Diagnosen aus dem Hightech-Schuh

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Sensorgestützte Ganganalyse
Diagnosen aus dem Hightech-Schuh
Sensoren in einer Chipkarte erfassen das Gangmuster des Patienten. Eine Software filtert die
für Parkinson charakteristischen Gangstörungen heraus.
Quelle: Astrum IT GmbH
21.12.2016 Unsicherer Gang, langsame Schritte – bisher mussten sich Ärzte bei
der Diagnose und Therapie von Parkinson auf ihre subjektiven Eindrücke von den
Bewegungen ihrer Patienten verlassen. Nun hat ein Forscherteam aus der Region
Nürnberg-Erlangen ein Sensorsystem entwickelt, das objektive Daten über das
Gangverhalten liefern kann. Mit spannenden Einsatzmöglichkeiten. von Romy König
Es sind diese Momente im Arbeitsleben eines Arztes, in denen er sich auf seine
Einschätzung, seine Erfahrung, ja, vielleicht auch seine Intuition verlassen muss: Der
Patient klagt über steife Gelenke, bewegt sich auffallend langsam, vielleicht zittert
auch seine Hand ein wenig. Symptome, die auf Morbus Parkinson hinweisen können,
die neurodegenerative Krankheit, an der weltweit rund 4,1 Millionen Menschen leiden. In
Deutschland, so schätzt die Deutsche Parkinson-Gesellschaft, sind mindestens
250.000 Menschen daran erkrankt.
Doch ist auch dieser spezielle Patient davon betroffen? Oder steckt bei ihm doch eine
andere Erkrankung hinter den Symptomen? Schließlich können Bewegungsstörungen
oder Muskelzittern auch durch chronische Durchblutungsstörungen verursacht
werden oder gar als Nebenwirkungen bestimmter Medikamente auftreten. Im Frühjahr
2016 warnte die Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN) vor zu eiligen ParkinsonDiagnosen: So seien 47 Prozent der Parkinson-Diagnosen, gestellt von
Allgemeinmedizinern, falsch. Unter Fachärzten liege die Fehldiagnose-Quote immerhin
noch bei 25 Prozent. In ihren neuen Leitlinien empfiehlt die DGN daher neben weiteren
Diagnosemethoden, etwa bildgebenden Verfahren oder einen Riechtest, den Patienten
zur Abklärung zu einem ausgewiesenen Bewegungsstörungsspezialisten zu schicken.
Gangtests wie der sogenannte
Zehn-Meter-Walk oder der Timedup-and-go-Test, bei denen
Patienten eine vorher festgelegte
Strecke laufen oder sich von einem
Stuhl erheben, ein drei Meter
entferntes Hindernis umrunden und
sich anschließend wieder hinsetzen,
sind im klinischen Alltag etabliert.
Die berechneten Gangparameter
geben dem Arzt Hinweise auf den
Mittels eines mobilen Devices und moderner
Sensorik am Schuh des Patienten werden die
standardisierten Tests zur Ganganalyse
aufgezeichnet.
Quelle: Astrum IT GmbH
Grad einer motorischen
Beeinträchtigung. „Bei den meisten
Bewegungserkrankungen, die auch
das Gangbild einschränken, kann
der Therapeut ein spezifisches
Gangmuster erkennen, welches für
die Art, das Stadium und den
Fortschritt der Bewegungserkrankung charakteristisch ist“, erklärt Jochen Klucken,
Neurologe am Uniklinikum Erlangen. Problem nur: Die anschließende Erfassung und
Einordnung der Symptome fußt zum einen lediglich auf der subjektiven Einschätzung
des Arztes oder Therapeuten. Zudem hängt die Art, wie ein Patient läuft, auch stark
von dessen aktuellem Zustand ab, ist also immer nur eine Momentaufnahme. Auch bei
den Spezialisten für Bewegungsstörungen sind falsch gestellte Parkinson-Diagnosen
daher nicht ausgeschlossen. Laut DGN liegen sie bei immerhin noch sechs bis acht
Prozent.
Daten statt rein subjektiver
Einschätzung
Was den Ärzten und Therapeuten
fehlt, das wurde Jochen Klucken
während seiner Arbeit bald klar, ist
ein objektives Analysesystem, ein
Programm, das die Bewegungen
des Patienten messen und Auskunft
über dessen Krankheitszustand
geben kann. Deshalb hat sich der
Privatdozent Dr. Jochen Klucken, Oberarzt der
Oberarzt vor wenigen Jahren einem
Molekularen Neurologie am Universitätsklinikum
interdisziplinären Konsortium aus
Erlangen, hat das eGaIT-Projekt initiiert.
