Darf der Mensch alles, was er kann?

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KKV
Fördererkreis für Bildungsarbeit des KKV e.V. (Hrsg.)
„Darf der Mensch alles,
was er kann?“
- Bioethische Grenzen der Forschung Dokumentation zum
Aufsatzwettbewerb 2014
KKV
Verband der Katholiken in
Wirtschaft und Verwaltung
Fördererkreis für Bildungsarbeit des KKV e.V. (Hrsg.)
Aufsatzwettbewerb 2014
„Darf der Mensch alles, was er kann?“
- Bioethische Grenzen der Forschung -
© Fördererkreis für Bildungsarbeit des KKV e.V. (Hrsg.)
Bismarckstraße 61, 45128 Essen
Essen 2015
Printed in Germany. Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Norbert Gebker, Münster
Satz, Layout und Redaktion: Norbert Gebker, Münster
Gesamtherstellung: WWF Druck + Medien GmbH, Greven
Bildrechte Titelseite: ktdesign / 123RF Stockfoto; S. 64: „Spahnteam“
Für die Drucklegung wurden die Aufsätze redaktionell bearbeitet und aktualisiert.
Sehr geehrte Damen und Herren, „Darf der Mensch alles was er kann? ‐ Bioethische Grenzen der Forschung“ war das Thema eines Aufsatzwettbewerbs, den der Fördererkreis für Bildungsarbeit im KKV e.V. im Verband der Katholiken in Wirtschaft und Verwaltung in 2014 für Schülerinnen und Schüler der Oberstufe an ka‐
tholischen Gymnasien, Gesamtschulen und Berufskollegs in Deutsch‐
land ausgeschrieben hatte. Der KKV verfolgt mit großer Aufmerksamkeit die Geschehnisse in unserer Gesellschaft und setzt sich neben sozial‐ und wirtschaftsethi‐
schen Themen auch mit der Frage nach den ethischen Grenzen für Wis‐
senschaft und Forschung auseinander. Hier sieht sich der Verband entsprechend seinem Selbstverständnis in einer besonderen Verantwor‐
tung, wonach das christlich geprägte Bild vom Menschen zentraler Mittelpunkt unseres Wirkens ist. In seiner Wettbewerbsausschreibung macht der Fördererkreis für Bil‐
dungsarbeit des KKV deutlich, dass mit der Weiterentwicklung der Technik die Menschen ihre Handlungsmöglichkeiten vervielfacht ha‐
ben und in vielen Dingen nicht mehr auf das angewiesen sind, was die Natur bietet. Der Mensch kann aktiv Einfluss auf seine Umwelt neh‐
men und diese somit auch verändern. Durch den technologischen Fort‐
schritt stellen sich völlig neue ethische Fragen und Probleme, für die es keine überlieferten Entscheidungsmuster gibt. Folgende Fragen sollten von den Teilnehmern des Aufsatzwettbe‐
werbs anspruchsvoll und ergebnisoffen behandelt werden: „Was sollen oder dürfen wir tun ‐ und was nicht? Was ist gut, was ist schlecht? Was ist richtig, was ist falsch? Gibt es Gesetze für richtiges und gutes Han‐
deln? Sind solche Gesetze von der Natur oder von Gott gegeben, oder müssen wir sie selber aufstellen?“ Mit dem Präsidenten des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK), Alois Glück, konnte ein prominenter und aufgrund seiner ge‐
nannten Funktion mit dem Thema Bioethik durchaus vertrauter Schirmherr für den Aufsatzwettbewerb gefunden werden. Eine Jury mit Sachverständigen aus den Bereichen Wissenschaft, Po‐
litik und Bildung, bestehend aus Jens Spahn (ehem. gesundheitspoliti‐
scher Sprecher der CDU/CSU‐Bundesfraktion), Prof. Dr. Dr. Sigrid 3
Graumann (Ev. Fachhochschule Rheinland‐Westfalen‐Lippe), Prof. Dr. Andreas Frewer (Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Uni‐
versität Erlangen), Prof. em. Dr. Dietmar Mieth (Universität Tübingen), Prof. Dr. Peter Schallenberg (Geistlicher Beirat des KKV‐Bundes‐
verbandes) sowie Prof. Dr. Franz Bölsker (Leiter der Abteilung Schule und Erziehung im Bischöflich Münsterschen Offizialat, Vechta), beur‐
teilte die zahlreich eingegangenen Aufsätze, von denen schließlich drei dem Fördererkreis für Bildungsarbeit des KKV als Erstplatzierte präsentiert wurden. Für dieses herausragende Engagement danken wir dem Schirmherrn und den Mitgliedern der Jury ganz besonders herzlich. Im Rahmen einer festlichen Stunde am 17. April 2015 in der Saar‐
ländischen Landesvertretung in Berlin nahmen die VerfasserInnen der drei preisgekrönten Aufsätze, Richard Neumeyer von der Don‐Bosco‐
Schule in Rostock, Anna Keussen von der Maria‐Montessori‐Gesamt‐
schule in Krefeld und Regina Kirschner vom St. Mariengymnasium in Regensburg, aus der Hand des stellvertretenden Vorsitzenden des För‐
dererkreises, Staatssekretär a.D. Dr. Joachim Gottschalk, die Urkunden und Preisgelder entgegen. Einen Sonderpreis erhielt die Rostocker Don‐Bosco‐Schule. Diese hatte sich besonders engagiert und den Wett‐
bewerb in die Klausurarbeiten von Oberstufenklassen integriert. Ermutigt durch die Resonanz und das Ergebnis des Aufsatzwettbe‐
werbs ist die Veröffentlichung der preisgekrönten Aufsätze von dem Wunsch getragen, dass der öffentliche Diskurs um bioethische Fragen im Sinne der Bewahrung der Schöpfung und der Würde und dem Schutz menschlichen Lebens weitergeführt und intensiviert wird. Bei der Lektüre der Aufsätze wird deutlich werden, dass die Verfas‐
serInnen verschiedene Zugänge zur Thematik gewählt haben, aber alle drei gleichermaßen mit einem erstaunlich hohen Grad an intellektueller Durchdringung und inhaltlicher Differenzierung. Von Seiten des Fördererkreises und der Jury gilt es den drei Preis‐
trägerInnen wie auch den Verfasserinnen und Verfassern der vielen anderen guten und bemerkenswerten Aufsätze, die im Rahmen des Wettbewerbs eingereicht wurden, für ihre Mühe und Kreativität zu danken. Georg Konen Vorsitzender des Förderkreises für Bildungsarbeit des KKV e.V. 4
Alois Glück Grußwort Aufsatzwettbewerb 2014 „Darf der Mensch alles, was er kann? – Bioethische Grenzen der Forschung“ Mit den Entwicklungen in den Wissenschaften der Biologie, insbeson‐
