Heiko Kleve Zwischen Tradition und Moderne Postmoderne Soziale

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Heiko Kleve
Zwischen Tradition und Moderne
Postmoderne Soziale Arbeit am Beispiel Familie
„Die Familie übertreibt Gesellschaft.“
Niklas Luhmann (1990: 215).
Zusammenfassung
Die Familie wird als ein besonderes Sozialsystem in der funktional differenzierten
Gesellschaft präsentiert, das zwar in einem modernen Kontext eingebettet ist, der nahezu alles
Soziale flexibilisiert und dynamisiert, in dem aber das Traditionelle fortbesteht. Denn die
Familie als traditionelles System verweist auf stammesgesellschaftliche Sozialformen der
vollständigen individuellen Systemeinbindung. Überdies kommen in Familien systemische
Regeln und Sozialprozesse zum Wirken, die ebenfalls an tribale Gemeinschaften erinnern.
Wie Soziale Arbeit diese Ambivalenz von Tradition und Moderne beachtet und in ihre
Programme einbezieht, wird schließlich knapp skizziert.
Ambivalenz als Kennzeichen postmoderner Sozialer Arbeit
Unser Alltagsverstand, aber auch die moderne Philosophie und Sozialwissenschaft gehen in
der Regel davon aus, dass die gesellschaftliche Entwicklung als ein Prozess des Fortschreitens
und Weiterentwickelns gedacht werden kann. Sichtbar wird dies etwa in den klassischen
Vorstellungen einer dialektischen Evolution geistiger und sozialer Prozesse. Bekanntlich hat
Hegel die Geistesentwicklung als eine dialektische Stufenleiter gedacht, an deren Ende der
Weltgeist zu sich selber gekommen sein wird. Marx hat diese dialektische Idee, wie es so
schön heißt: vom Kopf auf die Füße gestellt und betrachtet die Sozialentwicklung bezüglich
der materiellen Arbeitsbedingungen als eine geschichtliche Treppe, die ausgehend von der
Urgesellschaft, über die Sklavenhaltergesellschaft, den Feudalismus und Kapitalismus
schließlich den Sozialismus und Kommunismus hervorbringen wird. Triebfeder dieser
Evolution sei der Prozess vom Kampf der Gegensätze, die als Thesis und Antithesis das Neue
als Synthesis generieren.
Diese dialektische Fortschrittsphilosophie des Geistes und des Sozialen wurde bereits von
Nietzsche kritisiert, der die Geschichte als einen Kreislauf der ewigen Wiederkehr des
Gleichen auffasste. In der klassischen kritischen Theorie der Frankfurter Schule, die sich auch
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von Nietzsche inspirieren ließ, wird das Fortschrittsdenken massiv angegriffen. In der
Dialektik der Aufklärung (Horkheimer/Adorno 1947) und später in der Negativen Dialektik
(Adorno 1966) wird gezeigt, wie die geschichtliche Entwicklung nicht in Form des
dreistufigen dialektischen Prozesses (Thesis, Antithesis, Synthesis) gedacht werden sollte,
sondern vielmehr als Ambivalenz – im Sinne einer dialektischen Bewegung ohne Synthese, als
Gleichzeitigkeit des Gegensätzlichen.
Auch die jüngere kritische Theorie, die etwa durch Axel Honneth (2002: 9) repräsentiert wird,
wendet ihren Blick inzwischen deutlich auf ambivalente soziale Prozesse: „Seit Jahren schon
scheint sich innerhalb der Soziologie die Tendenz abzuzeichnen, verstärkt auf Begriffe wie
Ambivalenz, Gegenläufigkeit oder eben Paradoxie zurückzugreifen, um die neuere
Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaften zu deuten; wo heute nicht jenen simplen
Fortschritts- oder Verfallsmodelle vorherrschen, setzt sich unterschwellig das Bewusstsein
durch, dass wir gegenwärtig nicht krisenhafte oder widersprüchliche Zuspitzungen, sondern
höchst paradoxale Wandlungsprozesse beobachten können“ (ebd.; paradigmatisch dazu siehe
etwa Junge 2000).
Die Theorie der postmodernen Sozialen Arbeit (siehe Kleve 1999/2007; 2007) knüpft
ebenfalls an das Ambivalenzkonzept an. Demnach kann Soziale Arbeit als eine Profession
verstanden werden, die von zahlreichen Ambivalenzen, Gegenläufigkeiten sowie Doppel- und
Mehrfachorientierungen gekennzeichnet ist. Der Abschied vom klassischen Streben des
Wegarbeitens dieser Ambivalenzen, die Akzeptanz und permanente praktische wie
wissenschaftliche Reflexion der Gegenläufigkeiten bezeichne ich in Anlehnung an Zygmund
Bauman (1991) als postmodern. Während eine moderne Gemüts- und Geisteshaltung die
Suche nach dem Eindeutigen fortführt und Ambivalenzen nach dem Entweder/Oder-Prinzip
zu beseitigen versucht, anerkennt die postmoderne Haltung die Mehrdeutigkeit durch eine
Sowohl-als-auch-Einstellung, die die unterschiedlichen Pole ambivalenter Situationen
gleichermaßen zu achten sucht (siehe ausführlicher Kleve 2009).