Forschern, Ingenieuren und IT-
Quelle: Uniklinikum Erlangen
Experten angeschlossen und
gemeinsam mit ihnen ein neues mobiles Sensorensystem zur Ganganalyse entwickelt:
eGaiIT“ – ein Akronym, das für „eingebettete Ganganalyse mit Intelligenter
Technologie“ steht – zeichnet Bewegungs- und Gangveränderungen von Patienten auf
und erlaubt über diverse Skalen eine objektive Beurteilung. Der Clou dabei: Die
Sensoren, die dazu genutzt werden, sind nicht größer als eine Scheckkarte und werden
einfach an einen handelsüblichen Turnschuh gesteckt. „Mithilfe der im Schuh
integrierten Sensoren erfassen wir die Gangparameter unserer Probanden“, erläutert
Klucken. „Damit können wir Gangstörungen objektiv betrachten und behandelnde
Ärzte bei der Diagnostik und dem Monitoring von Therapiemaßnahmen unterstützen.“
Die Technik funktioniert so: Die Entwickler heften sogenannte Inertialsensoren seitlich
an die Schuhe. Inertialsensoren sind Sensoren, die vor allem Werte wie die
Beschleunigung und die Winkelgeschwindigkeit beim Gehen messen können. Während
der Patient damit anschließend eine festgelegte Strecke abläuft, zeichnen diese MiniBewegungsmelder die Länge seiner Schritte, die Laufgeschwindigkeit und -variabilität
auf, zudem die Dauer der kurzen Standphasen und den Fuß-Boden-Abstand.
Anschließend senden die Tracker die Parameter an ein Rechensystem, das aufgrund
der Daten das Gangbild des Patienten entwirft.
Algorithmen machen die
Feinarbeit
Klingt erst einmal einfach, ist im
Detail aber doch kompliziert: Denn
um verwertbare Informationen aus
den Sensorsignalen gewinnen zu
können, müssen die Einzelschritte
zunächst aus der gesamten
Gangsequenz segmentiert werden.
„Erst dann können aus den Signalen
jene Merkmale extrahiert werden,
anhand derer der Gang eines
Menschen charakterisiert werden
Professor Björn Eskofier vom Lehrstuhl für
Mustererkennung an der Friedrich-AlexanderUniversität Erlangen-Nürnberg (FAU).
Quelle: Astrid Huebner
kann“, erklärt Björn Eskofier vom
Lehrstuhl für Mustererkennung an
der Friedrich-Alexander-Universität
Erlangen-Nürnberg (FAU). Diese
Merkmale können zum einen die
bereits genannten Parameter sein,
aber auch generisch berechenbare Werte, zum Beispiel der Frequenzinhalt des Signals.
Der liefere gerade beim Parkinson-Syndrom wertvolle Aussagen etwa über die
Intensität des Tremors. Es sei wichtig, so Eskofier, die berechneten Parameter
einzuordnen und zu analysieren. Nur dann könnten die Daten den Arzt im klinischen
Alltag unterstützen und ihm als zusätzliches Messinstrument dienen. Nicht ohne Grund
ist deshalb Eskofiers Lehrstuhl ebenfalls am eGaIT-Projekt beteiligt: „Gerade diese
sinnvolle Kombination von Parametern kann durch statistische Methoden oder auch
Klassifikationsalgorithmen aus der Mustererkennung bestimmt werden.“
Dafür, dass die Daten überhaupt erfasst und analysiert werden können, sorgt eine
speziell entwickelte IT-Plattform, entwickelt vom dritten Projektbeteiligten, dem
Softwarehaus Astrum IT. Die Plattform führt die Daten zusammen, wertet sie aus, und
stellt sie dem Arzt oder Therapeuten über eine sichere Internetverbindung zur
Verfügung.
Jede Gangunsicherheit wird abbildbar
Seit mehr als vier Jahren arbeiten die Partner nun schon an ihrer Produktidee,
unterstützt durch eine Förderung der Bayerischen Forschungsstiftung. Mehrere
hundert Gangsequenzen von Patienten- und Kontrollgruppen haben sie bislang mit
eGaIT aufgezeichnet und ausgewertet. Im Laufe dieser Studien habe sich unter
anderem gezeigt, so Jochen Klucken, dass sich von den berechneten Gangparametern
auf das Stadium der jeweiligen Erkrankung schließen lasse: „Sowohl die beim
Parkinson-Syndrom typischen Veränderungen wie abnehmende Schrittlänge, die
sogenannte „Kleinschrittigkeit“, Gangunsicherheit und der „schlurfende“ Gang sind
objektiv abbildbar als auch eine automatisierte und individuelle Klassifikation und
Vorhersage von Veränderungen der Gangstörungen bei individuellen Patienten“, so der
Erlanger Neurologe. Auch der Krankheitsverlauf, mit seinen typischen Phasen der
Verbesserung, Stagnierung oder Verschlechterung, wird über die Bewegungsanalyse
aussagekräftig abgebildet. Für den Arzt bedeutet das, dass er die Entscheidung für
eine bestimmte Therapieform nun nicht nur nach subjektiver Einschätzung fällen muss,
sondern sie zusätzlich auf eine objektive Datenbasis stellen kann.
