HANS WAGNER SCHRIFTEN ZUR RELIGION UND ZUR

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HANS WAGNER
SCHRIFTEN ZUR RELIGION UND ZUR RELIGIONSPHILOSOPHIE
HANS WAGNER
Gesammelte Schriften
Herausgegeben von
Reinhold Aschenberg
Bernward Grünewald
Stephan Nachtsheim
Hariolf Oberer
HANS WAGNER
Gesammelte Schriften
Band 7
SCHRIFTEN ZUR RELIGION UND
ZUR RELIGIONSPHILOSOPHIE
Herausgegeben von
Reinhold Aschenberg
2017
Ferdinand Schöningh
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© 2017 Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn
(Verlag Ferdinand Schöningh ist ein Imprint der Brill Deutschland GmbH,
Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn)
Internet: www.schoeningh.de
Einbandgestaltung: Anna Braungart, Tübingen
Printed in Germany
Herstellung: Brill Deutschland GmbH, Paderborn
ISBN 978-3-506-78731-6
Einleitung des Herausgebers1
Der vorliegende Band 7 ist der numerisch letzte unserer Ausgabe der Gesammelten Schriften Hans Wagners. Er enthält zwei Monographien, die auf
dasselbe Problemgebiet bezogen sind, ansonsten aber, nach Anspruch, Inhalt und Machart, so deutlich voneinander abweichen, daß ihr kontrastives
Nebeneinander das Buch, zu dem sie vereinigt sind, unter eine gleichsam
dialektische, darin ihrer Thematik, der Religion, entsprechende Spannung
setzt. Diese Thematik war Wagner offenkundig wichtig, und zwar nicht
nur im Sinne eines Feldes wissenschaftlicher Analyse und philosophischer
Reflexion, sondern nicht minder aus persönlichen, ja „existentiellen“
Gründen.
Der eine Text, Existenz, Analogie und Dialektik, dessen Urfassung 1948
von der Philosophischen Fakultät der Universität Würzburg als Habilitationsschrift angenommen worden war,2 erschien 1953 in überarbeiteter
Form als der erste Halbband eines hochambitionierten Werkes des damals
jungen Verfassers. Die dort angekündigte, auf mehrere Teile/Bände veranschlagte Fortsetzung kam indes nie zustande, so daß das religionsphilosophische Werk Wagners sich retrospektiv als ein einzig aus diesem einen
Buch bestehendes Fragment ausnimmt, ein Fragment freilich, das in sich
kohärent ist und den Plan des Ganzen klar umreißt. – Den anderen Text,
Religionsbriefe, 2011 postum publiziert, hat der bereits emeritierte Autor,
mutmaßlich in den 1980er Jahren, auf der Grundlage realer, irgendwann
einmal an unterschiedliche Adressaten gerichteter privater Briefe, zum
1
2
Teile der Darlegungen dieser Einleitung entsprechen Passagen des Vorworts und des
Nachworts zur Erstausgabe der Religionsbriefe, und zwar nicht nur dem Inhalt nach, sondern partiell auch im Wortlaut (vgl. „Vorwort des Herausgebers“ und „Nachwort des
Herausgebers“ in der Erstausgabe [Würzburg 2011], S. VII–XII und S. 239–264). Doch
sind, auch was editorische Fragen betrifft, die Ausführungen zur Erstausgabe umfangreicher und in manchen Punkten detaillierter als diese Einleitung und der erste Teil des editorischen Anhangs des vorliegenden Bandes (infra, S. 471 f.).
Man sollte sich, um den lebensgeschichtlichen Situationskontext einschätzen zu können,
dessen erinnern, daß der Promotion (1946) und der Habilitation (1948) Wagners alles
andere als ein normaler Studienablauf vorangegangen war: Wagner hatte vor dem Krieg
lediglich vier, dazu noch von Monaten des Eingespanntseins in die paramilitärische Organisation des sog. Reichsarbeitsdienstes unterbrochene, Semester absolviert, dann folgten
Jahre des Militär- bzw. Kriegsdienstes und kurze Gefangenschaft. Während des Krieges
war es ihm zeitweise und nebenbei, im Anschluß an eine Verwundung und im Zusammenhang mit einer Ausbildung zum Dolmetscher, möglich, Vorlesungen, d. h. vermutlich
jeweils nur Stücke von Vorlesungen, in Tübingen (u. a. bei Max Wundt) und in Wien (u.
a. bei Arnold Gehlen) zu hören. Wagners Studium, dann auch die Vorbereitung sowohl
der Dissertation wie der Habilitationsschrift, konnte unter den vom Nationalsozialismus
gesetzten Bedingungen nicht anders als überwiegend privat und autodidaktisch erfolgen
(vgl. Bernward Grünewald, „Einleitung des Herausgebers“, in Bd. 3 der Gesammelten
Schriften, Paderborn 2015, S. V–XVI, hier V).
VI
ZU DIESER AUSGABE
Zweck der Veröffentlichung zusammengestellt und redigiert. Er präsentiert sich bescheiden als ein „Büchlein“ (S. 3 f. [233 f.]),1 in welchem Wagner, statt Forderungen der Wissenschaftlichkeit, darunter der nach „Objektivität“, genügen zu wollen, eine Reihe persönlich gestimmter Betrachtungen zu Fragen der Religion, namentlich des Christentums und des Katholizismus, darlegt. Indem Wagner sein eigenes Christsein bekundet und
erklärt, sich hier lediglich wie ein „durchschnittlicher Christ unserer Zeit“
zu äußern (S. 6 [236 f.]), spricht er die Leser als an Religionsdingen interessierte Menschen, Bürger, Zeitgenossen an, nicht etwa als philosophische
oder theologische Fachleute.
Während Wagner im ersten Buch bestrebt ist, die Problematik von
Glauben und Religion, seiner „existentiellen“ Involviertheit zum Trotz, in
sachlich-distanzierter Einstellung zum Gegenstand genuin philosophischer
Theoriebildung zu bestimmen und auf diese Weise echtes, gegenüber jeder
religiösen wie antireligiösen Haltung neutrales, dem Vollzug sei es des
Glaubens, sei es des Unglaubens gleichermaßen enthobenes Wissen von
diesem Gegenstand zu erlangen, entsagt er im zweiten Buch der wissenschaftlichen Erkenntnisprätention, um sich nunmehr als Christ und Katholik, d. h. auch anteilnehmend und bekennend, zu artikulieren. Dementsprechend sind die beiden Monographien, sein erstes und sein letztes Buch,
als einerseits konträr, andererseits komplementär zu betrachten. – Diese
Konstellation spiegelt eine von Wagner selber durchgängig vertretene
Überzeugung: die auf dem fraglichen Terrain von jeher habituelle Konfusion bzw. Kontamination von Glauben und Wissen, Religion und Theorie,
Bekenntnis und Analyse sei rückstandslos zu beseitigen und in künftiger
Religionsphilosophie tunlichst zu vermeiden.2 Anders als andere religiös
engagierte Philosophen, die das/den Glauben, von ihm eingenommen,
durch Mittel der Theorie zu stützen sich mühen und infolgedessen Gefahr
laufen, aus rationaler Reflexion ins Ideologisieren abzudriften – eine Gefährdung übrigens, der antireligiös voreingenommene Autoren kaum minder ausgesetzt sind –, sucht Wagner die beiden Seiten strikt getrennt zu
halten. So demonstrieren die Religionsbriefe, in deutlichem Kontrast zur
Strenge der Begrifflichkeit und Komposition des ersten Buches, durch ihr
literarisches Genre, eine vergleichsweise locker gefügte Sammlung von
Briefen, was der Autor zudem auch explizit mitteilt: daß auf Anspruch und
Anschein des Philosophischen Verzicht getan ist. Schon weil der Text in
seiner äußeren Gestalt wie inneren Verfassung aus der Form des wissen1
2
Bei Seitenverweisen in dieser Einleitung bezieht sich, wenn nichts anderes vermerkt ist,
die erste Angabe jeweils auf die Erstausgabe der beiden Bücher, die zweite, in eckige
Klammern gesetzt, auf die Neuausgabe im vorliegenden Band.
Kraft dieser Scheidung ist u. a. zu umgehen, was nach Wagner „höchstens religiöse Philosophie heißen könnte. Unter der Voraussetzung so heißen könnte, daß feststünde, das so
etwas überhaupt Philosophie genannt werden darf“, wo es in Wahrheit doch Religionsphilosophie nur im „fragwürdigsten Sinne“ ist (S. 5 [3]).
EINLEITUNG DES HERAUSGEBERS
VII
schaftlichen Diskurses heraustritt, wird man ihn keinesfalls als späte Komplettierung des Fragment gebliebenen frühen Werkes verstehen können.
*
Nach Wagner hat jene kritische, als Wissenschaft auszubildende und daher
von „religiösem Philosophieren“, von allem „weltanschaulichen“ Gerede,
auch vom Gestus sei es destruktiver Entlarvung, sei es kosmetischer Aufhübschung ihres Gegenstandes sich entschieden absetzende Religionsphilosophie, auf die er mit Existenz, Analogie und Dialektik aus ist, zwei
Hauptfragen zu klären. Sie muß klären: (i) was Religion ihrer spezifischen
Bestimmtheit nach ist und wodurch sie sich von anderem, das nicht Religion und das Religion nicht ist, z. B. von Wissenschaft, Moral, Recht, Politik, Mythos, Kunst und welcher Kulturdomäne auch immer, unterscheidet;
(ii) ob und in welchem Maße Religion die dieser Bestimmtheit korrespondierende Geltungsqualifikation besitzen und hinsichtlich derselben philosophisch ausgewiesen werden kann. Die erste Frage betrifft, in Wagners
Terminologie, die Kategorialproblematik, die zweite die Transzendentalproblematik der Religion (S. 11–54 [9–52]).
