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Jüdische Allgemeine
wochenzeitung für politik, kultur, religion und jüdisches leben
kunst
Seite 9
Charlotte Salomon:
Leben? Oder Theater?
Eine Ausstellung im
Jüdischen Museum Berlin
BERLIN,
BERLIN, DEN
DEN 1.23.NOVEMBER
AUGUST 2007
2003 26. SIWAN
9. ELUL
5764
5767
! einspruch !
Sylke Tempel wünscht sich
eine niveauvolle Debatte
über Auslandseinsätze
Eine der in Afghanistan verschleppten Geiseln wurde von der Kabuler Polizei befreit.
Eine weitere befindet sich immer noch in
der Hand der Entführer. Drei Soldaten wurden bei einem Anschlag getötet, darunter
ein früherer Leibwächter von Angela Merkel. Bei dessen Trauerfeier in Berlin betonte
die Kanzlerin, dass sich die Bundesrepublik
weiter in Afghanistan engagieren werde.
Aber in der Öffentlichkeit wird bereits wieder der Rückzug gefordert. Dieses Land sei
nicht zu befrieden, heißt es. Und warum
sollen wir überhaupt Opfer bringen, damit
es den Afghanen besser geht?
Was ist eigentlich los mit Deutschland?
Da wird immer wieder ein deutscher Sitz
im UN-Sicherheitsrat gefordert. Da wird
von Europa als Gegengewicht zu den USA
schwadroniert und von der neuen Rolle
Deutschlands in der Weltpolitik. Nur den
Preis will offensichtlich keiner zahlen.
Jeder Tote bei Auslandseinsätzen ist einer zu viel. Und nicht überall sind Militäreinsätze vonnöten. Aber ohne entschlossenes, eben auch militärisches Engagement
geht es nicht. Die Taliban sind nicht mit
Überredungskunst zu schlagen. Die Hisbollah im Libanon, in dem die Bundesrepublik ja ebenfalls als Teil der UNIFIL-Truppen engagiert ist, wird sich auch nicht
durch das Werfen von Wattebällchen vertreiben lassen. In der Öffentlichkeit scheint
man noch nicht verstanden zu haben, dass
die Zeit des Kalten Krieges vorbei ist, als
die Soldaten sich in den Kasernen langweilten und die Amerikaner den Preis zahlten.
Man müsste nur einmal den ausgewogenen, kundigen und auch selbstkritischen
Ausführungen jener Offiziere zuhören, die
an Auslandseinsätzen beteiligt waren, um
zu wissen: Die so lange geschmähte Bundeswehr hat ihre neue Aufgabe begriffen.
Und sie leistet gute Arbeit.
Anstelle purer Reflexe brauchen wir eine anspruchsvollere Debatte: Wie wir
scheiternde Staaten stabilisieren und Terrorgruppen wie die Taliban oder die Hisbollah unter Kontrolle bringen können.
Nicht nur, um damit den Afghanen oder
den Israelis einen Dienst zu erweisen. Sondern um unser aller Sicherheit willen.
inhalt
dritte seite . . . . . . . . . . 3
Gedenken in Gardelegen
Wie eine Kleinstadt in Sachsen-Anhalt
mit der Erinnerung an ein Massaker
umgeht
israel . . . . . . . . . . . . . . . 4
Israels deutsche Stimme
Alice Schwarz-Gardos ist gestorben
gottesdienste . . . . 14,15
Schabbat
Biblische Bauverordnung
gemeinden . . . . . . . . . . 19
Auf Tuchfühlung
Dresdner Gemeinde lädt die Bürger zu
Besichtigung und Essen
kommerz
Seite 11
Bratz-Puppen:
Mit seinen „Gören“ macht der
Unternehmer Isaac Larian
Milliardengewinne
CH 4,00 SFR | A 2,50 EURO | BENELUX 2,50 EURO | F 2,50 EURO
D 2,20 EURO
62. JAHRGANG
59. JAHRGANG
NR. 34NR. 21
Wo die Liebe hinfällt
A 1107
interview
Homosexualität und Halacha: Nicht nur die Reformbewegung
sollte schwulen und lesbischen Juden einen Weg weisen
„Es besteht akuter
Nachholbedarf“
Beate Blechinger über härtere Strafen
für fremdenfeindliche Täter
Frau Ministerin, gemeinsam mit Ihrer
Amtskollegin aus Sachsen-Anhalt wollen
Sie das Strafrecht für rassistische und
fremdenfeindliche Taten verschärfen (vgl.
