Edgar Varèse „Amériques“ „Musik macht Schule“ Festival 70 Jahre SWR Sinfonieorchester Sa 08. Mai 2016, 20 Uhr Konzerteinführung 19 Uhr Freiburg, Konzerthaus, Rolf-Böhme-Saal SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg Dirigent: François-Xavier Roth Erstellt von Anja Renczikowski 1 Inhalt I. Edgard Varèse – Die Befreiung des Klangs S. 3 II. Amériques – mit mehreren Amerikas ein neuen Klangkosmos entdecken S. 6 III. Edgard Varèse Freak, Utopist und Idol S. 8 IV. Ausführende S. 11 - François-Xavier Roth - Das SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg V. Wo gibt es mehr? S. 13 - Hörtipps - Literatur - Weblinks VI. Unterrichtsmaterial S. 15 - Ein Leben in Stichwort - Daten zu Werk VII. Unterrichtliche Hinweise S. 19 - Die Sireneklängen und Experimentieren - Musik und Maschinen - Frank Zappa und Edgard Varèse 2 I. Edgard Varèse – Die Befreiung des Klangs „Ich wurde eine Art teuflischer Parsifal, nicht auf der Suche nach dem heiligen Gral, sondern nach der Bombe, die das musikalische Universum sprengen könnte, um alle Klänge durch die Trümmer hereinzulassen, die man bis heute Geräusche nennt." Wenn der Vater Ingenieur war, sollte der Sohn es gefälligst auch werden. Konservativ und traditionsverhaftet dachte man im Hause Varèse. Der Vater von Edgard Varèse missbilligte jeglichen Widerspruch. Der Sohn sollte auf das Polytechnikum gehen und sich nicht mit der brotlosen und wenig angesehen Kunst der Musik beschäftigen. 1883 in Paris geboren, lebte Edgard Varèse erst lange bei seinen Großeltern in Burgund, später musste er zu seinen Eltern zurück nach Paris und zwischenzeitlich lebte die Familie auch in Turin. Für Varèse war es ein Leben Hin- und Hergerissen zwischen den eigenen Wünschen und denen der Eltern. 1903 studierte er zunächst Mathematik und Naturwissenschaften, ging dann aber nach Paris um an der brühten Schola Cantorum und am Konservatorium zu studieren. Ein Schlüsselerlebnis war die Lektüre von Ferruccio Busonis „Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst“. In dem 1907 veröffentlichtem Buch sammelt Busoni Überlegungen zu neuen Wegen in der Musik, von neuen Tonskalen und Möglichkeiten elektronisch erzeugter Klänge. Der junge Komponist pilgerte nach Berlin um sein Idol kennenzulernen. Die beiden freunden sich an und Varèse erhält vielfältig Unterstützung von dem älteren Kollegen. In Berlin lernt er auch zahlreiche bedeutende Komponisten seiner Zeit wie Richard Strauss kennen und bei einem Besuch bei Hugo von Hofmannsthal in Wien auch Gustav Mahler. Auf Fürsprache von 3 Richard Strauss wurde im Dezember 1910 sein Werk „Bourgogne“ öffentlich aufgeführt. Die meisten seiner frühen Kompositionen wurden 1913 bei einem Brand vernichtet. In diesem Jahr ging Varèse auch nach Paris, wo er weitere musikalische Einflüsse bekam. Er hörte die skandalträchtige Uraufführung von Igor Strawinskys Ballett „Le sacre du printemps“ und er arbeitete an einem Bühnenprojekt mit Jean Cocteau, interessierte sich für den Kubismus und Futurismus. Die Idee eines Gesamtkunstwerks oder vielmehr sein Postulat einer „metrischen Simultaneität“ lehnte sich an das Konzept der Gleichzeitigkeit von Verschiedenem in der bildenden Kunst an. So versuchten etwa Maler wie Fernand Léger eine zeitliche Wirkung in ihren Bildern zu verwirklichen. Umgekehrt bekam der räumliche Aspekt in der Musik Varèses eine wichtige Bedeutung. Wie viele Künstler der Pariser Szene ging Varèse in die USA. Im Dezember 1915 kam er in New York an, traf hier die Dadaisten um Marcel Duchamp und schrieb für eine Künstlerzeitschrift von Francis Picabia. Während er als Dirigent erste Anerkennung bekam, umgab er sich hauptsächlich mit der Avantgardeszene in New York. 1919 gründet er sein eigenes Orchester, das New Symphony Orchester, welches sich zur Aufgabe gemacht hatte, anspruchsvolle Programm aus alter und neuer Musik zu präsentieren und einer aufgeschlossenen Hörerschaft zugänglich zu machen. Zwei Jahre später widmete er sich einem neuen sehr ambitionierten Projekt, er gründete die International Composers Guild zum Zweck der Aufführung des gesamten Spektrums der damals aktuellen neuen Musik. Noch war Varèse zuversichtlich, entdeckte stets Neues und ging couragiert an seine Arbeit. „Sehr früh bemerkte ich, dass es schwierig oder unmöglich sein würde mich mit den vorhandenen Mitteln auszudrücken. Und mein Denken begann schon damals, um die Idee zu kreisen, wie man die Musik befreien könnte, vom temperierten Tonsystem, von den Beschränkungen der Instrumente und von den Jahren voller schlechter Angewohnheiten, die ironischerweise Tradition genannt wurden“, erklärte er damals. Im Alter von 38 Jahren komponierte er „Amériques“, das er als sein ersten Opus 1 verstanden wissen wollte. Gegenüber den Werken aus der Pariser und Berliner Zeit entwickelte er in seinen Werken eine vollkommen neuartige Klangsprache. In den nächsten Jahren pendelte der Komponist zwischen den USA und Europa. Sein Plan, ein Labor zu gründen, wo Künstler und Wissenschaftler gemeinsam neue Möglichkeiten der Klangerzeugung in der Musik erforschen sollten, konnte nicht verwirklicht werden. 1933, mit 4 Beginn des 2. Weltkriegs, ging Varèse frustriert in die USA zurück. Im Dezember 1936 traf er sich mit Vertretern des Elektronik- und Medienkonzerns RCA, um über neue Möglichkeiten der elektronischen Klangerzeugung zu reden. Verwirrt von den Ideen des Komponisten berichtet der Chefingenieur der Firma später: „Herr Varèse ist ein sehr charmanter und hochgebildeter Gentleman, aber ich habe in meinem Gespräch nicht herausfinden können, worauf er eigentlich hinaus wollte. (…) Er hat nichts, was wir gebrauchen können.