Im Folgenden wollen wir an diese postmoderne Blickrichtung anschließen und eine
maßgebliche Ambivalenz reflektieren, die bei näherem Hinsehen in der Sozialen Arbeit mit
Familien aufscheint. Die These ist, dass Familien heute einerseits mit drastischen
Wandlungsprozessen konfrontiert sind, die wir der rasanten Veränderungsdynamik der
modernen Gesellschaft zuschreiben können und dass sie andererseits zugleich traditionelle
Sozialprozesse fortführen, die auf die Urform menschlicher Vergesellschaftung, auf die
tribale Stammes- und Sippengemeinschaft verweisen.
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Moderne Gesellschaft als Verdrängung der Tradition
Freilich können wir hinsichtlich der Gesellschaft von Entwicklung sprechen. Und wir können
sogar unterschiedliche gesellschaftliche Typen unterscheiden, die sich im Laufe der
Menschheitsgeschichte heraus differenziert haben (siehe etwa Luhmann 1997: 595ff.).
Allerdings verläuft diese Entwicklung nicht eindeutig, sondern ambivalent und vielschichtig.
Bevor wir uns dieser Evolution zuwenden, soll diese Ambivalenz und Vielschichtigkeit kurz
ins Zentrum gerückt werden.
Wenn wir als Endstufe der bisherigen gesellschaftlichen Evolution die moderne Gesellschaft
annehmen, dann wirken in dieser Gesellschaft nach wie vor Dynamiken und Prinzipien, die
aus früheren Epochen stammen und sich nicht geradlinig einfügen in die Prinzipien der
Moderne. Karl Otto Hondrich (2006: 51) macht diese These stark, wenn er davon spricht, dass
wir heute in zwei sozio-moralischen Welten zugleich leben: in einer modernen und einer
traditionalen. „Die Spannung, ja Widersprüchlichkeit zwischen ihnen müssen wir aushalten,
sie ist der Preis für die Entwicklung der Kultur. Eine Art, die Spannung auszuhalten, ist das
Verdrängen, das Verdrängen der einen moralischen Welt durch die andere“ (ebd.). Die eine
sozio-moralische Welt verweist auf alte stammeskulturelle Prägungen des Menschen, die
andere entspringt der permanenten Veränderungsdynamik der Moderne. Wir neigen offenbar
dazu, in unseren Einstellungen, Denk- und Verhaltensweisen die traditionale zugunsten der
modernen Welt zu verdrängen. Das Verdrängte jedoch wirkt untergründig weiter, verstärkt
sich möglicherweise sogar und generiert unterschiedlichste Symptome. Wir kommen darauf
zurück.
Die traditionale Prägung jedenfalls scheint auf tribale, stammeskulturelle Ursprünge
zurückzugehen. Stammeskulturen können als wohlgeordnete Gemeinschaften verstanden
werden, in denen die Kommunikation insbesondere durch die Mündlichkeit der Sprache
geprägt war. Die Gesellschaft zeichnete sich dadurch aus, dass im Stamm jede/r jede/n
kannte. Das Eigene trennte sich klar ab vom Fremden. Menschen waren in all ihren
persönlichen Bezügen voll in die Gesellschaft integriert und hatten ihren festen Platz, ihre klar
bestimmte Position. Die sozialen Verhältnisse waren von Reziprozität, also von einer
Gegenseitigkeit gekennzeichnet, so dass etwa das Helfen ein Helfen unter potentiell Gleichen
war. Zudem erwarb derjenige, der einem anderen half, den Anspruch, von diesem anderen
ebenfalls etwas zu bekommen, etwa bei Bedarf ebenfalls Hilfe oder aber eine andere
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Dankesleistung (vgl. Luhmann 1973). Der Stamm wurde durch diese Gegenseitigkeit von
Geben und Nehmen, durch dieses Prinzip des Erwiderns (vgl. Hondrich 2006) zusammen
gehalten, so dass die sozialen Bindungen in Abgrenzung zu einer potentiell feindlichen
sozialen (andere Stämme) oder natürlichen Umwelt gesichert waren. Für die Sippe fielen
gewissermaßen Stammesgemeinschaft und Gesellschaft zusammen.
Die
nächsten
Etappen
der
gesellschaftlichen
Evolution
können
analog
zur
Stammesgesellschaft, die durch die Mündlichkeit der Sprache geprägt war, als Antworten auf
das Entstehen neuer sozialer Verbreitungsmedien aufgefasst werden (vgl. Baecker 2007). Die
feudale, pyramidenartig durch Schichten differenzierte und geprägte Gesellschaft könnte
demnach als Antwort auf das Entstehen der Schrift gedeutet werden. Die moderne
Gesellschaft nun, die wir intensiver betrachten werden und die als funktional differenziert gilt,
reagierte auf die Entstehung des Buchdrucks. Ob wir derzeit an der Schwelle zu einer
nächsten, tatsächlich einer postmodernen Gesellschaft stehen, in welcher der Buchdruck
durch die Dominanz des neuen Verbreitungsmediums Computer bzw. Internet überformt
wird, ist eine Frage, mit welcher sich Dirk Baecker (2007) derzeit beschäftigt. Wir wollen hier
jedoch bei der modernen Gesellschaft verweilen.