dere der Gentechnik, bekommt dieser Leitsatz mit der Aufforderung zur Selbstbegrenzung aber eine ganz neue Dimension und Dringlich‐
keit. Die Erfassung des Genpotentials des Menschen mit einem Voll‐
screening der Erbanlagen ist bereits möglich und wird demnächst auf dem Markt allgemein angeboten. Was bedeutet eine solche Entwick‐
lung an Möglichkeiten, an Versuchungen zur „Selbstoptimierung“ und an Gefahren? Es gibt eine große Übereinstimmung, dass ein Eingriff in die Keim‐
bahnen und damit eine irreversible Weitergabe von Eingriffen in die folgenden Generationen verboten bleiben muss. Das ist eine allgemein akzeptierte Grenze. Aber es gibt immer mehr Möglichkeiten auf der Basis der Erkenntnisse der Gendiagnostik den Menschen zu manipulie‐
ren. Diese Entwicklungen sind in einer Meldung der Katholischen Nachrichtenagentur vom 18. November 2014 unter der Überschrift „Genetische Optimierung“ eindringlich beschrieben. Zitat: „Hinter dem Wunsch nach genetischen Verbesserungen ste‐
hen laut Welling (Anm.: Juristin Dr. Lioba Welling, Forschungsverbund Religion und Politik der Uni Münster) ähnliche Motive wie bei Schön‐
heitsoperationen, Doping oder hohen Bildungsinvestitionen. „Die Hoffnung auf Schönheit, Gesundheit, Leistung und Erfolg.“ Die Wis‐
senschaftlerin weist dann darauf hin, dass das Einfügen der erwünsch‐
ten Gensequenzen ins Genom rechtlich nicht mehr verhindert werden könnte, wenn die Wissenschaft garantieren kann, dass dieser Eingriff nicht zu Behinderungen oder Krankheiten führen oder ein Eingriff in die Keimbahnzellen sind. Der weltanschaulich neutrale Staat dürfe auch aus religiösen Argumenten solche Entwicklungen nicht verbieten. Deshalb ist es so wichtig, dass wir uns, wie mit diesem Aufsatz‐
wettbewerb, mit den Auswirkungen auf das Menschenbild, auf die Leitbilder in der Gesellschaft und alle damit verbundenen Konsequen‐
5
zen auseinandersetzen. An welchen Leitbildern wollen wir unser Zu‐
sammenleben künftig orientieren? Welche Rolle kommt dabei dem Staat zu? Zeigt sich unsere Stärke weiterhin im Umgang mit den Schwächsten oder wird unser Verhalten künftig nach den Möglichkei‐
ten des technischen Fortschritts bestimmt? Die wissenschaftlichen Erkenntnisse haben undenkbare Hilfen für kranke Menschen gebracht, sie führen aber auch zu einer früher nicht denkbaren Herausforderung, zu notwendigen Grenzziehungen und zu Entscheidungen. Dafür ist genau die Auseinandersetzung und Mei‐
nungsbildung notwendig, die dieser Aufsatzwettbewerb zum Thema hatte. Dieser Impuls des Wettbewerbs muss weiterwirken in eine öffentli‐
che Debatte über Werte und Leitbilder. Für uns ist das christliche Menschenbild dabei Orientierung und Maßstab. Danach hat jeder Mensch dieselbe Würde, unabhängig von Alt oder Jung, ob leistungsfähig oder hilfsbedürftig, unabhängig von Rasse und Religion. Das ist der unverzichtbare Maßstab für eine humane Zukunft. Alois Glück Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken März 2015 6
Prof. Dr. Franz Bölsker ‐ Leiter der Abteilung „Schule und Erziehung“, Bischöflich Münstersches Offizialat Oldenburg Vorwort In wohl keiner Phase der Menschheitsgeschichte hat das Gesamtvolu‐
men des zur Verfügung stehenden naturwissenschaftlichen Wissens einen so enormen Zuwachs erfahren wie in den vergangenen Jahrzehn‐
ten und insbesondere in den zurückliegenden Jahren seit der letzten Jahrtausendwende, und schon für die nähere Zukunft wird mit einem immensen und sich sogar noch weiter beschleunigenden Wissenszu‐
wachs zu rechnen sein. Mit dem historisch beispiellosen Anwachsen wissenschaftlicher Kenntnisse nahm und nimmt freilich auch die fach‐
liche Differenzierung wissenschaftlicher Forschung weiter zu, so dass es selbst führenden Wissenschaftlern zunehmend schwer fällt, schon in ihrem eigenen Fachgebiet einen Überblick über die vielfältigen Ergeb‐
nisse der sich immer weiter verzweigenden Forschungslandschaft zu behalten. Je mehr die Menschheit insgesamt an Wissen gewinnt, desto mehr scheint sich der einzelne Mensch – und auch der einzelne Wis‐
senschaftler – in der Masse segmentierter Wissensbestände zu verlie‐
ren. Und wenn sich schon die „scientific communitiy“ als solche zu‐
nehmend außerstande sieht, den Wissenszuwachs insgesamt zu über‐
schauen, so ist eine solche Reflexion und Würdigung in Hinblick auf Nutzen, Folgen oder gar Risiken durch die Gesellschaft insgesamt kaum noch zu leisten, weder durch ihre Organe politischer Willensbil‐
dung und politische Parteien noch durch die Medien und zivilgesell‐
schaftliche Instanzen, von denen eine kritische Sichtung und Würdi‐
gung des wissenschaftlichen Fortschritts auch und gerade in ethischer Hinsicht noch am ehesten zu erwarten wäre. Droht dem (einzelnen) Menschen aufgrund der Dynamik des wis‐
senschaftlichen Fortschritts am Ende ein Rollenwechsel vom kreativen Akteur zum hilflosen Gegenstand der Entwicklung? So könnte eine erste bange Frage angesichts der Wissensexplosion in unserer Zeit lau‐
ten. Eine solche Frage stellt sich umso dringlicher, als naturwissenschaft‐
lich‐technische Forschung heute im Wesentlichen anwendungsbezogen erfolgt. Wenn wirtschaftliche Interessen nicht ohnehin schon den Er‐
kenntniszielen einzelner Forschungsprojekte zu Grunde liegen, so er‐
zwingt die auf Wettbewerb und Angebotsoptimierung fixierte ökono‐
7