Die erste Frage wäre in einer Kategoriologie der mit Religion/Religiosität
(den Religionen, den Formen religiösen Lebens und Bewußtseins, und so
fort) gegebenen Phänomene zu bearbeiten. Wie Wagner, in diesem Punkt
der Methodik und Methodologie Nicolai Hartmanns folgend, darlegt, hätte diese Kategorienlehre von einer Sichtung der deskriptiv feststellbaren,
seitens der empirischen Religionswissenschaften erforschten (und immer
weiter zu erforschenden) Sachverhalte den Ausgang zu nehmen; sodann
diese Sachverhalte analytisch zu durchleuchten und sie (regressiv) auf
Momente ihrer kategorialen Bestimmtheit zurückzuführen; schließlich
diese Bestimmtheitsmomente (architektonisch) derart zu interrelationaler
Verflechtung zu bringen, daß in ihrem gegliederten Inbegriff der kategoriologisch explizierte Strukturbegriff des Religiösen/der Religion herauspräpariert wäre. – Die Ausführung dieser deskriptiv erfüllten, empirisch gesättigten regionalontologischen Kategorienlehre hatte Wagner für Teil II der
Religionsphilosophie in Aussicht gestellt. Zu dessen Abfassung ist es jedoch nicht gekommen.
Die zweite Frage, die nach ihrer Geltungsqualifikation, betrifft die
Transzendentalproblematik der Religion, und zwar in doppelter Hinsicht,
bezüglich ihres Wahrheits- und ihres Wertaspekts. Hier müßte es zunächst
um Abgrenzung des spezifisch religiösen Geltungsanspruchs und der spezifisch religiösen Geltungsform, also möglicher Glaubens-Geltung, gehen.
Zu klären wäre, ob und wie sich dieselbe als distinkt, als von theoretischwissenschaftlichen, moralisch-praktischen, poietisch-ästhetischen, politisch-sozialen (und so weiter) Geltungsqualifikationen dem Prinzip nach
unterschieden, denken läßt. Dann erst könnte thematisch werden, worauf
VIII
ZU DIESER AUSGABE
Religionsphilosophie letztlich zielt und zu zielen hat: Kommt denn dem
nunmehr, wie angenommen sei, als Religion/religiöses Bewußtsein kategorial Explizierten und hinsichtlich seines Geltungstyps Bestimmten die reklamierte Qualifikation tatsächlich auch zu? Und kann ihm dergleichen
überhaupt zukommen? Kann also, heißt das, die wenigstens prinzipielle
Berechtigtheit des Religiösen, kann insbesondere die Möglichkeit der
„Wahrheit“ des religiösen Glaubens und seines spezifisch beanspruchten
Transzendenzbezugs sowie der Verbindlichkeit der damit etwa verbundenen „Werte“, auf ähnliche Weise ausgewiesen werden wie Transzendentalphilosophie die prinzipielle Berechtigtheit der theoretischen Geltungsqualifikation des gegenständlichen Wissens, der praktischen Geltungsqualifikation des moralorientierten Wollens und Handelns, der ästhetischen
Geltungsqualifikation der poietischen Imagination zu exponieren vermag?
– Die Erörterung dieser Frage möglicher Religions- und Glaubensgeltung
war für den „aporetisch-dialektischen“ Teil I des Werkes vorgesehen, der,
den drei Titelbegriffen gemäß, Ausführungen zur jeweils religionsspezifischen Analogie-, Dialektik- und Existenzproblematik hätte bieten sollen.
Davon findet sich, als der Transzendentalproblematik erster Hauptteil, im
1953 erschienenen Buch einzig eine kritische Analyse der Konzeption der
Analogia entis.
Weil Wagner ferner, als Teil III des Werkes, eine konfessionelle Differenzen und Scheidungen übergreifende Philosophie des Christentums ins
Auge gefaßt bzw. angekündigt und für erforderlich erklärt hatte (bes. S. 37
ff., 45 f. [35 ff., 43 f.]), ergibt sich die in folgender Tabelle dargestellte
Gliederung der drei Teile seines Entwurfs der Religionsphilosophie:
I
II
III
Transzendentalproblematik
der
Religion
Kategorialproblematik
der
Religion
Philosophie
des
Christentums
1. Analogieproblematik (= 2. Abt. des Buches)
[2. Dialektikproblematik; geplant als 3. Abt. des
Buches]
[3. Existenzproblematik; geplant als 4. Abt. des
Buches bzw. als der 3. Abt. zu integrieren]
1. Reine Kategorialproblematik (= 1. Abt. des
Buches, d. h. dem Teil I vorangestellt)
[2. Deskriptiv erfüllte, empirisch gesättigte
Kategoriologie; nicht ausgeführt]
[Konfessionsunabhängige Philosophie des
Christentums als Vorstufe einer künftigen Theologie des Christentums; nicht ausgeführt]
Was nun den faktischen Textbestand, das einzig erschienene Stück des Geplanten, den hier neu herausgebrachten ersten Halbband betrifft, so liegen,
im Anschluß an eine das Gesamtprojekt umreißende Einleitung (S. 11–46
[9–44]), zwei „reine“ Partien des Werkes vor, nämlich die Erörterung (i)
EINLEITUNG DES HERAUSGEBERS
IX
der „reinen“ Kategorialproblematik (II/1 im Gliederungsschema = erste
Abteilung des Buches) und (ii) der Analogieproblematik (I/1 im Schema =
zweite Abteilung des Buches). Dabei gehört, leicht erkennbar, die Abhandlung der „reinen“ Kategorialproblematik in den die Geltungsfrage betreffenden ersten Band bzw. Halbband eigentlich nicht hinein; die hier dargelegte, zudem auch nur „quasi-reine“ Kategoriologie wird indes, in einer Art
Vorgriff auf Teil II, erforderlich, weil ohne mindestens provisorische Klarheit darüber, wessen Geltung da in Frage steht, die transzendentale Reflexion der Geltungsqualifikation sich gar nicht in Gang hätte/würde bringen
lassen. Die Sachlage ist also recht kompliziert und das Verhältnis der Gesamtkonzeption zum tatsächlich Veröffentlichten nicht auf einen Blick zu
durchschauen. – Alles andere (alles in der obigen Tabelle in eckige Klammern Gesetzte) blieb unausgeführt. Gleichwohl vermittelt der veröffentlichte Text eine Ahnung des Ganzen. Denn der Leser wird unschwer bemerken, daß sich im ersten Halbband eine Reihe antizipierender Hinweise
sowohl zur Religionsdialektik (I/2) wie zur Existenzbedeutung des Religiösen (I/3) wie zu einer Philosophie des Christentums (III) finden und daß
die als erste Abteilung des Buches entwickelte „quasi-reine“ Kategoriologie
(II/1) Mutmaßungen darüber erlaubt, wie eine empirisch erfüllte, als solche aber eben nicht ausgearbeitete, Kategorienlehre (II/2) hätte angelegt
sein können.1
Das Hauptergebnis der ersten Abteilung, der „quasi-reinen“ Kategoriologie lautet (S. 55–134 [53–134]): (1) Von Religion (Religiosität, religiösem Leben und Bewußtsein, usw.) kann nur die Rede sein, wo drei
Grundsätze wenigstens implizit anerkannt sind, die Grundsätze: (i) der
Existenz des Jenseitigen; (ii) der verpflichtenden Möglichkeit des Transzendierens ins Jenseitige; (iii) der Abhängigkeit solchen Transzendierens
vom Jenseitigen, d. h. von dessen „Gnade“ (S. 59 ff. [57 ff.]).2 Die mit den
drei Grundsätzen verbundenen Kategorien bzw. kategorialen Relationen
(u. a.: Jenseits, Heiligkeit, Offenbarung, Gebet, Gnade) sind teils in ihren
Hauptzügen, teils in einigem Detail analysiert (S. 66–103 [64–103]). – (2)
Dieses erste kategoriologische Stück ist durch ein zweites zu ergänzen und
1
2
Dabei wollte Wagner eine eigene vierte Abteilung des ersten Bandes (I/3 in der Tabelle)
zugunsten der Integration der Existenzthematik in die Religionsdialektik (geplante dritte
Abteilung des ersten Bandes, I/2 in der Tabelle) vermeiden (vgl. S. 53 f. [51 f.]).
Aus dem dritten Grundsatz folgt übrigens, was Wagner auch sonst mehrfach betont: Religion/Religiosität läßt sich adäquat, unter Einschluß ihres Selbstverständnisses (welches
die philosophische Analyse, will sie ihrem Gegenstand gerecht werden, methodisch angemessen zu berücksichtigen hat), nicht einfach als eine Kulturdomäne neben anderen
begreifen. Denn mit Religion/Religiosität geht in der Regel die Überzeugung einher,
nicht ganz von dieser Welt, nicht Produkt allein menschlicher Leistung, sondern auch
und entscheidend Jenseitigem verdankt zu sein. Diese Überzeugung begründet den mindestens ihr selbst als legitim erscheinenden Anspruch, alle menschengemachte Kultur
(Wissenschaft, Moral, Recht, Kunst und so weiter) himmelhoch zu überragen – sei dieser
Anspruch aus anderer, religiös unbenommener Sicht auch noch so problematisch.
X
ZU DIESER AUSGABE
zu ihm in Beziehung zu setzen. Das zweite Stück hat die Kategorien der
Religionswissenschaft zu exponieren, d. h. (anders als das erste) Bestimmtheiten nicht des religiösen Lebens und Bewußtseins, sondern der
reflexiven Betrachtung und Analyse desselben. Die hier dargelegten
Grundsätze lauten: (i) Religion hängt an Divination (subjektiver Empfänglichkeit für Jenseitiges) und Transparenz (Durchscheinen von Jenseitigem); (ii) Inhalt der Religion ist die fundamentale Opposition und die
fundamentale Kohärenz zwischen bzw. von Jenseitigem/Gott und Diesseitigem/Welt; (iii) Divination/Transparenz und Opposition/Kohärenz
kommen einzig durch den Menschen zur Erscheinung, und darin wird die
Exponenz des Menschen manifest, kraft welcher Religion zu anderen Orientierungsdeterminanten subjektiven Daseins in Beziehung steht und als
Existenzproblem greifbar wird (S. 103–125 [103–125]). – Das „Kategorialschema“ der Welt der Religion erwächst aus Kombination der beiden
Grundsatztriaden und Verflechtung ihrer jeweiligen Fundamentalkategorien (S. 124 f. [123 ff.]). Anhand seiner wird deutlich, welche dieser Bestimmungen der Religion wirklich als kategoriale Nova, d. h. „autochthon“, zuzudenken sind (z. B.: Jenseitiges, Gnade), welche aber als „heterochthon“ zu gelten haben, weil sie aus anderen Regionen (der Welt des
Diesseitigen) stammen und somit, wie immer durch Autochthones modifiziert, das Religiöse zwar ko-konstituieren und durch es hindurchgehen (z.
