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Weimar – Jena : Die große Stadt
3/3 (2010) S. 223–230
© Verlag Vopelius
http://www.verlagvopelius.eu
„Das redende Blatt“ (Folge 8)
Unter diesem Titel wird jeweils ein historisches Dokument
vorgestellt und zum Sprechen gebracht, getreu dem Schillerwort aus seinem 1795 in Jena entstandenen Gedicht „Der
Spaziergang“: „… Körper und Stimme leiht die Schrift dem
stummen Gedanken, Durch der Jahrhunderte Strom trägt
ihn das redende Blatt.“
Die Uraufführung
von Richard Wagners „Lohengrin“
am 28. August 1850 in Weimar
von Irina Lucke-Kaminiarz
as Bild des Gralsritters Lohengrin, einer literarischen Figur aus Wolfram von
Eschenbachs mittelalterlichem Versepos „Parzival“, schmückt das Textbuch
der romantischen Oper von Richard Wagner (1813–1883), die am 28. August 1850
im Großherzoglichen Hoftheater in Weimar ihre Uraufführung erlebte. Es zeigt den
bewehrten Ritter, wie er sich in einem Boot, das von einem Schwan gezogen wird,
als Helfer und Beschützer nähert. Die in dem Textbuch enthaltene Besetzungsliste
verrät uns, dass der „Lohengrin“ an Goethes 101. Geburtstag unter der Direktion
von Hofkapellmeister Franz Liszt (1811–1886) erstmals aufgeführt wurde.
Es war allerdings nicht das erste Mal, dass ein Werk des Komponisten auf der
Bühne des Hoftheaters in Weimar zu erleben war. Aber diese Premiere von
„Lohengrin. Romantische Oper in drei Akten“ war durch die Einrichtung seines
Freundes etwas Besonderes. Wagner hatte in den Jahren 1845 bis 1848 daran gearbeitet.1 Am 19. Oktober 1845 fand die Dresdner Uraufführung seines „Tannhäuser“
statt und am 17. November las er die „Lohengrin“-Dichtung im Dresdner „Engelsclub“ vor, zugegen waren unter anderen Gottfried Semper, Ernst Rietschel, Julius
Schnorr von Carolsfeld, Ferdinand Hiller und Robert Schumann, der den Text nicht
für komponierbar hielt. Im April 1848 beendete Wagner die Partitur der neuen
Oper und reichte sie der Dresdner Intendanz ein. Am 22. September 1848 konnte
Wagner das Finale des 1. Aktes zu „Lohengrin“ zu einer „Historisch-musikalischen
Festfeier“ zur 300-Jahrfeier der Dresdner Kapelle aufführen, die Resonanz war
ungünstig. Noch im gleichen Jahr stellte der Musiker mit seinen revolutionären
Ambitionen sein Amt als Königlich-Sächsischer Hofkapellmeister zur Disposition.
Die Annahme des „Lohengrin“ zur Aufführung wurde Ende Oktober 1848 vom
Dresdner Königlichen Hoftheater zurückgezogen und Wagners Erfolgsstück,
„Rienzi“, vom Spielplan genommen.
D
DOI10.2371/DgS3/3/2010/65
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„DAS REDENDE BLATT“
Abb. 1. Titelblatt des
Textbuches für die Oper
„Lohengrin“ von Richard
Wagner zur Uraufführung
im Großherzoglichen Hoftheater in Weimar am
28. August 1850.
(Sammlung Volker Wahl, Weimar)
Zur Zeit der Weimarer Uraufführung
des „Lohengrin“ befand sich Wagner im
Schweizer Exil. Mit
Hilfe seines Freundes
Franz Liszt und dessen Kontakten hatte
man Wagner auf der
Flucht im Mai 1849
in Weimar weitergeholfen, der sächsische
Steckbrief wurde aufgehalten. Die Großfürstin und Weimarer
Großherzogin Maria
Pawlowna (1786 bis
1859) konnte den
Komponisten, ohne
sich zu kompromittieren, zum Gespräch
im Eisenacher Schloss
empfangen. Arrangiert von Liszt, fand
Wagner in Magdala bei Weimar Unterschlupf, wo ihn seine Frau besuchte. Zu Fuß
wanderte er nach Jena, erhielt den abgelaufenen Pass des Professors Widmann und
reiste in die Schweiz.
Liszt hatte Wagners „Tannhäuser“ bereits am 16. Februar 1849, dem Geburtstag der Großherzogin Maria Pawlowna, erstmals außerhalb Dresdens aufgeführt.
