Konzepte, Methoden und Ergebnisse - NAV-Virchow-Bund

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Junge Ärzte
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der niedergelassene arzt 5/2011
Empirische Medizinethik
Konzepte, Methoden und Ergebnisse
Die Medizinethik als interdisziplinäres
Arbeitsgebiet setzt sich mit ethischen
Fragestellungen in der medizinischen
Praxis, Forschung und Ausbildung
­beziehungsweise Weiterbildung auseinander.
ine kompetente ethische Beurteilung
komplexer Sachverhalte und neuer Entwicklungen in der Medizin erfordert neben
Methoden der philosophischen Analyse
­eine valide empirische Datengrundlage.
Denn ohne das notwendige empirische
Fachwissen kann keine ethische Beurteilung des untersuchten Teilbereichs der
Medizin erfolgen. Dabei geht es nicht um
die Ersetzung der normativen Ebene durch
eine deskriptive („naturalistischer“ oder
Sein-Sollen-Fehlschluss). Empirie kann
Normativität nicht ersetzen, aber normatives Argumentieren ist in vielen Problemfeldern der Medizinethik auf detaillierte
und methodisch hochwertige empirische
Daten angewiesen.
Moralisch ­relevante Fakten
Aufgabe der empirischen Medizinethik
ist die Erforschung der jeweils moralisch
relevanten Fakten. Die insbesondere
von Vertretern der Sozialwissenschaften
­erhobenen Daten zur Handlungspraxis in
der Medizin reichen für die Bearbeitung
medizinethischer Fragestellung häufig
­
nicht aus.
Dies liegt zum einen daran, dass ­ethische
Fragestellungen meist nicht im Fokus des
Forschungsinteresses der empirisch forschenden Fachdisziplinen stehen.
Zum anderen findet die für die Konzeption und Durchführung empirischer
Forschung zu medizinethischen Fragestellungen notwendige gleichberechtigte, inter­
disziplinäre Kooperation zwischen Vertretern aus normativen und empirischen
Disziplinen nur selten statt.
Der Band „Empirische Medizinethik.
Konzepte, Methoden und Ergebnisse“
© tom / Fotolia
E
(Hrsg. Jochen Vollmann, Jan Schildmann)
versammelt nun erstmals im deutschen
Sprachraum konzeptionelle und methodische Überlegungen zur Verbindung
philosophisch-ethischer und empirischer
Methoden in der Medizinethik mit Forschungsergebnissen empirischer Untersuchungen.
Konzepte und Methoden
In den vergangen Jahren hat der Anteil der
empirischen Studien in medizinethischen
Zeitschriften international zugenommen.
Diese Entwicklung hat verschiedene Gründe:
1. Empirische Studien behandeln überwiegend ethisch relevante Fragestellungen,
die für Patienten, Angehörige und die
­Gesundheitsberufe von hoher praktischer
Relevanz sind. Sie folgen damit einem professionellen wie auch gesamtgesellschaftlichen Wissensbedarf.
2. Es liegt zu zahlreichen medizin­
ethischen Themen, wie zum Beispiel
Arzt-Patient-Beziehung, Aufklärung und
Einwilligung, Fortpflanzungsmedizin, Pati-
entenverfügungen und Sterbehilfe zwar ein
breites ethisch-theoretisches Schriftgut vor.
Wir wissen aber bei diesen praxisrelevanten
Themen wenig über die Werthaltungen und
die Handlungspraxis von Ärzten, Patienten
und anderen Betroffenen.
3. Wichtige ethische Argumentationsstrategien, wie zum Beispiel das Argument
der schiefen Ebene („slippery-slope“) beruhen auf deskriptiven Annahmen, die häufig
empirisch nicht belegt sind.
4. Neue Instrumente der Klinischen
Ethik, wie zum Beispiel klinische Ethik­
beratung, müssen in ihrer Wirksamkeit in
der Praxis geprüft und evaluiert w
­ erden.
Hierzu liegen bisher nur wenige Forschungsergebnisse vor.
5. Die Etablierung des neuen Faches
­Medizinethik, die interdisziplinäre Besetzung der Institute zum Beispiel mit Ärzten,
Philosophen, Psychologen und Sozialwissenschaftlern sowie die wissenschaftliche
Doppelqualifikation vieler Medizinethiker
ermöglichen nunmehr die Durchführung
von empirischer Forschung innerhalb der
Medizinethik. Die einleitenden Grundlagenkapitel des Sammelbandes geben einen
Junge Ärzte
der niedergelassene arzt 5/2011
Überblick über Begriffe und Konzepte der
empirischen Medizinethik und führen in
empirische Forschungsmethoden ein.
Ein Werkstattbericht informiert praxisnah über die Methode der systematischen Literaturrecherche in internationalen Fachdatenbanken. Schließlich
wird am klinischen Beispiel der Handlungspraxis am Lebensende die „Mixedmethod-Forschungsmethode“ vorgestellt
und kritisch reflektiert. In den folgenden
Kapiteln wird über Ergebnisse von empirischen Studien zu den Themenfeldern
Patientenselbstbestimmung, Fortpflanzungsmedizin, Patientenverfügungen und
klinische Ethikberatung berichtet. Diese
empirischen Forschungsergebnisse wurden mehrheitlich bereits als Originalarbeit
in verschiedenen, zum Teil englischsprachigen Fachzeitschriften der Medizinethik,
Medizinischen Psychologie, Psychiatrie,
Neurologie, Fortpflanzungsmedizin und
Palliativmedizin publiziert.
Mit dem nun veröffentlichten Sammelband werden die verstreut veröffentlichten
Artikel dem Leser gesammelt und deutschsprachig zur Verfügung gestellt.