“ Ungreifbar und auch schlecht in Worte war das zu fassen und zu beschreiben, was Varèse sich vorstellte. Auch Künstler wie der Dichter Antonin Artaud mussten passen. Gemeinsam wollen sie ein Multimediawerk mit dem Titel „The One all Alone“ zusammenstellen. Der Komponist hatte von 1927 bis 1936 daran gearbeitet. Vollendet wurde es nie. Ein monumentales Chorwerk sollte „Espace“ werden, in dem die Sänger Texte amerikanischer, spanischer, chinesischer und russischer Revolutionäre singen sollten, um die „paralysierende Kruste in den faschistischen Staaten aufzubrechen“, so Varèse. Er träumte von Musikhappenings, internationalen Kunstfestivals und einer globalen Radiosendung. Nichts von alledem sollte Wirklichkeit werden. Er verfiel in eine Depression und ab Mitte der 1930er Jahre komponierte nur wenig neue Werke. Stattdessen unterrichtete er, lehrte Komposition an der Arsuna School of Fine Arts in Santa Fe und an der Columbia Universtity in New York – und statt neuer Klänge interessierte er sich wieder verstärkt für Renaissance und Barockmusik. Ein Versuch in Hollywood im Filmgeschäft Mitstreiter für seine Ideen elektronisch erzeugter Klänge zu finden, scheiterte ebenfalls. Erst Anfang der 1950er Jahre ging es wieder aufwärts. In Europa interessierte man sich verstärkt für seine Musik und auch erste Einspielungen entstanden. In „Déserts“ verwendete er das damals neuartige Magnettonband als Klangquelle. Bei der Uraufführung 1954 in Paris, die auch live im Rundfunk ausgestrahlt wurde, kam es zu einem Eklat. Als nächstes großes Projekt folgte „Poème électronique“, das in Zusammenarbeit mit dem Architekten Le Corbusier und dessen damaligen Assistenten Iannis Xenakis entstand. Im Pavillon der Firma Philips auf der Weltausstellung 1958 in Brüssel wurde dieses Stück für mehrere Tonbänder uraufgeführt. Es erklang dort über ein System von 300 Lautsprechern – ein für damalige Verhältnisse enormer technischer Aufwand. Danach begann er noch zwei weitere Kompositionen „Nocturnal“ und „Nuit“, konnte sie aber nicht mehr beenden. Am 6. November 1965 starb er an einer Thrombose in einem New Yorker Krankenhaus. Einer von den vielen Künstlern, die 5 von Varèses Utopien und Visionen beflügelt wurden, war der Schriftsteller Henry Miller, der ihm einen Text mit dem Titel „Mit Edgard Varèse in der Wüste Gobi“ widmete. Geradezu prophetisch heißt es dort: „Seine Musik ist definitiv die Musik der Zukunft. Und die Zukunft ist bereits da, weil Varèse da ist. Manche Menschen, und Varèse ist einer von ihnen, sind wie Dynamit.“ II. Amériques – mit mehreren Amerikas ein neuen Klangkosmos entdecken „Ich betrachte den Titel 'Amériques' nicht in erste Linie geographisch, sondern mehr symbolisch für die Entdeckung neuer Welten, auf der Erde, am Himmel oder im menschlichen Geist.“ Erst die nach seiner Emigration in die USA Ende 1915 enstandenen Werke wurden von Edgard Varèse als gültig befunden. Sein „offizielles“ Erstlingswerk in dieser Reihe ist „Amériques“, komponierte er in der Zeit von 1918 bis 1921, das er aber sechs Jahre später noch einmal überarbeitete. Das Stück ist eine Art einsätzige symphonische Dichtung und eines der wohl energetischsten und kontrastreichsten Werke des 20. Jahrhunderts. Als es 1926 mit dem Philadelphia Orchestra in New York uraufgeführt wurde, versetzte es die einen in Erstaunen, die anderen in einen Schockzustand. Dass, was Varèse beabsichtigte war beileibe auch keine leichte musikalische Kost. Der Titel „Amériques“, die „Amerikas“, symbolisiert „neue Welten auf der Erde, in den Sternen und im Geist der Menschen“. Noch hatte er jedoch die „alte“ Welt nicht ganz vergessen, denn die Partitur verbirgt eine Vielzahl von Verweisen auf Orchesterwerke von Debussy, Strauss und Schönberg ( „Fünf Orchesterstücke op. 16) und einigen Balletten Strawinskys. Gleichsam ist „Amériques“ der Startschuss in eine neue Ära der Klangkunst. Denn beginnend damit, hatte sich Varèse immer wieder damit auseinandergesetzt, was Musik eigentlich sein kann und soll. So war er nicht nur der erste Komponist der mit „Ionisation“ ein Werk schrieb, dass nur auf einem Schlagwerkapparat basiert und für den klassischen Konzertrahmen gedacht war, sondern er erforschte immer weiter den Klang. Zunächst integrierte er die Geräuschwelt, später elektronische Instrumente und etablierte damit ein neues Gespür für das Hören von Klängen. Er selbst nannte seine Art der musikalischen Organisation von Rhythmus und Klangfarbe „organized sound“. Dabei ging es ihm weniger um die Entfaltung des Klangs, also nicht um Melodien, Themen und Formen, sondern um eine weit gespannte, oft scharfe 6 dissonanten Klangkomplexe, die eine eigentümliche Statik zeigen – vergleichbar mit einer Statur, die von verschiedenen Blickwinkeln betrachtet werden kann. Fast alles Stücke beginnen mit einer sehr einprägsamen und signalartigen Anfangsmotiv, das dann mehrfach wiederholt wird. Dazu kommt eine rhythmische Komplexität, in der das Schlagzeug und Schlagwerk eine große Bedeutung zukommen. Später galt er dann als Pionier der elektronischen Musik. Dass er nicht nur Musiker, sondern durchaus auch der Wissenschaftler und der Techniker war, den sein Vater so gerne in ihm sehen wollte, zeigen nicht nur seine späteren Werke, die mit Elektronik und neuen technischen Errungenschaften arbeiteten, sondern auch die Tatsache, dass er vielen seiner Werke technische Namen wie „Ionisation“, „Density“ oder „Hyperprism“ gegeben hat. Dennoch räumt er ein: „Die Titel sind ohne Bedeutung. Sie dienen nur als passendes Mittel, um das Werk zu katalogisieren. Ich gestehe, dass die Wahl meiner Titel mir Spaß bereitet, so etwas wie ein Elternvergnügen bei der Namensgebung für ein neugeborenes Kind.“ Viele der Ideen, für die er sich im Zuge der „Befreiung des Klanges“ einsetzte finden sich bereits in „Amériques“. Auffallend ist das Aufgebot der Instrumente. Zwar bedient sich Varèse noch des klassischen Orchesterapparates, doch dieser wird so weit aufgestockt, dass die Musiker in den meisten Konzertsälen dieser Welt bei der Aufführung eng aneinander rücken müssen, damit alle auf der Bühne Platz finden: Zu einer Besetzung mit über 120 Musikern gehören eine Masse von Holzbläsern, Blechbläsern und Schlaginstrumenten, die mit Klangkaskaden, Klangeruptionen und mit einer wahnsinnigen Rhythmik und explosiver Dynamik ständig die Richtung dieses Werks ändern. Auch heute noch ist diese Musik durchaus erstaunlich, ihre Wirkung unnachahmlich. Und es verwundert keineswegs, dass Varèse sich der Wirkung seiner Musik oder vielmehr seiner Entdeckung von Klangkosmen bewusst war: „Professionelle Musiker haben mich jahrelang für einen Freak gehalten, Kritiker nannten mich ganz offen einen Scharlatan und machten sich einen Spaß daraus, mich auszulachen. Tatsächlich hat man meine Werke damals nicht wie Experimente behandelt, sondern wie Exkremente.