Das Werk wurde rasch zur erklärten Lieblingsoper des Weimarer Publikums.
„Tannhäuser und der Sängerkrieg auf der Wartburg“ bot dem Komponisten
zugleich Anregungen für Neues; in dem Werk kommt der Minnesänger Wolfram
von Eschinbach vor. Mit Eschenbachs „Parzival“, der auf dem französischen
Urbild des „Perceval“ von Chrétien de Troyes aufbaute, beschäftigt sich nun Wagner ausführlicher. Hinzu kamen bereits 1841 eine Anregung durch die Sage von
„Lohengrin, dem Ritter mit dem Schwan“, die Herausgabe des „Lohengrin“ von
Görres, ebenso das Nibelungenlied, die von Jakob Grimm herausgegebenen
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Irina Lucke-Kaminiarz Die Uraufführung von Richard Wagners „Lohengrin“
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„Rechtsaltertümer“ und „Weistümer“ etc. Im mittelalterlichen Versepos Wolfram
von Eschenbachs tritt der Gralsritter und Sohn des Gralskönigs Parzival, Loherangrîn, als Seitenfigur auf. Lohengrin wird auf einem Schwan der Herzogin von
Brabant als Beschützer gesandt. Als Bedingung für seine Hilfe darf sie ihn
niemals nach seinem Namen fragen. Wagner baute das Frageverbot („Nie sollst
Du mich befragen“, 1. Akt, 3. Szene) zum Kern seiner Lohengrin-Geschichte aus.
Es stellt das Verhältnis zwischen göttlicher Sphäre und irdischem Jammertal
sowie zwischen mittelalterlichem Christentum und germanischer Götterwelt dar,
er versucht, Elemente der griechischen Tragödie in die Handlung einzuflechten.
In den „Mitteilungen an meine Freunde“ schreibt er zum „Lohengrin“: „Wer kennt
nicht ‚Zeus und Semele‘? Der Gott liebt ein menschliches Wesen und naht sich ihr
in menschlicher Gestalt. […] Er vollzieht sein eigenes Todesurteil, wenn der
Glanz seiner göttlichen Erscheinung die Geliebte vernichtet.“2 Musikalisch schuf
Wagner mit dem „Lohengrin“ die neue Opernform des durchkomponierten
Musikdramas, d. h. die Nummernoper ist im Wesentlichen überwunden, auch
wenn große Arien und Ensembles erhalten bleiben, so zum Beispiel Elsas Traumerzählung, „Einsam in trüben Tagen“ (1. Akt, 1. Szene), oder Lohengrins Gralserzählung, „In fernem Land, unnahbar euren Schritten liegt eine Burg Montsalvat
genannt“ (3. Akt, 3. Szene). Um das Seelenleben der handelnden Personen in
eindeutig nachvollziehbare musikalische Motive umsetzen zu können, verwendet
Wagner Leitmotive, z. B. das Frageverbot- und das Gralsmotiv. Das Drama
wird aktweise durchgespielt und verlangt einen neuen Interpreten, den SängerDarsteller.
Nach erneuter Beschäftigung mit seinem Werk schrieb Richard Wagner am
21. April 1850 aus Paris an Liszt: „Eine ungeheure Sehnsucht ist in mir entflammt,
das Werk aufgeführt zu wissen, Ich lege Dir hiermit meine Bitte ans Herz. Führe
meinen Lohengrin auf! Du bist der E i n z i g e, an den ich diese Bitte richten
würde. Niemand als Dir vertraue ich die Creation dieser Oper an: aber Dir übergebe ich sie mit vollster, freudigster Ruhe. Führe sie auf, wo Du willst: gleichviel
wenn es selbst in Weimar ist [sic!].3 […] Führe den Lohengrin auf und lass sein
Inslebentreten D e i n Werk sein.“4
Zu dieser Zeit bereitete Liszt in Weimar das Herder-Jubiläum zum 25. August
1850 vor, mit der Uraufführung seiner eigenen Komposition „Prometheus“ als
Vorspiel zu den „Chören zu Herders Entfesseltem Prometheus“, anlässlich der Enthüllung des Herder-Denkmals. Zu Goethes 101. Geburtstag sollte die Gründung
der Goethe-Stiftung folgen, einer nationalen Kulturstiftung nach Liszts großangelegtem Entwurf „De la Fondation-Goethe à Weimar“.5 Nach dem oben zitierten
Brief Richard Wagners vom 21. April 1850 nahm Liszt die Uraufführung des
„Lohengrin“ mit in die Planung auf. Damit machte er die Uraufführung zu seiner
persönlichen Angelegenheit. „Als Festoper sollte sie dem Ereignis die musikalische Weihe geben und zugleich die ‚Periode der Regenration oder besser der ‚génération nouvelle‘ Weimars’ einleiten.“6 Wagner hatte im Brief vom April auch