mische Struktur unserer modernen Welt, verbunden mit staatlichen Interessen im militärisch‐industriellen Bereich, eine weitestgehende, ökonomische Inwertsetzung „vermarktungsfähiger“ wissenschaftlicher Fortschritte. Wir stehen also vor einer paradoxen Situation: Die Menschheit weiß immer mehr und ökonomische Zwänge bewirken tendenziell eine schnellstmögliche Anwendung des neugewonnenen Wissens, aber die Möglichkeiten der Menschen – als Individuen wie als Gesellschaft –, einen Überblick über Wissenszuwächse und Anwendungsoptionen zu behalten, sie allein oder im gesellschaftlich‐politischen Diskurs kritisch zu reflektieren, dabei mögliche Risiken bzw. nicht intendierte Folge‐
wirkungen zu antizipieren, ggf. auch ethische Positionierungen vorzu‐
nehmen und schließlich auch rechtliche Schranken zu errichten, neh‐
men – in Relation zu den immer schneller wachsenden Wissensbestän‐
den und Anwendungsmöglichkeiten – tendenziell eher ab. Diese Erkenntnis gibt im höchsten Maße Anlass zur Sorge ange‐
sichts des eigentlich selbst erklärenden und ja auch heute noch gültigen ethischen Postulats, dass dem Menschen als solchem, also der Mensch‐
heit insgesamt, mit jedem Mehr an Wissen und damit jedem Mehr an Fähigkeiten, die natürlichen Grundlagen der eigenen Existenz zu ver‐
ändern, ein entsprechendes Mehr an Verantwortung für diese natürli‐
chen Grundlagen, also die Schöpfung einschließlich der unmittelbaren Voraussetzungen menschlichen Lebens zuwächst. Dieses größer werdende Gefälle zwischen der dem Menschen zu‐
gewachsenen und ihm weiterzuwachsenden Verantwortung einerseits und andererseits seinen Möglichkeiten, dieser Verantwortung ethisch wie auch politisch‐rechtlich gerecht zu werden, ist bei einem Blick auf die Gegenwart und die jüngere Vergangenheit in vielen Bereichen zu erkennen, etwa im Bereich Nukleartechnologie, Atomrüstung und Atomkraft, im Bereich der technologischen Möglichkeiten und der realen Praxis der Energiegewinnung, im gesamten Bereich der Erfor‐
schung und Nutzung unserer natürlichen Ressourcen einschließlich aller ökologischer Folgewirkungen und ebenso auch im Bereich der Gen‐Technologie, bei der zu erwartende Nutzungspotenziale mit Be‐
fürchtungen in Hinblick auf kaum abschätzbare Risiken für die Um‐
welt und damit auch das menschliche Leben selbst kontrastieren. Theologisch könnte man formulieren, dass der Mensch als Krone der Schöpfung, der von Gott mit dem Recht auf deren Nutzung auch 8
ein Auftrag zu deren Pflege und Bewahrung erhalten hat, derzeit im‐
mer weniger in der Lage ist, der ihm übertragenen Verantwortung gerecht zu werden. Zwar nicht in „böser Absicht“, aber durchaus auf‐
grund einer strukturellen Zwangsläufigkeit ist der Mensch, die Menschheit als ganze, derzeit offenbar angetreten, aus der ihr von Gott zugewiesenen Rolle einer bewahrenden Nutzerin der Schöpfung aus‐
zubrechen und diese aufgrund der erfolgten und weiter erfolgenden wissenschaftlichen Durchdringung und des damit gegebenen Mehr an Verfügbarkeit der natürlichen Lebensgrundlagen durch massive Ein‐
griffe dauerhaft zu verändern. Dabei reicht das Spektrum der „Veränderungen“ von Störungen na‐
türlicher und klimatischer Kreisläufe, die in Hinblick etwa auf das durch den Menschen verursachte Artensterben und die Irreversibilität des ebenfalls durch den Menschen bewirkten Klimawandel und den nicht mehr zu ersetzenden Verlust an natürlichen Ressourcen zum Teil durchaus als Zerstörungsvorgänge zu betrachten sind, bis zu Versu‐
chen von „Um‐“ und „Neuschöpfung“, die sich offenbar nicht auf ge‐
netische „Optimierungen“ von Pflanzen und Tieren beschränken, son‐
dern sich anschicken, auch den Menschen selbst zum Gegenstand ent‐
sprechender „Verbesserungen“ zu machen. Die ethischen, gesellschaftlich‐politischen und rechtlichen Debatten um die Unantastbarkeit des menschlichen Lebens, bislang im Wesentli‐
chen bezogen auf dessen Anfang und dessen Ende, haben durch die sich abzeichnenden, aber letztlich nicht vollständig antizipierbaren Möglichkeiten, menschliches Erbgut zu entschlüsseln und zu verän‐
dern, zusätzliche Brisanz erhalten. Die – wie schon ausgeführt – für viele Bereiche unserer heutigen Lebenswelt erkennbare Spannung zwi‐
schen dem enorm angewachsenen wissenschaftlichen Kenntnissen und daraus erwachsenen Anwendungspotenzialen einerseits und anderer‐
seits den enormen Schwierigkeiten, dem der Menschheit damit zuge‐
wachsenen höheren Maß an Verantwortung gerecht zu werden, zeigt sich derzeit in diesem Bereich in besonderem Maße. Insbesondere die darin zu erblickende Ambivalenz dieser Thematik, dass wissenschaftlich‐medizinische Fortschritte im Bereich der Hu‐
mangenetik die Menschen in Zukunft eventuell endgültig von schwe‐
ren Krankheiten, vielleicht auch von der Menschheitsgeißel Krebs, be‐
freien könnten, sich aber andererseits künftig Möglichkeiten biologisch‐
genetischer „Optimierung“ des Menschen (oder einzelner Menschen 9
bzw. Menschengruppen) auftun werden mit unabsehbaren gesell‐
schaftlich‐politischen, sozialen und rechtlichen Konsequenzen, stellt eine gewaltige Herausforderung in Hinblick auf eine ethische Reflexion und ethische Positionierungen dar und in der Folge auch in Hinblick auf entsprechend politisch‐rechtliche Entscheidungen. 10
Das Programm der Preisverleihung
KKV
Programm
Musik
Luigi Boccherini:
Sonata in C-Dur (Allegro moderato)
Begrüßung
Georg Konen, Oldenburg
Vorsitzender des Fördererkreises für Bildungsarbeit des KKV
Grußworte
(vorgetr. durch Staatssekretär a.D. Dr. Hans-Joachim Gottschalk)
Stellv. Bundesverbandsvorsitzender des KKV
Musik
Jean-Baptiste Barrière:
Sonata No. 10 in G-Dur (Andante)
Festvortrag
Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg
„Darf die Medizin alles, was sie kann?
Entwicklung und Ethik der Forschung am Menschen“
Schirmherr Alois Glück, Präsident des ZdK
Prof. Dr. Patrick Sensburg, MdB
Prof. Dr. Andreas Frewer, M.A.