“ War es für die Zeitgenossen noch vor allem ein großer, irritierender Lärm, versteht erst die Nachwelt, wie sehr Edgard Varèse in diesem Orchestererstling den Sound seiner Zeit widerspiegelt – seine Kindheit in Burgund, die Zeit in Paris und Berlin und deren musikalischen Einflüsse, aber auch die Erfahrungen in New York und den Aufbruch in neue Klangwelten. 7 Mitunter klingen einige Orchesterpassagen wie kolossale Neoromantik (eine Referenz an Strauss und Mahler), dann gibt es Zitate (Schönberg und Debussy ), dann aber immer wieder durchdringt das Schlagwerk die Musik. In der ersten Fassung setzte Varèse neben den Instrumente auch Dampfschiffspfeife und den Krähenschrei ein. Die überarbeite und gestraffte Fassung, die 1929 in Paris aufgeführt wurde, enthielt dann einige Reduktionen. Einen besonderen Bedeutung fällt den Sirenen zu. Das Standardwerk „Die Lehre von den Tonempfindungen“ von Hermann von Helmholtz, sowie ein Flohmarktfund einer alten Sirene, waren Inspirationsquellen. Doch anstatt sie als akustische Versuchsinstrumente zu verwenden, wollte er sie als gleichberechtigte Musikinstrumenten einsetzen. In „Amériques“ ist deutlich zu hören, wie sie mit dem restlichen Instrumentarium harmonisieren und kontrastieren und eine einmalige neuartige und auch explosive Klangwirkung haben. Entscheidend ist nicht allein, dass er die Sirenen benutzt, sondern die Art und Weise wie er es tat. Nicht als quasi plakativer Kontrast – wie eine Atmo in einem Hörspiel, das durchweg Alarmsignal-Funktion übernimmt, sondern sie sind Teil einer völlig neuartigen Musik. „Diese Musik ist die Wiedergabe eines inneren Zustands, ein Stück absolute Musik, völlig losgelöst von den Geräuschen des modernen Lebens, die einige Kritiker in meiner Komposition erkennen wollen. (…) Die Verwendung starker musikalischer Effekte erwächst schlichtweg aus meinem sehr lebhaften Reagieren auf das Leben, so wie ich es empfinde, es ist die Wiedergabe meiner seelischen Verfassung und nicht die hörbare Beschreibung eines Bildes.“ III. Edgard Varèse – Freak, Utopist und Idol „Ich habe meine Musik ‹organisierte Klänge› genannt und mich selbst nicht einen Musiker, sondern einen ‹Arbeiter an Rhythmus, Frequenz und Lautstärke›. Tatsächlich war für einschlägig beeinflusste Ohren alles Neue in der Musik stets Lärm. Aber was ist denn Musik anderes als organisierter Lärm? Und ein Komponist gibt, wie alle Künstler, ungleichartigen Elementen eine Ordnung.“ (Edgard Varèse 1962) Als Edgard Varèse zu Beginn der 1950er Jahre endlich auch in Europa Anerkennung findet und bei den Darmstädter Ferienkursen unterrichtet, gibt es einige junge Studenten, die gleich erkennen, bei ihm können sie viel Neues, Aufregendes und Innovatives lernen. Zu seinem Schülerkreis gehörten Luigi Nono, Pierre Boulez und Karlheinz Stockhausen. Es überrascht nicht, dass Varèse, selbst ein vielschichtiger Kopf, der viele Ideen und Konzepte 8 verarbeitete ohne je eine eigene „Schule“ gegründet zu haben, auch Einfluss auf so unterschiedliche Komponisten hatte. Sie alle haben etwas bei ihm finden können, dass sie in ihre eigene Arbeit aufnehmen konnten. Und vielleicht spricht es für die Qualität seiner Werke, dass er nicht nur als Vorbild und Ideengeber fungiert hat, sondern vor allem als Inspirationsquelle, aus der sich dann wieder ganz eigene Entwicklungen in der Musik heraus schälen konnten. 1954 wurde Varèses „Déserts“ in Paris uraufgeführt. Es wurde zu einem Meilenstein der Musik- und Technikgeschichte, denn der Komponist zeigt seine Vision, wie er sich den Klang der Zukunft vorstellte. Drei Tage nach der skandalträchtigen Uraufführung wurde das Stück in Hamburg ausgeführt. Am Mischpult saß damals Karlheinz Stockhausen, jener Komponist, der dann selbst viele technische Visionen Wirklichkeit werden lassen sollte, die für Varèse noch unerreichbar schienen. Vielmehr als die technischen Utopien, war die Denk- und Arbeitsweise Varèses das, was so viele junge Künstler faszinierte. Mit vielen seiner Musikstücke hatte er etwas kreiert, was keine Reminiszenzen haben sollte (bei „Amériques“ ist dies jedoch noch der Fall). Es scheint Musik, die aus der Zeit gefallen, ohne Anknüpfungen an bestimmte „Schulen“ oder Traditionen. Musik, die dem Hörer keineswegs die in Form von Motiven, Themen oder Wiederholungen einen Anhaltspunkt geben konnte (und sich damit in Hörgewohnheiten einreihen konnte). Jeder Klang galt ihm als eine Art Individuum. Seine Komposition sind Konstrukte aus Intervallen und Klangfarben. Jedes musikalisches Gebilde notierte sich Varèse auf kleinen Zetteln, die er über seinem Schreibtisch auf einer Wäscheleine spannte und so lange umgruppieren und zusammensetzen konnte, bis das jeweilige Klangobjekt seine Zustimmung fand. Erst gegen Ende seines Lebens, verbrachte er viel Zeit in Tonstudios, und versuchte die Klänge, die bis dahin nur auf dem Papier imaginiert waren, technisch umzusetzen. Frank Zappa war ein anderer Musiker, der immer wieder betonte, wie sehr er von Edgard Varèse beeinflusst war. Er war nicht nur von der Musik, sondern auch von dem Grenzgänger und Menschen Varèse beeindruckt. Über seine Berufung zum Komponisten erzählte Zappa gerne jene Geschichte, die in der Zeitschrift „Stereo Review“ 1971 mit dem Titel „The Idol of my youth“ veröffentlicht wurde. Dort berichtet er wie er als 14-Jähriger eine Schallplatte mit Varèses Musik gekauft hatte, weil diese nicht nur von der Kritik zerrissen worden war, sondern auch als völlig unverkäuflicher Ladenhüter galt. Ein Jahr später ging sein 9 sehnlichstes Wunsch in Erfüllung. Zu seinem 15. Geburtstag erlaubte seine Mutter ein Ferngespräch mit Edgard Varèse. Leider war nur dessen Frau am Apparat. Zappas Begeisterung für sein Idol tat das keinen Abbruch, die Musik ließ ihn nicht mehr los. Jedem seiner Fans empfahl er: „Wenn du sie noch nicht gehört hast, geh hin und höre sie!