von Siegfried Huhn Mehr als die Hälfte aller Menschen über 65

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von Siegfried Huhn
Mehr als die Hälfte aller Menschen über 65 Jahre ist bereits ein- oder mehrmals
gestürzt - das sind insgesamt mehrere Millionen Stürze pro Jahr. Die
Krankenhauseinweisungen nach Stürzen nehmen zu. Bei etwa 60.000 bis 100.000
Betroffenen kommt es zu den gefürchteten Hüftfrakturen, sowie ebenso oft zu
anderen Frakturen, Prellungen und Blutergüssen. Mehr als ein Viertel der gestürzten
Personen wird aus der Klinik mit erhöhtem Pflegeaufwand entlassen und muss bei
vorheriger Selbstständigkeit in einen Pflegebereich umziehen. Somit wird der Sturz
für die Betroffenen zu einer völligen Veränderung der bisherigen Lebenssituation.
Durch den Auftrag zur aktivierend - rehabilitativen Pflege befinden wir Pflegenden
uns in einem echten Dilemma: Wir aktivieren und mobilisieren, sehen uns aber
gleichzeitig der steigenden Sturzrate gegenüber. Das alles macht ein systematisches
Vorgehen im Zusammenhang mit Stürzen und Sturzprävention nötig und sinnvoll.
Definition
Ein Sturz ist ein unvorhergesehenes und ungeplantes Ereignis, das den Betroffenen
aus liegender, sitzender oder höherer Position mit Kopf, Rumpf oder Gliedmaßen auf
den Boden oder einen Gegenstand aufschlagen lässt (Raspe u.a. 1994, Huhn 2002)
Der Sturz ist ein multifaktorelles Geschehen, das von inneren (in der Person
gelegenen) und äußeren Faktoren (des Umfeldes) ausgelöst wird. Zumeist führt nicht
ein einzelner Grund zum Sturz, sondern es wirken mehrere Faktoren zusammen.
Zum Beispiel:
Ein Raum ist schlecht ausgeleuchtet, so dass der alte Mensch einen herumliegenden
Gegenstand nicht sieht und darüber stolpert. Wegen seiner Bewegungsbehinderung,
z.B. einer Hüftarthrose, und durch das altersbedingte Nachlassen des BalanceReflex kann er dieses Stolpern nicht ausreichend abfangen und stürzt.
Auslösende Faktoren
Erkrankungen des Bewegungsapparats
Altersbedingt kommt zu Veränderungen, die das Stürzen begünstigen. Der
alte Mensch geht meist nach vorne gebeugt, die Füße werden nach außen
gedreht und die Knie leicht gebeugt. Dadurch wird der Gang schleppend und
schlürfend, Hindernissen oder Unebenheiten kann nicht ausgewichen werden,
alles wird zur Stolperfalle. Besonders gefährdet sind Patienten mit
Erkrankungen am Bewegungsapparat wie bei Osteoporose, nach
Schlaganfällen oder bei Morbus Parkinson.
Eingeschränktes Sehvermögen
Auch das nachlassende Sehvermögen hat eine Auswirkung auf Stürze.
Besonderen Einfluss haben hier das verminderte Nahsehen, eine
zunehmende Blendempfindlichkeit und schlechte Hell-Dunkel-Adaption.
Deshalb spielt der Faktor Licht eine besondere Rolle in der Sturzentwicklung
und Sturzprävention. Wenn durch ungünstige Raumausleuchtung undeutliche
Schatten geworfen werden, kann es sehbehinderten Personen passieren,
dass diese den Schatten als Hindernis wahrnehmen, ihren Bewegungsfluss
verhindern oder Fehltritte machen, um dem Hindernis auszuweichen. Es gibt
jedoch keinen Hinweis, dass erblindete Personen häufiger stürzen als
sehfähige meist entwickeln die erblindeten Personen eine höhere
Aufmerksamkeit und damit eine natürliche Sturzprophylaxe.
Medikamenteneinnahme
Es gibt einen direkten Zusammenhang zwischen Medikamenten und
Sturzhäufigkeit. Bei einigen Medikamenten, wie etwa Schlafmittel, verzögert
sich der Abbau des Wirkstoffs oft so sehr, dass es zu Hangover-Effekten
kommen kann. Ging man noch vor ein paar Jahren von der Annahme aus, das
es besonders die sogenannten sturzassoziierten Medikamente sind, so
besteht zwischen Fachleuten inzwischen Einigkeit darüber, dass schon allein
die Menge der Einzelmedikamente mit ihren Wechselwirkungen zu
Aufmerksamkeitsstörungen führen kann und dadurch das Sturzrisiko steigt.