B.: Schöpfung als religiöse Überformung/Abwandlung der Kausalität;
Märtyrertum als religiöse Überformung/Abwandlung der auch unabhängig
von Religion bezeugten Möglichkeit, das eigene Leben für angenommene
Ideale aufzuopfern; und so weiter), nicht freilich dessen Spezifikum ausmachen können. Für die Geltungsfrage nun sind vor allem, letztlich ausschließlich, die autochthonen Bestimmungen maßgeblich. Überhaupt erst
die Unterscheidung des Autochthonen vom Heterochthonen erlaubt es,
den Kern dessen, was das Problem der Religion ausmacht, als solchen in
den Blick zu nehmen.
In der zweiten, der das Buch beschließenden Abteilung kommt ein
wirkmächtiger Versuch zur Sprache, die Geltungsqualifikation der Religion
transzendenz-metaphysisch zu legitimieren: die auf Platon und Aristoteles
zurückweisende, dann, durch die Scholastik des Mittelalters, bes. für katholische Theologie und Philosophie maßgeblich gewordene Lehre von der
Analogia entis (S. 155–227 [155–229]).1 Die argumentationsanalytisch ge1
Wagner versteht, sehr verkürzt gesagt, unter Metaphysik qua Metaphysica specialis den
Versuch der spekulativen Erkenntnis von als übersinnlich bzw. erfahrungstranszendent
wirklich vorgestellten Entitäten und Sachverhalten (wie „Gott“, „Unsterblichkeit“). Derartige Transzendenz-Metaphysik ist strikt zu unterscheiden von Metaphysik qua Metaphysica generalis, d. h. genuiner Ontologie im Sinne der nicht durch irgendeinen Phänomenalismus angekränkelten Doktrin vom nicht-transzendenten Seienden als Seienden. –
Die Frage, ob Transzendenz-Metaphysik als Wissenschaft möglich sei, hat Wagner, nicht
selten in Beziehung auf die von Kant vorgetragene Kritik des spekulativ-theoretischen
EINLEITUNG DES HERAUSGEBERS
XI
naue Diagnose dieser tradierten Lehre führt Wagner nun allerdings zu einer letztlich skeptischen Einschätzung der Leistungsfähigkeit der Analogiekonzeption. Während deren Protagonisten – von Thomas von Aquino
und Duns Scotus bis zur Neuscholastik des 19. und 20. Jahrhunderts –
überzeugt sind, mit theoretisch zwingenden Schritten den Zugang zum
Übersinnlichen und Unerfahrbaren eröffnen zu können, schließt die Analogiespekulation, so lautet das Resultat der Diagnose, tatsächlich doch
mindestens eine „überfliegende“, logisch unausgewiesene Setzung, eine
Glaubens-Setzung, den Schöpfertheismus, ein. Daher ist sie, ihrer Subtilität zum Trotz, philosophisch nicht zu halten und reicht sie zum Beweis
dessen, was zu beweisen sie prätendiert, sowenig aus, daß sie vielmehr, ins
Glaubensinteresse verstrickt, das zu Beweisende sich vorgegeben sein läßt.
– Wagner bestimmt die durch die Analogiekonzeption repräsentierte Metaphysik dementsprechend als Ciszendenz-Metaphysik. Es handelt sich,
heißt das, eben nicht um eine Transzendenzwissen verbürgende Theorie,
sondern um Glaubensmetaphysik, d. h. um Glauben, das/der sich zwar
durch wissenschaftliche Mittel der Philosophie expliziert, dabei aber, von
der Glaubenssetzung ausgehend, eingenommen von dem im Glauben Angenommenen, einer argumentativ ungedeckten Prämisse verdankt und
folglich insgesamt als Glauben zu qualifizieren ist (bes. S. 214 ff., auch 62
f., 70, 76 f., 82, 89 f., 109 [215 ff., auch 61 f., 68 f., 75 f., 81 f., 89, 108 f.]). –
Diese Charakterisierung wirft die Frage nach der Möglichkeit einer
transzensiv-metaphysischen, den Überflug des Glaubens meidenden, wirklich kritischen, den Weg ins Unerfahrbare allein kraft rationaler Argumentation bahnenden Ausweisung der Geltungsqualifikation der Religion auf.
Und diese Frage wiederum hätte in den weiterhin vorgesehenen Erörterungen der Transzendentalproblematik, namentlich denen zur Dialektik
(I/2 in der Tabelle = geplante dritte Abteilung des ersten Bandes des Gesamtwerks), untersucht werden sollen. Solche Erörterungen, in deren
Rahmen u. a. auch das Religions- und Glaubensverständnis der sog. dialektischen Theologie (der „Gerichtstheologie“), nach Wagner eine Form reliVerstandes- bzw. Vernunftgebrauchs, immer wieder beschäftigt; seine Einschätzung
bleibt tendenziell skeptisch (vgl. bes. Philosophie und Reflexion, § 34; „Die absolute Reflexion und das Thema der Metaphysik“, zuerst 1955/1980, jetzt auch in Bd. 3 der Gesammelten Schriften, Paderborn 2015, S. 215–225; „Ist Metaphysik des Transzendenten
möglich? (Zu W. Cramers Philosophie des Absoluten)“, zuerst 1966, jetzt auch in Bd. 6 der
Gesammelten Schriften, Paderborn 2017, S. 97–126). – Die bei Wagner mehrfach betonte
Nähe von Religion und Transzendenz-Metaphysik, die im Fall des Christentums sogar zu
deren „Verschmelzung“, dem „vielleicht folgenreichste[n] Geschehnis der geistigen Geschichte unseres Kulturkreises“, zu führen vermocht habe (Philosophie und Reflexion, §
34, S. 406; vgl. Existenz, Analogie und Dialektik, S. 19 f. [17 f.]), ergibt sich schon allein
aus dem Umstand, daß beide, wenngleich auf recht unterschiedlichen Wegen und aus jeweils anderen Gründen, den Überstieg vom „Diesseitigen“ in ein als davon prinzipiell distinkt vorzustellendes bzw. zu denkendes „Jenseitiges“ zu vollziehen sich für fähig und
berechtigt halten.
XII
ZU DIESER AUSGABE
gionsbezogener Geltungstheorie, zur Prüfung gestanden wäre, sind indes
nicht zur Ausführung gekommen.
Aufs Ganze gesehen artikuliert die von Wagner im ersten Halbband des
Werkes teils umrissene, teils ausgearbeitete Religionsphilosophie ein ebenso anspruchsvolles wie innovatives, ausgetretene Pfade verlassendes und,
wie es scheint, noch Jahrzehnte nach seiner Erstveröffentlichung unüberbotenes Theorieprogramm. Zwar wird, selbstverständlich, auf einschlägige
Literatur und tradierte Lehrmeinungen durchgängig Bezug genommen,
auch ist, wie schon angedeutet, die kategoriologische Methodik an bei
Nicolai Hartmann Erprobtem geschult.1 Solche Anknüpfungen ändern jedoch nichts an der konzeptionellen Eigenständigkeit, der souveränen
Problemübersicht, der konstruktiven Kraft, der argumentativen Dichte,
der theorieanalytischen Prägnanz, von denen dieses außergewöhnliche
Frühwerk in allen Dimensionen bzw. Partien, d. h. sowohl phänomenologisch wie kategoriologisch wie prinzipienlogisch, zeugt.
Trotz der Beachtung, die dem Buch im Jahrzehnt seines Erscheinens zuteil geworden war, findet man es danach nur noch bei recht wenigen Philosophen und Theologen gründlich rezipiert,2 so daß der Eindruck entstehen
kann, es sei heute, sehr zum Schaden der kritisch-philosophischen Reflexi1
2
Wie Wagner sagt, billigt er Hartmanns Kategorialtheorie, an der er sich noch in der Dissertation (1946) orientiert hatte, nun, in der zwei Jahre später abgeschlossenen Habilitationsschrift, zwar nicht (mehr) (vgl. S. 34 Fn. [33 Fn.]). Hartmanns Methodik bzw. Methologie (von phänomenologischer Deskription über Kategorialanalytik hin zu architektonischer bzw. synthetischer Verflechtung der regressiv gewonnenen kategorialen Bestimmungen) und Hartmanns Konzeption der ontologischen Kategorialgesetzlichkeit
sucht er jedoch religionsphilosophisch zu adaptieren und fruchtbar zu machen – auf einem Terrain mithin, dem Hartmann selber, der „Meister der neuen Ontologie“, wie ihn
Wagner bisweilen bezeichnet, nur wenig Beachtung geschenkt hatte.
Vgl. zur Rezeption die bibliographischen Hinweise im Anhang des vorliegenden Bandes
(infra, S. 473 f.). – Im übrigen ist es auffällig und bemerkenswert, daß keiner der zahlreichen direkten Schüler Wagners dessen Arbeit an der Religionsthematik in größerem Stil
aufgenommen oder fortgeführt zu haben scheint, und zwar weder in philosophiehistorischer noch gar in systematischer Orientierung. Allenfalls (doch auch sie eher am Rande)
zu erwähnen wäre die 1957 in Würzburg vorgelegte, erst postum publizierte Dissertation
von Karl Bärthlein (Der Analogiebegriff bei den griechischen Mathematikern und bei Platon,
Würzburg 1996): Der Autor kommt auf dem Wege der philologisch ebenso wie philosophisch überaus genauen Analyse der antiken Wurzeln der Analogiekonzeption zu einem
mit Blick auf die scholastische Analogiemetaphysik recht ungünstigen Resultat (ib., bes.