“ Zu einem persönlichen Treffen kam es nie, doch der Komponisten schickte dem Teenager einen freundlichen Brief. Sicherlich wäre Frank Zappa stattdessen lieber dabei gewesen, als Varèse 1957 in den Studios des Philips Konzerts sein „Poème électronique“ realisierte. Denn dort brachten die Vorstellungen des Grandseigneurs der neuen Klänge, die Techniker zur Verzweiflung. „Jeder, der nicht seine eigenen Regeln macht, ist ein Esel“ - ein Leitspruch Varèses, war auch ein Faszinosum für den jungen Zappa. Auch für den amerikanischen Komponisten Morton Feldman hatte Varèse Vorbildfunktion. Die Radiogespräche zwischen ihm und John Cage in den 1960er Jahren führen oft und immer wieder auf Varèse zurück. Feldman besuchte bereits als 18-Jähriger regelmäßig den älteren Kollegen. Er war davon beeindruckt, dass er sich so ganz von der europäischen Schule Schönbergscher Prägung abgespalten hatte und den Klang als Maß aller Dinge erkoren hatte. Der „direkte Klang“ und vor allem die Tatsache, dass sich seine Musik jeglicher musikalischer Analysestrukturen entzog, sahen Cage und Feldman als Qualitätsmerkmal an. Feldman bewundert die Eigenschaft nicht Struktur zu instrumentieren, sondern musikalisches Material zu orchestrieren. "Anstatt ein System zu erfinden wie Schönberg, hat Varèse eine Musik erfunden, die zu uns spricht, eher durch ihren unglaublich dichten Zusammenhalt als durch ihre Methodik. Wenn wir Varèse hören, fragen wir: 'Wie hat er das gemacht?' und nicht: 'Wie ist das gemacht?'" Vielleicht eines der schönsten Komplimente, die ein Komponist über einen anderen machen konnte. 10 IV. Ausführende François-Xavier Roth François-Xavier Roth ist einer der charismatischsten und wagemutigsten Dirigenten seiner Generation. Mit dem Abschlusskonzert der Donaueschinger Musiktage 2011 trat er seinen Posten als Chefdirigent beim SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg an – ein klares Signal für den Stellenwert, den Neue Musik für ihn einnimmt. In seiner Arbeit mit dem SWR Sinfonieorchester setzt er Schwerpunkte u.a. bei Pierre Boulez und Richard Strauss, bei György Ligeti und Beethoven. Gastspiele mit wohldurchdachten Programmen führten ins In- und Ausland und bis nach Japan. Innovativ auch seine Arbeit für und mit der jungen Generation: eine kühne Kombination von Prokofjew und jugendlichen Rappern unter dem Titel "Romeo feat. Julia" kam im Sommer 2012 zu umjubelten Aufführungen, das Projekt wurde vom Fernsehen für eine 20-teilige Doku begleitet. Konzerte für Kinder und Mitmachkonzerte gehören zu den festen Bestandteilen seiner Arbeit. Die ersten drei CDs eines Zyklus der sinfonischen Werke von Richard Strauss sind bereits erschienen, dazu eine Aufnahme der Ersten Sinfonie von Mahler. Sein Repertoire reicht von der Musik des 17. Jahrhunderts bis hin zu zeitgenössischen Werken und umfasst alle Genres: sinfonische Musik, Oper und Kammermusik. Im Jahr 2003 gründete er das innovative Orchester "Les Siècles", das sowohl auf neuen wie auf alten Instrumenten kontrastreiche Programme aufführt; eine CD für ihr neugegründetes Label "Les Siècles Live" mit Werken von Bizet und Chabrier wurde mit einem Diapason Découverte ausgezeichnet. Weitere CDs mit Werken von Berlioz, Saint-Saëns, Martin Matalon, Debussy, und, zuletzt nach zum 100. Jubiläum von Strawinskys "Sacre du printemps" auf Originalinstrumenten. Für das Fernsehen konzipierte das Orchester die Serie "Presto!", die während ihrer dreijährigen Laufzeit wöchentlich ein Publikum von ca. vier Millionen Zuschauern erreichte. Höhepunkte sind neben seiner Arbeit mit dem SWR Sinfonieorchester und mit "Les Siècles" Konzerte mit dem London Symphony Orchestra – dort auch Leiter der Andrej PanufnikProjekte für junge Komponisten –, dem königlichen Concertgebouworkest, dem Finnish Radio und Gothenburg Symphony Orchestra, dem Bayerischen Staatsorchester, den Wiener Symphonikern und dem Boston Symphony Orchestra. In der kommenden Saison stehen u.a. Konzerte mit den Berliner Philharmonikern, dem BBC Symphony Orchestra, dem NHK, 11 Yomiuri,Tokyo Metropolitan Symphony Orchestra und dem Orchestra of the Age of Enlightenment bevor. Ab der Spielzeit 2015/16 ist er designierter Generalmusikdirektor der Stadt Köln. Das SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg Das SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg gibt immer neuen Bewegungen, Gästen und Musikstücken Raum, im Sendegebiet des SWR und auch unterwegs: Die Saison 2013/14 führte die Musiker u.a. zu den großen Festivals in Salzburg, Luzern, Wien, Hamburg und Paris, in Amsterdam gestalteten sie einen mehrtägigen Schwerpunkt mit der Musik Luigi Nonos im Rahmen des Holland Festivals, in der Kölner Philharmonie den gefeierten Abschluss des Achtbrücken-Festivals mit Musik von Claude Debussy, György Ligeti und Pierre Boulez – in einer besonderen Programmdramaturgie von François-Xavier Roth. FrançoisXavier Roth trat seinen Posten als Chefdirigent mit dem Abschlusskonzert der Donaueschinger Musiktage 2011 an – ein klares Signal für den Stellenwert, den Neue Musik auch für ihn einnimmt. Seit ihrer Neu-Gründung im Jahr 1950 sind die Donaueschinger Musiktage und das SWR Sinfonieorchester untrennbar miteinander verbunden. Etwa 400 Kompositionen wurden dort durch das Orchester uraufgeführt, und das Orchester schrieb Musikgeschichte: mit Musik von Hans Werner Henze oder Bernd Alois Zimmermann, von Karlheinz Stockhausen oder Olivier Messiaen, Helmut Lachenmann oder Wolfgang Rihm. Bis heute ist das SWR Sinfonieorchester in Donaueschingen, aber auch darüber hinaus, ein unverzichtbarer Partner für die Komponisten unserer Zeit. "Im Zentrum der europäischen Kultur", wie es der langjährige Chefdirigent Sylvain Cambreling formulierte, steht das Orchester jedoch nicht nur in Bezug auf die zeitgenössische Musik. Seit seiner Gründung 1946 ist das SWR Sinfonieorchester Anziehungspunkt für internationale Dirigenten und Solisten und auch musikalischer Botschafter im In- und Ausland, zwischen Hamburg und Madrid, Berlin und New York. Über 600 Werke aus drei Jahrhunderten hat das SWR Sinfonieorchester auf Tonträgern eingespielt. Motoren dieser vielfältigen Aktivitäten waren und sind die profilierten Chefdirigenten von Hans Rosbaud über Ernest Bour bis zu Michael Gielen, Sylvain Cambreling und Franҫois-Xavier Roth. Sie leiteten und formten ein Orchester, das durch mehr als sechs Jahrzehnte besonderer Herausforderungen zu einer andernorts selten erreichten Flexibilität und Souveränität gefunden hat. Zu diesen besonderen 12 Herausforderungen gehören auch zahlreiche Kinder- und Jugendprojekte. Eine dreijährige Kooperation mit mehreren Freiburger Schulen gipfelte im Juni 2013 in einer szenischmusikalischen Uraufführung von Manos Tsangaris. 