Exogene Faktoren
Neben den vorgenannten endogenen Faktoren gibt es im Umfeld der
betroffenen Personen eine ganze Reihe von Faktoren, die Stürze auslösen
können oder für Stürze mitverantwortlich sind. Bekannt sind die oft genannten
Stolperfallen, wie Fernseh- und Lampenkabel, hochstehende Teppichkanten,
herumliegende Gegenstände und Türschwellen. Wie bereits erwähnt, spielen
die Lichtverhältnisse eine besondere Rolle. So konnte in einer US-Studie
nachgewiesen werden, dass in einem Raum mit blendenden Lichtquellen
besonders viele Bewohner gestürzt sind. Nach der Umrüstung mit
Blendschutz sind die Stürze wesentlich zurück gegangen.
Durch neue Möbel im Zimmer, oder durch das Umstellen von
Einrichtungsgegenständen, kommt es häufig zu Stürzen, weil die Bewohner
einen Plan ihrer Räume im Kopf haben, nach dem sie sich unbewusst
orientieren und bewegen. Kommt es zu Veränderungen, so brauchen die alten
Menschen recht lange, um diesen Plan an die veränderte Umgebung
anzupassen. Deshalb müssen notwendige Veränderungen möglichst mit dem
Bewohner zusammen und in kleinen Schritten vorgenommen werden.
Vieles, was in Wohnräumen von Außenstehenden als Streßelemente erlebt
wird - etwa Kartons, die lange im Flur stehen, oder der scheinbar unnütze
Schuhschrank, der den Flur beengt und damit ein Passagehindernis sein kann
usw. - stellen für die Betroffenen oftmals eine Hilfe dar, indem sie sich dort
abstützen und somit den Gang stabilisieren und den Bewegungsfluss aufrecht
erhalten.
In Pflegeeinrichtungen werden Unterbrechungen der Handläufe, die einen
Risikobereich darstellen, oft zusätzlich mit Pflegehilfsmitteln verstellt. (z.B.
Pflegearbeitswagen am Zimmereingang).
Sturzprävention
Als günstig hat sich die Arbeit mit einer Sturz-Risikoskala gezeigt, um gefährdete
Personen frühzeitig zu identifizieren. Die Einschätzung eines möglichen oder
tatsächlichen Sturzrisikos sollte sich jedoch nicht nur an der Person mit ihren
endogenen Faktoren, sondern auch an den Umgebungsfaktoren orientieren. Da
Stürze sehr individuelle Ursachen haben können, ist hier die
Beobachtungskompetenz der Pflegenden gefragt, um die möglichen Faktoren
herauszufinden und besser zu begrenzen.
Maßnahmen
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Bewegungstraining sollte gezielt zur Koordination und Reaktionsschnelle, aber
auch zum Training von Balance, Kraft und Standfestigkeit angeboten werden.
Die Benutzung der Toilette (Hinsetzen und Aufstehen, Vornüberbeugen zur
Reinigung) sollte ebenso eingeübt werden wie Dusch- oder
Badewannennutzung
Umfeldgestaltung mit Haltegriffen, Handläufen, die auch um die Ecken gehen,
blendfreien Lichtquellen, angepasste Stühle und behindertengerechte
Kleidung
Bei Pflegebetten muss das Ein- und Aussteigen unbedingt geübt werden, da
die Höhe oder Breite dieser Betten für die meisten alten Menschen zunächst
gewöhnungsbedürftig ist.
Beim Sitzen auf der Bettkante muss, ebenso wie beim Sitzen auf Stühlen,
unbedingt Bodenkontakt hergestellt werden, da nur dieser die nötigen
Informationen liefert, um aufstehen und fest stehen zu können, oder auch um
vor dem Aufstehen die Kraft in den Beinen zu testen.
Pflegebetten müssen nach Abschluss der Pflegehandlung immer auf das
niedrigste Niveau abgesenkt werden.
Bettgitter dürfen aus pflegefachlicher Sicht nur dann angebracht werden, wenn
es darum geht, ein Herausrutschen aus dem Bett zu verhindern und wenn die
betroffene Person ausreichend orientiert und informiert ist, um das Risiko des
Darübersteigens abschätzen zu können und möglichst auch fähig ist, die
Klingel für Rufe zu bedienen.