geschrieben: „In Dresden befindet sich eine correkte Partitur der Oper: Herr von
Lüttichau7 hat sie mir für den Copie-Preis (36 Thaler) abgekauft: da er sie nicht
aufführen lassen wird – wogegen ich auch bei der dortigen musikalischen DirecWeimar – Jena : Die große Stadt 3/3 (2010)
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tion Protest einlegen würde – so ist es möglich, er lässt Dir gegen Erstattung der
36 Thaler das Exemplar selbst ab, oder jedenfalls lässt er Dir davon eine Copie
machen. Dies zu empfangen sei durch diese Zeilen hiermit autorisirt.“8
Liszt erwarb eine der Abschriften und aus Thun schickte Wagner am 2. Juli 1850
an Liszt umfangreiche Aufführungshinweise, darunter auch Hinweise für „Szene
und Dekorationen“9. Hinzu kamen detaillierte musikalische Hinweise, Änderungen und eine Streichung in der Schlussarie des Lohengrin. Die Forderungen Wagners an die Aufführungsbedingungen waren enorm. Liszt antwortete: „Dein
Lohengrin wird unter den außerordentlichsten und für sein Gelingen besten Bedingungen gegeben werden. Die Intendanz giebt bei dieser Gelegenheit nahezu 2000
Thaler aus, was seit Menschengedenken noch nie in Weimar geschehen ist. Die
Presse soll nicht vergessen werden, und anständige und ernst begründete Aufsätze
werden der Reihe nach in verschiedenen Zeitungen erscheinen. […] Das ganze
Personal wird Feuer und Flamme sein. Die Zahl der Violinen wird ein wenig
vergrößert werden (von
16 bis 18 im Ganzen),
die Baß-Clarinette ist
gekauft worden; nichts
Wesentliches wird dem
musikalischen Gewebe
noch seiner Zeichnung
fehlen; ich werde alle
Proben, Klavier, Chor
und Orchester übernehmen; Genast10 wird mit
Wärme und Energie
Deine Angaben bezüglich der Inszenirung
befolgen. Es versteht
sich von selbst, dass
wir keine Note, kein
Jota Deines Werkes
streichen und dass wir
es, so weit es uns möglich ist, in seiner reinen
Schöne geben werden.
Das besondere Datum
des 28. August, an wel-
Abb. 2. Besetzungsliste der
Uraufführung im Großherzoglichen Hoftheater in Weimar
am 28. August 1850.
(Sammlung Volker Wahl,
Weimar)
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Irina Lucke-Kaminiarz Die Uraufführung von Richard Wagners „Lohengrin“
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chem Lohengrin aufgeführt werden wird, kann nicht ermangeln, ihm günstig zu
sein […]. Herr von Zigesahr11 hat vollkommen gefühlt, das L o h e n g r i n ein
E r e i g n i s sein müsste. Um das zu bewerkstelligen, hat man die Theaterferien
um die Hälfte verkürzt, meinen Freund Dingelstädt um die Dichtung des Prologs
ad hoc gebeten […] und die erste Aufführung [. .] auf den 28. August, Goethes
Geburtstag, festgesetzt – drei Tage nach der Einweihung des Herder-Denkmales,
welche am 25. stattfinden wird. Bei Gelegenheit dieses Herder-Monumentes werden wir hier einen großen Menschenzulauf haben, und überdieß sind am 28. die
Delegierten der Goethe-Stiftung zum Zwecke der Feststellung des endgültigen
Programmes dieser Stiftung in Weimar, eingeladen.“12
Die große Romantische Oper „Lohengrin“ begann am 28. August 1850 um
6 Uhr und endete um 10 Uhr abends, geöffnet wurde das Theater um halb 5 Uhr,
die Textbücher waren an der Kasse für 5 Silbergroschen zu haben, so dass man die
Zeit zum Lesen gut nutzen konnte. Der teuerste Platz war in der Fremdenloge für
1 Taler, 10 Silbergroschen zu haben und der billigste Platz für 7 Silbergroschen,
6 Pfennig. Die erweiterte Hofkapelle spielte unter Liszts Leitung, den Lohengrin
gab Karl Beck, die Elsa von Brabant Rosa Agthe, später von Milde (1927 –1906),
Hans Feodor von Milde (1821–1899) gab den brabantischen Grafen Friedrich von
Telramund. Die Vorstellung wurde eingeleitet mit einem „Prolog zur Goethe-Feier“
von Franz von Dingelstedt (1814–1881)13, gesprochen vom Schauspieler Jaffé.