Preisverleihung Dr. Hans-Joachim Gottschalk
Staatssekretär a.D.
Musik
Schlusswort
Nicholas Roubanis:
Misirlou - arranged by 2Cellos
Bernd-M. Wehner
Bundesverbandsvorsitzender des KKV
- Verband der Katholiken in Wirtschaft und Verwaltung -
Musikalische Gestaltung:
„Cello Duo“
Esther Thoben und Tadashi Forck, Berlin
11
Preisträgerinnen und Preisträger
Bild: Konen
v.l.: Georg Konen, Helga Dannbeck, Richard Neumeyer, Anna Keussen,
Regina Kirschner, Dr. Hans-Joachim Gottschalk
12
Prof. Dr. med. Andreas Frewer, M.A.
Institut für Geschichte und Ethik der Medizin
Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg
Festvortrag anlässlich der Preisverleihung zum Aufsatzwettbewerb des
Fördererkreises für Bildungsarbeit des KKV e.V. am 17. April 2015 in Berlin
Darf die Medizin alles, was sie kann?
Ethik und Menschenrechte in der Geschichte der Forschung
Inhaltsverzeichnis
1.
Auftakt: Forschung an Kindern im frühen 20. Jahrhundert ........... 14
2.
Zur Geschichte des Menschenversuchs ............................................. 15
2.1 Entwicklungen vom Altertum bis in die Frühe Neuzeit ................. 15
2.2 Neue Errungenschaften und Forschungsprobleme im
19. Jahrhundert ...................................................................................... 18
2.3 Missbrauchsfälle bewirken Konsequenzen für die
Wissenschaft .......................................................................................... 19
3.
Forschungsethik im 20. Jahrhundert:
Von Nürnberg nach Helsinki .............................................................. 21
3.1 Humanexperimente im „Dritten Reich“ ............................................ 22
3.2 Die Deklaration von Helsinki (1964) als heutiger Standard ........... 23
3.3 Zentrale Richtlinien der Deklaration von Helsinki in der
Übersicht ................................................................................................ 24
3.4 Ausgewählte Forschungsskandale in der zweiten Hälfte des
20. Jahrhunderts .................................................................................... 25
3.5 Versuche in den USA und der DDR................................................... 25
4.
Ethische Qualitätssicherung internationaler Forschung –
Schlussüberlegungen............................................................................ 26
5.
Literatur ................................................................................................. 28
13
Die Frage des Aufsatzwettbewerbs „Darf der Mensch alles, was er
kann? Bioethische Grenzen der Forschung“ berührt grundlegende moralische und menschenrechtliche Dimensionen von Wissenschaft und
Gesellschaft. Im vorliegenden Beitrag soll der Schwerpunkt sowohl in
Bezug auf den Obertitel – Konzentration auf die Humanmedizin – als
auch auf die Fragen der Bioethik deutlich eingegrenzt werden, um den
zeitlichen wie auch quantitativen Rahmen nicht zu überschreiten.
Dabei werden die historische Entwicklung und ausgewählte Probleme
bioethischer Forschung exemplarisch beleuchtet, um einige Grundkonstellationen zu illustrieren.1
1.
Auftakt: Forschung an Kindern im frühen 20. Jahrhundert
Als Eingangsbeispiel soll eine wichtige Forschungsfrage aus dem ersten
Viertel des 20. Jahrhunderts genommen werden: „Wie können Kinder
feste Knochen bekommen?“ In Berlin wurden Experimente mit „Vigantol“ (Vitamin D) zur Vermeidung von „Rachitis“, der verbreiteten und
gefährlichen Mangelerkrankung durchgeführt. In der Weimarer Republik gerieten Berliner Kinderärzte in ethische Debatten: Bei Studien zur
Prophylaxe der Knochenerweichung aufgrund fehlender Calcium-Absorption bei Vitamin D-Mangel hatten Pädiater Experimente betrieben,
in denen (Waisen-)Kinder im Keller der Klinik leben mussten, um die
Wirkung einer künstlichen Vitaminsubstitution zu untersuchen.2 Nicht
nur die sprachliche Ausdrucksweise der beteiligten Kinderärzte mit
Passagen wie „wir taten dies an einem Material von 100 Ratten und 20
Kindern“ zeigte die problematische Perspektive, sondern dass Kinder
aus den ärmsten Teilen der Bevölkerung für Studien herangezogen
wurden, stieß zurecht auf Kritik. Einwilligungserklärungen gab es
nicht, einige Kinder wurden bewusst rein-wissenschaftlichen und
„nicht-therapeutischen“ Versuchen unterzogen. In der Zeitschrift „Biologische Heilkunst“ wurde dies mit dem biblischen Zitat „Lasset die
Kinder zu mir kommen“ karikiert und kritisiert; die Titelabbildung
zeigt Kinderärzte und Schutzbefohlene im Keller der Krankenanstalt.
1
2
14
Frewer/Lehner (2015)
Vollmer (1927), Frewer (2000), S. 144
2.
Zur Geschichte des Menschenversuchs
Menschen waren immer wieder fasziniert von unbekannten wie auch
verborgenen Abläufen im Körper; insbesondere Ärzte und Forscher
versuchten, die Vorgänge zu erklären. In der Geschichte der Heilkunde
war dies ein außerordentlich langsamer Prozess, der erst genaue Beobachtung, viele wissenschaftliche Entdeckungen und grundlegende Versuche brauchte.3 Im Kern interessierten die Gelehrten und Ärzte seit
Entstehung der Zivilisation drei Grundfragen bei Experimenten: Wie
funktioniert der Körper? Auf welche Weise funktioniert ein Gift? Wie
verläuft ein Krankheitsprozess?4 „Forschung“ war in der langen Entwicklung der Medizin seit der Antike jedoch lange Zeit unsystematisch
und auf Einzelfallbeobachtungen beschränkt. Der Wissensdrang und
die Neugierde der Mediziner waren aber nicht selten größer als ihr
Respekt vor dem Schutz der Patienten. Da es bis Ende des 19. Jahrhunderts keine ethischen Standards, verbindliche Richtlinien oder gar Gesetze für Versuche der medizinischen Forschung gab oder diese missachtet wurden, sind immer wieder Skandale bekannt geworden, bei
denen klar wurde, dass nicht wenige Ärzte und Forschende bei ihren
Studien elementare Menschenrechte missachteten und erfolgreiche
Karrieren oder wissenschaftlicher Ruhm für sie wichtiger waren, als
ihre Probanden. Anhand ausgewählter Beispiele von Verstößen gegen
Menschenrechte und Ethik durch forschende Wissenschaftler soll der
vorliegende Beitrag einen kurzen Überblick zur Entwicklung moralischer Werte in der Forschungsethik wie auch zu den Hintergründen
entstandener Richtlinien geben.
