderchen
ziehen doch jedenfalls zusammen? Das wird ein
ganz netter Haushalt werden, wenn der Steinund der Zahl-Reiche Herr Dedekind zusammenziehen …“
In Gesprächen über das Leben von Richard
Dedekind ergeben sich immer zwei Fragen
ganz besonders:
1. Warum ist er der Herzoglich Technischen
In seiner Zeit als Privatdozent in GötHochschule Braunschweig treu geblieben
tingen schreibt Richard Dedekind 1857 an seiund nicht einem Ruf an eine Universität ge- nen Vater:
folgt?
„… Im übrigen führe ich stets das seit Jahren ge2. Warum ist er sein ganzes Leben lang unver- wohnte Leben fort: ich arbeite recht viel und Diheiratet geblieben?
richlet ist sehr zufrieden mit allem, was ich zu
Stande bringe, und läge es an ihm, so wäre ich
Mit klaren Antworten auf beide Fragen wird
längst irgendwo Professor; aber auch er kann das
wohl auch Richard Dedekind selbst seine nicht erzwingen; das muss also mit Ruhe erwarSchwierigkeiten gehabt haben.
tet werden. Mit meinem Berliner Rivalen Kronecker stehe ich im freundschaftlichen Briefwechsel
Bei der Suche nach Material zum 150. Ge- und die Achtung, die er mir über meine Arbeiburtstag hat Ilse Dedekind, eine Großnichte
ten ausdrückt, gefällt mir sehr; es sind jetzt auch
von Richard Dedekind, zwei Waschkörbe mit einige von meinen Aufsätzen gedruckt und ich
Briefen der Familie Dedekind aus drei Jahr- hoffe, dass sie Beifall finden werden. Diese Dinge
zehnten gefunden. In zwei Büchern 1, 2 hat sie und der tägliche Verkehr mit Dirichlet bilden den
Ausschnitte zusammengestellt und veröffent- Hauptteil meines jetzigen Lebens; …“
licht, die unter anderem Eindrücke zum Leben
von Richard Dedekind ermöglichen.
In seinen Jahren in Göttingen (1850–1858)
nahm Richard Dedekind an dem gesellschaftIn einem Brief von 1947 schreibt die Mut- lichen Leben vor allen Dingen mit seinem Celter Caroline über Richard:
lo- und Klavierspiel teil. So begleitete er auch
104
Einige Selbstzeugnisse, zum Beispiel Briefe Dedekinds
den Vortrag von Liedern und nicht selten führ- legium Carolinum, schreibt Richard Dedekind
te das freundliche Zunicken beim Einsatz des 1873 an Frau Henle:
Gesangs einer jungen Dame zum Gerücht „ … Wie ich dazu gekommen bin, trotz größter
über eine baldige Verlobung.
Abneigung gegen Verwaltungsgeschäfte das Directorat unseres Carolinums auf drei Jahre zu
Regelmäßig begleitete Richard das Singen übernehmen, und zwar unter den ungünstigsvon der sieben Jahre jüngeren Bertha Wagner, ten Verhältnissen, das zu erzählen, würde zu
die 1857 an Richards Schwester Mathilde über lang werden … ganz heimlich, wenn ich mal ein
ein Studentenfest berichtet:
paar freie Stunden habe, denke ich an mein ma„ … Dein Herr Bruder hatte die Einladung abge- thematisches Lieblingsthema, „die Theorie der
lehnt, weil er arbeiten musste; er ist plötzlich so Ideale“, und arbeite mit recht hübschem Erfolge
ungeheuer solide geworden und macht sich Vor- daran weiter; nur schade, daß außer mir kaum
würfe über sein vieles Ausgehen …“
noch ein paar Menschen auf dieser Erde sich dafür interessieren …“
Im Mai 1859 beantwortet Richard aus Zürich einen Brief von Mathilde:
In seiner Antwort 1875 an Herrn Henle auf
„ … daß Du in der „Chur’schen Familie“ schon
die Anfrage nach einer möglichen Professur
die künftige Verwandtschaft erblickst, amüsierte
von Richard Dedekind in Göttingen schreibt
mich sehr, … sehe ich mit behaglicher Erinne- er:
rung auf diesen Tag zurück, aber das ist alles. „ … denn hier glaube ich nützlich zu sein und
Denn vom bloßen Wohlgefallen an dem Verkehr meine Stellung wird, sobald ich am nächsten