Der Prolog verdeutlicht den Zusammenhang der Opernuraufführung mit der
Europäischen und Thüringer Kulturgeschichte sowie dem Kulturanspruch Weimars
in der Gegenwart. In Dingelstedts „Prolog“ heißt es:
Bevor Euch mit vereintem Flügelschlage
Musik und Sage zauberhaft bewegt
Und aus der Gegenwart in ferne Tage,
in König Arthus Tafelrunde, trägt,
ergönnt, dass nur als Herold vor dem Feste,
Der Dichter grüße dieses Hauses Gäste […]
Ja, seid willkommen auf dem selt’nen Gipfel,
Wohin die heu’tge Feier uns gestellt […]
Thüringer Land, du deutscher Dichtkunst Wiege,
gekrönt in dreimal wiederholtem Siege, […]
Die Wartburg tönt vom süßen Lied der Minne,
Von Landgraf Herrmanns heißem Sängerstreit;
Aus Herzog Wilhelms fruchtbarlichem Orden
Erklingt Dein Lob in preisenden Akkorden,
Und neu ersteht, ein Zeuge dieser Stunde,
Karl Augusts wunderbare Tafelrunde. […]
So pflanzen wir den Keim und Trieb des Schönen
Von uns’ren Vätern fort zu uns’ren Söhnen,
Und ehren, nicht durch sklavisches Gedächtnis,
Nein, in lebend’ger Pflege Vermächtnis! […]
Dann wirst du, was du warst zu Goethe’s Zeiten,
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Auch heute sein in gleich bewegter Zeit:
Asyl dem Flüchtling, Tempel dem Gehweih’ten,
Hafen und Eiland in der Woge Streit;
Als alma mater wird dich Deutschland segnen
Und gern auf deiner Schwelle sich begegnen. […]14
Im Publikum der Uraufführung des „Lohengrin“ befanden sich die fürstliche Familie, zahlreiche Gäste, darunter die Musikkritiker mit Jules Janin und Gérard de
Nerval aus Paris, Joseph Fétis aus Brüssel, Henry F. Chorley aus London, außerdem Carl Ritter als Abgesandter Wagners und die Komponisten Giacomo Meyerbeer und Robert Franz. Welche Verehrung Liszt vom Ensemble erfuhr, verdeutlicht
das Premierengeschenk, ein silberner Taktstock mit der Inschrift „Dem Träger des
Genies, dem Dirigenten der Opern ‚Tannhäuser‘ und ‚Lohengrin‘ Herrn Dr. F.
Liszt, ihrem verehrten Meister, die Mitglieder der Großherzoglichen Hofkapelle.
Weimar, d. 28. Aug. 1850“.15 Liszt schrieb am 2. September 1850 an Wagner:
„Dein Lohengrin ist von Anfang bis Ende ein erhabenes Werk. Bei gar mancher
Stelle sind mir die Thränen aus dem Herzen gekommen. […]“. Hervor hebt er das
Duett des 3. Aktes, zwischen Elsa und Lohengrin, welches für ihn „der Höhepunkt
des Schönen und Wahren in der Kunst ist“.16
Es erschienen danach zahlreiche Pressekritiken. Dingelstedt schrieb einen vielbeachteten Artikel, in dem sein völliges Unverständnis der neuen Form des Musikdramas dominierte: „Statt der Sänger declamiren und vegetiren die Instrumente,
die Flöten girren um Liebe, die Geigen streiten, Bässe und Pauken grollen gegen
sich; dazwischen schreit das Blech, die Trompete plötzlich grell auf, dass dem
Zuhörer und Zuschauer Hören und Sehen vergeht. […] kein Recitativ, kein Andante, keine Caberletta, auch kein Duett, sondern nur Wechselgesang […] nirgends ein
Ruhepunkt[…].17 Auch die Neue Zeitschrift für Musik (NZfM) teilt Mängel mit:
„sechs erste Violinen, dazu dreifach besetzte Bläser und ein Lohengrin, der mit der
Rolle überfordert war. Beck hatte eine wunderbare Stimme, es mangelte ihm allerdings an fundierter Ausbildung, die gerade diese Partie erforderte hätte.“18 Die
Rezeptionsprognose der NZfM sollte sich indes Bewahrheiten, dass „Lohengrin“
und „Tannhäuser“ die Lieblingsopern der Weimarer werden würden.19 Franz Liszt
schrieb selbst, wie er es auch bei anderen wichtigen Aufführungen unter seiner Leitung tat, einen umfangreichen Artikel „Lohengrin. Große Romantische Oper von