S. 178 ff.), das die einschlägige Skepsis Wagners untermauert. – Wollte man auch die
„Enkelgeneration“ einbeziehen, so wäre Reinhard Hiltscher zu nennen, der, über seinen
Lehrer Werner Flach durch das Denken Wagners geprägt, mit scharfsinnigen Untersuchungen zu religionsbezogenen Fragen hervorgetreten ist, darin allerdings ausschließlich
fundamentalphilosophische, nicht auch religionsphilosophische Argumentationen Wagners aufnimmt bzw. adaptiert: vgl. bes. Der ontologische Gottesbeweis als kryptognoseologischer Traktat, Hildesheim 2006; id., Gottesbeweise, Darmstadt 2008. – Möglicherweise
werden auch Beiträge in zwei Sammelbänden von Interesse sein, deren Erscheinen für
2017 angekündigt ist: ein von C. Krijnen & K. W. Zeidler herausgegebener Band zur Philosophie Hans Wagners; und ein von T. Göller herausgegebener Band zur Thematik der
Religionskritik.
EINLEITUNG DES HERAUSGEBERS
XIII
on des Problems der Religion, mehr oder minder in Vergessenheit geraten.
An diesem Rückgang des Interesses werden mancherlei Faktoren mitgewirkt haben. Gewiß aber hat er auch damit zu tun, daß das überaus ambitionierte Gesamtwerk, als dessen erster Halbband das Buch auftrat, eben
doch ein Fragment geblieben ist, so daß einiges des 1953 mit Verve Angekündigten später als uneingelöst erscheinen mußte, gar auf das ganze Unternehmen ein Schatten fiel.1
Obwohl die religionsphilosophische Problemlage sich heute, aus unserer
Perspektive, in diesem oder jenem Punkt etwas anders darstellen mag als
das vor siebzig Jahren für Wagner der Fall war, erheischt, so denke ich, der
in Existenz, Analogie und Dialektik konzipierte, dabei die aporetische Situation einer Religionsphilosophie stets mitbedenkende Theorieentwurf eine
erneute, erneuernde Lektüre, die seinen Gehalt dem philosophischen und
theologischen Denken der Gegenwart aufzuschließen, ja ihn allererst zu
entbergen hätte. Das gedankliche Potential des Buches ist bislang nicht annähernd, und in keinem der erörterten Themenfelder, ausgeschöpft. Wie
damals, so liegt auch heute weder eine zufriedenstellende Theorie der religionsspezifisch-autochthonen Geltungsqualifikation noch eine differenzierte Religionskategoriologie noch eine genuin philosophische Betrachtung des Christentums und seines Verhältnisses zu anderen Religionen, ja
zu Religion in genere vor. Wie sollte man angesichts dieser Sachlage nicht
fragen müssen, ob das von Wagner seinerzeit angestrebte und in den ausgeführten Partien tatsächlich auch erreichte Niveau in der Fülle der jüngeren
1
Warum oder weshalb Wagner das Werk nicht fortgeführt bzw. vollendet und die Religionsthematik nur im abschließenden Teil (§ 34) seines Hauptwerks Philosophie und Reflexion (1959) noch einmal mit genuin systematischem Anspruch aufgenommen hat, ist
(mir) nicht bekannt. (Freilich sind auch einige danach erschienene Aufsätze zu Kant für
religionsphilosophische Fragen von Bedeutung; vgl. Bd. 5 der Gesammelten Schriften, Paderborn 2017, bes. S. 71–84, 127–143, 181–186, 193–196, 221–248.) – Man kann bezüglich
der Nichtfortsetzung der Religionsphilosophie, einerseits, mehr äußere Umstände unterstellen, z. B. die seit spätestens 1955, der Berufung auf den Würzburger Lehrstuhl, erheblich anwachsenden Arbeitsbelastungen, die die Fortsetzungsabsicht womöglich blockierten oder sie hinter die Aufgabe, das genannte fundamentalphilosophische Hauptwerk abzufassen, zurücktreten ließen. Denkbar sind, andererseits, auch theorieinterne Gründe:
Vielleicht befielen Wagner Zweifel an der Ausführbarkeit jenes wahrhaft titanischen Programms, das er so kühn entworfen hatte. Vielleicht verlor er das Interesse an der Kärrnerarbeit, welche die geplante Kategorienlehre ihm würde abverlangt haben, zumal er inzwischen daran gegangen war, die Fundamentalphilosophie betont geltungstheoretisch zu
profilieren und sich von kategoriologischen Ambitionen, wie sie seine durch Nicolai
Hartmann mitgeprägten Anfänge bestimmt hatten, zunehmend zu entfernen. Vielleicht
verfestigte sich ohnehin bestehende Skepsis gegenüber der Möglichkeit einer Metaphysik,
die imstande sein könnte, der Religionsphilosophie ein hinsichtlich der Geltungsfrage solides Fundament zu verschaffen. – Selbstverständlich sind noch weitere Gründe als nur
die angedeuteten denkbar, etwa solche, die aus der womöglich traumatisierenden „Hochland-Affäre“ (vgl. Brief 15, und Hinweise dazu im Anhang dieses Bandes) erwachsen sein
mochten. Doch wäre es unergiebig, sich fürderhin in Mutmaßungen zu ergehen. Eine einschlägige Äußerung Wagners, die in dieser Frage klärend hätte wirken können, scheint
nicht vorzuliegen.
XIV
ZU DIESER AUSGABE
thematisch einschlägigen, systematisch (hinsichtlich des Sachbezugs, der
Methodik, der Argumentation) aber oftmals wenig überzeugenden Literatur1 jemals wieder auch nur in den Blick gekommen, geschweige denn
überboten worden ist?
*
Die Religionsbriefe wurden, wie bereits bemerkt, erst postum, elf Jahre
nach Wagners Tod, publiziert. Dabei war das „Büchlein“ doch vom Autor
selber zur Veröffentlichung bestimmt und dafür vorbereitet worden, und
zwar, worauf viele Indizien hindeuten, während der 1980er Jahre. Dem
Herausgeber der Erstausgabe lag der Text in Form eines Einleitung, Inhaltsverzeichnis und 22 Briefe umfassenden Typoskripts vor. Dieses Konvolut, das vom Autor nochmals durchgearbeitet und handschriftlich mit
dem Titel „Religionsbriefe“ und einer Reihe von Korrekturen und kleineren Ergänzungen versehen worden war, bietet einen philologisch unstrittigen Text, d. h. es stellt(e) keine nennenswerten editorischen Probleme. So
darf der 2011 nach Regeln typoskriptgetreuer Edition erstmals veröffentlichte, dabei von der Vorlage nur im Interesse der Herstellung formaler
Einheitlichkeit geringfügig abweichende und hier nun erneut herausgebrachte Text als durch den Verfasser in dem Maße autorisiert gelten, in
dem das bei einer postumen Publikation als möglich erscheint.2 Warum er
zu seinen Lebzeiten ungedruckt blieb, ist (mir) nicht bekannt.
Während die 1980er Jahre als die Phase der redaktionellen Bearbeitung
des Textes wohl gesichert sind, bleibt ungewiß, wann jene Originalbriefe
verfaßt worden waren, die dieser Redaktionsarbeit, so wie Wagner die
Dinge darstellt, jeweils zugrundliegen. Vieles spricht dafür, daß die meisten
Briefe aus den 1970er und 1980er Jahren stammen, doch läßt sich nicht
ausschließen, daß einzelne noch früher zu datieren sind. Nun hatte Wagners Redaktion bzw. Bearbeitung darauf abgezielt, das „allgemein interessierende Sachliche“ der Urfassungen zu wahren bzw. herauszustellen, das
demgegenüber als nebensächlich oder privat zu Bezeichnende, darunter die
Namen der Briefpartner, aber soweit möglich zu „reduzieren“ und zu
1
2
Vgl. zwei neuere Beispiele für prätentiöse Werke, deren Autoren sich als Philosophen geben, als solche auch anerkannt sind, die tatsächlich aber, methodisch unsauber und argumentativ dürftig, Theorie mit Glaubensinteressen durchmischen und dabei religionsapologetische Bedürfnisse publikumswirksam zu bedienen verstehen: C. Taylor, A Secular
Age, Boston 2007; V. Gerhardt, Der Sinn des Sinns, München 2014.
Einzelheiten zu editorischen Fragen sind in Erläuterungen des Herausgebers der Erstausgabe mitgeteilt (vgl. die Angaben in Fn. 1, S. V dieser Einleitung), auf der die vorliegende
Neuausgabe basiert. – Das Originaltyposkript der Religionsbriefe ist Bestandteil einer
Sammlung von aus dem Nachlaß stammenden Manuskripten, Typoskripten und Handexemplaren der Bücher und sonstigen Veröffentlichungen, die dem 1956 von Hans
Wagner an der Universität Würzburg eingerichteten, derzeit von Stephan Nachtsheim an
der Universität Aachen geleiteten Hönigswald-Archiv inkorporiert wird bzw. worden ist.
EINLEITUNG DES HERAUSGEBERS
XV
„neutralisieren“ (S. 4 [234]). Vielleicht darf man die Datierungsfrage zu
dem in diesem Sinn „Nebensächlichen“ rechnen.