Ist die Person nicht ausreichend orientiert oder trotz Information nicht
einsichtig, darf ein Bettgitter nur dann angebracht werden, wenn der Mensch
nicht in der Lage ist, sich im Bett so aufzurichten, dass ein Darübersteigen
möglich wäre. Immer muss abgeklärt werden, in welchen Abständen die
Pflegeperson die Bewohner/Patienten mit Bettgitter aufsucht. Um unruhige
Personen am Verlassen des Bettes zu hindern, ist ein Bettgitter ungeeignet
und sollte hierzu auch nicht eingesetzt werden.
Der Umgang mit Gehhilfen muss von den Nutzern eingeübt werden. Gehhilfen
müssen regelmäßig neu angepasst werden. Sie müssen auch für
verschiedene Bereiche nutzbar sein.
Sturzangst mindern
Sturzangst ist die Angst, die über eine normale, realistische Angst zu fallen durch
Einschätzung der persönlichen Situation hinaus geht. Sie ist oft eine Reaktion auf
vorausgegangene Stürze (post fall Syndrom). Entwickelt sich eine echte Sturzphobie,
so schränken die Betroffenen ihre Bewegung auf ein Minimum ein und verlassen aus
Angst zu stürzen oft tagelang das Bett nicht mehr.
Sturzangst ist in der Regel mit Verletzungsangst oder der Angst, nicht mehr
aufstehen zu können, verbunden. Deshalb müssen Pflegende bei gestürzten
Personen unbedingt auf Panikreaktionen und Entsetzensäußerungen verzichten.
Das selbständige Aufstehen nach dem Sturz wird gefördert und vielleicht sogar
eingeübt. Das hilft Angst zu mindern und bedeutet für die Betroffenen eine
Kompetenzerweiterung.
Mitarbeiterpräsenz
Verschiedene Untersuchungen haben gezeigt, dass es zu tageszeitlichen
Sturzhäufungen kommen kann. Dies sind vor allem die Dämmerzeiten, also dann,
wenn sich die Lichtverhältnisse verschlechtern. In der Häuslichkeit kommt es zu einer
Häufung in den frühen Morgenstunden, kurz nach dem Aufstehen. Zum einen sind
die Lichtverhältnisse dann oft schlecht, weil auch auf elektrisches Licht verzichtet
wird, zum anderen sind die Patienten noch nicht ganz wach, also in ihrer Reaktion
vermindert.
In stationären Einrichtungen wurde darüber hinaus eine Sturzhäufung beobachtet,
wenn weniger MitarbeiterInnen präsent waren. Dies vor allem in der Mittagszeit
während der Übergabe. Deshalb sind einige Einrichtungen dazu übergegangen,
während dieser Zeiten eine Präsenzperson abzustellen. Damit gingen Stürze zurück
(vgl. Dietz/Eskes in Huhn 1997).
Sturzereignisprotokoll
Da Stürze sich in ihrem Ablauf wiederholen, sollte nach einem Sturz unbedingt ein
Sturzereignis-Protokoll geführt werden. In dem Protokoll sollen die Umstände, die
zum Sturz geführt haben könnten, erfasst werden, um daraus prophylaktische
Maßnahmen abzuleiten. Darüber hinaus gilt das Ereignisprotokoll auch als
Dokumentationsnachweis und kann bei Nachfragen seitens der Kassen
herangezogen werden.
Hilfsmittel zur Sturzprävention
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Gehhilfen von Stöcken bis Rollatoren
Eiskrallen für Gehstöcke
Stockhalter für Tisch und Stuhl
Schuh-Spikes für Schnee und Eis
Toilettensitzerhöhung
Badewannen-Einstiegshilfen
Duschsitze, Anti-Rutsch-Matten
Anziehhilfen
Stoppersocken
Hüftprotektor - die Knautschzone
Vielfach getestet, stellt der Hüftprotektor einen sehr hohen Schutz gegen
Oberschenkelhalsbrüche dar. Seine Entwicklung beruht auf der Erkenntnis, dass
Personen mit größerem Fettpolster seltener Hüftfrakturen erleiden als schlankere
Personen. Eine mehrschichtige, anatomisch geformte Plastikschale, die in eine
Spezialhose eingelassen ist, liegt schützend über dem Trochanter major. Beim Sturz
auf die Hüfte wird die Sturzenergie des Aufpralls vom Knochen weg in das
Weichteilgewebe umgeleitet. Der Oberschenkelhals wird nicht punktuell getroffen,
und die Wahrscheinlichkeit einer Fraktur ist fast nicht mehr gegeben.