2.1 Entwicklungen vom Altertum bis in die Frühe Neuzeit
Seit der Antike sind einzelne medizinische und naturkundliche Versuche an Menschen bekannt und dokumentiert, auch wenn es noch keine
strukturierte Methodik gab.5 Mediziner waren auf der Suche nach neuem Wissen über den menschlichen Körper, dessen innere Vorgänge für
sie oft unerklärlich waren. Eine Eröffnung des Leibes war nicht nur
wegen der bestehenden Infektionsgefahr ohne Gegenmittel zu gefähr3
4
5
Roelcke/Maio (2004), Eckart (2006), Schmidt/Frewer (2007)
Helmchen/Winau (1986), Ruisinger (2007)
Ruisinger (2007), Eckart (2009)
15
lich, sondern auch der Leichnam durfte – meist aus religiösen Gründen
– lange Zeit nicht zum Studium herangezogen werden. Besondere Bekanntheit im Zusammenhang mit der ärztlichen Ethik erlangte Hippokrates von Kos (ca. 460-379 v. Chr.), obwohl manche Aspekte seines
Wirkens bis heute im Dunkeln liegen.6 Er avancierte zum „Pater medicinae“, bereits Platon erwähnt ihn als wichtigsten Arzt der Antike. Sein
Name wird in der Gegenwart sofort mit der Medizinethik und dem
nach ihm benannten Eid verbunden. Dieser Schwur, den junge Ärzte
der Antike wohl im Sinne eines Zunfteides und Lehrvertrags zu Beginn
ihrer Ausbildung ablegen mussten, wird häufig Hippokrates zugeschrieben – er gilt daher landläufig als „Begründer der Medizinethik“.
Auch wenn im „hippokratischen Eid“ historisch sehr früh Verhaltensrichtlinien formuliert sind und ein hohes ärztliches Ethos in Bezug auf
die „Techne“ (Kunstfertigkeit) der Mediziner vorausgesetzt wurde,
ist die Autorschaft des Textes bis heute umstritten. Aus diesem Eid
stammt nichtdestotrotz eine Reihe moralisch relevanter Passagen:
„Meine Verordnungen werde ich treffen zu Nutz und Frommen der
Kranken, nach bestem Vermögen und Urteil. Ich werde sie bewahren
vor Schaden und willkürlichem Unrecht“.7 Eine Selbstbestimmung von
Patienten, wie es mit dem philosophischen Prinzip der Autonomie von
Kranken begründet wird, kommt aber in diesem Dokument nicht vor.
Der Eidestext repräsentiert eher den Priesterarzt – möglicherweise einer pythagoräischen Ärztegruppe – und die paternalistische Berufsauffassung des „Halbgottes in Weiß“. Genaue Vorgaben für Versuche am
Menschen oder den notwendigen Schutz von Patienten bei Forschung
sind aber in diesem Dokument aus dem vierten vorchristlichen Jahrhundert noch nicht vorhanden, auch wenn die geforderte Berufsauffassung von dem wichtigen Nichtschadensprinzip (lat. „primum nil nocere“) geprägt ist. Für die Geschichte der Medizin lassen sich Varianten
von Experimenten unterscheiden: Häufig wurden Untersuchungen an
Gefangenen, zum Tode Verurteilten oder anderen Abhängigen durchgeführt; auch Tiere wurden oft benutzt, und manchmal waren es
Selbstversuche, in denen die Ärzte ihren Wissensdurst stillen und
gleichzeitig am eigenen Leib experimentieren wollten. Die historische
Entwicklung ist zu vielfältig, sodass an dieser Stelle nur exemplarische
6
7
16
Diller (1994), Eckart (2009)
Deichgräber (1983), Schubert (2005)
Beschreibungen möglich sind.8
Bisweilen wurden die Varianten von Humanexperiment und Studien mit Tieren auch kombiniert, etwa im Fall von Transfusionsversuchen mit jungen Lämmern oder Hunden. Die Idee hinter diesen Experimenten war die Übertragung von gesundem und „frischem“ Blut
eines tierischen Lebewesens auf den kranken Menschen. Darstellungen
aus dem 17. Jahrhundert zeigen uns, wie fixierte Tiere Blut durch Röhren weitergeben mussten auf Menschen, die gleichzeitig zur Ader gelassen wurden, um krankmachende Substanzen vermeintlich zu entfernen. Die immunologische Unverträglichkeit hat zu dramatischen
Komplikationen und Todesfällen geführt, denn weder die Vorrichtungen zur sterilen Übertragung von Flüssigkeiten noch die Grundkenntnisse von Blutgruppen oder Gewebeeigenschaften lagen seinerzeit vor.
Erst im Laufe des 19. Jahrhunderts lernte man Anti- und Asepsis wie
auch Anästhesie kennen; Anfang des 20. Jahrhunderts konnte Karl
Landsteiner (1868-1943) die unterschiedlichen menschlichen Blutgruppen entdecken.9
Eine erste systematische Studie mit Kontrollgruppen führte der
Engländer James Lind (1716-1794) durch: Der Chirurg war als Schiffsarzt der britischen Marine oft mit der verheerenden Krankheit Skorbut
konfrontiert, die aufgrund von Vitamin C-Mangel nach ersten Symptomen wie Haar- und Zahnausfall zu einem qualvollen Tod führen konnte. Er entwarf eine beobachtende Studie, um Präventions- und Behandlungsmöglichkeiten zu finden. Seine Skorbut-Versuche, ein geplantes
Experiment auf dem Schiff „Salisbury“, gingen in die Forschungsgeschichte ein.10 Bei einer Schiffsreise im Jahr 1747 betreute er zwölf Seeleute mit den typischen Symptomen der Skorbut-Erkrankung. Diese
teilte er in sechs Gruppen zu je zwei Personen ein, wobei jeweils mit
unterschiedlichen Mitteln behandelt wurde. So erhielten die sechs Paare verschiedene Gewürze oder Zitrusfrüchte, aber auch Meerwasser.