Nach dem von Wagner Angedeuteten liegen nicht nur einigen, sondern
allen der 22 Briefe, deren Ensemble das Buch bildet, Originalbriefe zugrunde, die einmal an bestimmte individuelle Personen adressiert gewesen
waren und also einen je anderen, je konkreten, durch die Bearbeitung indes
„neutralisierten“ bzw. „reduzierten“ Sitz im Leben hatten, so daß keiner
der Briefe als von Grund auf fingiert, als z. B. erst/eigens zum Zweck der
beabsichtigten Buch-Veröffentlichung verfaßt, anzusehen ist. Unklar
bleibt freilich, in welchem Rahmen sich die Bearbeitung jeweils bewegte:
ob da wirklich, und ausnahmslos, nur geringfügig anonymisiert, reduziert,
neutralisiert wurde; oder ob sich unter den Briefen auch solche befinden, in
deren ursprünglichen Textbestand der Autor/Bearbeiter massiver eingriff;
oder ob es womöglich sogar längere Textpassagen gibt, die mehr oder weniger fiktiv, d. h. in Originalbriefen nicht enthalten, sondern ihnen später
ein- oder hinzugefügt sind. Die Nichtfiktionalität des Ganzen bzw. der betreffenden Briefe oder Passagen wäre, sollte es sich so verhalten, als literarisch fingiert zu betrachten. Auch diese Frage, zu der sich ohne Kenntnis
der Korrespondenz Wagners nichts Verläßliches ausmachen läßt, dürfte
freilich dem „Nebensächlichen“ zuzuschlagen sein. Mit Blick auf Absicht
und Inhalt des zur Veröffentlichung bestimmten „Büchleins“ ist sie so gut
wie belanglos.
Was nun das Hauptsächliche, diese Absicht und diesen Inhalt, betrifft,
so dementiert Wagner jeden Anspruch auf für Wissenschaftlichkeit erforderliche „Objektivität“. Daher sind die Religionsbriefe zunächst als ein subjektiv-existentielles, ein, wie der Autor sagt, u. a. von „emotionaler Anteilnahme“ geprägtes und von eigenem „Bekenntnis durchsetzt[es]“ (S. 235
[466]) Dokument zu betrachten. Schon allein die Briefform bringt ja den
Verfasser als individuelle Person ins Spiel, auch erleichtert sie ihm den
Verzicht auf eine nach Regeln der Zunft disziplinierte Argumentation; so
kann er sich beispielsweise die erörterten Themen, statt deren Spektrum
von der Sache her begründen zu müssen, durch Anfragen oder Anregungen seiner Briefpartner sozusagen vorgeben lassen; ferner wird er berücksichtigen, daß die Adressaten nicht durchweg philosophisch erudierte Leser sind; und so weiter.
Das heißt freilich nicht, daß etwa „Privates“ publik gemacht würde.
Denn Wagner – der sich auch sonst, statt seine Vita oder existentielle Befindlichkeit öffentlich auszubreiten, stets an jene Maxime Bacons gebunden hat, die Kant der Kritik der reinen Vernunft als Motto voranstellt: De
nobis ipsis silemus – bringt die eigene Person exklusiv hinsichtlich ihrer
Haltung zur Religion und ihres Berufs als Hochschullehrer der Philosophie zu Sprache, blendet fast alle anderen Dimensionen des Lebens bzw.
(Sich-)Existierens jedoch aus. Und so wie seine Briefpartner durchweg, bei
einer Ausnahme, anonymisiert erscheinen, so hat Wagner die ursprüngli-
XVI
ZU DIESER AUSGABE
chen Brief-Texte für die Publikation ja im bereits erwähnten Sinn neutralisiert und reduziert, d. h. mit der Zielsetzung bearbeitet, daß jeweils nur
„das allgemein interessierende Sachliche“ stehenbleibe und zur Geltung
komme (vgl. supra). Aus diesem Grund, und weil es gerade nicht um indezente Enthüllung oder dergleichen geht, gewinnen die Religionsbriefe dann
freilich hinterrücks, mehr nolens als volens, doch wieder auch sachliche Bedeutsamkeit und indirekt, ihrer durch sie selbst inszenierten NichtWissenschaftlichkeit entgegen, Anschluß an philosophische und wissenschaftliche Fragestellungen.
Wenn man den aus der Form des theoretischen Diskurses herausgetretenen Religionsbriefen also dennoch auch einen an Wissenschaft heranreichenden Sachbezug konzedieren darf, so aus etwa den folgenden Gründen:
(i) Zumal in ihren philosophischen Partien bieten sie, bieten vor allem die
Briefe 11–12, eine Art Einführung in Ansatz und Grundzüge des Denkens
von Hans Wagner, insbesondere soweit dasselbe auf empirismus- und naturalismuskritische Fundierung des Normprinzips der Menschenwürde
ausgeht.1 (ii) Die Briefe tragen bei zum Aufweis bis heute ungelöster religionsphilosophischer Probleme, wie beispielsweise: der Möglichkeit einer
religionsspezifisch-autochthonen, von theoretischer und praktischer und
poietischer Geltungsqualifikation zu unterscheidenden Glaubenswahrheit;
oder der existentiellen Relevanz des Religiösen; oder der mit Religiosität
verwobenen metaphysischen Implikationen und Inferenzen (vgl. u. a. die
Briefe 2, 9, 12, 13, 22). (iii) Sogar jene Passagen, in denen das „Existentielle“ und von „Bekenntnis“ Durchstimmte überwiegt, dürfen insofern als
philosophisch belangvoll gelten, als die Philosophie Wagners die Ausbildung einer „existentiellen“, der Prüfung des „Selbstentwurfs“, als welcher
jeder Mensch als konkretes Subjekt (sich) existiert, dienenden Reflexionsform ausdrücklich vorsieht.2 (iv) Schließlich wird man auch Erörterungen
1
2
Die redaktionelle Arbeit an den Religionsbriefen mag, zeitlich ohnehin, aber mit Berührungen auch in der Sache, als eine Parallelaktion zur Abfassung von Wagners zweitem
systematischen Hauptwerk, Die Würde des Menschen (1992), erfolgt sein, an dem er nach
eigenen Angaben zwischen 1978 und 1981 und dann wieder, nach längerer Unterbrechung, von 1987 bis 1989 schrieb (vgl. Die Würde des Menschen, Neuausgabe als Bd. 2 der
Gesammelten Schriften, Paderborn 2014, S. 6; wie der Herausgeber der Neuausgabe mitteilt, spricht manches dafür, daß die letzten Stücke des Buches tatsächlich nicht 1989,
sondern erst 1990/91 abgeschlossen wurden; vgl. Stephan Nachtsheim, „Zur Neuausgabe
von Hans Wagners Die Würde des Menschen“, in: ib., S. V–XII, hier V). – Vielleicht darf
man die Religionsbriefe als einen ins Erfahrungstranszendente weisenden, insofern außeroder überwissenschaftlichen, Seitenzweig jenes selbst sich auf transzendentale Reflexion
beschränkenden und des Überschwangs sei es des Glaubens, sei es der Metaphysik entsagenden Hauptwerks verstehen. Dabei gehen beide Bücher insofern Hand in Hand, als sie
die Argumentationsbasis zu sichern suchen, von der aus der „totale“ bzw. „totalitäre“
Empirismus und Naturalismus, auch deren Versionen von Religionskritik, abgewehrt
werden könnten.
Vgl. Philosophie und Reflexion, S. 347 f. – Die Konzeption der „existentiellen Reflexion“
ist, wie Wagner selber andeutet, u. a. von existenzphilosophischen Vorstellungen inspi-
EINLEITUNG DES HERAUSGEBERS
XVII
zu anscheinend philosophiefernen, teils mehr historischen, teils auf kontingente Umstände bezogenen Themen, so der Frage des Verhältnisses
Kirche/Staat (Briefe 17, 21) oder, vorwiegend den Katholizismus betreffend, der Bedeutung des Traditionsprinzips (Briefe 5–8), der hierarchischen Abgrenzung Klerus/Laien und der vonseiten der Kirche den Frauen
zugewiesenen Rolle (Briefe 6–8, 14–16, 18–19), für philosophisch motiviert bzw. fundiert halten dürfen; denn Philosophie, lehrt Wagner, ist zu
prinzipiengeleiteter Prüfung aller Kulturleistungen, also auch realexistierender Religionen, soweit sie Kulturprodukte sind, berechtigt und verpflichtet, und solche Prüfung hat selbstverständlich Kritik der Religion(en)
einzubegreifen bzw. auszubilden, zumal dann, wenn es sich, wie er in bezug auf die eigenen Ausführungen insinuiert, um „aufbauende“ Religionskritik (Briefe 13, 22) handelt.
Obgleich die Religionsbriefe alles andere als die späte Fortsetzung oder
gar Komplettierung des religionsphilosophischen Frühwerks Existenz,
Analogie und Dialektik enthalten, gibt es in mindestens einem Punkt doch
eine bemerkenswerte Berührung. Er betrifft das als „Ciszendenz-Metaphysik“ Bezeichnete: Wagner hatte ja in jenem Frühwerk die Analogiespekulation gerade deshalb als philosophisch unzulängliche, bloß ciszendenzmetaphysische Konzeption beurteilt, weil sie der „überfliegenden“ Glaubens-Setzung bzw. -Voraussetzung geschuldet bleibt und folglich, anders
als sie prätendiert, die Möglichkeit des transzensiv-metaphysischen Überstiegs ins Übersinnliche, der allein doch genuines Wissen vom Erfahrungstranszendenten etablieren könnte, begreiflich zu machen nicht geeignet ist
(sondern allenfalls ihre eigene Unfähigkeit, jene begreiflich zu machen,
subtil zu verschleiern vermag; vgl. supra).1 Nun wird zwar diese Auffassung durch die Religionsbriefe nicht revidiert. Vielmehr hält Wagner ganz
unzweideutig daran fest, daß für Ciszendenz-Metaphysik im System kritischer Philosophie kein Platz sei (S. 236 f. [466 f.]). Auch seine Skepsis gegenüber der Möglichkeit spekulativer Transzendenz-Metaphysik schwächt
er nicht im geringsten ab. Gleichwohl kommt es zu einer Modulation in
Ton und Akzent. Denn Wagner kennzeichnet das eigentlich, seiner eigenen Diagnose zufolge, doch bloß glaubensinterne Unternehmen der Ciszendenz-Metaphysik, von der er in Existenz, Analogie und Dialektik ge-
1
riert. Sie hat wohl auch Nähe zu dem, was Sartre „psychanalyse existentielle“ genannt und
von jeder das Subjektsein des Menschen naturalistisch (oder auch soziologistisch usw.)
reduzierenden und daher verfehlenden Psychoanalytik abgegrenzt hatte (vgl. Jean-Paul
Sartre, L’être et le néant, Paris 1943, S. 643–663; sehr viel später, in einem monumentalen
Werk, hat Sartre versucht, die „psychanalyse existentielle“ für eine [methodologisch
durch Questions de méthode, Paris 1958, grundgelegte] regressiv-progressive Tiefenhermeneutik des Lebens und Werks von Gustave Flaubert fruchtbar zu machen: L’Idiot de la
famille, Paris 1971 ff.).