Beispiel: Fortpflanzungsmedizin
Die Fortpflanzungsmedizin ist nicht z­ uletzt
im Kontext der aktuellen Diskussion um die
Präimplantationsdiagnostik (PID) Gegenstand kontroverser wissenschaftlicher und
gesellschaftlicher Diskussionen.
Empirische Untersuchungen zu ethisch
relevanten Fragestellungen im Kontext der
modernen Fortpflanzungsmedizin und
insbesondere der Anwendung der In-vitroFertilisation (IVF) bilden einen Schwerpunkt des Sammelbandes.
Die Unter­suchungen belegen, dass die
befürchteten negativen Auswirkungen
auf die durch künstliche Befruchtung
­gezeugten Kinder empirisch nicht bestätigt
werden können. Vielmehr zeigte unsere
weltweit erste ­medizinethische Befragung
von jungen E
­ rwachsenen, die durch IVF
gezeugt wurden, dass sie die künstliche
Befruchtung nicht nur unproblematisch in
ihr Leben und ihr Selbstbild integrierten,
sondern diese als Zeichen des starken und
liebevollen Kinderwunsches ihrer Eltern
positiv interpretierten. Eine weitere Untersuchung zum Themengebiet der IVF
untersuchte erstmals aus der Perspektive
von betroffenen Paaren, Experten und der
Allgemeinbevölkerung die Frage, wer für
die Kosten der Fortpflanzungsmedizin aufkommen soll.
Beispiel: Patientenverfügung
Ethische und medizinische Aspekte der
Entscheidungsfindung am Lebens­ende und
insbesondere der Stellenwert von Patienten­
verfügungen stehen nicht zuletzt vor dem
Hintergrund der gesetzlichen Ä
­ nderungen
im Betreuungsrecht im Mittel­punkt des aktuellen wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Interesses. Wichtige Erkenntnisse erbrachte hier die Befragung von Patienten,
die an einer Amyotrophen Lateralsklerose
(ALS) litten.
Im Gegensatz zur medizin­
ethischen
Konzeption von gemeinsamer Behandlungsplanung zwischen Arzt und Patient
sowie von Patientenverfügungen gaben
die befragten Patienten an, dass sie ihren
­behandelnden Neurologen gerade nicht für
den geeigneten Gesprächspartner für diese
Fragen hielten. Aus der Sicht der Patienten
seien die Ärzte durch den Hippokratischen
Eid zur Lebenserhaltung verpflichtet und
dürften daher keine lebensverlängernden
Maßnahmen unterlassen. Dieses ist s­ owohl
ethisch wie rechtlich eine Fehleinschätzung, wie in Deutschland das sogenannte Patientenverfügungsgesetz und die
Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes
verdeutlichen. Weiterhin berichten die
an ALS erkrankten Patienten, wie sie mit
ihren Ärzten die Unterlassung lebensverlängernder medizinischer Maßnahmen in
konkreten Situationen regelrecht aushandeln und dabei Kompromisse entgegen
ihrer eigenen Wertvorstellungen eingehen
müssten. Diese empirischen Forschungs­
ergebnisse sind für die erfolgreiche Umsetzung von neuen rechtlichen Regelungen,
hier am Beispiel von Patientenverfügungen,
von entscheidender Bedeutung.
Klinische Ethikberatung
Klinische Ethikberatung und klinische
Ethikkomitees als medizinethische Interventionen in der klinischen Praxis wurden
in den letzten Jahren in vielen Krankenhäusern und anderen Einrichtungen des
­Gesundheitswesens implementiert.
Die in dem Sammelband abgedruckte
repräsentative Befragung von Ärztlichen
Direktoren und Pflegedirektoren aller
Titelaufnahme
Jochen Vollmann, Jan Schildmann (Hrsg.): Empirische
Medizinethik. Konzepte,
­Methoden und Ergebnisse.
­(Ethik in der Praxis-Studien,
Band 34), LIT Verlag,
ISBN 978-3-643-10763-3,
29,90 Euro.
deutschen Universitätskliniken belegt relevante unterschiedliche
Werthaltungen zu Klinischen Ethikkomitees und klinischer Ethikberatung zwischen
den beiden Berufs­gruppen. Die Untersuchung informiert weiterhin über fehlende
Fachkenntnisse, Missverständnisse und
inhaltliche Widersprüche, die die zeitlich
verzögerte Implementierung von Ethik­
beratungsstrukturen in deutschen Universitätskliniken erklären können.
Zielgruppe
Der Sammelband umfasst, wie vorstehend
skizziert, ein breites Spektrum an konzeptionellen, methodischen und auch klinischethischen Fragestellungen. Das Buch richtet sich somit zum einen an Wissenschafter
unterschiedlicher Disziplinen, die in der
Medizinethik arbeiten und normative und
empirische Methoden verbinden. Zum anderen bieten insbesondere die empirischen
Forschungsergebnisse aus verschiedenen
medizinischen Fachrichtungen Anstöße
für die klinisch-ethische Reflexion von
Ärztinnen und Ärzten, klinischen Psychologinnen und Psychologen, Pflegenden
sowie weiteren Gesundheitsprofessionen,
die täglich mit moralischen Herausforderungen im Arbeitskontext konfrontiert
werden.
Über die Herausgeber
Prof. Dr. med. Dr. phil. Jochen Vollmann
ist Leiter des Instituts für Medizinische
Ethik und Geschichte der Medizin der
Ruhr-Universität Bochum.
Dr. med. Jan Schildmann, M.A., ist
­wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut
für Medizinische Ethik und Geschichte der
Medizin der Ruhr-Universität Bochum und
leitet dort die NRW-Nachwuchsforschergruppe „Medizinethik am Lebensende:
Norm und Empirie“.
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