Nicht qualifizierte Arbeit oder nicht anerkannte Qualifikation?

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FOKUS
Ungelernt – Angelernt
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POLARISIERUNG DER QUALIFIKATIONEN
Nicht qualifizierte Arbeit oder
nicht anerkannte Qualifikation?
José Rose
Begriffe wie «Wissensgesellschaft» sind in aller Munde, eine ständig steigende Nachfrage
nach höheren Qualifikationen gilt als selbstverständlich. Nicht nur in Frankreich
kam es in jüngster Zeit jedoch zu einer unerwarteten Zunahme unqualifizierter Stellen .
Und die Zahl der Jugendlichen , die das Bildungssystem ohne Abschluss verlassen , bleibt
unverändert hoch. Ist es vielleicht gar nicht zulänglich von «unqualifiziert» zu sprechen?
Die Qualifikation der Arbeit, ein in der Soziologie vielfach untersuchtes Thema, ist eine zurzeit hochaktuelle Frage.1 Wie ist die etwas überraschende Zunahme sogenannt unqualifizierter Stellen
zu interpretieren? Was ist überhaupt mit dem – oft missbräuchlich
verwendeten – Wort «unqualifiziert» gemeint? Mit solchen Fragen
beschäftigen sich einige aktuelle französische Studien im Auftrag
von Organisationen wie dem Céreq (Centre d’études et de recherche sur les qualifications), dem Conseil d’analyse stratégique, der
Dares (Direction de l’animation de la recherche, des études et des
statistiques) oder dem INSEE (Institut national de la statistique et
des études économiques).
DREI EBENEN DER QUALIFIKATION
Qualifikation betrifft drei Ebenen – den Arbeitsplatz, die Tätigkeit
und die Person. Jede Ebene hat ihre eigene Logik, ihre eigenen
Prozesse und ihre eigenen bestimmenden Faktoren. In erster Linie
erfordert der Arbeitsplatz eine bestimmte «Qualifikation». Anhand
dieser Qualifikation wird Arbeit bewertet und entlohnt, wobei dies
wiederum durch Konventionen und statistische Normen festgelegt
wird. Zudem definiert sie einen Arbeitsinhalt im Rahmen der Arbeitsteilung. Schliesslich beschreibt «Qualifikation» eine Person,
deren Kenntnisse, Fähigkeiten, Qualitäten, Kapazitäten, Fertigkeiten und Kompetenzen am Arbeitsplatz verwertbar sind. Diese drei
Dimensionen stehen in keinem systematischen Zusammenhang.
Nur die gesellschaftliche Konvention setzt sie in Beziehung zueinander und verbindet Tätigkeiten mit einer bestimmten Entlohnung
und Ausbildungsdauer. Natürlich gilt dies nicht für alle Arbeitsplätze in vollem Umfang.
Die Qualifikation prägt das Arbeitsverhältnis. Die Einstufung der
Qualifikationen ist das Ergebnis einer Dynamik, die sich im historischen und sozialen Kontext zeigt. Sie hängt von vielen Faktoren
ab: von der technologischen Entwicklung, der Arbeitsmarktlage,
den beruflichen Beziehungen, der Unternehmens- und der Bil-
dungspolitik. Die Hierarchie der Qualifikationen ist Ausdruck der
sozialen Beziehung und des Kräfteverhältnisses zwischen Arbeitgebenden und -nehmenden. Sie widerspiegelt den Wert, den die
Gesellschaft einer Tätigkeit beimisst. In diesem Sinn ist sie ein soziales Konstrukt mit politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Dimensionen.
UNQUALIFIZIERTE ARBEITSPLÄTZE BLEIBEN WICHTIG
Wo ist nun die Grenze zwischen qualifizierten und unqualifizierten Arbeitsplätzen, Tätigkeiten und Personen? Das ist schwer zu
beantworten, denn wo läge der ökonomische und soziale Nutzen
einer gänzlich unqualifizierten Tätigkeit, ausgeführt von einer Person ohne jede Qualifikation?