Soweit ich sehe, ist die Distinktion zwischen Ciszendenz-Metaphysik und TranszendenzMetaphysik eine Kreation Wagners. Ihre Reichweite und Tiefenschärfe dürfte ohne genauere Untersuchung schwer einzuschätzen sein.
XVIII
ZU DIESER AUSGABE
wünscht hatte, sie möge sich in transzensive Metaphysik transformieren,
als Ciszendenz-Metaphysik also auflösen (S. 214 ff. [215 ff.], nun, auf den
letzten Seiten des letzten Briefes, mit spürbarer Sympathie, und er erklärt
gar, überhaupt nur ein „völlig starrer Empirismus und Positivismus könnte
den ciszensiv-metaphysischen Einschlag [...] aus der Philosophiegeschichte
wegwünschen“ wollen (S. 237 [467]). – Wie freilich, jenseits historischer
Reminiszenzen, eine modernen Problemlagen angemessene CiszendenzMetaphysik, zumal sie als eine „religionsbestimmte Metaphysik“ ihrem Inhalt nach ohnehin nur im Rekurs auf religiöse Glaubensüberzeugungen
sich ausgestalten ließe (S. 136 ff. [366 ff.], auszusehen hätte und worin ihr
sachlich-philosophischer Ertrag sollte bestehen können, das erfährt man
nicht.
Das „Büchlein“ mündet in eine Einstellung, die es erlaubt, theoretische
Skepsis hinsichtlich der Begründbarkeit einer argumentativ schlüssigen
spekulativen Metaphysik und der durch diese etwa zu fundierenden Religionsgeltung ohne sacrificium intellectus mit persönlicher bzw. existentieller
Affirmation des Religiösen zu verbinden – die das allerdings nur dann und
insofern erlaubt, wenn/sofern Religion und Glauben zu den philosophisch
ausweisbaren Vernunftprinzipien nicht in Widerspruch treten, sondern deren unbedingtes Recht bedingungslos anerkennen und sich mit ihnen verträglich (kompossibel) halten. Für diese Einstellung und die ihr korrespondierende Praxis reicht es aus, daß die Möglichkeit des autochthonen,
nämlich auf Übersinnliches und Wissens-Jenseitiges bezogenen Geltungsanspruchs der Religion, obgleich mit den Mitteln wissenschaftlicher Philosophie in der Tat nicht positiv zu erweisen, eben deshalb, weil er im Glauben als wirklich angenommene Sachverhalte betrifft, deren Erkenntnis die
Kompetenzen des auf die Felder möglicher Erfahrung eingeschränkten gegenständlichen Wissens übersteigt, durch Philosophie und Wissenschaft
doch auch wieder nicht definitiv auszuschließen ist (vgl. zum Problem der
Kompossibilität von Wissen und religiösem Glauben insbes. die Briefe 11–
12): Gewiß also ist irgendeine theoretisch-rationale Begründung des religionsspezifischen, transzendenzbezogenen Glaubens nicht möglich, doch
bündig widerlegen und als schlechthin absurd und irrational abtun läßt sich
solches Glauben, sofern das Geglaubte nicht auch noch die Grenzen des
mit Verstand und Vernunft Verträglichen sprengt, ebensowenig.
Ob jemand die existentielle Affirmation des Religiösen, wie sie sich im
vertrauenden Glauben z. B. des Daseins Gottes oder jenseitiger Erlösung
oder welcher religionsbesetzten Narrative auch immer (so diese, der oben
genannten Bedingung gemäß, nicht kontra-rational sind) ausdrücken mag,
vollzieht oder ob er/sie das nicht tut, das sagt, so oder so, etwas über diejenigen Momente des Selbstentwurfs, als welcher jedes Subjekt (sich) individuell zu existieren hat, die, offenkundig keine Diskursresultate, sich aus
Prinzipien sei es theoretischer, sei es praktisch-axiotischer Geltung unmöglich strikt herleiten lassen und demzufolge auch niemals Anspruch auf
EINLEITUNG DES HERAUSGEBERS
XIX
eine andere Subjekte verpflichtende, intersubjektiv universelle oder gar objektive, Verbindlichkeit zu erheben berechtigt sein können. Auch dann
aber, wenn Religion und Glauben nicht als funktional unerläßliche Determinanten der normativen Orientierung des Subjektseins zu denken und
auszuweisen sind, wird Philosophie zur Kenntnis nehmen, was als Faktum
ohnehin auf der Hand zu liegen scheint: daß es unter den die Erde bevölkernden Menschen solche gab, gibt, geben wird, in deren Dasein Glauben
und Religion von großem existentiellem Gewicht sind; und daß unter diesen religiös durchstimmten Menschen-Subjekten wiederum solche sich
finden, deren Lebensführung und Selbstgestaltungsleistung sogar dem religiös Unmusikalischen und dem Antireligiösen Respekt abnötigen muß.1
Hans Wagner beschließt das Buch, den letzten Brief, mit Sätzen, die von
der angedeuteten existentiellen Relevanz des religiösen Glaubens, übrigens
ebenso des Nichtglaubens, zeugen:
So kann ich zuletzt einem Menschen, der mich hart fragt, doch wohl nur das
eine antworten: Nicht eigentlich aus besonderen theoretischen, gar nicht aus
empirisch-wissenschaftlichen Gründen, sondern, wie ich mich immer mehr
überzeugt habe, infolge der unaufhörlich präsenten Tatsache, daß wir Menschen sind, daß wir von einer einmaligen Existenzweise in der Welt sind, taucht
für unser Nachdenken die Entscheidung verlangende Frage auf, ob wir es bis
zuletzt ausschließlich bei der uns anheimelnden Empirie in Wissenschaft und
Leben und innerhalb unserer Philosophie bei dezidiertem Empirismus (und
1
Auch die gewichtige These, Religion laufe unvermeidlich auf „Desubjektivierung“ des
Menschen hinaus, wäre dann wohl nicht zwingend. Formuliert ist dieser im Fall seiner
Richtigkeit für alle Religion desaströse Einwand in Werner Flachs Rezension der Religionsbriefe (vgl. die bibliographischen Angaben im Anhang des vorliegenden Bandes, S.
477), und in: W. Flach, „Religionsphilosophie?“, und T. Göller, „Zur Religionskritik“,
beide in dem angekündigten Band: T. Göller (Hg.), Zur Religionskritik, Würzburg 2017. –
In Beziehung auf diejenigen positiven, realexistierenden Religionen, die einen von
menschlicher Selbstgestaltungsfunktionalität unabhängigen, dieser zuvorkommenden, ihr
vorgegebenen Existenz-Sinn, gar mit dem Anspruch auf allgemeine, alle MenschenSubjekte verpflichtende Wahrheit und Verbindlichkeit, behaupten bzw. unterstellen –
und das scheint bei fast allen der Fall zu sein –, ist der Einwand, den die These zum Ausdruck bringt, zwar offenbar berechtigt. Doch sind Formen von Religiosität mindestens
denkbar, wohl auch real möglich, die auf diese (Autonomie einschränkende, sie damit unvermeidlich dementierende) Behauptung/Unterstellung verzichten können. Ein Beispiel
wäre die Konzeption des vernunftreligiösen Glaubens im Sinne der Postulatenlehre und
Religionsphilosophie Kants; ein anderes die bei Wagner, allerdings nur im Modus des
Problematischen, erwogene religiös-metaphysische Vorstellung, die konkrete, in aller
Kontingenz und vielfältiger Bedingtheit ihrer Lebensvollzüge hinsichtlich der transzendentalen Funktion der Geltungsgründung aber gleichwohl „absolute“ Subjektivität des
Menschen könne ohne Einschränkung ihrer Selbstgestaltungs-Kompetenz als umwillen
der ihr aufgegebenen Autonomie und transzendentalen Absolutheit (Unbedingtheit)
durch ein transzendent-subsistentes Absolutes (vulgo: Gott) ins Dasein gesetzt und im
Existieren erhalten gedacht werden, und zwar so, daß die Autonomie und Selbstgestaltung des konkreten Subjekts als der vom „höchsten Subjekt“, Gott, sogar für sich selbst
verbindliche Zweck seines den Menschen ins-Dasein-Bringens und im-Dasein-Erhaltens
verstanden bzw. zu verstehen wäre (vgl. Philosophie und Reflexion, § 34).
XX
ZU DIESER AUSGABE
Positivismus) belassen wollen oder aber nicht doch uns neben dem uns möglichen Wissen, und reinlich von diesem getrennt, ein immer wieder auf seine
Heiligkeit kontrolliertes Glauben erlauben sollten. (S. 237 [468])
So „reinlich“, wie Wissen von Glauben zu trennen ist, so konsequent hat
Wagner die Religionsbriefe, in denen er sich zu Religion und Glauben bekennt, vom Glanz des wissenschaftlich-philosophisch angeblich Gedeckten
freigehalten. Indem aber das späte „Büchlein“, unangesehen seiner Religionsaffinität, zugleich auch die transzendentale Idee der Autonomie des
Denkens bewahrt und folglich rationale Religionskritik sowohl zuzulassen
und zu fordern wie selber zu artikulieren vermag, bekräftigt Wagner, was
er schon im religionsphilosophischen Frühwerk als „Liberalität des Geistes“ dem „Kulturfaschismus“ entgegenzustellen bestrebt war (S. 13 ff. [11
ff.]; vgl. auch Religionsbriefe, Brief 15, S. 162 ff. [391 ff.]). Wie historische
Erfahrung tausendfach lehrt, sucht der „Kulturfaschismus“ sein Projekt
der machthörig-machtversessenen Instrumentalisierung aller Wissenschaft
und Kultur mit unbeugsamer Härte voranzutreiben und es auf wechselnden Schauplätzen und in stets wieder neuer Kostümierung, mal politisch,
mal ökonomisch, mal wissenschaftlich und pseudowissenschaftlich, nicht
selten auch religiös oder pseudoreligiös gewandet, zu implementieren. Die
„Liberalität des Geistes“ aber weiß sich dem Humanismus der Bildung zu
Freiheit und Rationalität verbunden. Beide heben an in jenem Logos der
Griechen, der Philosophie seit ihren antiken Anfängen zum Anwalt der
Ideen der Aufklärung und des vernunftorientierten Subjektseins disponiert.