Die moderne Gesellschaft ist jene Sozialform, die bereits Karl Marx und Friedrich Engels
beschreiben und die für diese Denker durch eine eigendynamisch Loslösung der
ökonomischen Rationalität vom Rest des gesellschaftlichen Lebens, eben kapitalistisch
geprägt ist. Die kapitalistische Eigenlogik und Autonomie der Wirtschaft zeige sich immer
deutlicher und bestimme mehr und mehr alle anderen gesellschaftlichen Bereiche. Heute
nennen wir dieses Phänomen Ökonomisierung. Für Marx und Engels (1948: 49) offenbart
sich diese Ökonomisierung durch eine „fortwährende Umwälzung der Produktion, die
ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände“. Das führe dazu, dass
„[a]lle festen, eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen
Vorstellungen und Anschauungen […] aufgelöst [werden], alle neugebildeten veralten, ehe
sie verknöchern können. Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird
entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung ihre gegenseitigen
Beziehungen nüchtern anzusehen.“
Diese Dynamisierung des sozialen Lebens wirkt freilich auch auf die Familie, so dass Alice
Salomon (1928: 137) bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts konstatieren konnte, dass die
„Menschen […] von der Scholle losgelöst [sind]. Sie müssen der Arbeit dorthin nachwandern,
wo sie Gelegenheit und Unterhalt finden. Die Familie ist aufgerissen. Wie Flugsand, wie
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Blätter, die vom Winde verweht werden, treibt die Arbeit sie von Ort zu Ort.“ Seit geraumer
Zeit spricht Ulrich Beck (etwa 1993) als Vertreter der Theorie reflexiver Modernisierung
sogar davon, dass die erste Moderne, die kapitalistische Industriegesellschaft, und die damit
etablierten gesellschaftlichen Institutionen wie die Kleinfamilie, die Geschlechterverhältnisse
oder die Erwerbsarbeit einen erneuten Wandel und Erosionsprozess durchmachen, so dass
eine zweite Moderne entsteht, die durch eine noch weiter gesteigerte Flexibilisierung und
Verflüssigung gesellschaftlicher Prozesse sowie durch Risiken und Nebenfolgen allen
sozialen Handelns geprägt ist.
Wiederkehr der Tradition in der Familie
Wir wollen uns jetzt auf die soziologische Systemtheorie Niklas Luhmanns beziehen, die die
eigenartige Ambivalenz von Tradition und Moderne, die in der heutigen Familie aufscheint,
zumindest implizit veranschaulicht. Nach der soziologischen Systemtheorie (siehe etwa
Luhmann 1997) löst sich nicht nur die Wirtschaft als eigendynamisches System vom Rest der
Gesellschaft ab. Vielmehr erleben wir eine Eigendynamik unterschiedlicher gesellschaftlicher
Logiken: Neben der Wirtschaft entstehen zwar aufeinander angewiesene, aber klar getrennte
gesellschaftliche Funktionsbereiche wie Politik, Wissenschaft, Recht, Kunst, Sport,
Massenmedien, Erziehung, Gesundheitssystem etc. Daher wird die Gesellschaft aus dieser
Blickrichtung als funktional differenziert bezeichnet. Jeder dieser Bereiche bedient eine
andere gesellschaftliche Funktion und stellt den anderen Funktionsbereichen notwendige
Leistungen zur Verfügung.
Für Luhmann ändert sich mit der funktionalen Ausdifferenzierung auch die Partizipation der
Menschen an der Gesellschaft. Nicht mehr Integration in die Gesellschaft sei der maßgebliche
Teilhabemodus, sondern Inklusion in die Funktionssysteme. Um ihre physische, psychische
und soziale Existenz zu sichern, sind heutige Individuen darauf angewiesen, dass sie von den
Funktionssystemen für sozial relevant erachtet, dass sie inkludiert werden. Inklusion heißt
jedoch, dass nicht der ganze Mensch vom Wirtschaftssystem, der Politik, dem Rechtssystem
oder dem Gesundheitssystem einbezogen wird, sondern nur rollenhafte Ausschnitte der
Person, etwa Konsumenten (vom Wirtschaftssystem), Wähler (vom Politiksystem),
Staatsbürger (vom Rechtssystem) oder Patienten (vom Gesundheitssystem). Vielleicht
könnten wir zugespitzt sagen, dass sich der moderne Mensch von der Gesamtgesellschaft
emanzipiert. „Der Grund dafür: daß bei funktionaler Differenzierung die Einzelperson nicht
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mehr in einem und nur einem Subsystem der Gesellschaft angesiedelt sein kann, sondern
sozial ortlos vorausgesetzt werden muß“ (Luhmann 1982: 16).