Die Matrosen mit Zitrusfrüchten als Behandlungsoption konnten genesen; Früchte und Sauerkraut wurden in der Folge als Skorbut-Prävention identifiziert und bald auf jedem Schiff verwendet. Die Verteilung
auf verschiedene Therapiearme durch den Arzt Lind war ein außeror-
8
9
10
Rothman (1995), Frewer/Schmidt (2007)
Eckart (2009)
Lind (1753), McBride (1991)
17
dentlich scharfsinniges Vorgehen und damit auch Vorläufer der notwendigen „Randomisierung“ (zufällige Zuordnung auf unterschiedliche Therapien), die eine wichtige Voraussetzung für die Methodik systematischer Forschung bildet. Zwar war die Anzahl der Beteiligten bei
diesem Experiment auf hoher See noch sehr gering, aber die genaue
Beobachtung brachte die richtigen Schlussfolgerungen. Aus ethischer
Perspektive muss jedoch hinzugefügt werden, dass Lind die beteiligten
Matrosen keineswegs um ihre Zustimmung fragte. Diese exemplarischen Beispiele zeigen den langen und außerordentlich mühsamen
Weg der Erkenntnisgewinnung in der Geschichte der medizinischen
Forschung. Viele Entdeckungen der Medizin mussten hart errungen
werden, in der Frühzeit der Wissenschaft waren es oft gefährliche und
unsystematische Versuche am Menschen. Erst mit der Verbreitung von
Kliniken war die Voraussetzung gegeben, dass mehrere Patienten mit
der gleichen Krankheit stationär und für unterschiedliche therapeutische Vorgehensweisen zur Verfügung standen.11
2.2 Neue Errungenschaften und Forschungsprobleme im 19. Jahrhundert
Die eigentliche Entwicklung der modernen naturwissenschaftlichen
Medizin fand erst ab Mitte des 19. Jahrhunderts statt. Ein Meilenstein
medizinischer Forschung und wissenschaftlicher Methodik waren die
Experimente des Franzosen Claude Bernard (1813-1878). Er studierte
gemeinsam mit seinen Pariser Kollegen die Grundlagen der Physiologie und arbeitete mit zahlreichen Tierversuchen an verschiedensten
Problemen der Medizin. Dabei hatte der immense Forscherdrang sogar
Konsequenzen für das Privatleben: Seine Gattin war so entsetzt über
seine Versuche an lebenden Tieren, dass es nach jahrelangen Streitigkeiten zwischen den Eheleuten wegen unterschiedlicher Einstellungen
zum Tierschutz zur Trennung kam. Seine Frau hatte sich der erstarkenden Bewegung der organisierten Tierversuchsgegner („Antivivisektionisten“) angeschlossen. Einen Eindruck zum Forschungsverständnis
von Claude Bernard und seinen Zeitgenossen bietet auch der folgende
Ausspruch: „Ich betrachte das Krankenhaus nur als die Vorhalle der
wissenschaftlichen Medizin […], aber das Laboratorium ist das wahre
11
18
Helmchen/Winau (1986), Rothman (1995), Eckart (2009)
Heiligtum der medizinischen Wissenschaft“.12 Dies zeigt eine befremdliche Prioritätensetzung zwischen aktuellen und zukünftigen Patienten,
Theorie und Praxis. In den sich immer stärker entwickelnden Kliniken
waren die – meist sozial schwächeren Schichten entstammenden – Patienten nicht selten Willkür und Forscherdrang der wissenschafts- und
fortschrittsorientierten Mediziner ausgesetzt.
Neben neuen Entdeckungen in der Physiologie ist das Verdienst
von Bernard aber auch die Einführung systematischer und verblindeter
Forschung. Der Franzose formulierte zudem erstmals systematische
Abläufe für Studien und entwickelte in seinem Werk „Introduction à
l'étude de la médicine expérimentale“13 erste Grundlagen einer Ethik
der Forschung. Dies ist beachtlich für eine Zeit, die in der Medizingeschichte auch als Epoche der „Mikrobenjäger“ bekannt wurde: Entdeckung, Sichtbarmachung (durch Färbetechniken und Mikroskope) wie
auch Bekämpfung von Krankheitserregern nahm breiten Raum in der
zeitgenössischen Heilkunde ein. Nicht selten gab es sogar bei den Größen der sich sprunghaft entwickelnden Bakteriologie und Infektiologie
ethisch bedenkliche Vorgehensweisen. Die Tuberkulin-Versuche von
Robert Koch (1843-1910)14 oder auch die koloniale Forschung15 führten
zu öffentlicher Kritik und ersten allgemeinen Vorgaben in Bezug auf
den Einsatz neuer Maßnahmen und Methoden der Impfung.
2.3 Missbrauchsfälle bewirken Konsequenzen für die Wissenschaft
Ein größerer Skandal zur Forschung, der gleichzeitig zu einem wichtigen Schritt in der Entwicklung von Richtlinien für Forscher führte,
waren die Studien von Albert Neisser (1848-1912), Geheimrat und Professor für Dermatologie (Hautkrankheiten) an der Universitätsklinik
Breslau. Nach der Entdeckung einer ersten Vakzinierung (Schutzimpfung) gegen Pocken forschte Neisser in den 1890er Jahren an Mitteln
zur Verhinderung der weit verbreiteten Syphilis. Hierzu impfte er 1892
acht, zum Teil noch minderjährigen Mädchen, ein Serum Syphiliskranker, um zu testen, ob auf diese Weise eine schützende Immunantwort
ausgelöst würde. Dabei wussten die jungen Mädchen und Frauen gar
12
13
14
15
Bernard (1961)
Bernard (1865)
Gradmann (2005)
Eckart (2002)
19
nicht, was sie injiziert bekamen bzw. dass sie Teilnehmer einer Forschungsstudie waren; keine der Patientinnen wurde nach ihrer Einwilligung gefragt. Die von Neisser durchgeführte Vakzinierung war nicht
erfolgreich, eine Immunisierung der Probanden, die wegen ganz anderer Probleme in seiner Klinik waren, wurde nicht erreicht. Neisser
schrieb später in einer Publikation: „[…] in allen diesen Fällen ist später
Syphilis eingetreten“.16 Der Fall rief in der Folge erhebliche Kritik hervor. In einer Artikelserie „Arme Leute in Krankenhäusern“ wurden die
Versuche aufgegriffen sowie in Bezug auf die mangelhafte Aufklärung
und die vorhandenen Risiken kritisiert. Es entbrannte eine vielschichtige politische wie auch moralische Diskussion.17 Gegen Neisser wurde
ein Disziplinarverfahren eingeleitet und eine Strafe von 300 Gold-Mark
verhängt. Dies war für die Zeitgenossen ein ungeheuerlicher Präzedenzfall, denn die Verurteilung eines angesehenen Arztes und erfolgreichen Wissenschaftlers war bis dato kaum für möglich gehalten worden. Die vielschichtigen Hintergründe der Debatten können an dieser
Stelle nicht weiter ausgeführt werden, wichtig war ein Ergebnis des
„Falls Neisser“: Im Dezember 1900 wurden die so genannten „Preußischen Anweisungen“ verabschiedet. Diese Richtlinien für Forschung
forderten u.a. eine klare Unterscheidung zwischen medizinischer
Grundlagenwissenschaft und einem ärztlichen Heilversuch. Die Anweisungen beschränkten zudem Forschung an Minderjährigen: diagnostische Versuche sowie Heil- und Immunisierungsstudien waren
nur begrenzt erlaubt. Als zentraler Punkt wurde weltweit sehr früh und
explizit eines für alle Teilnehmer an Forschungsstudien gefordert: nach
einer Belehrung muss ein Proband sein Einverständnis zu einem vorgesehenen Versuch geben – dies war eine wesentliche ethische Errungenschaft. Albert Neisser zeigte trotz seiner Verurteilung allerdings kaum
Einsicht in seine Verfehlung bei der nicht durchgeführten Aufklärung.