In der Realität gibt es Abstufungen und verschiedene Formen der
Qualifikation. Dabei muss unterschieden werden zwischen:
– gering qualifizierter Arbeit (einfache, vorgegebene, repetitive,
mit wenig Eigeninitiative und Verantwortung verbundene Tätigkeiten, die keine Vorkenntnisse erfordern und rasch erlernbar
sind),
– Arbeitsplätzen, die in den Nomenklaturen als unqualifiziert geführt werden und gering entlohnt sind, sowie
– Personen, die das Bildungssystem ohne formellen Nachweis einer Berufsausbildung verlassen haben.
Unqualifizierte Arbeitsplätze spielen nach wie vor eine wichtige
Rolle. Nachdem ihre Zahl lange rückläufig war, begann sie ab Mitte
der 1990er-Jahre, begünstigt durch die Politik und die Praxis der
Unternehmen, wieder zu steigen. Diese Stellen sind vor allem im
tertiären Sektor zu finden – im Handel, im Gastgewerbe und im
privaten Bereich. Der Status der Beschäftigten ist niedrig, die Ar1
Dieser Artikel ist eine Zusammenfassung der Studie «La non qualification:
question de formation, d’emploi ou de travail?», die 2009 vom Céreq in
Net.Doc Nr. 53 veröffentlicht wurde. Diese Studie ist im Internet verfügbar
unter: www.cereq.fr
PANORAMA
5|2009
5
beit oft befristet und schlecht bezahlt. Die Tätigkeiten werden
meist von Jugendlichen, Berufsanfängerinnen und -anfängern,
Frauen, Ausländerinnen und Ausländern, Personen aus niedrigen
sozialen Schichten und Menschen mit geringer Bildung ausgeführt.
Die beruflichen Perspektiven sind unterschiedlich, eine nicht qualifizierte Tätigkeit kann ein Einstieg oder eben «Endstation» sein.
ANERKENNUNG «NATÜRLICHER» FÄHIGKEITEN
Noch immer ist in vielen Bereichen eine Polarisierung der Qualifikationen zu beobachten. Stellen, die ein hohes Kompetenz- und
Qualifikationsniveau voraussetzen, stehen Arbeitsplätzen mit geringen Anforderungen gegenüber. Doch viele Tätigkeiten, auch
untergeordnete, verlangen gleichzeitig Selbständigkeit, hohe Aufmerksamkeit, Verständnis von Regeln, Vielseitigkeit, Einsatzfreude
und Verfügbarkeit – kurz: Sie erfordern mehr Kompetenzen und
Wissen, als es scheint. Die Arbeitsabläufe werden komplexer, die
Arbeitnehmenden sehen sich einer Vielzahl unterschiedlicher
Situationen gegenüber, die Kenntnisse in mehreren Gebieten verlangen. Die Anerkennung dieser Fähigkeiten wird somit immer
dringlicher. Besonders akut ist dieses Problem im Dienstleistungsbereich, wo sogenannte «natürliche» Fähigkeiten vorausgesetzt
werden, die weder erlernt noch anerkannt werden müssen und
vor allem Frauen zugeschrieben werden.
Der Anteil der Abgängerinnen und Abgänger ohne Qualifikation,
der lange Zeit gesunken war, stagniert auf problematisch hohem
Niveau. Die betreffenden Menschen sind beim Zugang zum Arbeitsmarkt deutlich benachteiligt. Oft ist ihr schulisches Scheitern
auf eine Kombination mehrerer sozialer und familiärer Faktoren
zurückzuführen. Sie üben überproportional häufig unqualifizierte
Tätigkeiten aus, auch wenn es einigen von ihnen gelingt, die Eingliederungsphase zu überstehen und im Berufsleben Fuss zu fassen. Diese Situation ist nicht neu, sie ist relativ stabil und nicht auf
Frankreich beschränkt.