Was aber heißt das für die Familie als gesellschaftliches System? Die Antwort, die die
Systemtheorie auf diese Frage gibt, ist interessant. Denn die Familie entziehe sich der
Inklusionslogik der modernen Gesellschaft. Während Inklusion ausschnitt- oder rollenhafte
Teilnahme an den funktionalen Subsystemen bedeutet, inkludieren Menschen familiär nach
wie vor als ganze Personen. Familie ist und bleibt auch in der Moderne eine Sozialform, die
an die beschriebene stammesgesellschaftliche Vergemeinschaftung erinnert. Luhmann (1990:
208) drückt genau dies aus, wenn er schreibt, dass die Familie ein soziales System ist, in „dem
das Gesamtverhalten, das als Person Bezugspunkt für Kommunikation werden kann,
behandelt, erlebt, sichtbar gemacht, überwacht, betreut, gestützt werden kann“. Da in der
Familie so etwas wie Vollinklusion, wir könnten vielleicht auch sagen: klassische Integration
(vgl. Kleve 2004) vollführt wird, kommt Luhmann zum Schluss, dass dieses Sozialsystem
„das Modell einer Gesellschaft [bildet], die nicht mehr existiert“ (ebd.). Familie entspricht
einer traditionalen, konkreter: tribalen Vergemeinschaftung, allerdings im einbettenden
Kontext der Moderne, „also unter den Bedingungen einer anders strukturierten
gesellschaftlichen Umwelt“ (ebd.).
Damit wird zugleich das Spezifische, mithin die besondere Funktion der modernen Familie
benannt: Sie bietet etwas, das sonst nirgends in der Gesellschaft zu haben ist: „die Inklusion
der Vollperson“ (ebd.). „Die Familie lebt von der Erwartung, daß man hier für alles, was
einen angeht, ein Recht auf Gehör, aber auch eine Pflicht hat, Rede und Antwort zu stehen.
Man kann erzählen, man darf auch fragen. Für das, was mit der Einzelperson zusammenhängt,
gibt es keine anerkannten thematischen Beschränkungen“ (ebd.). Bruno Hildenbrand (2005:
84) macht ebenfalls darauf aufmerksam, wenn er hinsichtlich der Familie den „Unterschied zu
rollenförmigen Sozialbeziehungen“ betont und formuliert, das „im Falle von Paar- und
Familienbeziehungen
der
Ausschluss
und
nicht
der
Einschluss
von
Themen
begründungspflichtig ist“ – dazu sein schönes Beispiel: „So kann man als Postkunde
problemlos den Wunsch des Briefträgers nach einem Gespräch über seine Ehekonflikte
zurückweisen. Verweigert aber ein Ehemann grundsätzlich das Gespräch mit seiner Frau über
ihre Schwierigkeiten am Arbeitsplatz, dann stellt er die Paarbeziehung insgesamt infrage“
(ebd.).
Die moderne Familie ist demnach ein besonderes System in der funktional differenzierten
Gesellschaft, weil in ihr die vormoderne Sozialform des Stammes weiterlebt: Wir sind als
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ganze Personen inkludiert bzw. integriert, stehen in einem reziproken Bindungsverhältnis
zueinander, das einer „affektiven Solidarität“ (ebd.) gleicht, da eine generalisierte emotionale
Beziehung hinsichtlich der Partnerebene (diese kann jedoch getrennt werden) und hinsichtlich
der Eltern- und der Eltern/Kind-Ebene (diese lässt sich nicht auflösen) auf Dauer gestellt
wird.
Während die Moderne mit einer permanenten Veränderungsdynamik der Gesellschaft
einhergeht, sich in allen gesellschaftlichen Teilsystemen stetige Wandlungsprozesse
vollziehen, mithin Dauerkrisen normal sind, so verweist das Traditionelle auf Kontinuität und
Beständigkeit. Hinsichtlich der Familie könnten wir an dieser Stelle bereits zu der sicherlich
empirisch plausiblen Erkenntnis kommen, dass das Leben in Partnerschaften, dass die
Erziehung von Kindern, dass das Pflegen von Angehörigen, dass also die familiäre
Lebensführung, die emotionale Dauer und Intensität intendiert, tatsächlich auf kontinuierliche
und beständige Gemeinsamkeit ausgerichtet ist. Was Lebenspartner sowie Eltern mit ihren
Kindern ohne Frage benötigen ist gemeinsame Zeit, soziale Verlässlichkeit und räumliche
Verbundenheit – obwohl die gesellschaftliche Umwelt, d.h. insbesondere die Eigendynamiken
der gesellschaftlichen Teilsysteme das Gegenteil davon erwarten: zeitliche, soziale und
räumliche Flexibilität, eben den flexiblen Menschen (siehe Sennett 1998).
Dementsprechend arbeitet auch Norbert Bolz (2006) in seinem engagierten Essay Die Helden
der Familie heraus, dass es von der Gesellschaft, besser: von ihren funktionalen Subsystemen
nicht honoriert wird, starke familiäre Emotionen zu empfinden. „Eher lässt sich umgekehrt
sagen, daß Gefühlsschwäche in der modernen Welt adaptiv ist. Je emotionaler man nämlich
an eine Sache herangeht, um so geringer wird die eigene Mobilität und Flexibilität“ (ebd.: 53).