mit einer Familie bis zum Verlieben in eine be- 1. September mein Directorat niedergelegt haben
stimmte Persönlichkeit ist noch ein sehr großer werde, wieder eine sehr ruhige und sie lässt mir
Schritt, zu dem ich nicht den kleinsten Ansatz so viel freie Zeit, wie ich es mir wünschen kann …
gemacht habe; und vom bloßen Verlieben bis zu Und nun meine Familie; meine Mutter in ihrem
etwas Ernsthafterem ist noch ein viel größerer hohen Alter zu überreden … Alles zu verlassen …
Schritt, für mich wenigstens …“
würde schwerlich zu rechtfertigen sein. Sie mit
meiner Schwester hier allein zurücklassen - ich
Nach seiner Rückkunft 1862 nach Braun- kann mir kaum denken, daß ich das thun würde;
schweig liest man in einem Brief von Richard bis jetzt habe ich sie natürlich mit solchen GeDedekind an die Familie Henle in Göttingen:
danken, die ja noch im weiten Felde liegen, nicht
„ … Hier in Braunschweig ist es auch gut … Auf
beunruhigen wollen …“
einer Universität ist zwar mehr Anregung, aber
auch mehr Rivalität und Missgunst; die Letztere
Aus einem Bericht der Schwester Julie
ist mir unerträglich und auch ohne Rivalität hof- über Richard Dedekind:
fe ich, Energie zum Fortarbeiten zu behalten. Ich „ … Die kleine Welt der Familie, vereint mit der
glaube nicht, daß ich diese Ansichten so leicht Gelegenheit stillen zurückgezogenen Forschens,
ändern werde …“
zieht er so der größeren Welt der Anerkennung,
aber auch den weitergespannten Möglichkeiten
Während des ersten gewählten Direkto- an bedeutenden Universitäten vor. Man darf sich
rats (1872–1875) am Polytechnikum, dem Col- allerdings Richard Dedekinds Leben in Braun-
Einige Selbstzeugnisse, zum Beispiel Briefe Dedekinds
Auszug aus
Dedekinds
Taschenkalender
von 1903
schweig nicht auf dem „Abstellgleis“ und fern
der wissenschaftlichen Welt vorstellen. Viele Mathematiker von Rang haben ihre Reiseroute über
Braunschweig gelegt, um bei ihm zu einem wissenschaftlichen Gespräch abzusteigen (Wilhelm
Weber, Minkowski, Cantor, Frobenius, Heinrich
Weber, Kronecker, Clebsch … usf). Auch pflegt er
seine Reisen so zu planen, daß sie meist einem
Treffen mit Kollegen dienen … „
Zum Beginn seines Ruhestandes schreibt
Richard Dedekind 1895 an Frobenius in Berlin:
„… Was aber meinen Rücktritt vom Amte betrifft, so ist der zwingende Grund dafür wirklich
der gewesen, daß ich den besonderen Anstrengungen durch zwölf wöchentliche Vorlesungen und
Übungen mit einer großen Anzahl von Zuhörern
mich nicht mehr hinreichend gewachsen fühlte;
an einer Universität würde ich wahrscheinlich
nicht zurück getreten sein; das Dociren macht
mir große Freude; ich habe auch in diesem Winter mit Passion meine einstündige Vorlesung über
Wahrscheinlichkeitsrechnung gehalten (wie vor
40 Jahren bei Beginn meiner Lehrtätigkeit) und
eine zweistündige über Fourier’sche Reihen; in
der letzteren habe ich einen, in der ersten drei
Zuhörer … und ich verdiene durchschnittlich beinahe 15 RM in der Stunde, was mir auch Freude
macht …“
In seinem Taschenkalender machte Richard
Dedekind alltägliche Notizen, jedoch keine mathematischen. Nur der Kalender vom Jahre 1903
ist erhalten geblieben.
Das Wesen von Richard Dedekind wird als
durch Bescheidenheit, durch Humor, durch
105
106
Einige Selbstzeugnisse, zum Beispiel Briefe Dedekinds
Exaktheit, durch Pflichtbewusstsein und durch
Musikalität gekennzeichnet beschrieben. Er
legte kleine Reime und Gedichte bei, wenn er
seinen Verwandten oder Arbeitern Geld zukommen ließ. Er liebte Spaziergänge und abends vor
dem Schlafengehen legte er häufig Patiencen.
