Akute Ataxie rasch differenzieren

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Quelle: abd/bmp
von
Angelika Bauer-Delto
Als „Ataxie“ wird
eine Störung der
Koordination und
Feinabstimmung von
Willkürbewegungen
sowie der Kontrolle
der Körperhaltung
bezeichnet.
Ein 20 Monate alter Junge wird wegen einer Gangstörung in der neurologischen Ambulanz vorgestellt. Er ist das erste Kind gesunder konsanguiner
Eltern. Sein geradezu „clownesker“ Gang fiel bereits
auf, als er mit etwa 14 Monaten laufen lernte. Schon
als älterer Säugling sei er etwas „tapsig“ gewesen,
berichten die Eltern. Außerdem leide ihr Kind häufig unter Atemwegsinfekten. Die Untersuchung
ergibt eine ausgeprägte, geradezu grotesk wirkende
Gang- und Standataxie. Ständig drohen Stürze, die
das Kind meist aber noch abwenden kann. Wenn der
Junge die Blickrichtung ändert, wirft er zunächst
den Kopf herum, um dann mit einer konjugierten
Bulbusbewegung die Augen „nachzusteuern“.
„Diese Kombination aus clownesker Ataxie
und okulärer Apraxie bei einem Kleinkind ist
charakteristisch für die autosomal rezessive Ataxia teleangiectatica, das Louis-Bar-Syndrom“,
erklärt PD Dr. Knut Brockmann vom Sozialpädiatrischen Zentrum (SPZ) des Universitätsklinikums Göttingen. Die charakteristischen Teleangiektasien der Konjunktiven treten meist erst
ab dem dritten Lebensjahr auf. Die Verdachtsdiagnose kann dann durch molekulargenetische
Untersuchungen gesichert werden.
Akute Ataxie rasch differenzieren
„Wird dem Kinder- und Jugendarzt in der Pra-
xis ein ataktisches Kind vorgestellt, steht er
zunächst vor der diagnostischen Herausforderung, keine akut lebensbedrohliche Erkrankung zu übersehen“, betont Brockmann. Der
zeitliche Ablauf der Ataxie erlaubt hier oft eine
erste diagnostische Weichenstellung.
Vertraut ist dem Pädiater die subakute Ataxie infolge einer Zerebellitis. Eine akute, seit
Stunden bestehende Ataxie eines allgemein
verlangsamten Kindes spricht für eine Intoxikation, besonders häufig durch Benzodiazepine. Eine seit wenigen Wochen zunehmende
Ataxie bei einem Klein- oder Schulkind, das
auch noch über Kopfschmerzen klagt und
nüchtern erbricht, lässt an einen Tumor in der
hinteren Schädelgrube denken.
Kleinkinder erkranken gelegentlich an einer
Formen zerebraler Bewegungsstörungen
Art:
spastisch, dyston/dyskinetisch und/oder
ataktisch
Lokalisation:
• Diparese: vorwiegend Beine
• Tetraparese: Beine und Arme, evtl. Kopf
und Rumpf
• Hemiparese: Halbseitenlähmung
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Chronische Ataxie meist durch
Kleinhirnläsionen bedingt
Die meisten chronischen Ataxie-Formen stellen
Kleinhirnerkrankungen dar oder sind auf Läsionen in einem der Kleinhirn-afferenten Systeme zurückzuführen, erklärt Brockmann. Auffälligstes Symptom ist der ataktische Gang, der
breitbasig, wackelig und unsicher ist. Das Kind
droht ständig zu stürzen. Bei Erkrankungen
des Kleinhirnwurmes finden sich typischerweise Ausgleichsbewegungen des Rumpfes
oder Kopfes, sogenannte Titubationen. Läsionen der Kleinhirnhemisphären sind eher durch
gerichtete Fallneigung und ipsilaterale Hypotonie und Dysmetrie gekennzeichnet. Weitere
wichtige Kleinhirnsymptome sind Dysarthrie
mit skandierender Sprache, Intentionstremor
und Augenzittern. Bei jeder Ataxie nimmt die
Balancestörung mit geschlossenen gegenüber
offenen Augen zu (positives Romberg-Zeichen). Bei bestimmten Gangstörungsmustern,
die sich oft erst im Klein- oder Schulkindalter
manifestieren, muss auch an genetische Ursachen gedacht werden, erklärt Brockmann.