Und daher kommt Bolz zu seinem pointierten und knappen Fazit: „Familiengefühle sind
unmodern“ (ebd). Somit bewertet er diejenigen als heroisch, die versuchen, den familiären
Gefühlen, Ansprüchen und Bedürfnissen zu erziehender Kinder und zu pflegender
Angehöriger trotz gegenläufiger gesellschaftlicher Erwartungen immer wieder erneut gerecht
zu werden: „Eltern sind die modernen Helden“ (ebd.: 54).
Gerade weil die gesellschaftliche Umwelt strukturell familienfeindlich ist und die Familie das
einzige System ist, das Menschen voll inkludiert, in klassischer Weise integriert, steigen
freilich die Erwartungen und Ansprüche an das familiale Miteinander (vgl. auch Luhmann
1990: 208). Dadurch wird die Familie im Prozess ihres Abgrenzens von der feindlichen
gesellschaftlichen Umwelt sowohl gefestigt als auch vor permanente Zerreißproben gestellt.
Ein
Blick
auf
die
Scheidungsraten
und
gleichermaßen
auf
die
Zahlen
von
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Familienneugründungen
kann dies offenbaren. Aber auch die Pluralisierung der
Familienformen verweist auf dieses Phänomen, so dass wir vielleicht nicht nur vom flexiblen
Menschen, sondern ebenfalls von der flexiblen Familie sprechen können (siehe etwa Schuldt
2004).
Die Familie flexibilisiert sich zwar, etwa in Form von „Patchworkfamilien“, aber sie bleibt
dennoch Familie. Die Familie, in welcher Form auch immer, ist auch heute „der Ort, an dem
man geboren wird, aufwächst und stirbt“ (Baecker 2007: 191). Auch wenn wir in üblicher
Manier moderner Menschen glauben, dass wir alles, eben auch das Familiäre, qua
Verhandlung und Entscheidung beliebig umgestalten können, um das Traditionelle
abzustreifen und selbstbewusst zu planen, wie wir leben wollen, so schleicht sich hinterrücks
wohl das wieder ein, was wir zu verdrängen trachten: die Tradition. „Es gehört […] zu den
Paradoxien der Verdrängung, daß sie uns desto mehr an das Verdrängte bindet, je weniger wir
von dieser Bindung wissen wollen“ (Hondrich 2004: 51f.). Und damit ist es vielleicht gar so,
dass gerade in einer hoch flexiblen modernen Gesellschaft, die alles Heilige und Ständische
verdampfen lässt, wie wir mit Marx und Engels gesagt haben, das Traditionelle wieder stärker
hervor zu scheinen beginnt – als ambivalente Gegenbewegung.
So sieht schon diejenige, die wir bereits als Zeugin für das Aufbrechen des familiären
Zusammenhalts in der Moderne zitiert haben, nämlich Alice Salomon (1928), dass trotz aller
Erosion des Familiären der Mensch „eingeordnet [ist] in die natürliche Gemeinschaft der
Familie; in die Zusammenhänge der Blutsgemeinschaft“ (ebd.: 140). Salomon spricht noch
pathetischer, wenn sie eine „heilige[…] Unteilbarkeit der Familie“ (ebd.) annimmt. Sie
fordert, „daß alle Wohlfahrtspflege die Familie als Einheit erfaßt, selbst wenn nur ein Glied
der Familie in irgendeiner Form Hilfe braucht“ (ebd.). Wie die systemische Familienberatung
lehrt, weiß auch Salomon, dass „[a]lle Bemühungen der Wohlfahrtspflege um einen Einzelnen
[…] stets seine gesamte Familie [beeinflussen], wie andererseits alle Glieder der Familie,
selbst wenn sie mit der Wohlfahrtspflege nie in Berührung kommen, die Tätigkeit fördern
oder hindern, die einem ihrer Glieder zugewandt wird“ (ebd.).
Diese Erkenntnis ist in der Sozialen Arbeit inzwischen Allgemeingut, obwohl häufig nicht
danach gehandelt wird. Bedingt ist die systemische Vernetzung von Familienmitgliedern
durch die tribale Struktur der Familie, durch die festen Kopplungen, die durch enge, d.h.
zeitlich ausgedehnte, räumlich fixierte und emotional aufgeladene Systeminklusionen
entstehen. Eigentlich dürfte es daher nicht überraschen, dass in derartigen Sozialsystemen
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auch systemische Regeln weiterbestehen und sich immer wieder erneut manifestieren, die
menschheitsgeschichtlich offenbar schon sehr alt sind.
Systemische Regeln und Sozialprozesse in Familien
Besonders die Empirie von Familienaufstellungen, die systematische Auswertung der
Ergebnisse von Aufstellungsprozessen hat gezeigt, dass wir in Sozialsystemen, die zeitlich,
räumlich und emotional eng gekoppelt, mithin hoch integriert sind, regelmäßig systemische
Wirkprinzipien beobachten können, deren Beachtung bei Problemen lösend wirken kann (vgl.
grundlegend dazu Weber 1997; König 2004 oder weiterführend Weber et al. 2005; für die
Soziale Arbeit siehe Kleve 2010; 2011).