2014 verbanden die PatchDays, ein neues MitmachProjekt, die Orchestermusiker in drei intensiven Arbeitsphasen mit insgesamt 300 Kindern und Laien zu Workshops, Filmprojekten und gemeinsamen Aufführungen im Freiburger Konzerthaus. Für seine Verdienste "um eine lebendige heutige Musikkultur" wurde dem Orchester unlängst der Ehrenpreis der Deutschen Schallplattenkritik verliehen. Die Saison 2013/14 wurde mit dem Preis der deutschen Musikverleger für das beste Konzertprogramm ausgezeichnet, und das Orchester erhielt den Special Achievement Award der International Classical Music Awards 2014. V. Wo gibt es mehr? Hörtipps: Eine Gesamtaufnahme mit allen Orchesterwerken hat Riccardo Chailly mit dem Concertgebouw Orchestra Amsterdam aufgenommen. Die Doppel-CD – bei Decca 1998 erschienen – beinhaltet u.a. neben „Amériques“ auch „Poème èlectronique“, „Arcana“, „Hyperprism“, „Intégrales“, „Ionisation“ und „Déserts“. Ein Aufnahme von „Amériques“ aus dem Jahr 2012 liegt mit dem Chicago Symphony Orchestra unter der Leitung von Pierre Boulez vor. Das Deutsche Sinfonieorchster Berlin unter der Leitung von Ingo Metzmacher hat das Stück bei Challenge Classics im Jhahr 2014 aufgebommen. Bei Erato erschien 2001 mit dem Orchestre National de France mit Kent Nagano eine CD. Literatur: Grete Wehmeyer: Edgard Varèse.Zeichnungen von L.Alcopley. Bosse Verlag, Regensburg 1977. Helga de la Motte-Haber: Die Musik von Edgard Varèse. Studien zu seinen nach 1918 entstandenen Werken. Wolke-Verlag, Hofheim 1993. Felix Meyer, Heidy Zimmermann (Hrsg.): Edgard Varèse. Komponist Klangforscher Visionär. Schott, Mainz u. a. 2006. 13 Dieter A. Nanz: Edgard Varèse. Die Orchesterwerke. Lukas-Verlag, Berlin 2003. Anne Jostkleigrewe:„The ear of imagination“. Die Ästhetik des Klangs in den Vokalkompositionen von Edgard Varèse. Pfau, Saarbrücken 2008 https://de.wikipedia.org/wiki/Heinz-Klaus_Metzger Heinz-Klaus Metzger, Rainer Riehn (Hrsg.): Edgard Varèse. Rückblick auf die Zukunft (=Musik-Konzepte. Bd. 6). 2., erweiterte Auflage. Edition Text + Kritik, München 1983. Weblinks: „Amériques“ mit dem Concertgebow Orchestra unter der Leitung von Ricardo Chailly ist bei Youtube in dieser Version zu sehen und hören: www.youtube.com/watch?v=8zXaEwWFbnA Die komplette Partitur läuft als Film auf dem Bildschirm ab. Ein Film über die Komponisten, die von Varèse beeinflussten worden sind: „Les grandes répétitions – Stockhausen & Varèse.“ mode records 276 Dort sprechen ua. Pierre Boulez, André Jolivet, Olivier Messiaen, Pierre Schaeffer, Hermann Scherchen, Iannis Xenakis über Edgard Varèse. 14 VI. Unterrichtsmaterial Ein Leben in Stichworten 1883: am 22. Dezember wird Edgard Varèse in Paris geboren. Seine Mutter stammt aus Burgund, sein Vater aus Italien. 1890: Mit neun Jahren holen ihn die Eltern aus der Obhut der Großeltern in Burgund nach Paris. Varèse interessiert sich für Musik, doch sein Vater, ein Ingenieur, schickt ihn nach Zürich zum Polythechnicum. 1892: Umzug nach Turin. Der Vater hält das Musikzimmer verschlossen. Varèse nimmt heimlich Musikunterricht. 1898: Seine erste eigene Komposition, ein Oper nach Jules Vernes „Martin Pas“ entsteht. 1899: Varèse erhält Unterricht in Harmonielehre und Kontrapunkt beim Direktor des Konservatoriums in Turin. Gelegentlich spielt er Schlaginstrumente im Opernorchester. 1900: Die Mutter stirbt. 1904: Varèse verlässt das Elternhaus und geht nach Paris. Dort tritt er in die Schola Cantorum ein und studiert bei d'Indy und Roussel. Er erhält ein Stipendium der Stadt Paris. 1906: Er wird Leiter des Chores der Université populaire in Paris. Claude Debussy und Romain Rolland unterstützen ihn. 1907: Er heiratet die Schauspielerin Suzanne Bing. 1908: Varèse zieht nach Berlin. Dort dirigiert er den Symphonischen Chor, der auf Musik des Mittelalters, der Renaissance und des Barock spezialisiert ist. Und er lernt Ferruccio Busoni kennen, dessen „Versuch einer neuen Ästhetik der Tonkunst“ ihn begeistert. Bald entsteht eine enge Freundschaft zwischen den beiden. 1909: Zufällig lernt er auf der Straße in Berlin Richard Strauss kennen. Strauss versucht ihm, finanzielle Unterstützung zukommen zu lassen. Busoni verhilft ihm zu einem Stipendium. 1910: Dank der Hilfe von Richard Strauss wird seine sinfonische Dichtung „Bourgogne“ in Berlin aufgeführt. 1914: Er beginnt mit der Komposition einer Oper nach einem Buch von Hugo von Hofmannsthal „Ödipus und die Sphinx“. In Prag dirigiert er unbekannte Werke französischer Komponisten. Zu Kriegsbeginn wird er Soldat bei der französischen Armee, wird aber ein Jahr später aus dem Dienst entlassen. 15 1915: Lernt Cocteau kennen und lebt in dieser Zeit hauptsächlich von Orchestrationsarbeiten und Stundengeben. 1916: Varèse geht nach New York. Kurz nach der Ankunft wird er von einem Auto angefahren. Es folgt ein langer Krankenhausaufenthalt. Er lernt Marcel Duchamp, Man Ray, Enrico Caruso und Fritz Kreisler kennen. 1917: Er dirigiert das Requiem von Hector Berlioz und heiratet nach der Trennung von seiner ersten Ehefrau die amerikanische Übersetzerin Louise Norton. 1918: Varèse gründe das New Symphony Orchestra, mit dem er zeitgenössische Musik verbreiten will. Er wirkt in dem Film „Dr. Jekyll and Mr. Hyde“ an der Seite von John Barrymore mit. 1920/21: Es beendet die 1. Fassung „Amériques“ 1921: In New York ruft er die International Composers' Guild ins Leben, die erste Instutition in den USA, die sich ausschließlich mit zeitgenössischer Musik befasst. Er wird von einem anoynmen Mäzenen unterstützt. Diesen „unbekannten Freunden vom Frühjahr 1921“ widmet er „Amériques“. 1922: Uraufführung von „Offrandes“ in New York. In Berlin gründet er mit Ferruccio Busoni eine deutsche Sektion der International Composers' Guild. Er komponiert „Hyperprism“, dessen Uraufführung ein Skandal wird. Er kombiniert hier scharfe Bläserklänge mit einem umfangreichen Schlagzeugapparat. Der Einsatz von Amboss, Peitsche und Sirene provozierte das damalige Publikum und die Kritiker. 