S. 2). Was versprechen Sie sich davon?
blechinger: Das Strafgesetzbuch gibt bereits jetzt vor, dass Freiheitsstrafen ohne Bewährung verhängt werden können, wenn die
Verteidigung der Rechtsordnung dies gebietet. „Verteidigung der Rechtsordnung“ – das
ist ein sperriger Begriff, der in der Praxis
selbst bei extremistischen Straftaten oft
nicht angewendet wird. Das halten wir für
falsch. Der Gesetzentwurf will eindeutig klarstellen: Bei Taten, deren Motiv es ist, Gruppen wegen ihrer Herkunft, Religionszugehörigkeit, sexuellen Orientierung oder politischen Anschauung zu treffen, können zur
Verteidigung der Rechtsordnung auch kurze
Freiheitsstrafen von unter sechs Monaten
verhängt werden. Freiheitsstrafen über sechs
Monaten können nur noch in begründeten
Einzelfällen ausgesetzt werden.
Nein zur gleichgeschlechtlichen Liebe: Aus orthodoxer Sicht sind nur heterosexuelle Lebensgemeinschaften durch die Tora legitimiert.
von Rabbiner Andreas Nachama
Es ist keine 70 Jahre her, da waren Juden,
Sinti und Roma sowie Homosexuelle gemeinsam am Anus Mundi in Auschwitz,
Treblinka oder wie sonst die Unorte hießen, an denen sich der Zivilisationsbruch
vollzog. Dort wurden Menschen deshalb
ermordet, weil das Fundamentalgesetz der
Bibel missachtet wurde, wonach alle Menschen ein Abbild Gottes sind.
Faschismus und Rassismus sind inakzeptable Reaktionen auf die Französische
Revolution, nach der alle Menschen vor
dem Gesetz gleich sind. Im Anschluss daran haben sich auch intern für das Judentum große Veränderungen ergeben. Schon
im 19. Jahrhundert begann die Integration
der Frauen in den jüdischen Gottesdienst,
die mit der Gleichstellung durch Ordination von weiblichen Rabbinern und Kantoren seinen Abschluss gefunden hat.
Blieb eine Gruppe, die auch nach der
Befreiung mit einem Stigma behaftet ist:
die Homosexuellen. Solange die sexuelle
Orientierung von Männern und Frauen
als eine persönliche Entscheidung eines
Einzelnen angesehen wurde, konnte mit
der Tora argumentiert werden, wonach
der Mann nicht mit einem Mann liegen
solle wie mit einer Frau. Der englische
Oberrabbiner Jonathan Sacks räumt in
seinem Vorwort für das 2004 erschienene
Werk „Judaism and Homosexuality: An
Authentic Orthodox View“ ein, dass Homosexualität angeboren ist. Sie entzieht
sich also der freien Willensentscheidung
eines Menschen. Deshalb plädiert Rabbiner Sacks dafür, Homosexuelle in jüdische
Gemeinden zu integrieren. Im April dieses Jahres hat nach langer kontroverser
Debatte das Jewish Theological Seminary,
das Rabbinerseminar der konservativen
Masorti-Bewegung, beschlossen, auch
Schwule und Lesben zu Rabbinern zu
ordinieren.
Meist sind es Rabbinerkonferenzen, die
halachische Entscheidungen revidieren
und sich dabei allein auf ihren Sachverstand berufen. Alle kennen die rabbinische Kontroverse aus dem Talmud, in
deren Verlauf die eine Seite göttliche
Wunder bewirkt, die andere Seite schließlich sogar der zustimmenden göttlichen
Stimme entgegnet, sie möge in dieser Sache verstummen, denn die Tora sei am
Sinai in unsere Hände gegeben worden.
1983 wurde die Halacha verändert: Ganz
* * *
Das Judentum
im 21.Jahrhundert
positioniert sich
gänzlich neu.
* * *
selbstverständlich werden nun Taubstumme zum Minjan dazugerechnet. Die Entscheidung in der biblischen und talmudischen Zeit basierte darauf, dass dieser
Personenkreis womöglich tatsächlich nicht
am Leben teilnehmen konnte. Dank der
Gebärdensprache und eines hohen Maßes
an Bildung sind Taubstumme heute jedoch vollwertige Gemeindemitglieder.