Hinsichtlich dieser Wirkprinzipien und systemischen Regeln wollen wir uns an Matthias
Varga von Kibéd und Insa Sparrer (2005) halten, denen wir eine konstruktivistische
Interpretation dieser Prozesse verdanken. Demnach sind die systemischen Regeln, die in
Familien wirken und von denen ich die erste und bedeutendste Regel knapp erläutere, nicht
präskriptiv und nur bedingt deskriptiv, sondern eher kurativ zu verstehen. Was wir angesichts
der Erfahrungen mit systemischen Aufstellungen lediglich sagen können, ist, dass diese
Prinzipien bei der Lösung von Problemen sehr hilfreich sein können, dass sie familiäre
Prozesse neu und zumeist konstruktiv und zukunftsorientiert zu strukturieren und zu ordnen
vermögen – nicht mehr und nicht weniger. Daher bitte ich die Leser, dieses kurative
Verständnis mitlaufen zu lassen, auch wenn die nachfolgenden Ausführungen wohl eher
deskriptiv und explikativ, also beschreibend und erklärend daher kommen.
Die wesentliche und zentrale Regel, die wir in Anlehnung an Karl Otto Hondrich (2004;
2006) auch als einen elementaren Sozialprozess in Familien bezeichnen könnten, lässt sich
mit Vollständigkeit der Systemzugehörigkeit benennen. Zudem wird damit auf ein Phänomen
verwiesen, das wir aus der Individualpsychologie, insbesondere aus der Psychoanalyse bereits
kennen, nämlich auf die Dynamik der Verdrängung. Wie Josef Breuer und Sigmund Freud
(1895) eindrucksvoll anhand von unterschiedlichen Fallgeschichten erzählen, können
Gefühle, die mit Erlebnissen einhergehen, zwar aus dem Bewusstsein verdrängt werden, aber
damit wird ihre Wirkung nicht negiert – im Gegenteil: Das Verdrängte wirkt untergründig
weiter und erscheint als leidvolles Symptom wieder an der Oberfläche. Die Psychoanalyse
empfiehlt als Heilungsweg das Aufdecken des Verdrängten. Denn die überraschende
9
Erkenntnis der Pioniere der Psychotherapie war, dass die Symptome regelmäßig
verschwinden, wenn die verdrängten Gefühle ins Bewusstsein treten können.
Interessant
erscheint,
dass
durch
die
Aufstellungsarbeit
hinsichtlich
der
Verdrängungsdynamik eine Isomorphie, eine Strukturähnlichkeit von sozialen und
psychischen Systemen entdeckt wurde, die von Bert Hellinger mit einem so genannten
tribalen „Sippengewissen“ (Weber 1997: 150) erklärt wird. Dieses Gewissen zeigt sich, indem
es bei Verdrängungen von Familienmitgliedern eine systemische Symptombildung auslöst,
um die aus dem familiären Gedächtnis Ausgeschlossenen zumindest symbolhaft ins System
zurückzuholen. Ein solches Sippengewissen hatte für einen Stamm offenbar eine evolutionär
wichtige Funktion. Denn für das Überleben der Stammesgruppe waren deren Vollständigkeit
und damit die vollständige Einbeziehung aller Erfahrungen äußerst zentral, so dass jedes
Mitglied das gleiche Zugehörigkeitsrecht hatte (vgl. Nelles 2006). So wie im Stamm so wirkt
diese Dynamik noch heute in modernen Familien – zumindest können wir dies aus der Arbeit
mit Familienaufstellungen schließen.
Lebende oder bereits verstorbene Familienmitglieder, die aus welchen Gründen auch immer
aus der familiären Geschichte ausgeklammert, verdrängt werden, wirken somit untergründig
weiter. Dadurch können sich in nachfolgenden familiären Generationen Probleme
wiederholen. Um die diesbezüglichen Symptome zu lösen, die Probleme zu beheben,
empfiehlt die Aufstellungsarbeit – analog der Psychoanalyse – das Einblenden des
Ausgeblendeten. Das nachträgliche Hineinnehmen der Ausgeschlossenen durch erinnerndes
Achten und Anerkennen ihres Familienplatzes im Rahmen eines Aufstellungsprozesses kann,
so zeigt sich häufig, aktuelle familiäre Symptome auflösen bzw. die Symptomträger von ihren
Schwierigkeiten befreien.
Das so genannte Sippengewissen bindet die Familienmitglieder über Generationen hinweg
aneinander. Diese „unsichtbaren Bindungen“, von denen bereits die Familientherapeuten Ivan
Boszormenyi-Nagy uns Geraldine Spark (1973) sprechen, werden durch Aufstellungen
deutlich zu Tage gefördert, so dass sichtbar werden kann, dass dieses „Gewissen uns so
folgenschwer an eine Gruppe [bindet], daß wir, was andere in ihr erlitten und verschuldet
haben, als Anspruch und Verpflichtung spüren, und so werden wir, in fremde Schuld und
fremde Unschuld, in fremdes Denken, Sorgen, Fühlen, in fremden Streit und fremde Folgen,
in fremde Ziele und fremdes Ende blind verstrickt“ (Hellinger in Weber 1997: 150; sehr
aufschlussreich und mit vielen Fallbeispielen siehe dazu auch Ancelin Schützenberger 1993).