R. Wagner und ihre erste Aufführung in Weimar bei Gelegenheit der Herder- und
Goethe-Feiern 1850“.20 Bis zum 11. Mai 1851 fanden fünf Vorstellungen im
Weimarer Theater statt. Liszt schrieb 1854, dass sich außer „Lohengrin“, der
„Fliegende Holländer“ und „Tannhäuser“ stets als „Cassen-Oper bewährt“ hätten.21
Seit seiner Übersiedlung 1848 nach Weimar entwickelte Franz Liszt mit Unterstützung der Weimarer Großherzogin Maria Pawlowna, die Stadt an der Ilm zum
Mittelpunkt der musikalischen Avantgarde Europas (Detlef Altenburg). Maria
Pawlownas Konzept, nach dem Tod Goethes Weimar wieder zum kulturellen
Mittelpunkt werden zu lassen, war die Idee mit dem erstmals von ihr verwendeten
Begriff „Période d’argent“, eines „Silbernen Zeitalters“, in dem nach der Literatur
nun die Musik prägend werden sollte. Wie bei ihrer Schwiegergroßmutter Anna
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Amalia von Sachsen-Weimar-Eisenach (1739–1807) war ihre zentrale Kunstgattung die Musik. Maria Pawlowna war in St. Petersburg Schülerin Guiseppe Sartis
(1729–1802), sie hatte August Eberhard Müller (1767–1817) für Weimar und sich
als Lehrer gewonnen, dann den Mozart-Haydn-Schüler Johann Nepomuk Hummel
(1778–1837), den sie aus Stuttgart regelrecht abwarb, und seit 1841 step by step
auch Franz Liszt. Hier trafen sich die Intentionen der ambitionierten Fürstin und
die des Musikers.
Die Werke Hector Berlioz’, Richard Wagners, Robert Schumanns, eigene Kompositionen Liszts und die seiner Schüler, markierten den Weg Weimars zu einem
musikalischen Mittelpunkt Europas, hinzu kamen ebenso die Werke Mozarts,
Glucks, Rossinis, Donizettis oder Meyerbeers. Das jähe Ende dieser einzigartigen
Entwicklung brachte der 15. Dezember 1857 mit dem organisierten Skandal
bei der Uraufführung von Peter Cornelius’ „Der Barbier von Bagdad“, der nicht
der Oper, sondern Franz Liszt galt. 1861 verließ Liszt Weimar. Unmittelbar vorher
hatte er hier noch zusammen mit Franz Brendel, Richard Wagner und mehr als
700 Musikern aus aller Welt den Allgemeinen Deutschen Musikverein (ADMV)
gegründet, den ersten Fachverband für zeitgenössische Musik, dessen erfolgreiches Wirken 1937 mit Repressalien und Verbot ein jähes Ende fand.
Anmerkungen und Quellennachweis
1
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5
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7
8
9
10
11
Richard Wagner, Mein Leben, München 1914, Zweiter Teil, S. 147–150.
Richard Wagner, Mitteilungen an meine Freunde, in: Richard Wagner. Auswahl seiner
Schriften, Leipzig [1910], S. 80–81.
Die Weimarer Hofkapelle bestand zu Liszts Zeit aus 40 Musikern, die bei besonderen Aufführungen durch Musiker aus umliegenden Orten, Schüler und Freunde Liszts verstärkt
wurde. Die Hofkapellen in Dresden und Berlin verfügten über 20 bzw. 40 Musiker mehr.
Briefwechsel zwischen Wagner und Liszt, Leipzig 1900, Erster Band. Vom Jahre 1841–1853,
S. 54.
Franz Liszt, De la Fondation-Goethe à Weimar, in: Franz Liszt. Sämtliche Schriften, hrsg.
Von Detlef Altenburg und Britta Schilling, kommentiert unter Mitarbeit von Wolfram
Huschke und Wolfgang Marggraf, Wiesbaden, Leipzig, Paris 1997. Der Entwurf Liszts
zielte auf die Schaffung einer nationalen Kultur in einem zersplitterten Deutschland und
wurde nie realisiert. Liszt erfuhr von Großherzog Carl Alexander von Sachsen-WeimarEisenach eine über Jahrzehnte gehende Hinhaltetaktik.