Als Richard Dedekind in den neunziger
Jahren seinen Todestag in einem gedruckten
Kalender angezeigt findet, schreibt er dem
Herausgeber, dass das Tages- und Monatsdatum künftig wohl zutreffen möge, aber nach
seinem Tagebuch habe er seinen Todestag in
bester Gesundheit mit seinem Freund Georg
Cantor in Bad Harzburg zugebracht, allerdings habe Cantor nicht ihm selbst, sondern
einem mathematischen Irrtum von ihm den
Todesstoß versetzt.
Als 1906 der 75-jährige Richard Dedekind
eine zukünftige Schwiegertochter von seinem
Bruder Adolf bei ihrem ersten Besuch bei Dedekinds zu Tische führt, sagt sie ihm, daß sie
Mathematik für eine trockene Wissenschaft
hält und daß sie sich nicht sehr dafür erwärmen kann. Daraufhin sagt Richard Dedekind
lächelnd: „Und sehen sie, für mich birgt das
Einmaleins die größte Poesie.“
Die Familiengrabstätte befindet sich als
Ehrengrab der Stadt in der Abteilung 29 auf
dem Hauptfriedhof.
Der Schreibtisch aus dem Dienstzimmer
von Dedekind befindet sich im Braunschweigischen Landesmuseum.
Der Matrikel-Buch-Eintrag von 1848, die
1930 herausgegebenen Gesammelten Werke
und die 1995 aus Evansville, Indiana, zurück
erworbenen Briefwechsel mit Georg Cantor,
Georg Frobenius und Heinrich Weber sind in
der Universitätsbibliothek zu finden.
In der Pockelsstraße 4 wurde 1981 links neben dem Eingang ein von Jürgen Weber gestaltetes Relief von Richard Dedekind angebracht.
Gegenüber, in der Pockelsstraße 14 in der
ersten Etage des Forum-Gebäudes findet man
ein grosses Ölgemälde gegenüber einem von
Karl Friedrich Gauß. Beide Bilder wurden vom
Braunschweigischen Hochschulbund 1927 bei
der Feier zum 150sten Geburtstag von Gauß
und gleichzeitig verspäteter Gedenkfeier zum
Tod von Richard Dedekind der Technischen
Hochschule mit einem Festakt im Schloss
übergeben. Auf dem Bild trägt Dedekind ein
Was kann man heute noch in BraunBuch mit dem Titel „Idealtheorie“ in der Hand.
schweig zu Richard Dedekind finden?
Er hat jedoch nie ein solches geschrieben, sondern in seiner bescheidenen Art diese Theorie
Es gibt eine Dedekindstrasse in der Lin- in der dritten Auflage der von ihm herausgedenbergsiedlung (seit 1945).
gebenen Vorlesungen von Dirichlet über Zahlentheorie als Ergänzung in dem berühmten
In der ersten Etage des Hauses Jasperallee „elften Supplement“ entwickelt.
n
87 hat Dedekind seit 1894 mit seiner Schwes- 1
Ilse Dedekind: Aus Körben und Schachteln.
ter Julie zusammen gewohnt. Die Stadt hat Quadrato Verlag 1994.
1981 eine Plakette angebracht und seit Okto- 2
Ilse Dedekind: Unter Glas und Rahmen.
ber 2007 steht vor dem Haus eine „Persön- Appelhans Verlag 2000.
lichkeitstafel“.
107
Autoren
Maria Heuer,
geb. 1989 in Braunschweig,
Klasse 13 des Braunschweiger Wilhelm-Gymnasiums,
will nach bestandenem Abitur an der
Universität in Göttingen Theoretische Physik studieren.
Fotos: Susanne Hübner
Die Industrie- und Handelskammer dankt allen Autoren
der Gedenkschrift für Richard Dedekind:
108
Autoren
Geb. 1938; 1958 bis 1964 Studium in Mathematik und Physik für das
Höhere Lehramt; 1965 Promotion; 1972 Habilitation; ab 1978 Universitätsprofessor in Braunschweig; ab 2003 Professor a. D.
Es liegen Forschungsergebnisse in mehr als 180 Veröffentlichungen
aus den Gebieten Zahlentheorie, Kombinatorische Geometrie, Kombinatorik und Graphentheorie vor. Von 19 „Doktorkindern“ wurden die
Promotionen betreut.
Mitglied in der Braunschweigischen Wissenschaftlichen Gesellschaft;
Mitglied in 13 internationalen Mathematischen Gesellschaften; Mitherausgeber der Zeitschriften „Mathematische Semesterberichte“ (bis
2001), „Fibonacci Quarterly“ und „Integers: Electronic Journal of Combinatorial Number Theory“.