Häufigste Form ist die autosomal-rezessive
Friedreich-Ataxie. Die Symptomatik ist unaufhaltsam progredient und reicht von der
Dysarthrie, Hohlfußbildung, Erlöschen der
Muskeleigenreflexe an den Beinen, Kardiomyopathie, Hörstörung und Skoliose bis hin
zum Diabetes mellitus. Neben Kleinhirnfehlbildungen können eine lange Reihe seltener
metabolischer Erkrankungen zu einer chronischen Ataxie führen. Die Ataxia teleangiectatica ist dafür ein Beispiel.
Eine kausale Therapie der Ataxien ist nur
in wenigen Ausnahmefällen möglich, so bei
der Ataxie mit isolierter Vitamin-E-Defizienz.
Brockmann empfiehlt in der Regel eine sympPädiatrix 7/2006
tomatische Behandlung mit Krankengymnastik, Ergotherapie und Logopädie sowie eventuell erforderliche orthopädische Hilfsmittel.
Manche Dyskinesien sprechen auf
L-Dopa an
Ein achtjähriges Mädchen wird im SPZ vorgestellt
mit der Frage, ob eine Botulinumtoxin-Therapie zu
einer Besserung ihrer Spitzfußstellung beitragen
könnte. Seit dem sechsten Lebensjahr hat sich ein
allmählich zunehmender pes equinovarus entwickelt. Gesteigerte Muskeleigenreflexe und positives Babinski-Zeichen führten zur Diagnose einer
spastischen Spinalparalyse. Bei der Untersuchung
im SPZ fallen aber auch eine dystone Armhaltung
sowie ein wechselnd ausgeprägter muskulärer
Schiefhals auf. Die Mutter berichtet, dass sich die
Bewegungsstörung ihrer Tochter meist im Laufe des
Tages verschlechtere: So zeige sie vormittags nur
die Spitzfußstellung, könne nachmittags aber nicht
mehr frei gehen, nur noch krabbeln.
Neben Dystonien zählen auch Bewegungsstörungen wie Ballismus, Chorea, Tic, Tremor
und Myoklonien zu den Dyskinesien. Entscheidendes pathophysiologisches Moment
ist die abnorme Kokontraktion von Agonisten
und Antagonisten. Für die Chorea sind kurze, plötzlich einschießende, regellose unwillkürliche Bewegungen charakteristisch. Die
Athetose ist durch langsamere, schlängelnde,
gewundene Bewegungen gekennzeichnet. Ballistische Bewegungen sind heftig schleudernd.
Diese extrapyramidalen Bewegungsstörungen
sind oft nicht sicher voneinander abzugrenzen. Allen gemeinsam ist, dass Praxie, also die
zweckmäßige Ausführung von Bewegungen,
und Willkürmotorik relativ intakt sind, dass
sich die Symptomatik bei emotionaler Anspannung verstärkt und im Schlaf sistiert, erläutert
Brockmann.
Für den Pädiater, dem ein Kind oder Jugendlicher mit einer Dystonie vorgestellt wird, kann
der zeitliche Ablauf eine erste Klassifizierung
einer Dyskinesie in akute oder chronische Formen erlauben. Pädiatrisch gut bekannt ist beispielsweise die akute Dystonie nach Einnahme
von Metoclopramid. Im Säuglingsalter treten
auch transiente benigne Dystonie-Formen auf.
Chronische dystone Syndrome können vielfältige metabolische und genetische Ursachen
haben. Bei den geschilderten Auffälligkeiten
sollte der Kinder- und Jugendarzt eine entsprechende Diagnostik und spezifische Behand-
Bewegungsstörungen
ganz abrupt auftretenden Ataxie mit Augenzittern und Schwindel, sodass sie sich nicht auf
den Beinen halten können. Nach wenigen Minuten sistieren die Symptome ebenso spontan,
und die Kinder sind im Intervall beschwerdefrei. Diese benigne anfallsartige Vertigo – laut
Brockmann eine Variante der Migräne – kann
ein- bis mehrmals im Monat rezidivieren. Die
Ergebnisse aller Zusatzuntersuchungen erweisen sich als normal.
In seltenen Fällen hat eine rezidivierende,
episodische Ataxie genetische Ursachen (z. B.
Ahornsiruperkrankung, mitochondriale Zytopathien).