Lohengrin und Tannhäuser. In: Franz Liszt, Gesammelte Schriften, hrsg. von Detlef
Altenburg, Rainer Kleinertz, kommentiert unter Mitarbeit von Gerhard J. Winkler, Wiesbaden 1989, Bd. 4, S. 213.
August Freiherr von Lüttichau war von 1824 bis 1862 Generaldirektor des Dresdener
Königlich-Sächsischen Hoftheaters.
Briefwechsel zwischen Wagner und Liszt (wie Anm. 4), S. 54.
Ebenda, S. 55–56.
Eduard Genast (1797–1866) war Regisseur des Weimarer Hoftheaters.
Ferdinand Freiherr von Ziegesar (?–1857) war von 1847 bis 1857 Intendant des Weimarer
Hoftheaters.
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Briefwechsel zwischen Wagner und Liszt (wie Anm. 4), S. 60–61.
Auf Liszts Empfehlung wurde Dingelstedt (1814–1881) 1857 Generalintendant des
Weimarer Hoftheaters. Er gehörte nach dem Erscheinen seiner „Lieder eines kosmopolitischen Nachtwächters“ (1842) ebenfalls zu den verfolgten Vormärzdichtern. Auch
Hoffmann von Fallersleben, Fritz Reuter und andere fanden im Großherzogtum SachsenWeimar-Eisenach Asyl. Dingelstedt rief mit seinen Musteraufführungen von Shakespeares
Königsdramen auch internationales Aufsehen hervor. Seine intriganten Ambitionen, vor
denen Großherzogin Sophie von Sachsen-Weimar-Eisenach Liszt gewarnt hatte, führten
schließlich zum Rücktritt Liszts von der Leitung der Oper. 1861 verließ der große Musiker Weimar. Als Dingelstedt nach 10 Jahren seinen Pensionsanspruch in Weimar erreicht
hatte, verließ er die Stadt an der Ilm, leitete zunächst die Wiener Hofoper, dann das Burgtheater.
Franz Dingelstedt, Prolog; HOCHSCHULARCHIV/THÜRINGISCHES LANDESMUSIKARCHIV,
Bestand DNT, 359. Das historische Aufführungsmaterial des Hoftheaters und der Hofkapelle, bzw. des Deutschen Nationaltheaters und der Staatskapelle Weimar, das lange als
verschollen galt, befindet sich im Thüringischen Landesmusikarchiv an der Hochschule
für Musik FRANZ LISZT Weimar. Der nahezu einen halben Kilometer umfassende Bestand
wurde mit Hilfe der Deutschen Forschungsgemeinschaft und in Zusammenarbeit mit dem
Internationalen Quellenlexikon der Musik (RISM) wissenschaftlich verzeichnet. Hier
befindet sich auch noch Aufführungsmaterial, das zur Uraufführung benutzt wurde.
Taktstock. Ehrengeschenk an Franz Liszt, Goethe-Nationalmuseum, Inv.-Nr. BV
1956/37.
Briefwechsel zwischen Wagner und Liszt (wie Anm. 4), S. 75–76.
Augsburger Allgemeine Zeitung, vom 4. September 1850, Beilage (Weimarischer Festkalender, V. Der Goethe Tag).
Wolfram Huschke, Musik im klassischen und nachklassischen Weimar, Weimar 1982,
S. 148.
Siehe Neu Zeitschrift für Musik, Nr. 30, Leipzig, 29. 9. 1850, S. 162–164.
Das französische Manuskript verfasste Liszt noch im September 1850, sandte es Wagner,
der es redigierte. Übersetzt wurde es von Carl Ritter (1830–1891), der die Uraufführung
miterlebt hatte, und Hans von Bülow (1839–1894). Der deutschsprachige Text erschien
dann mit Notenbeispielen, Holzschnitten und Zeichnungen am 12. April 1851 in der von
Brockhaus herausgegebenen Leipziger Illustrierten Zeitung.
Briefwechsel zwischen Wagner und Liszt, 3. erw. Auflage, 2. Teil, Leipzig 1910, S. 102.
Kontakt:
Dr. Irina Lucke-Kaminiarz
Ernst-Thälmann-Straße 3
99441 Mellingen
E-Mail: [email protected]
Weimar – Jena : Die große Stadt 3/3 (2010)
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