1923: Sein Werk „Octandre“ ensteht. 1924: Uraufführung von „Octandre“ und „Hyperprism“ in New York. 1924/25: Komposition von „Integrales“. Hier wollte er seine Idee verwirklichen, eine Musik zu schaffen die sich auch als Raumklang verändert. Die Möglichkeiten elektroakustischer Schallumwandlung und Schallbearbeitung steckte zu dieser Zeit noch in ihren Anfängen. Varèse bleibt bei einer „konventionellen“ Konzertbesetzung mit Bläsern und Schlagzeug. Grundmotiv ist ein durchdringender Signalruf der Klarinette, die bei jeder melodischen Veränderung auch eine Veränderung der statischen Nachbarstrukturen bewirkt und somit auch ohne getrennte Klangquellen den Eindruck eines mobile-artigen Kreises vermittelt. 1926/27: In Philadelphia und New York werden seine Stücke „Amériques“ und „Arcana“ uraufgeführt. 16 1927: Edgard Varèse wird amerikanischer Staatsbürger. 1928: Der Komponist geht für fünf Jahre nach Paris. Dort führt er „Integrales“, „Arcana“ und „Amériques“ auf, die letzten beiden Werke in einer Neufassung. Er komponiert „Ionisation“, einem Stück für 13 Schlagzeuger und 37 Schlaginstrumenten, dessen musikalische Entwicklung sich auf den Rhythmus konzentriert. 1933: Rückkehr nach New York. Auf Varèses Anweisung stellt der Physiker Leon Theremin neue Instrumente her, die in „Eduatorial“ verwendet werden. 1934: Varèse versucht vergeblich die Studios in Hollywood und New York für seine Klangexperimente zu gewinnen. Er hält Vorträge über „musique spatiale“, die Emanzipation des Klanges und die neuen Instrumente. Mit „Espace“ wollte er die große Gemeinschaft der Menschheit feiern. Mit Ausbruch des Krieges fühlt er sich entmutigt. Zudem leidet er seit längerem an Depressionen. Sein Konzert „Etudes pour Espace“ für Chor und Schlagzeuggruppe wird aufgeführt. 1935: Beginn einer großen Krise, die bis etwa 1948 andauert. Krankheit und Selbstmordgedanken. Er arbeitet intensiv an „Espace“. 1936: Komposition von „Density“ 1949: Im Juni erkrankt Varèse und muss operiert werden. Nach langer Genesungszeit beginnt er wieder zu arbeiten und denkt an ein neues Werk “Déserts“. 1950: Einladung nach Darmstadt, wo er einen Kompositionskurs leitet. 1952: Er vollendet die Instrumentalteile von „Déserts“ und nimmt für die Einschübe mit „son organisé“ Klänge mit Tonband auf. „Déserts“ sollte ein „multimediales“ Projekt werden, ein Miteinander von Film, Bühnendarstellung und Klang mit der Absicht, die Einsamkeit des Menschen in der Natur, aber auch mit sich selbst darzustellen. Die Musik wurde beendet, Film und Bühnengeschehen jedoch nicht realisiert. Neben einer großen Bläserbesetzung, Klavier und großes Schlagzeug, besteht das Werk auch aus Tonbandzuspielungen in Form von Industriegeräuschen, die durch elektronische Verfahren gefiltert, verwandelt, transponiert und gemischt werden. 1954: In den Studios des französischen Rundfunks arbeitet er in Paris und nimmt dort Einschübe für „Déserts“ auf. Am 2. Dezember findet die Uraufführung des Werkes statt. 1957: Varèse arbeitet in den Studios der Firma Philips in Eindhoven um das „Poème électronique“ in Zusammenarbeit mit Le Corbrusier zu realisieren. 17 1958: Aufführung von „Poème électronique“ im Philips Pavillon auf der Weltausstellung in Brüssel. 1959-61: Er komponiert „Nocturnal“. 1960: Der Dirigent Pierre Boulez nimmt Einspielungen mit „Hyperprism“, „Integrales“ und „Octandre“ auf. 1961: In der Town Hall in New York findet ein Konzert zu seinen Ehren statt. 1964: Leonard Bernstein dirigiert mit großem Erfolg einige Werke in der Carnegie Hall in New York. 1965: Edgard Varèse stirbt am 6. November an einer Thrombose und Infektion in New York. Daten zum Werk Amériques Entstehung: 1919-21 / 2. Fassung 1927 Uraufführung: 9. April 1926 mit dem Philadelphia Orchestra unter Leitung von Leopold Stokowski. Nach der Uraufführung mit einer Besetzung von 140 Musikern, strich Varèse zwei größere Passagen und reduzierte den Apparat auf „nur“ 120 Musiker. Besetzung: (revidierte Fassung 1927) 2 Piccoloflöten, 2 Flöten, 1 Altflöte, 3 Oboen, Englischhorn, Heckelphon, Klarinette in Es, 3 Klarinetten in B, Bassklarinette in B, 3 Fagotte, 2 Kontrafagotte, 8 Hörener in F, 6 Trompeten in F, 6 Trompeten in C, 3 Tenorposaunen, 1 Bassposaune, 1 Kontrabassposaune, Tuba, Kontrabasstuba, 2 Harfen, 4 Pauken, Xylophon, Glocken, Triangel, Schellen, Ratsche (Tief), Glockenspiel, Lion's roar, Peitsche, Tamburin, Gong, Tamtam, Celesta, 2 Große Trommeln, Chinesisches Becken, Kastagnetten, Becken (hängend und 'a due'), Paradetrommel, Sirene (Sicher befestigt, tief und sehr stark mit einer Vorricthung zum plötzlichen Abbrechen), Streicher. Dauer: ca. 25 Minuten 18 VII. Unterrichtliche Hinweise 1. Die Sireneklängen und Experimentieren Die Sirenen spielen in Edgard Varèses Musik eine wichtige Rolle. Auch das übrige Instrumentarium von „Amèriques“ ist nicht nur üppig, sondern auch sehr interessant für Auge und Ohr. a.) Vielleicht ist ein Probenbesuch möglich und ihr kommt mit den vielen Schlagzeugern ins Gespräch. Auch für sie ist die Aufführung eines solchen Werkes etwas besonderes. b.) Vielleicht hat der ein oder andere schon einmal selbst auf dem Computer mit Klängen experimentiert. Diskutiert über die Möglichkeiten damals und heute. Interessant ist auch die Frage, wie Varèse den traditionellen Orchesterapparat erweitert – auf den er obwohl er jegliche Tradition ablehnte – zurückgreift. Was ist heute anders? Stellt euch vor, wie jemand wie Varèse heute komponieren könnte. c.) In Grete Weymeyers Buch über Edgard Varèse (siehe Literaturhinweise) gibt es Zeichnungen von Alcopley, die beim Zuhören im Konzertsaal entstanden und eine Art zeichnerische Interpretation (keine analytische) der Musik sind. Wie könnte man sich noch der Musik nähern. Lasst euch von der Musik selbst inspirieren. 