Auch hier kann die Familienaufstellung lösend wirken, wenn es zu symbolischen Ausgleichs10
oder Rückgabeprozessen von Schuld kommt (siehe ausführlich – aus systemischkonstruktivistischer Perspektive – dazu vor allem Sparrer 2004).
Postmoderne Soziale Arbeit mit Familien – ein Blick in die Praxis
Postmoderne Soziale mit Familien wird in diesem Beitrag als eine sozialprofessionelle Praxis
verstanden, die der Ambivalenz Rechnung trägt, dass in Familien zwei gegensätzliche
Bewegungen wirken: einerseits – gemäß der gesellschaftlichen Modernisierungsprozesse –
die Verflüssigung, Dynamisierung und Flexibilisierung von klassischen familiären Werten,
Normen, Strukturen, Geschlechterverhältnissen, Erziehungs- und Pflegepraktiken und
anderseits – entsprechend der tribalen Herkunft der Familie – die traditionelle Vollinklusion
(Integration) der Familienmitglieder mit all ihren sozialen und emotionalen Folgen sowie die
systemischen Sozialprozesse und Regeln, die in Familienaufstellungen regelmäßig
aufscheinen. Daher kann der Familiensozialarbeit empfohlen werden, dass sie zugleich
modern und traditionell agieren sollte.
Modern müsste die Soziale Arbeit in dem Sinne sein, dass sie die Erfahrung ernst nimmt, dass
sich heutzutage nichts mehr von selbst versteht, sondern dass sich kognitive und soziale
Strukturen verflüssigen und flexibilisieren. Daher müssen in Hilfeplanungen und -prozessen
die Pluralität und Relativität von Problemsichtweisen und Zielvorstellungen radikal beachtet
werden. Deshalb gilt es, Kommunikation über das zu stiften, worum es überhaupt gehen und
was aus Sicht der Familie und ihrer Mitglieder als Ziel erreicht werden sollte. In die
traditionelle Richtung weist die Familiensozialarbeit, wenn sie real oder virtuell alle
Familienmitglieder einzubeziehen versucht, speziell auch jene, welche aus der familiären
Interaktion verdrängt wurden oder werden.
Diese intendierte Vollständigkeit des familiären Einbezugs bedeutet nicht, dass alle
Familienmitglieder auch real in die sozialarbeiterischen Prozesse inkludiert werden müssen.
Es heißt jedoch, dass Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter in ihrer Haltung der Familie
gegenüber die Vollständigkeit beachten und ihnen bewusst ist, dass die zirkulären
Verkoppelungen von Familienmitgliedern besonders stark sind. Daher hängen beobachtete
Symptome nicht selten mit ausgeblendeten familiären Themen zusammen oder verweisen auf
verdrängte
Familienmitglieder.
Und
Effekte
sowie
nicht
gewollte
Nebenfolgen
sozialarbeiterischer Interaktionen zeigen sich möglicherweise auch dort, wo sie nicht vermutet
werden – an bisher nicht thematisierten Orten, Personen oder Aspekten der Familie. Denn
11
„[d]as Tun des Einen ist das Tun des Anderen“, wie Helm Stierlin (1971) mit einem Buchtitel
pointiert.
In der Praxis können wir sicherlich zahlreiche sozialarbeiterische Programme finden, die –
wahrscheinlich zumeist implizit, ohne dies offen zu reflektieren – diese Ambivalenz von
Moderne und Tradition zur Geltung bringen. Ich will abschließend zwei Ansätze kurz
skizzieren, die aus meiner Sicht dem ambivalenzorientierten Anspruch postmoderner Sozialer
Arbeit mit Familien besonders entsprechen: das Triangel-Konzept und den Familienrat.
Das Triangel-Konzept, das mit unterschiedlichen Modellprojekten in Deutschland und der
Schweiz startete, stellt eine familientherapeutisch orientierte stationäre oder teilstationäre
Soziale Arbeit mit der ganzen Familie her und wurde vom Familientherapeuten Michael
Biene entwickelt (siehe ausführlich dazu Kleve 2003: 131ff.; 2007: 131ff.). In der Regel
werden bei gravierenden Erziehungsproblemen in Familien, die von den Sozialprofessionellen
oder von Familiengerichten als Kindeswohlgefährdungen bewertet werden, Kinder aus dem
familiären Haushalt herausgenommen und fremd untergebracht. Die Arbeit konzentriert sich
dann, trotz praktizierter Elternarbeit, auf die Kinder – mit der Folge, dass sich die familiäre
Interaktion
nur
selten
gravierend
verändert
und
sich
die
Eltern
aus
der
Erziehungsverantwortung verabschieden.