„Dystonien“ sind
Bewegungsstörungen mit unwillkürlichen, anhaltenden
Muskelkontraktionen, die zu drehenden und wiederholten Bewegungen
oder abnormen
Haltungen führen.
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Bewegungsstörungen
lung in einem spezialisierten neurologischpädiatrischen Zentrum in die Wege leiten. Bei
chronischen Dystonien mit unklarer Ursache
empfiehlt Brockmann einen Behandlungsversuch mit L-Dopa. Schwerkranke Kinder und
Jugendliche mit generalisierten Dystonien können auch von einer neurochirurgischen Tiefenhirnstimulation deutlich profitieren.
Zerebralparese meist mit Spastik
verbunden
Als „Zerebralparesen“
fasst man eine Gruppe
von zerebralen Bewegungsstörungen mit
nicht progredienten,
aber sich ändernden
sensomotorischen
Störungen zusammen.
Eigenmotivierte
motorische Aktivitäten unterstützen
eine zentralnervöse
Reorganisation.
Abb.:
Motorisches Lernen
mit Hilfe des
Laufbandtrainers
Quelle:
Prof. Dieter Karch
Schon in der 29. Schwangerschaftswoche erblickte
der Junge per Notsectio das Licht der Welt. Bereits
in den ersten Lebensmonaten wurde eine beidseitige periventrikuläre Leukomalazie festgestellt. Im
weiteren Verlauf bestätigen sich die Befürchtungen: Der Junge entwickelt eine bilaterale spastische
Zerebralparese. Die Hüftgelenke weisen eine milde
Subluxation auf. Die kognitive Entwicklung verläuft altersentsprechend. Mit zweieinhalb Jahren
dann wird der Junge erstmals in der Botulinumtoxin-Sprechstunde des Dr. von Haunerschen Kinderspitals München vorgestellt. Das klinische Muster
der Bewegungsstörung imponiert mit einer deutlichen Hüftbeugekontraktur und einem erheblichen
Kniestreckdefizit. Die proximal betonte spastische
muskuläre Hypertonie erschwert insbesondere eine
aufrechte Haltung und führt zu einem typischen
Kauermuster im Stand.
„Durch ein multimodales Therapiekonzept
konnte eine deutliche, anhaltende funktionelle
Verbesserung erreicht werden“, fasst Dr. Ingo
Borggräfe die erfolgreiche Behandlung seines
Patienten zusammen: Der Junge erhielt insgesamt fünfmal eine sonografisch gesteuerte
Injektion mit Botulinumtoxin A. Kombiniert
wurde die Behandlung mit einer intensiven
Physiotherapie. Außerdem wurde der kleine
Patient mit orthopädischen Hilfsmitteln versorgt. Er kann jetzt mit Vier-Punkt-Stöcken
selbständig gehen und ausdauernd stehen.
Zerebralparesen sind die häufigsten zerebralen Bewegungsstörungen bei Kindern. Die
infantile Zerebralparese entsteht infolge einer
Schädigung des Gehirns während der Prä-,
Peri- oder Postnatalzeit oder einer Hirnanomalie. Zu anderen Formen zerebraler Bewegungsstörungen kann es auch durch ein schweres
Schädel-Hirn-Trauma, eine Enzephalitis oder
neurodegenerative und neurometabolische
Erkrankungen kommen. In der Folge können
Körperhaltung und Bewegungsmuster gestört
sein. Auch eine Verzögerung der motorischen,
sprachlichen oder intellektuellen Entwicklung
sowie Einschränkungen der visuellen oder
akustischen Wahrnehmung sind möglich.
Der Pädiater sollte bei Anzeichen von
Gedeih- und Funktionsstörungen oder Bewegungsarmut, bei einer abnormen Körperhaltung und auffällig steifen, schlaffen oder
stockenden Bewegungsmustern frühzeitig eine
neuropädiatrische Abklärung in die Wege leiten.
Multimodal behandeln
„Die Physiotherapie ist der wichtigste Baustein im Behandlungskonzept zerebraler Bewegungsstörungen“, erklärt Prof. Dr. Dieter
Karch vom Kinderzentrum Maulbronn. In den
vergangenen Jahrzehnten wurden bevorzugt
Übungsprogramme auf neurophysiologischer
Grundlage nach Vojta und Bobath praktiziert.