2. Musik und Maschinen Edgard Varèse: Ferruccio Busoni – Ein Rückblick 1907, als ich Anfang 20 war, ging ich nach Berlin, wo ich die folgenden 7 Jahren fast ganz verbrachte und das große Glück hatte, (trotz des Unterschieds an Alter und Bedeutung) der Freund von Ferruccio Busoni zu werden, der damals auf dem Gipfel seines Ruhmes war. Ich hatte sein beachtliches kleines Buch „Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst“ gelesen, 19 ein Meilenstein in meiner musikalischen Entwicklung, und als ich an die Stelle kam „Frei ist die Tonkunst geboren und frei zu werden ist ihre Bestimmung“ war es mir, als ob ich das Echo meiner eigenen Gedanken hörte. (…) Gemeinsam diskutierten wir darüber, welchen Weg die Musik der Zukunft nehmen könnte oder besser nehmen sollte, aber nicht nehmen konnte, solange die Zwangsjacke des temperierten Systems („das diplomatische Zwölftonsystem“ wie er es nannte) sie unbeweglich hielt. Er beklagte, dass sein eigenes Tasteninstrument unsere Ohren dazu konditioniert habe, nur einen Bruchteil der unendlich vielen Abstufungen des Klangs in der Natur aufnehmen zu können. Wenn ich jedoch sagte, ich sei fertig mit der Tonalität, antwortete er rasch: „Du verzichtest auf eine feine Sache“. Er interessierte sich sehr für die elektronischen Instrumente, von denen man damals zu hören begann, und ich erinnere mich besonders an eines, von dem er gelesen hatte, das „Dynamophon“, das ein Dr. Thaddeus Cahill erfunden hatte, und das ich später in New York vorgeführt sah. Durch seine sämtlichen Schriften ziehen sich Voraussagen über die Musik der Zukunft, die inzwischen Wirklichkeit geworden sind. Es gibt kaum eine Entwicklung, die er nicht vorausgesehen hätte, vor allem in seiner außergewöhnlichen Prophezeiung: Ich glaube geradezu, dass in der neuen großen Musik Maschinen notwendig sein und einen Anteil daran haben werden. Vielleicht wird sogar die Industrie ihren Beitrag zum künstlerischen Fortschritt leisten.“ Auszug aus: Edgard Varèse: Ferruccio Busoni – Ein Rückblick in: Grete Wehmeyer: Edgard Varèse. Zeichnungen von L. Alcopley. Bosse Verlag, Regensburg 1977, S. 15. Im Internet ist unter https://de.wikisource.org/wiki/Entwurf_einer_neuen_%C3%84sthetik_der_Tonkunst Ferruccio Busonis „Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst“ zu lesen. 20 3. Frank Zappa und Edgard Varèse Eine wichtige Begegnung mit Orchestermusik hatte Zappa, als er in den frühen 1950er Jahren seine erste Langspielplatte gebraucht kaufte. Er war in einem Zeitungsartikel auf sie aufmerksam geworden und hatte schon länger nach ihr gesucht: The Complete Works of Edgar Varèse, Vol. 1, eingespielt vom New York Wind Ensemble und dem Juilliard Percussion Quartet. Besonders angetan hatte es ihm “Ionisation“– ein Stück für 13 Schlagzeuger. Er war von den Kompositionen so begeistert, dass er sich zum 15. Geburtstag ein Ferngespräch mit Varèse wünschte. In den Fußnoten auf der Varèse-Plattenhülle wurden auch die Komponisten Béla Bartók, Igor Strawinsky und Anton Webern genannt. Zappa begann umgehend, sich nach Aufnahmen mit Werken dieser Vertreter der Neuen Musik umzusehen. Varèses Klangkollagen, seine Experimente mit Geräuschen, Stimmen, Tonbändern, Elektronik und Perkussion und auch das Provokationspotenzial seiner Musik haben Zappa tief beeindruckt. Edgard Varese: The Idol of My Youth By Frank Zappa Stereo Review, June 1971. pp61-62 I have been asked to write about Edgard Varèse. I am in no way qualified to. I can't even pronounce his name right. The only reason I have agreed to is because I love his music very much, and if by some chance this article can influence more people to hear his works, it will have been worthwhile. 21 I was about thirteen when I read an article in Look about Sam Goody's Record Store in New York. My memory is not too clear on the details, but I recall it was praising the store's exceptional record merchandising ability. One example of brilliant salesmanship described how, through some mysterious trickery, the store actually managed to sell an album called "Ionization" (the real name of the album was "The Complete Works of Edgard Varese, Volume One"). The article described the record as a weird jumble of drums and other unpleasant sounds. I dashed off to my local record store and asked for it. Nobody ever heard of it. I told the guy in the store what it was like. He turned away, repulsed, and mum- bled solemnly, "I probably wouldn't stock it anyway . . .nobody here in San Diego would buy it." I didn't give up. I was so hot to get that record I couldn't even believe it. In those days I was a rhythm- and-blues fanatic. I saved any money I could get (some- times as much as $2 a week) so that every Friday and Saturday I could rummage through piles of old records at the juke Box Used Record Dump (or whatever they called it) in the Maryland Hotel or the dusty corners of little record stores where they'd keep the crappy records nobody wanted to buy. One day I was passing a hi-fi store in La Mesa. A little sign in the window announced a sale on 45's. After shuffling through their singles rack and finding a couple of Joe Houston records, I walked toward the cash register. On my way, I happened to glance into the LP bin. Sitting in the front, just a little bent at the corners, was a strange-looking black-and-white album cover. On it there was a picture of a man with gray frizzy hair. He looked like a mad scientist. I thought it was great that somebody had finally made a record of a mad scientist. I picked it up. I nearly (this is true, ladies and gentlemen) peed in my pants . . . THERE IT WAS! EMS 401, The Complete Works of Edgard Varese Volume I . . . Integrales, Density 21.5, Ionization, Octandre . . . Rene Le Roy, the N. Y. Wind Ensemble, the Juilliard Percussion Orchestra, Frederic Waidman Conducting . . .liner notes by Sidney Finkelstein! WOW! I ran over to the singles box and stuffed the Joe Houston records back in it. I fumbled around in my pocket to see how much money I had (about $3.80). 