So schrieb er nach seiner Verurteilung: „Wäre es mir um eine formale
Deckung zu tun gewesen, so hätte ich mir die Einwilligung gewiss beschafft, denn es ist nichts leichter, als sachunverständige Personen durch
freundliche Überredung zu jeder gewünschten Einwilligung zu bringen,
wenn es sich um so harmlose Dinge handelt, wie eine Einspritzung“.18
16
17
18
20
Neisser (1898)
Tashiro (1991), Sabisch (2007)
Elkeles (1996), Frewer/Schmidt (2007)
3.
Forschungsethik im 20. Jahrhundert: Von Nürnberg nach Helsinki
Ein weiterer großer Schritt in der Entwicklung der Forschungsethik
stellt die Veröffentlichung von Albert Moll (1862-1939) dar. Der Nervenarzt und Sexuologe schrieb mit seinem Hauptwerk „Ärztliche
Ethik“ (1902) ein Schlüsselwerk zur Medizinethik. In dem Buch übte er
Kritik an Versuchen in Kliniken und bezog sich auf etwa 600 Fälle.19
In der Weimarer Republik gerieten deutsche Forscher durch die eingangs geschilderten Berliner Vigantol-Experimente in die Diskussion.
Nach den geforderten Einwilligungserklärungen oder einem medizinischen Nutzen für die Kinder sucht man bei diesen Vitamin-Versuchen
vergeblich – die Preußischen Anweisungen waren für den klinischen
Alltag ohne Konsequenzen geblieben. 20 Einen Tiefpunkt erlebte die
experimentelle Medizin mit dem „Lübecker Totentanz“ (1930/31): Nach
der Entdeckung eines Impfserums gegen Tuberkulose durch die Franzosen Albert Calmette (1863-1933) und Camille Guérin (1872-1961)
sollte diese Präventionsmaßnahme auch sehr früh in Lübeck eingeführt
werden. Aufgrund fehlerhafter Verarbeitung wurde der Impfstoff jedoch offenbar mit pathogenen Tuberkulose-Bakterien verunreinigt.
Von 256 geimpften Neugeborenen starben 77. Julius Moses (1868-1942),
Arzt und Gesundheitspolitiker der Weimarer Republik, machte auf den
Fall aufmerksam und kritisierte die „Experimentierwut der Ärzte“. Als
Konsequenz dieser Tragödie wurden vom Innenministerium 1931 –
bereits vorbereitete – Reichsrichtlinien für die Forschung am Menschen
veröffentlicht.21
3.1 Humanexperimente im „Dritten Reich“
Traurige Berühmtheit in der Reihe der Forschungsskandale erlangten
die NS-Verbrechen, die trotz der beginnenden Aufmerksamkeit für
Patientenrechte in grenzenlosem Ausmaß begangen wurden. Ein großer Anteil der Verbrechen geht zulasten deutscher Ärzte, die vor allem
in den Konzentrationslagern, aber auch in Pflegeeinrichtungen und Gefängnissen grausame Versuche durchgeführt haben. In den KZs wurde
systematisch und bewusst mit tödlichen Risiken für die Versuchsperso19
20
21
Moll (1902)
Frewer (2000)
Hahn (1995), Nadav (2004)
21
nen geforscht.22 Dabei zeugen zahlreiche Experimente von einem menschenverachtenden Umgang mit Probanden. Für die Luftwaffe etwa
wurden Höhenversuche unternommen, bei denen man Gefangene in
Druckkammern den Bedingungen großer Höhen aussetzte; es wurde
getestet und genauestens dokumentiert, wie lange Menschen unter
besonderen Bedingungen überlebensfähig sind. Diese Versuche endeten meist mit dem Tod der Gefangenen. Auch Experimente zur Toleranzgrenze bei Unterkühlung oder zu neuen Kampfstoffen wurden
durchgeführt sowie der Verlauf zum Teil tödlicher Infektion ohne Therapie beobachtet. Dabei wurden künstlich gesetzte Wunden infiziert
oder Fremdmaterialien eingebracht, um die Heilung bei verschiedenen
Behandlungen zu vergleichen.23
Nach Ende des Zweiten Weltkriegs versuchte man, die Verantwortlichen vor dem Nürnberger Gerichtshof zur Rechenschaft zu ziehen.
Hierfür gab es einen eigenen Prozess für 23 Ärzte und Funktionäre im
Gesundheitswesen; diese hatten ihre Positionen für Verbrechen ausgenutzt und waren an menschenverachtenden Versuchen beteiligt. Mit
dem Urteil wurde eine Richtlinie für medizinisches Forschen formuliert, der „Nuremberg Code of Medical Ethics“. Inhaltlich und formal
steht an erster Stelle dieses zehn Punkte umfassenden Dokuments über
„zulässige Versuche“ die freiwillige Einwilligung des Studienteilnehmers nach einer vollständigen Aufklärung (später „informed consent“).
Dabei müssen die erwarteten Ergebnisse der Studie nutzbringend sein
und dem Patienten wie auch dem Wohl der Gesellschaft dienen.