Schon vor zehn Jahren hat die Reformbewegung mit ihrem Werk „Kulanu“ diesen Weg auch für Homosexuelle beschritten und jetzt einen überarbeiteten Wegweiser herausgegeben. Rabbiner Eric Yoffie, Präsident der Union progressiver Juden in den USA, fasst zusammen: „Schwule und lesbische Kinder sind Kinder von
Gott geschaffen gerade so wie Heterosexuelle.“ Dieses Leitmotiv des 500-Seiten
Foto: AP
starken Werks, verfasst von Rabbinern, Gemeindeaktivisten und Betroffenen, umreißt
die gesamte Lebenswelt nichtheterosexueller Juden, von Formen traditioneller jüdischer Hochzeiten für Lesben bis hin zu Brachot, die anlässlich einer Geschlechtsumwandlung zu sprechen seien. Es steht
damit in der Tradition der Wegweiser jüdischen Seins, Halacha, die zu allen Zeiten
Band und zugleich Trennung zwischen Juden war. Das klingt im ersten Augenblick
verwegen, weil Halacha oftmals gleichgesetzt wird mit altfrommer Pflege des Judentums. Nicht, dass es diese Wegweiser gibt,
sondern allein wie diese ausgelegt werden,
unterscheidet altfrommes Judentum von
Chabad Lubawitsch genauso wie von Masorti oder den Progressiven.
Judentum im 21. Jahrhundert positioniert sich gänzlich neu. So wie sich nach
der Zerstörung des Tempels ein neues rabbinisches Judentum entwickelte, um den
Tempelkult in abstrakte Formen des Wortgottesdienstes zu überführen, so wie Rabbi Gerschom mit einer Takana die Monogamie einführte, so sind die Folgen der
Französischen Revolution für die Gleichstellung aller – nicht nur in der Gesellschaft,
sondern auch in der Synagoge – eine logische Folge für progressives Judentum. Den
Vorbehalten vieler, für die mit diesen neuen Positionen vertraute Lebensgewohnheiten in Frage gestellt werden, sei jenseits
aller Argumente eine Herzensposition entgegengehalten: Wir haben in der Schoa
schon genügend Menschen verloren, wir
sollen nicht Menschen verprellen, sondern
nach Möglichkeiten suchen, alle einzuschließen, die jenes Fünkchen Jüdischkeit
in sich tragen, das uns vom Sinai bis heute
den Weg erleuchtet hat.
Der Autor ist Rabbiner der Berliner Synagogengemeinde Sukkat Schalom.
Etliche Ihrer Länderkollegen lehnen den
Vorstoß ab. Die vorhandenen Instrumente zur Strafverfolgung seien ausreichend.
blechinger: Ich glaube, dass die Vorbehalte teilweise daraus resultieren, dass manche
unseren Gesetzentwurf noch gar nicht gelesen haben.
Brandenburg und Sachsen-Anhalt stehen
bei der Zahl rechtsextremer Gewalttaten
bundesweit an der Spitze. Kritiker nennen Ihre Initiative populistisch.
blechinger: Diese Kritik geht fehl. Nach
einem EU-Rahmenbeschluss sollen die Mitgliedsstaaten fremdenfeindlich und rassistisch motivierte Straftaten strenger ahnden.
In einigen Ländern gibt es solche Regeln
bereits, zum Beispiel in Spanien oder Schweden – Länder, die frei von jeglichem Verdacht
sind, solche Initiativen aus Populismus ergriffen zu haben. Schon vor sieben Jahren ist
Deutschland gemahnt worden, dafür Sorge
zu tragen, dass Taten mit fremdenfeindlichem Hintergrund schärfer bestraft werden.
Es besteht also akuter Nachholbedarf.
Oft vergeht viel Zeit zwischen Anklage
und Verhandlungsbeginn. Warum enthält Ihr Vorschlag keine Frist, innerhalb
derer der Prozess beginnen muss?
blechinger: Eine solche Frist lässt sich
nicht setzen. Wenn langwierige Ermittlungen
nötig sind, weil die Täter nicht auf frischer
Tat ertappt wurden, ist es leider kaum möglich, einen Zeitrahmen einzuhalten.
Mit der brandenburgischen Justizministerin
sprach Tobias Kühn.
Beate Blechinger (CDU)
Foto: MdJB
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