Professor Dr. Heiko Harborth
Diskrete Mathematik
TU Braunschweig
e-mail: [email protected]
Geb. 1964; Studium der Mathematik mit Nebenfach Theoretische
Physik an der TU Braunschweig; Promotion (1994) und Habilitation
(2001) an der TU Braunschweig; seit 2005 Direktor des Mathematikzentrums Mathe-Lok am Institut Computational Mathematics der TU
Braunschweig.
Forschungsgebiete: Topologische Inzidenzgeometrie, insbesondere
Translationsebenen und symmetrische Ebenen, Anwendung geometrischer und algebraischer Methoden in der Robotik
Beirat und Landesbetreuer für Niedersachsen des Vereins „Begabtenförderung Mathematik e.V.“, Mitherausgeber der Zeitschrift „Mathematikinformation“.
apl. Professor Dr. Harald Löwe
Institut Computational
Mathematics
TU Braunschweig
E-Mail: [email protected]
www.mathe-lok.de
Derzeitige Tätigkeit: Neben Fortbildungen für Mathematiklehrerinnen
und -lehrern führt das Mathematikzentrum Mathe-Lok vor allem Projekte für Schülerinnen und Schüler im Bereich der Mathematik und
ihrer Anwendungen durch. Hierdurch soll einerseits das Interesse am
Fach Mathematik geweckt und gefördert werden, andererseits bietet die
Mathe-Lok die Möglichkeit, sich bereits vor einem einschlägigen Studium mit universitärer Mathematik auseinanderzusetzen.
Autoren
Geb. 1947; Studium der Mathematik an den Universitäten Tübingen,
Göttingen und Warwick (England), danach Diplom (1972), Promotion
(1975) und Habilitation (1980) in Tübingen.
Nach einer Zeitprofessur in Tübingen und einer Lehrstuhlvertretung
in Erlangen (1987) folgte 1987 der Ruf auf eine Professur an der TU
Braunschweig.
Forschungsgebiet: Geometrie in verschiedenen Spielarten, insbesondere Topologische Geometrie.
Professor Dr. Rainer Löwen
Buchpublikationen: Compact Projective Planes (mit H. Salzmann, D.
Betten, T. Grundhöfer, H. Hähl und M. Stroppel, 1995), The Classical
Fields (mit H. Salzmann, T. Grundhöfer und H. Hähl, 2007).
Herausgeber von Advances in Geometry. Federführender Vertrauensdozent für die Studienstiftung des deutschen Volkes an der TU Braunschweig.
Institut für Analysis und Algebra
TU Braunschweig
e-mail: [email protected]
Geb. 1958; Studium des Maschinenbaus an der Fachhochschule Hannover, anschließend Studium der Mathematik Universität Hannover; Promotionsstudien an der Oxford University; 1991 Promotion an der Universität Stuttgart; 1995 Habilitation in Darmstadt; von 1996 bis 1999
Professor für Angewandte Mathematik an der Universität Hamburg;
seit 1999 Professor für Technomathematik an der TU Braunschweig.
Forschungsgebiete: Analysis und Numerik hyperbolischer Erhaltungsgleichungen, Geschichte der Analysis.
Professor Dr. Thomas Sonar
Institut Computational
Mathematics
TU Braunschweig
e-mail: [email protected]
Buchpublikationen: Mehrdimensionale ENO-Verfahren (1997), Einführung in die Analysis (1999), Mathematik für Ingenieure Bd.3 (mit H.J. Oberle, K. Rothe, 2000), Angewandte Mathematik, Modellbildung
und Informatik (2001), Proceedings of the GAMM Workshop Discrete
Modeling and Discrete Algorithms in Continuum Mechanics (Edt. mit
I. Thomas, 2001), Der fromme Tafelmacher: Die frühen Arbeiten des
Henry Briggs (2002).
Mitglied der Braunschweiger Wissenschaftlichen Gesellschaft BWG.
Herausgeber von ZAMM, ZAMP, Mathematische Semesterberichte,
Buchreihe Mathematik für das Lehramt (Springer Verlag), Buchreihe
Disquisitiones Historiae Scientiarum-Braunschweiger Beiträge zur
Wissenschaftsgeschichte.
109
Familientafel, Nachfahren von Richard Dedekind
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Die Industrie- und Handelskammer Braunschweig
bedankt sich bei den Förderern, welche die Verwirklichung
dieses Buchprojektes ermöglicht haben:
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