Die Entfernung der Amygdala – Das erste Stück von Markus Orths in

Werbung
Die Entfernung der Amygdala – Das erste Stück von Markus Orths in
Baden-Baden uraufgeführt
Der Weg allen Fleisches
von Harald Raab
Baden-Baden, 26. April 2013. Rührend unschuldig, wie Nina das Kleidchen steht. Kein
Wunder, dass sich der Verkäufer in diese Kundin verliebt. Es endet, wo es enden muss – in
der Kiste. So weit so banal – schnelles Beziehungsbusiness as usal. Die Geschichte hat jedoch
mehr als einen Haken: Nina ist eine Todeskandidatin, das Kleidchen ein Totenhemd, der
Verkäufer ein Bestattungsunternehmer und die Kiste ein Sarg.
Vom Wesen des Verwesens
Der liebe Gott ist auch mit von der Partie – zeitgemäß als allwissende Smartphone-Figur
Galaxy (Felix Grüning). Er belehrt uns, über die Bezeichnungen dessen, was Nina bald
erleben, beziehungsweise nicht mehr bewusst wahrnehmen wird: "entschlafen, ableben, das
Zeitliche segnen, ins Gras beißen, den Löffel abgeben, den Weg alles Fleisches gehen,
abnippeln, verrecken, den Arsch zukneifen" – und was der über 100 bildhaften Metaphern
mehr sind, mit denen wir versuchen, den Schrecken des Todes klein zu salbadern und
wegzublödeln.
O
Tod, wo ist das Leben? © Jochen Klenk
Auf den ganz normalen Wahnsinn zwischen Liebe und Tod ist der Schriftsteller Markus Orths
(Romane: "Lehrerzimmer", "Catalina") spezialisiert. Absurditäten und Paradoxien auch bei
den letzten Dingen waren deshalb bei seinem ersten Bühnenstück zu erwarten, inklusive
satirischer Abstand dazu. Das Stück heißt "Die Entfernung der Amygdala", ihm wurde beim
Wettbewerb "Nichts war, wie's wird" zum 150-jährigen Jubiläum des Theaters Baden-Baden
2012 die Siegespalme zuerkannt, und jetzt ist es am pompösen Theater des mondänen Kurorts
uraufgeführt worden.
Kackbraune Sperrholz-Tristesse im blassen Neonlicht. Plötzlich bricht aus dem splitternden
Boden ein weißes Sarg-Monster hervor (Bühne und Kostüme Ramallah Aubrecht). Um das
Ungetüm entwickelt sich die abgefahrene Story. Was wir eigentlich über die letzte Reise gar
nicht so genau wissen wollen, bekommen wir technisch penibel vorgesetzt: Sargmodelle,
Verwesungsdauer – schneller geht's im Turbograb –, Segnungen des Drei-Kammern-Ofens im
Krematorium, Einbalsamierung, Verstreuen der Asche im Weltall oder Anfertigung eines
Diamanten aus dem vergänglichen Staub, manch unappetitliche Technik und diverse Kalauer
gratis. Für die Betriebsgeheimnisse ist der Bestattungsfuzzi Gernot (Oliver Jacobs) zuständig,
eine devote Krämerseele, der unverhofft die Liebe in die Quere kommt.
Frau für Witwer in spe gesucht
Den Tod kann man auf dreierlei Arten wahrnehmen: als Tragödie, als Anlass zur Frage nach
dem Sinn des Lebens und auch als logistisch-sozialen Geschäftsvorgang. Autor Orths lässt
seine Protagonistin Nina gleich alle drei Möglichkeiten ausloten. In dieser schwierigen Rolle
muss Catharina Kottmeier ein Wechselbad der Gefühle vorführen – zwischen Angst, Wut,
Trauer, Mitleid mit sich selbst und dem zurückbleibenden Ehemann Paul und dem Bedürfnis,
über den Tod hinaus alles regeln zu müssen, in den letzten 180 Tagen, die ihr auf Erden noch
gegeben sind. Ich tue, also bin ich, ist ihr finales Motto. Handfest und praktisch geht sie es an.