Diese geben zwar wichtige Anstöße zur motorischen Entwicklung und können Folgeschäden
verringern helfen. „Ihre Wirksamkeit konnte
allerdings bislang in Evaluationsstudien nicht
ausreichend belegt werden“, räumt Karch ein.
Nach heutigem Wissen gelingt motorisches
Lernen am besten, wenn die Eigenaktivität des
Kindes durch systematische Übungen angeregt
und nicht durch therapeutischen Aktionismus
gehemmt wird. „Eigenmotivierte motorische
Aktivitäten unterstützen eine zentralnervöse
Reorganisation und verbessern gleichzeitig
Pädiatrix 7/2006
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Pädiatrix 7/2006
Ergänzend zur Physiotherapie können orthopädische Maßnahmen und Hilfsmittel sowie
eine medikamentöse Behandlung erforderlich
werden. Viele Kinder benötigen zusätzlich Logopädie und Ergotherapie. „Wichtig sind stets
auch pädagogisch und psychosozial orientierte
Maßnahmen“, ergänzt Karch.
Weiterführende Informationen
• Themenschwerpunkt in: Neuropädiatrie in
Klinik und Praxis 2006; 5. Jg., Heft 3; S. 92-117
• Publikationen von Karch D et al.: www.kize.
de (Fortbildung > Publikationen > Zerebrale
Bewegungsstörungen: Infantile Zerebralparesen)
• Worldwide Education and Awareness for Movement Disorders: www.wemove.org
• MD Virtual University: www.mdvu.org/li
brary/pediatric/
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Bewegungsstörungen
die Fertigkeiten und Fähigkeiten des Kindes“,
erläutert Karch. Diesen neuen Erkenntnissen
trägt das modifizierte Bobath-Konzept Rechnung: Alltagsaktivitäten regen entsprechend
dem Entwicklungsstand motorische Lernvorgänge an und ermöglichen so neue sensomotorische Erfahrungen.
„Erkenntnisse über die neuronale Plastizität des motorischen Kortex, insbesondere die
Adaption des ZNS an sich ändernde Umgebungsbedingungen, haben zur Erforschung
neuer Therapiestrategien geführt“, erklärt PD
Dr. Volker Mall vom Zentrum für Kinderheilkunde und Jugendmedizin in Freiburg. Zahlreiche Studien belegen, dass erfolgreiches
motorisches Lernen an neuronale Plastizität
gekoppelt ist. So konnte mittels der funktionellen Magnetresonanztomographie (fMRT) und
der transkraniellen Magnetstimulation (TMS)
gezeigt werden, dass wirksames motorisches
Training mit kortikalen Veränderungen einhergeht und eine gezielte kortikale Reparation
induzieren kann.
Bei Kindern mit spastischer Hemiparese
sind „forced use“-Verfahren sehr erfolgversprechend. Bei der „constraint induced movement therapy“ beispielsweise handelt es sich
um ein Handfunktionstraining. Dabei wird
der gesunde Arm, der oft alle motorischen
Funktionen übernimmt, ruhig gestellt und die
funktionell vernachlässigte betroffene Seite in
alltagsrelevanten Situationen zum Handeln
„gezwungen“.
Ein weiterer interessanter Ansatz bei spastischer Diparese ist das Gehtraining auf einem
Laufband (siehe Abbildung S. 6), wie es bereits
bei erwachsenen Schlaganfallpatienten erfolgreich praktiziert wird und bei Kindern noch
weiter evaluiert werden muss.
In jüngster Zeit hat sich auch das medikamentöse Behandlungsspektrum erweitert. Um
die Überaktivität der Muskeln bei spastischen
Bewegungsstörungen fokal zu reduzieren, hat
sich die intramuskuläre Injektion von Botulinumtoxin etabliert. Bei sehr ausgeprägter, multifokaler Spastik reicht jedoch manchmal die
injizierbare Dosis nicht aus.
Als weiteres antispastisches Medikament
bei schwerer spastischer Tetraparese steht Baclofen zur Verfügung, das sinnvollerweise
intrathekal mittels einer Pumpe verabreicht
wird.
In der Praxis hat es sich vielfach bewährt,
die einzelnen Therapieoptionen in ein multimodales Behandlungskonzept zu integrieren.
Mit Botulinumtoxin
lassen sich spastische Bewegungsstörungen effektiv und
sicher behandeln.
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