Medikation richtig
einstellen
Doch auch im weiteren Verlauf
einer Therapie ist die Ganganalyse
hilfreich, zum Beispiel bei der
Einnahme von Arzneimitteln: Gerade
beim Parkinson-Syndrom sei es
besonders schwierig, das richtige
Zusammenspiel von Dosis und
Zeitpunkt der
Medikamenteneinnahme zu
bestimmen: Typisch für ein
Gar nicht so einfach: die richtige ParkinsonMedikation einstellen. Auch dabei kann eGaIT
helfen.
fortgeschrittenes Stadium der
Quelle: Fotolia/pololia
Erkrankung ist zum Beispiel, dass
der Patient im Verlauf eines Tages schnelle Wechsel von krankheitsbedingter
Unterbeweglichkeit und – durch Medikamente ausgelöste – Überbeweglichkeit
durchlebt. Es ist deshalb knifflig, den Patienten in diesem Spannungsfeld richtig auf
seine Medikamente einzustellen. Bisher musste sich der Arzt auch hier auf seinen
subjektiven Eindruck verlassen oder Erinnerungen des Patienten oder Einträge in
dessen Krankentagebuch zu Rate ziehen. Nun kann die Ganganalyse die genauen – und
objektiven – Werte liefern. „Durch die Ganganalyse und das dadurch mögliche
objektive Monitoring können Ärzte die Therapie künftig früher anpassen,
Veränderungen des Gesundheitszustands früher erkennen – und auch schneller
reagieren, wenn sie erkennen, dass die bisherige Therapie nicht anschlägt“, so das
Entwicklerteam.
Einsatz in anderen Fachbereichen denkbar
Noch befindet sich das Projekt im – wenn auch weit fortgeschrittenen –
Forschungsstadium. Aber dessen Radius wird stets erweitert: Mittlerweile finden bereits
Studien statt, die zeigen sollen, wie eGaIT bei invasiven Therapien – etwa für
Parkinsonpatienten, die eine Medikamentenpumpe oder einen Hirnschrittmacher
erhalten – angewendet werden kann. „Gerade hier bedarf es einer kontinuierlichen
Diagnostik der Bewegungsstörung und fortwährenden Anpassung der Therapie, um
die bestmögliche Einstellung zu finden”, erklärt Klucken. Und grundsätzlich kann eGaIT
nicht nur in anderen medizinischen Fachbereichen, etwa der Geriatrie oder Orthopädie,
sondern auch bei der Behandlung anderer neurodegenerativen oder Muskel-SkelettErkrankungen eingesetzt werden.
Auch die IT-Plattform lässt weitere Möglichkeiten zu: „Durch die Online-Plattform
avanciert das mobile Ganganalyse-System auch zum Produkt für multizentrische
Studien“, sagt Chantal Herberz vom Softwarehersteller Astrum IT. „eGaIT kann also
auch in wissenschaftlichen Studien eingesetzt werden, um die Wirkung von
Therapieverfahren nachzuweisen. “ Das heißt, die für eine Studie relevanten Daten
können dann orts- und zeitunabhängig in den einzelnen Prüfzentren erfasst, mit den
bewährten Methoden der Signalverarbeitung und Mustererkennung analysiert und die
Ergebnisdaten zentral über die Plattform zur Verfügung gestellt werden.
Telemonitoring kann Früherkennung verbessern
Spannend ist aber vor allem der weiter gedachte Einsatz von eGaIT beim Patienten. So
sei es möglich, die Sensoren im Rahmen von integrierten Versorgungskonzepten
einzusetzen, sagte Klucken unlängst auf der Medica. Selbst außerhalb von Klinik oder
Praxis könnte eGaIT bald eine Rolle spielen: Inwieweit Parkinson-Patienten künftig auch
zu Hause die Sensoren an ihren Schuhen tragen und über ihre Schritte automatisch
Werte an den behandelnden Arzt oder Therapeuten übermitteln können, wird gerade in
einem Teilforschungsprojekt ausgelotet – mit Einsatz von Videotechnik. Die Forscher
sind sich bewusst, dass die Übertragung ihrer Idee vom klinischen ins häusliche Umfeld
eine Herausforderung ist, dass auch ethische Aspekte – Stichwort Überwachung –
beachtet werden müssen. Doch könnte gerade ein solches Langzeit-Monitoring helfen,
frühzeitig zu erkennen, ob sich der Gang – und damit der Gesundheitszustand – eines
Parkinson-Patienten verschlechtert und eine Therapieumstellung nötig ist.
Der Bedarf an Lösungen für Parkinson-Patienten, soviel ist jedenfalls sicher, wird so
bald nicht weniger werden: Die Zahl der Menschen, die mit dieser Nervenerkrankung
künftig leben müssen, wird sich – auch diese Schätzung kommt von der Deutschen
Parkinson-Gesellschaft – allein in den nächsten 15 Jahren verdoppeln.
© Medizintechnologie.de/jej
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