Falldetektor
Der Falldetektor unterscheidet sturzähnliche Aktivitäten von tatsächlichen Stürzen.
Der am Gürtel getragene Sensor erkennt eine Positionsänderung mit
anschließendem Aufprall oder Stoß, sowohl aus einer aufrechten wie auch einer
liegenden Ausgangsposition. Die Stürze werden über ein Rufsystem entweder an
eine Zentrale oder an einen anderen Empfänger (Familie, Nachbarn) weitergeleitet.
In den Detektor eingearbeitet ist auch ein Alarmknopf für die manuelle Auslösung.
Das Gerät ist mit verschiedenen Hausnotruf- Systemen kompatibel.
Bewegungsmatte
Die mit Sensoren ausgestattete Matte einer finnischen Firma registriert kleinste
Druckveränderungen und leitet so Informationen über Bewegungen mittels
Meldesystem weiter. Die Einstellung ist sensibel, dass etwa die Atembewegungen
bei schlafenden Menschen gemeldet werden. Wird der Mensch unruhig oder
versucht sich im Bett aufzurichten, gibt das Gerät Alarm. Bei sitzenden Personen
unter die Füße gelegt, würde es die Druckveränderung beim Aufstehversuch melden,
und die Pflegeperson könnte zu Hilfe kommen. Sicherlich wird ein solches Hilfsmittel
kontrovers diskutiert. Es stellt zwar eine Kontrolle dar, bietet aber gleichzeitig
enormen Schutz.
Grundlagen der Sturzprävention
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Risikopersonen erkennen
Sturzrisiko-Situationen erkennen
regelmäßige Arzt-Checks
Sensorische Ausfälle ausgleichen (z.B. Brille, Hörgerät)
Medikamente überprüfen
Mobilität fördern
Hilfsmittel einsetzen
Sicherheit erhöhen (Umfeldorganisation)
Frakturrisiko vermindern (Huhn, 2002).
Arbeitshilfen
Da Stürze ein so umfassendes Problem darstellen, müssen für die Zukunft
Arbeitshilfen (weiter)entwickelt werden. So muss weiter an Instrumenten im Bereich
der Risikoeinschätzung gearbeitet werden. Sturzereignis-Protokolle sollten häufiger
eingesetzt werden, ebenso Checklisten (z.B. Licht, siehe unten), um Sturzrisiken im
Umfeld der gefährdeten Personen auszuschalten.
Schon bald wird ein Expertenstandard Sturzprophylaxe erstellt werden, der ähnlich
wie der Standard zur Dekubitusprophylaxe, das Vorgehen zur Sturzprävention
strukturieren und für Klarheit sorgen wird.
Beispiel Fragenkatalog: Licht/Beleuchtung
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Ist der Hauseingang bei Dunkelheit automatisch beleuchtet?
Sind die Beleuchtungsintervalle bei Hauseingang, Treppenhaus und Flur lang
genug, um alles ohne Eile zu erreichen?
Gibt es auf den Gängen eine Notbeleuchtung?
Gibt es eine Lichtquelle am Bett, ist diese bequem im Liegen zu
erreichen/bedienen?
Sind die (Schlaf-)Zimmerlampen vom Bett aus bedienbar?
Unterscheiden sich Lichtschalter und Notglocke deutlich?
Sind Lichtschalter direkt neben der Tür?
Gibt es Kippschalter? Sind sie groß genug und leicht bedienbar?
Geht das Licht nach dem Bedienen des Schalters schnell (nicht zeitverzögert)
an? Ohne zu flackern?
Ist das Licht ausreichend, blend- und schattenfrei?
Gibt es am Sitzplatz eine Beleuchtung?
Ist eine Lichtquelle vom Sitzplatz aus bedienbar? Im Zimmer und auch im
Aufenthaltsbereich?
Spiegelt sich das Licht im Fußboden, so dass der Boden glatt (gebohnert)
wirkt?
Blendet die Lichtquelle im Spiegel?
(vgl. Huhn, Heim & Pflege 2002).
Quelle: Lazarus
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