*
Nochmals habe ich zu danken und möchte ich danken: Frau Alexandra
Wagner (Bonn) für einen Zuschuß zu den Druckkosten, die Druckerlaubnis und die Überlassung des Handexemplars von Existenz, Analogie und
Dialektik sowie des Typoskripts der Religionsbriefe; den Mitherausgebern
Bernward Grünewald (Köln), Stephan Nachtsheim (Aachen) und Hariolf
Oberer (Bonn) für Rat und praktische Unterstützung; schließlich denjenigen, die bereit waren, die Unzulänglichkeit des Herausgebers bei sprachlichen, computertechnischen und noch anderen Problemen zu kompensieren, und die durch ihre uneigennützige Hilfestellung die Arbeit an der Edition des Bandes gefördert haben: Heidi Aschenberg (Tübingen), Rebecca
Aschenberg (Madrid), Manuel Cuesta (Madrid), Jörg Dietrich (Tübingen),
Albrecht Rieder (Bad Urach), Reinhild Steinberg (Tübingen). Aufrichtigen
Dank!
Reinhold Aschenberg
TEIL I
EXISTENZ, ANALOGIE UND DIALEKTIK
Religio pura seu transcendentalis
Religionsphilosophie
Band I, 1. Halbband
Vorwort
1. Auch nur annähernd so beliebt wie nach dem ersten Weltkrieg ist die
Religionsforschung heute nicht. An die Stelle einer kritischen Bemühung
um eine einwandfreie Theorie des Wesens der Religion tritt auf literarischem Feld immer mehr der trübe Geist der Gesinnungstüchtigkeit und
auf politischem Gebiet der noch trübere des bloßen Machtkampfes – und
beide Male je nach der Situation, aber mit gleicher Resolutheit entweder
für oder gegen die Religion.
Unter dem Titel Religionsphilosophie läuft heute gerne – und beinahe
schon offiziell – etwas, was in Wahrheit höchstens religiöse Philosophie
heißen könnte. Unter der Voraussetzung so heißen könnte, daß feststünde, ob so etwas überhaupt Philosophie genannt werden darf. Das Werk,
dessen erstes Stück ich mit dem Gegenwärtigen dem Leser vorlege, will alles andere als eine Religionsphilosophie in diesem fragwürdigsten Sinne
sein.
2. Genau und verläßlich zu wissen, was Religion sei, – das ist das einzige
legitime Anliegen einer Religionsphilosophie. An dieses und nur an dieses
sich bindend, ist sie genau so echte und kritische Philosophie wie beispielsweise Naturphilosophie, Ästhetik und Rechtsphilosophie. Religion
und Glauben, Atheismus und Unglauben hat sie zu ihren Gegenständen;
sie selbst aber ist nicht im mindesten etwas dergleichen. Auf die Gretchenfrage eine „wissenschaftliche“ Antwort zu geben, das ist nicht die Aufgabe
einer gegenwärtigen Religionsphilosophie. Vielmehr fragt sie nach dem
letzten Sinn und den anfänglichsten Gründen dieser Gretchenfrage selbst.
So nämlich, wie Gretchen die Frage stellt, ist sie keine theoretische und einer „wissenschaftlichen“ Beantwortung nicht fähig. Und alle echten und
wichtigen Fragen werden umgekehrt von der Naivität der Gretchenfrage
gerade unterdrückt.
3. Daß das theoretische Interesse am Wesen der Religion heute so gering ist, ist gewiß ein Schaden für unser praktisches Leben, vor allem das
öffentliche. Der Wissenschaft als solcher selbst jedoch verschlägt diese
Sachlage nichts. Sie gewinnt dadurch im Gegenteil die Ruhe, ohne welche
Forschung nicht möglich ist. Mit dieser Ruhe habe ich mir den mannigfachen Ertrag der Studien der letztvergangenen Jahrzehnte durchgesehen.
Immer wieder befremdete mich dabei das Mißverhältnis zwischen dem
Reichtum des aufgebrachten Einzelmaterials und einer oft recht empfindlichen Enge der jeweiligen Grundfragestellung. Wenn man es demgegenüber
fertig brächte, so schien mir, die Fülle des wichtigen Einzelmaterials von
einem angemessenen Ansatz aus, mit genügend differenzierter Methodik,
mit allseitiger Problemgeöffnetheit einheitlich durchzuarbeiten, dann
müßte einem geradezu eine neue Form der Religionsphilosophie möglich
4
EXISTENZ, ANALOGIE UND DIALEKTIK
werden. So wie ja auch umgekehrt eine Religionsphilosophie im älteren
Verstand und Stil heute nicht mehr gut möglich ist – angesichts eben der
Fülle und Mannigfaltigkeit des Materials, welches Religionspsychologie,
Religionspsychopathologie, Religionssoziologie und Allgemeine Religionsgeschichte vor uns ausgebreitet haben.
4. Die grundsätzliche Absicht des Verfassers, den Problemansatz so
breit wie irgend möglich zu gestalten, wird der Leser sofort auch aus dem
Titel des vor ihm liegenden I. Bandes erkennen. Er soll jedoch nicht denken, mir gehe es um das genialische Bemühen, notorisch Widerstreitendes
mit Gewalt zu vereinigen. Solchen Ehrgeiz kann ich nicht haben: ich
möchte nicht, daß es mir womöglich noch schlimmer ergehe, als es dem
großen Leibniz sooft ergangen ist, daß nämlich über solchem Bemühen ein
Gebäude entstehe, das sich als Ganzes zwar imposant ausnimmt, in dem
aber nicht selten das Einzelne schlecht zum Einzelnen stimmt. Mir geht es
vielmehr um etwas ganz Einfaches: um die Tatsache, daß in den drei so heterogenen Titeln drei ziemlich verschiedene Ansatzformen der Religionsphilosophie zum Ausdruck kommen, die es in Wahrheit miteinander zu
verbinden gilt. Und dies ist durchaus auch möglich, weil sich hinter den
drei Titeln gleichzeitig auch drei echte und unübersehbare Momente verbergen, die völlig bereits in der Sache selbst liegen.
5. Das erste Stück meiner Religionsphilosophie erscheint in einer anerkannt verarmten Zeit. Diese unsere wirtschaftliche Armut veranlaßt mich
zu zwei Notbehelfen.
Ich beginne mit der Veröffentlichung einer Religionsphilosophie, obwohl ich meine Konzeption der Fundamentalphilosophie noch nicht habe
vorlegen können. Das ist vom systematischen Standpunkt aus recht mißlich; denn es ist unumgänglich, daß man sich in einer Spezialdisziplin auf
gewisse Ergebnisse der Fundamentalphilosophie beziehe. Ich halte daher
wenigstens dieses für nötig, anzugeben, mit welchen neueren Richtungen
ich mich beim Aufbau meiner eigenen Fundamentalkonzeption fortwährend auseinandergesetzt habe und weiterhin auseinandersetze. Da ist einmal der phänomenologische Idealismus (von Husserl begründet, von Heidegger auf die gegenwärtige Gestalt gebracht). Da ist daneben nicht minder der strenge transzendentale Idealismus der klassischen Form (von
Kant, Fichte und Hegel herkommend, in Marburg, Freiburg und Heidelberg dereinst am machtvollsten entwickelt, heute – nach dem Tode von
Cassirer und Hönigswald – in Deutschland in seiner Strenge leider nur
noch vertreten durch Litt und Zocher). Da ist drittens die neue Ontologie
mit ihrem eben erst verstorbenen Meister Nic. Hartmann. Für Sonderprobleme schließlich kämen noch in Frage die sog. Wiener Schule, die
Existenzphilosophie von Jaspers und die jüngste Jesuitenphilosophie. – Wo
immer ich also an Ergebnisse der Fundamentalphilosophie anknüpfen
muß, verweise ich den Leser jeweils an denjenigen Autor, dessen Ausführungen ich für meinen Zweck gerade für hinreichend und zweckmäßig hal-
5
VORWORT
te. Ich binde mich dann auch – innerhalb dieser Anknüpfung – an die Terminologie dieses Autors, um dem Leser das Verständnis zu erleichtern,
und tue es selbst dann, wenn ich an sich sowohl gegen diese Terminologie
wie gegen die besondere Sichtweise, der diese entsprungen ist, manches
Bedenken hege.
Der zweite Behelf, zu dem mich unsere wirtschaftliche Armut veranlaßt,
betrifft die Erscheinungsweise des Werkes. Wer heutzutage Geld hat, kauft
keine wissenschaftlichen Bücher. Wer sich heute für ein wissenschaftliches
Buch interessiert, gehört zur ärmeren Volksschicht. Ich glaube, es kommt
der Kaufkraft der Interessenten entgegen, wenn das Werk in Raten erscheint. Darum übergebe ich zunächst nur die erste Hälfte des ersten Bandes der Öffentlichkeit und lasse die zweite Hälfte in etwa zwei Jahren folgen. Wenn die Zeiten durch die Tüchtigkeit unserer Politiker und Manager
wieder besser werden sollten, wird sich auch die Wissenschaft von solchen
Auskunftsmitteln wieder gerne trennen. Übrigens möchte ich doch auch
nicht verhehlen, daß mir die Publikation in Raten in gewisser Weise sogar
angenehm ist: auch ich möchte nicht ununterbrochen bloß über die Religion nachdenken müssen.