Zur Lösung dieses Problems wurden zahlreiche Massnahmen entwickelt, die sich unterschiedlich auswirkten. So wurden die Sozialversicherungsbeiträge für Niedriglohn-Arbeitsplätze gesenkt, was
die Anzahl unqualifizierter Stellen steigen liess. Es gab Projekte
mit dem Ziel, die Zahl der Schulabgängerinnen und -abgänger
ohne Qualifikation zu reduzieren und gering Qualifizierte einzugliedern (Zusatzausbildung, Schaffung spezieller Stellen, Betreuung benachteiligter Jugendlicher). Der Erfolg blieb jedoch bescheiden. Andere Möglichkeiten hingegen, wie die Anerkennung
beruflicher Erfahrung, berufsbegleitende Betreuung oder die Requalifizierung der Arbeit, wurden vernachlässigt.
NEUBEWERTUNG DER ARBEIT
Niemand weiss, wie die Zukunft im unqualifizierten Bereich aussehen wird. Angesichts der jüngsten Entwicklungen ist jedoch anzunehmen, dass die Anzahl der jungen Menschen, die das Bildungssystem ohne Qualifikation verlassen, unverändert hoch bleiben
wird. Eine Senkung wäre nur mit grossen koordinierten Anstrengungen in den Bereichen Bildungspolitik, Sozialpolitik und Stadtplanung möglich. Dennoch ist zu befürchten, dass die Eingliede-
rungsprobleme chronisch bleiben; dafür sorgen allein die Selektionsmechanismen des Arbeitsmarkts. Die Prognosen sprechen
auch von einer weiteren Tertiarisierung und Polarisierung, was
den Trend zu unqualifizierten Arbeitsplätzen vor allem im Bereich
der persönlichen Dienstleistungen weiter stärken wird. Entscheidend werden aber auch die Beziehung zwischen Arbeitgebenden
und Arbeitnehmenden, die Formen der Arbeitsteilung, die Personalpolitik der Betriebe, die öffentliche Politik, die gesellschaftliche
Wahrnehmung und die soziale Anerkennung der Qualifikationen
einzelner Tätigkeiten sein.
Es gibt also durchaus Möglichkeiten, gemeinhin als «unqualifiziert» bezeichneten Personen, Stellen und Tätigkeiten ein anderes
Gewicht zu verleihen. Müsste man nicht neben Massnahmen bei
den Lohnkosten auch an eine Neubewertung der Arbeit denken?
Brauchen wir nach einer Verbesserung der beruflichen Erstausbildung nicht auch Anstrengungen bei der Weiterbildung? Wären neben Eingliederungsprojekten nicht auch Überlegungen zu einer
Qualifizierung der Arbeit notwendig? Für eine erfolgreiche Zukunft braucht es Massnahmen, die alle Aspekte der Qualifikation
einbeziehen. Nur so wird es möglich sein, die Menschen zu qualifizieren, die Arbeit aufzuwerten und letztlich den Anteil der «unqualifizierten» Tätigkeiten zu senken.
Literatur
Amossé, T., Chardon, O. (2006): Les travailleurs non qualifiés: une nouvelle
classe sociale? Economie et Statistique, Nr. 393–394, S. 203–229.
Arbeitsgruppe unter der Leitung von D. Méda und F. Vénnat (2004):
Le travail non qualifié. Permanences et paradoxes, La Découverte.
Commissariat Général au Plan (1978): La qualification, de quoi parle-t-on?
La Documentation française.
Lefresne, F. (August 2005): Les jeunes non qualifiés, Dossier für Problèmes
politiques et sociaux, Nr. 915.
Rose, J. (2004): Travail sans qualité ou travail réputé non qualifié?
In: Le travail non qualifié, permanences et paradoxes, Leitung: D. Méda und
F. Vennat, La Découverte, S. 227–241.
Santelmann, P. (2002): Qualifications ou compétences: en finir avec la notion
d’emplois non qualifiés, Editions Liaisons.
José Rose ist Professor an der Université de Provence, Abteilung für
Soziologie, 29, Avenue Robert Schumann, 13621 Aix-en-Provence Cedex 1.
[email protected].
Übersetzung: AHA Translations.
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