1 knew I had to have a lot of money to buy an album. Only old people had enough money to buy albums. I'd never bought an album before. I sneaked over to the guy at the cash register and asked him how much EMS 401 cost. "That gray one in the box? $5.95 - " I had searched for that album for over a year, and now . . . disaster. I told the guy I only had $3.80. He scratched his neck. "We use that record to demonstrate the hi-fi's with, but nobody ever buys one when we use it . . . you can have it for $3.80 if you want it that bad. " I couldn't imagine what he meant by "demonstrating hi-fi's with it." I'd never heard a hi-fi. I only knew that old people bought them. I had a genuine lo-fi . . . it was a little box about 4 inches deep with imitation wrought-iron legs at each corner (sort of brass-plated) which 22 elevated it from the table top because the speaker was in the bottom. My mother kept it near the ironing board. She used to listen to a 78 of The Little Shoemaker on it. I took off the 78 of The Little Shoemaker and, carefully moving the speed lever to 33 1/3 (it had never been there before), turned the volume all the way up and placed the all-purpose Osmium-tip needle in the lead-in spiral to Ionization. I have a nice Catholic mother who likes Roller Derby. Edgard Varese does not get her off, even to this very day. I was forbidden to play that record in the living room ever again. In order to listen to The Album, I had to stay in my room. I would sit there every night and play it two or three times and read the liner notes over and over. I didn't understand them at all. I didn't know what timbre was. I never heard of polyphony. I just liked the music because it sounded good to me. I would force anybody who came over to listen to it. (I had heard someplace that in radio stations the guys would make chalk marks on records so they could find an exact spot, so I did the same thing to EMS 401 . . . marked all the hot items so my friends wouldn't get bored in the quiet parts.) I went to the library and tried to find a book about Mr. Varese. There wasn't any. The librarian told me he probably wasn't a Major Composer. She suggested I look in books about new or unpopular composers. I found a book that had a little blurb in it (with a picture of Mr. Varese as a young man, staring into the camera very seriously) saying that he would be just as happy growing grapes as being a composer. On my fifteenth birthday my mother said she'd give me $5. 1 told her I would rather make a long-distance phone call. I figured Mr. Varese lived in New York because the record was made in New York (and be- cause he was so weird, he would live in Greenwich Village). I got New York Information, and sure enough, he was in the phone book. His wife answered. She was very nice and told me he was in Europe and to call back in a few weeks. I did. I don't remember what I said to him exactly, but it was something like: "I really dig your music." He told me he was working on a new piece called Deserts. This thrilled me quite a bit since I was living in Lancaster, California then. When you're fifteen and living in the Mojave Desert and find out that the world's greatest composer, somewhere in a secret Greenwich Village laboratory, is working on a song about your "home town" you can get pretty excited. It seemed a great tragedy that nobody in-Palmdale or Rosamond would care if they ever heard it. I still think Deserts is about Lancaster, even if the liner notes on the Columbia LP say it's something more philosophical. All through high school I searched for information about Varese and his music. One of the most exciting discoveries was in the school library in Lancaster. I found an orchestration book that had score examples in the back, and included was an excerpt from Offrandes with a lot of harp notes (and you know how groovy harp notes look). I remember fetishing the book for several weeks. 23 When I was eighteen I got a chance to go to the East Coast to visit my Aunt Mary in Baltimore. I had been composing for about four years then but had not heard any of it played. Aunt Mary was going to introduce me to some friend of hers (an Italian gentleman) who was connected with the symphony there. I had planned on making a side trip to mysterious Greenwich Village. During my birthday telephone conversation, Mr. Varese had casually mentioned the possibility of a visit if I was ever in the area. I wrote him a letter when I got to Baltimore, just to let him know I was in the area. I waited. My aunt introduced me to the symphony guy. She said, "This is Frankie. He writes orchestra music." The guy said, "Really? Tell me, sonny boy, what's the lowest note on a bassoon?" I said, "B flat . . .and also it says in the book you can get 'em up to a C or something in the treble clef." He said, "Really? You know about violin harmonics?" I said, "What's that?" He said, "See me again in a few years." I waited some more. The letter came. I couldn't believe it. A real handwritten letter from Edgard Varese! I still have it in a little frame. In very tiny scientific-looking script it says: ________________________________________________________________ VII 12th/57 Dear Mr. Zappa I am sorry not to be able to grant your request. I am leaving for Europe next week and will be gone until next spring. I am hoping however to see you on my return. With best wishes. Sincerely Edgard ________________________________________________________________ Varese I never got to meet Mr. Varese. But I kept looking for records of his music. When he got to be about eighty I guess a few companies gave in and recorded some of his stuff. Sort of a gesture, I imagine. I always wondered who bought them besides me. It was about seven years from the time I first heard his music till I met someone else who even knew he existed. That person was a film student at USC. He had the Columbia LP with Poeme Electronique on it. He thought it would make groovy sound effects. I can't give you any structural insights or academic suppositions about how his music works or why I think it sounds so good. His music is completely unique. If you haven't heard it yet, go hear it. If you've already heard it and think it might make groovy sound effects, listen again. I would recommend the Chicago Symphony recording of Arcana on RCA (at full volume) or the Utah Symphony recording of Ameriques on Vanguard. Also, there is a biography by Fernand Oulette, and miniature scores are available for most of his works, published by G. Ricordi. 24 Aus: http://rchrd.com/mfom/zappa-varese.html -Einen Mitschnitt des legendären „Tribute to Edgard Varèse“ Konzert mit Frank Zappa vom 17. April 1981 im Palladium Rock Club kann man im Archiv des New Yorker Radiosenders WQXR nachhören: www.wqxr.org/#!/story/archives-frank-zappa-hosts-edgard-varese-concert/ 25