6. Dem Werk ein Literaturverzeichnis und ein Register beizugeben, halte ich für erforderlich. Und zwar wird es am Schluß eines jeden Bandes
seinen Ort erhalten.
7. Ohne das Wohlwollen und die Hilfe vieler Gönner hätte das Werk das
Licht der Öffentlichkeit nie gesehen. Ihnen allen sei an dieser Stelle öffentlich gedankt.
Dank gebührt namentlich und vor allem der Deutschen Forschungsgemeinschaft, welche die erforderlichen Zuschüsse für die Drucklegung gewährt hat. Dank gebührt aber nicht weniger auch dem Ernst Reinhardt
Verlag und seinem Inhaber, Herrn H. Jungck, für ein geradezu ausgezeichnetes Entgegenkommen in allen Punkten.
Knetzgau / Main, 1. April 1952
H. Wagner
INHALT
Einleitung
1. Kapitel. Über das Ausmaß der Aktualität einer
religionsphilosophischen Untersuchung ........................................
2. Kapitel. Rhapsodie der religionsphilosophischen
Eingangsprobleme ...........................................................................
3. Kapitel. Die Aporien einer Religionsphilosophie .................................
4. Kapitel. Der Aufbau einer Religionsphilosophie ..................................
5. Kapitel. Die Leitfäden der Gedankenbewegungen
einer Religionsphilosophie ..............................................................
9
15
22
29
37
EXISTENZ, ANALOGIE UND DIALEKTIK
Vorbemerkung ............................................................................................ 47
Erste Abteilung
Die reine Kategorialproblematik der Religion
1. Kapitel. Die Problematik eines reinen Religionsbegriffes ...................
2. Kapitel. Fundamentale Kategorialprobleme der Religion ....................
3. Kapitel. Fortsetzung der vorigen Erörterung. Fundamentalanalyse
der Reiche des Jenseits, des Glaubens und der Heiligkeit.............
4. Kapitel. Weitere Fortsetzung. Fundamentalanalyse des Reiches der
Gnade. Offenbarung, Gebet, Mystik und heroisches Zeugnis .....
A. Das religiöse Urphänomen der Offenbarung ...........................
B. Das religiöse Urphänomen des Gebetes ....................................
C. Das Heterochthone im Reich der Gnade; in Inspiration,
Mystik und Zeugentum ........................................................
5. Kapitel. Eine zweite Kategorientafel und ihr Verhältnis zur ersten ....
6. Kapitel. Interkategorialgesetze der Religion.........................................
7. Kapitel. Religion und Wissen; die prinzipielle Auflösung
der Möglichkeitsaporie ....................................................................
53
64
73
80
83
86
92
103
119
125
8
EXISTENZ, ANALOGIE UND DIALEKTIK
Zweite Abteilung
Die Analogieproblematik der Religion
(Der Transzendentalproblematik erster Hauptteil)
1. Kapitel. Religion neben anderen Typen existentiellen Verhaltens ......
2. Kapitel. Der Stand der religionskritischen Problematik ......................
3. Kapitel. Die Idee der Analogia entis und ihre Problematik .................
A. Die formalontologische Problematik der Analogia entis.
Die Prädikation des Seins und das Sein des Seienden .........
B. Die metaphysische Problematik der Analogia entis .................
C. Die Transzendenzproblematik in der Analogia entis ...............
4. Kapitel. Prinzipielle Folgerungen für die Methode der
Religionskritik aus der Analyse der Analogiekonzeption .............
5. Kapitel. Die Vollgestalt der Analogiekonzeption ................................
6. Kapitel. Erste kritische Diskussion der Analogiekonzeption .............
7. Kapitel. Der transzendentale Ertrag der Analyse
der Analogiekonzeption .................................................................
135
147
155
156
164
173
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Einleitung
Erstes Kapitel
Über das Ausmaß der Aktualität einer religionsphilosophischen
Untersuchung
A) Es hat vielleicht zunächst den Anschein, daß einer religionsphilosophischen Untersuchung heutzutage kein besonderes Maß an Aktualität zugedacht werden könne. Dieser Anschein wäre kein Unglück für den Philosophen, der eine solche Untersuchung unternimmt: er könnte ihm Hoffnung
machen, ein Publikum zu finden, das kein anderes Interesse mitbringt, als
bloß das theoretische selbst, das wissenschaftliche und philosophische Interesse für die Frage nach dem, was die Religion ist, als was sie notwendig
zu denken ist.
Überläßt sich der Philosoph diesem Anschein, so setzt er damit voraus,
daß die Leidenschaftlichkeit gegenüber der religiösen Problematik in der
Menschheit sich bereits eine so kultivierte Form errungen habe, daß sie fähig ist, auf die Gedanken des puren theoretischen Betrachtens der Religion
in aller Ruhe und Sachlichkeit einzugehen, mit ihm zusammen nach der
Wahrheit und nur nach der Wahrheit über den Gegenstand zu streben. Er
setzt also voraus, daß wenigstens schon das zu allgemeinem Bewußtsein
und zu allgemeiner Billigung gelangt sei, was als das minimale religionsphilosophische Ergebnis bereits seit Jahrhunderten als gültige Forderung gesichert ist: die absolute Toleranz jedweder religiösen Stellungnahme gegenüber, und zwar als schlichte Konsequenz aus dem Bedenken des Wesens
der Religion selbst. Indem er jenem Anschein traut, hofft er also auf ein
Publikum, das ebenso eines rein theoretischen Interesses wie einer echten
praktischen Toleranz aus philosophischer Einsicht fähig ist.
Er wird also dazu neigen, sogleich an seine Arbeit zu gehen, nachdem er
nur noch schnell dieses langgesicherte Minimalergebnis in ein paar Sätzen
in Erinnerung gebracht hat:
Man tut übel daran, Religion als solche schlechthin zu bekämpfen oder
gar auszurotten. Die Mehrzahl der Menschen ist nicht gut, und wird es
auch nicht, wenn sie Religion hat; aber ohne Religion wäre sie es noch viel
weniger. Sie von den Fesseln der Religion befreien heißt sie entfesseln;
immer aber sind entfesselte Menschen schlechter als solche, die unter den
Fesseln religiöser Vorstellungen wenigstens die bescheidensten Forderungen der Sittlichkeit erfüllen. Es gibt für die Masse der Menschheit keine
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EXISTENZ, ANALOGIE UND DIALEKTIK
besseren Antriebe als Furcht und Sorge; auf Güte aus Freiheit und Einsicht
ist bei der Mehrheit der Menschen kaum jemals zu hoffen.
Aber es gibt auch eine Minderheit von Menschen, die edel, hilfreich und
gut sind aus Freiheit und Einsicht. Der eine Teil dieser Minderheit behauptet, die Religion bringe ihn dazu und er folge dabei den Fußstapfen seiner
Heiligen. Der andere Teil derselben Minderheit freilich erklärt, seine Güte
stamme gerade nicht aus der Religion, er sei vielmehr gänzlich gottlos und
ein Gegner der Religion, und Religion als Religion bringe niemals irgendwo Güte hervor. – Die Betrachtung dieser geteilten Minderheit der guten
Menschen führt also zu folgenden weiteren Sätzen: Religion ist nicht nur
zu wünschen als heilsame Fessel für die Vielen; sie ist auch zu verehren als
Keimstätte des Besten von Wenigen. Aber da sie andrerseits keineswegs die
einzige Stätte des Guten ist, ist es der Religion zu verwehren, daß sie die
Freiheit zu Religionslosigkeit und Unglauben unmöglich mache. Und was
am allerwenigsten geduldet werden darf: daß gar die Masse der von der Religion Gefesselten (eine böse Majorität unter einigen wenigen Anführern)
die Fesselung auch derer zu erzwingen strebe, die ohne Religion gut sind.
Und da schließlich letzteres schon mehr als einmal in der Geschichte geschehen ist, gilt auch noch dieses: Nur eine fortwährend (theoretisch wie
ethisch) kontrollierte Religion kann ihrerseits von den aus Freiheit und
Einsicht Guten geduldet, gewünscht, begrüßt werden.
Kurz gesagt, das langgesicherte Minimalergebnis, woran der Religionsphilosoph erinnern möchte, wäre dies: weder Ohnmacht noch Alleinherrschaft der Religion; weder Vergottlosung der Massen noch Entmächtigung
der Religionslosen. –
B) In Wahrheit aber kann der Religionsphilosoph heutzutage keineswegs sich damit begnügen, dieses an sich langgesicherte Minimalergebnis
der Religionsphilosophie bloß kurz in Erinnerung zu bringen. Er würde
sich täuschen, wenn er glaubte, daß es heute allgemeine theoretische und
praktische Anerkennung genieße. Genau so, wie er sich täuschen würde,
wenn er hoffte, für seine religionsphilosophischen Gedanken keine andere
Leidenschaft als die theoretische der Wahrheitssuche anzutreffen. Er wird
vielmehr die Reaktion ganz anderer Leidenschaften zu spüren bekommen,
solcher, die nichts gemein haben mit jener oben erwähnten kultivierten
Form.
Wie ist dies möglich, daß eine theoretische Untersuchung über die Religion heutzutage nicht die einer theoretischen Untersuchung angemessene
Reaktionsweise erwarten darf? Warum gibt es für eine Theorie der Religion
heutzutage nicht den erforderlichen freien Raum, in dem allein Wahrheit
möglich werden kann? Es kann nicht der Gegenstand, die Religion selbst,
es sein, die sich mit soviel Gereiztheit dagegen wehren würde, daß man sie
untersuche. Die Religion kann vielmehr gerade nur wünschen, daß man
sich um sie und ihr Wesen bemühe. Es können auch nicht die Subjekte der
Religion (der Heilige und der Atheist) es sein, die es sich verbitten wür-
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