Frauen haben halt doch die besseren Nerven, stellen sich der Situation.
Der
Boden hebt sich schon, das Grab ist bald geschaufelt. © Jochen Klenk
Die Diagnose: Gehirntumor. Das Krebsgeschwür sitzt gleich hinter der Amygdala, die für
unseren Gefühlshaushalt zuständig ist. Danach ist die erste Station besagte
Kundeninformation im Bestattungsunternehmen. Zweite Station ist ein Singletreff. Nina sucht
die künftige Frau für ihren Paul, den Witwer in spe. Sie gerät ausgerechnet an die
Neurochirurgin Jasmin (Anna Leßmeister), die Ärztin, die ihr die Todesdiagnose gestellt hat
und selbst auf Partnersuche ist. Die aparte Frau lässt sich auf das Kuppelangebot ein.
Ist ein Leben ohne Gefühle überhaupt ein Leben?
Dritte Station ist das Wohnzimmer Ninas und Pauls. Jasmin ist auf Schnupperbesuch. Herein
platzt Ninas Mama Ilse (Birgid Bücker) und lässt die eh schon peinliche Szene zur
Familienfarce entgleisen. Paul, der Philosoph (Thomas Höhne), kennt zwar seinen Heidegger,
seinen Martin Buber und sonstige Theoretiker des richtigen Lebens. Doch das Leben will
nicht nur erklärt und verstanden werden. Es muss praktisch gelebt werden. Da hapert es bei
ihm. Wer ist dem Geheimnis des Lebens und Sterbens und dem, was menschliche Existenz
erst ausmacht, eher auf der Spur – die Philosophie oder die Neurowissenschaften? Darüber
lässt sich wunderbar sophisticated streiten, Paul und Jasmin tun es mit steigendem Eifer und
wachsendem gegenseitigen Interesse.
Derweil praktiziert Nina mit ihrem Leichenbestatter Leben pur, ihren Sex. Für Nina eröffnet
Jasmin zwar eine risikoreiche Alternative: eine Operation, bei der auch die Amygdala entfernt
werden müsste. Aber das hieße, statt Exitus total eben Tod als Gefühlswesen. Eine Lösung
der vertrackten Situation wird nicht angeboten. Nina ist frei. Stellt sich nur die NietzscheFrage: Frei, wofür?
Ein Theatererlebnis
Regisseurin Katja Fillmann setzt zu viel auf naturalistisches Erzähltheater. Das macht den
Handlungsablauf unnötig bieder, uninspiriert: zu viel verbaler Schlagabtausch und zu wenig
eindringliche Bilder wie das von Ninas Traumsequenz mit der Videoüberblendung ihres
Gesichts mit dem des dementen Vaters. Das Stück bräuchte mehr Momente der schrillen
Zuspitzung, um damit kontrastierend die ganze Hilflosigkeit in der menschlichen Tragik um
so wirksamer zu vermitteln. Ein paar Striche im Text, die ein oder andere Lehreinheit in
Sachen Bestattung und Existenzphilosophie weniger hätten eine spannungsreichere
Aufführung ergeben.
Orths Bühnenerstling hätte es verdient: keine der üblichen Eintagsfliegen, die kaum die
Uraufführung überleben. Das Stück besitzt Substanz, hat einen soliden, wenn auch absurdphantasievollen Plot und bringt in seiner knappen, nüchternen Sprache den Diskurs exakt auf
den Punkt. Dieses Theatererlebnis stellt eigenes Tun und Denken in Frage und beschäftigt
einen daher noch lange nach der Aufführung.
Die Entfernung der Amygdala (UA)
von Markus Orths
Regie: Katja Fillmann, Bühne und Kostüme: Ramallah Aubrecht, Musik: Hans-Georg
Wilhelm, Video Steffan Dost.
Mit: Birgitt Bücker, Felix Grüning, Thomas Höhne, Oliver Jakobs, Catharina Kottmeier,
Anne Leßmeister.
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, eine Pause
Herunterladen