Bei Triangel werden demgegenüber nicht die Kinder aus dem familiären Haushalt
herausgenommen, sondern die gesamte Familie wird in einen sozialarbeiterischen Prozess
einbezogen. Im stationären oder teilstationären Setting wird mit den Eltern und den Kindern
gearbeitet. Dabei bleibt die Erziehungsverantwortung bei den Eltern. Im Mittelpunkt der
professionellen Arbeit steht zudem die Interaktion zwischen Eltern und Kindern sowie
zwischen allen anderen relevanten Familienmitgliedern und öffentlichen Institutionen, etwa
dem Jugendamt (siehe ausführlicher dazu etwa http://www.sitinstitut.ch und auch
http://www.jakus.org/angebote/familienprojekt-triangel.html).
Der Familienrat, der ursprünglich aus Neuseeland kommt, dort in den 1980er Jahren von der
tribalen Kultur der Maori initiiert wurde, setzt sich als alternatives Verfahren der
Hilfeplanung inzwischen auch in unseren Breitengraden mehr und mehr durch (siehe datzu
Früchtel et al. 2007: 34ff.). Er ist geradezu eine idealtypische Verbindung aus moderner
Sozialarbeit und traditioneller Orientierung.
Modern ist der Familienrat, weil er auf eine diskursive Aushandlungskultur setzt und die
radikale Selbstbestimmung der Familie intendiert. Es geht nämlich darum, dass die
Familienmitglieder sowie weitere lebensweltliche Bezugspersonen gemeinsam besprechen,
12
wie die Probleme der Familie bzw. einzelner Personen gelöst werden könnten. Genau dazu
wird ein selbstbestimmter Plan erstellt, der in einem Kontext gesucht wird, den die
Professionellen zwar organisieren und flankieren, den sie aber nicht durch ihre Anwesenheit
stören. Denn die entscheidende Phase eines Familienrates, die exklusive Familienzeit, findet
ohne die Professionellen statt. Der Plan wird freilich – insbesondere in Fällen, in denen es um
Kinderschutz geht – von den Professionellen bewertet und, wenn er denn akzeptiert wird,
unterstützt. Die Professionellen selber dürfen jedoch keine alternativen Lösungsvorschläge
entwickeln; sie haben lediglich ein Vetorecht, wenn sie der Ansicht sind, dass durch den Plan
die Problemlösung, etwa die Beseitigung der Kindeswohlgefährdung nicht gelingen kann.
Auf Tradition setzt der Familienrat, weil er die Familie an die erste und zentrale Stelle rückt
hinsichtlich der Suche und der Umsetzung von Problemlösungsprozessen. Die Professionellen
eröffnen damit den familiären und lebensweltlichen Selbstorganisationsprozessen einen Weg.
Sie gründen ihre Arbeit auf die sozialstrukturelle Leistung, die in der modernen Gesellschaft
nur die Familie zu realisieren vermag, die die Soziale Arbeit zwar ebenfalls kompensatorisch
zu erreichen trachtet, aber nie gänzlich praktizieren kann: die ganzheitliche Einbindung von
Menschen, die Vollinklusion bzw. Integration potentiell aller Persönlichkeitsanteile und aller
Personen der Familie. Im Sinne der benannten systemischen Regel von der Vollständigkeit
des Einbezugs aller dazugehörigen Aspekte der Familie wird der Familienrat professionell so
geplant und mit der Familie vororganisiert, dass insbesondere bisher vielleicht eher zu wenig
beachtete Familienmitglieder oder lebensweltliche Bezugspersonen in den Rat einbezogen
werden. Denn gerade von diesen bisher eher ausgeblendeten oder gar verdrängten Personen
könnten maßgebliche Ressourcen zur Problemlösung ausgehen.
Zusammenfassend formuliert, postmoderne Familiensozialarbeit kann als eine Praxis
verstanden werden, die die Doppelgesichtigkeit des familiären Lebens beachtet. Gemäß
moderner Dynamiken der Auflösung von fest gefügten Strukturen, Mustern, Normen, Werten
und Standards setzt sie auf eine kommunikative Aushandlungskultur, insbesondere bei der
Erhebung von Problemsichtweisen und der Bestimmung von Zielen. Bei der Lösungssuche
jedoch verbündet sie sich mit der prägenden, alle Familienmitglieder und deren
Persönlichkeitsanteile integrierenden Kraft der Familie. Diese versucht systemische
Familiensozialarbeit
konstruktiv,
problemlösend
und
für
die
Familienmitglieder
gewinnbringend zu stützen und anzuregen.
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Autor: Heiko Kleve, Prof. Dr., Studium der Sozialen Arbeit (Sozialarbeit/Sozialpädagogik)
und der Sozialwissenschaften, Promotion in Soziologie. Zusatzqualifikationen als
Systemischer Berater (DGSF), Supervisor (DGSv)/Systemischer Supervisor (SG), KonfliktMediator (FH) und Case Management-Ausbilder (DGCC). Professor für soziologische und
sozialpsychologische Grundlagen sowie Fachwissenschaft Sozialer Arbeit an der
Fachhochschule Potsdam. Forschungs- und Publikationsschwerpunkte: systemischkonstruktivistische und postmoderne Theorie und Methodik Sozialer Arbeit. Kontakt:
[email protected]; http://sozialwesen.fh-potsdam.de/heikokleve.html
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