Menschenversuchen sollten immer Tierexperimente vorangehen sowie
körperliche und seelische Leiden vermieden werden. Studien gemäß
dem Nürnberger Kodex muss eine Nutzen-Risiken-Abwägung vorangegangen sein, da Gefahren die erwartete Bedeutung nicht übersteigen
dürfen. Zusätzlich wurden grundlegende Forschungsbedingungen
formuliert und Gruppen genannt, an denen nicht geforscht werden
darf (z.B. Sterbende). Den Teilnehmenden an Versuchen wird das
Recht eines Abbruchs der Experimente zu jeder Zeit ohne Nachteile zugesprochen, worauf Wissenschaftler auch vorbereitet sein müssen.24
22
23
24
22
Frewer et al. (1999), Roelcke (2006)
Ley/Ruisinger (2001), Roelcke (2006)
Roelcke (2006), Schmidt/Frewer (2007)
3.2 Die Deklaration von Helsinki (1964) als heutiger Standard
Dem „Nürnberger Kodex“ folgte mit der „Deklaration von Helsinki“
noch eine Richtlinie aus den Reihen der Ärzteschaft, veröffentlicht von
der World Medical Association (WMA). Sie gilt heute als der wichtigste
internationale Maßstab der Forschungsethik. Seit ihrer Verabschiedung
1964 wuchs ihre Bedeutung stetig, vor allem da sie regelmäßig überarbeitet und damit den neuesten wissenschaftlichen Standards angepasst
wird. Die Helsinki-Deklaration richtet sich als Dokument des Weltärztebundes vor allem an Ärzte, die forschen, aber auch an weitere, an
Studien beteiligte Personen. In der Deklaration wird Medizin definiert
als Wissenschaft, die dem Wohl des Patienten dienen soll, was auch für
die medizinische Forschung gelten soll. Ziel ärztlicher Versuche ist das
Erlangen neuen Wissens, darüber aber stehen immer die Rechte und
Interessen des Patienten. Dem Arzt oder anderem medizinischen Personal obliegt laut der Deklaration die Verantwortung für den Schutz
des Lebens, Gesundheit und Privatsphäre des Teilnehmers; diese Verantwortung kann nicht abgegeben werden. Besondere Aufmerksamkeit
muss laut den Forderungen der Deklaration auf den Schutz unterrepräsentierter und vulnerabler Gruppen gelegt werden; ihnen soll man
den Zugang zu den Erkenntnissen von Forschung ermöglichen. Wenn
der behandelnde Arzt gleichzeitig Forscher ist, muss besonders darauf
geachtet werden, dass nur im Sinne des Patienten über eine Entscheidung zur Teilnahme an der Studie geurteilt wird. Eine Ablehnung
durch den Kranken darf das Verhältnis zwischen ihm und dem Arzt
nicht beeinflussen. Darüber hinaus fordert die Deklaration, dass eine
Entschädigung eventuell forschungsbedingter Folgen sichergestellt ist.
Bei allen Forschungsvorhaben muss eine sorgfältige Abwägung der
Risiken in Hinblick auf den erwarteten Nutzen, erfolgen. Es soll immer
versucht werden, die Gefahren zu minimieren und eine ständige Überwachung aller potenziellen Nebenwirkungen zu gewährleisten.
Die Deklaration spricht auch das Problem vulnerabler Gruppen an:
Forschung darf an diesen Personen nur durchgeführt werden, wenn
die Studie nicht an anderen Teilnehmern möglich ist und sie den Probanden einen Vorteil bringen kann.
23
3.3 Zentrale Richtlinien der Deklaration von Helsinki in der Übersicht
•
•
•
•
•
•
Wie bereits im Nürnberger Kodex gefordert, sollen Experimente gemäß der Deklaration von Helsinki auf Grundlage von
Tierversuchen stattfinden und den neuesten wissenschaftlichen
Standards entsprechen.
Die Deklaration verlangt Forschungsprotokolle, in denen Angaben zur Förderung (Sponsoring), Nachsorge und Entschädigungszahlungen gemacht werden.
Die Einwilligung des Teilnehmers wird vorausgesetzt, nachdem er über die Studie vollständig aufgeklärt wurde.
Die Anwendung von Placebos (Scheinmedikamenten) ist nur
erlaubt, wenn keine andere Alternative zu der zu erforschenden Therapie besteht oder wenn durch die Anwendung von
Placebos keine weiteren Risiken entstehen, aber wissenschaftliche Gründe gegen die Anwendung der Standardtherapie sprechen.
Im Vergleich mit dem Nürnberger Kodex gibt es noch einen
weiteren neuen Punkt: Als erfolgreich erkannte Therapien
müssen den Teilnehmern auch nach den Studien zur Verfügung gestellt werden.
Außerdem gibt es eine Pflicht zur Veröffentlichung der Ergebnisse.25
3.4 Ausgewählte Forschungsskandale in der zweiten Hälfte des
20. Jahrhunderts
Doch auch nach der Veröffentlichung des Nürnberger Kodex und der
Deklaration von Helsinki war die Zeit der Forschungsmissbräuche leider nicht beendet. Davon waren auch demokratische Länder betroffen,
die in Nürnberg als Ankläger aufgetreten waren. Aufsehen erregten
etwa die Giftgas-Experimente an britischen Soldaten.26 Für eine geringe
Aufwandsentschädigung und mit dem Hinweis, es würden Studien zu
einfachen Erkältungserkrankungen („Common cold“) durchgeführt,
wurden in einer britischen Studie im Militärstützpunkt Porton Down
Probanden dem Kampfgas Sarin ausgesetzt. Seit 1951 wurde die Ver25
26
24
Rothman (1995), Schmidt/Frewer (2007), Frewer/Schmidt (2014)
Schmidt/Frewer (2007)
träglichkeit getestet und versucht, eine Toleranzdosis zu ermitteln. 1953
kam dabei der 20jährige Ronald Maddison ums Leben, nachdem ihm
eine offensichtlich weitaus zu hohe Konzentration auf die Haut gegeben worden war. Die tatsächlichen Hintergründe für seinen Tod wurden erst Jahre später öffentlich.27
3.5 Versuche in den USA und der DDR
Ebenfalls erst mit großer zeitlicher Verzögerung wurden Versuche der
USA zur Syphilis bekannt. Von 1932 bis 1972 führte man eine staatlich
organisierte Studie (PHS) an schwarzen Landarbeitern in Tuskegee
(Alabama) durch. Die Betroffenen waren an Syphilis erkrankt, ihre Diagnose wurden ihnen allerdings verschwiegen; stattdessen sagte man, sie
litten unter schlechtem Blut („bad blood“) und würden eine Behandlung bekommen. Gegen die tatsächliche Erkrankung Syphilis gab
es zu Beginn der Studie noch keine Therapie. Als diese allerdings später
in Form des Penicillins entdeckt wurde und damit ein heilendes Medikament zur Verfügung stand, wurde das Studiendesign dennoch nicht
verändert. Man beobachtete weiterhin den unbehandelten Verlauf der
Erkrankung ohne Antibiotika einzusetzen.28 Erst Jahrzehnte später, nach
journalistischen Recherchen und öffentlichem Druck, kam es zur Aufklärung und erst 1997 unter Präsident Clinton zu einer offiziellen Entschuldigung der US-Regierung. Einige weitere Versuchsreihen der
Nachkriegszeit wären hier noch zu nennen, etwa die Strahlen- und Plutoniumexperimente mit Soldaten oder Infektions- und Hautversuche in
Waisenhäusern und Gefängnissen (USA). 29 Doch auch in geographischer Nähe zum Entstehungsort des Nürnberger Kodex respektierte
man diesen nicht ausreichend. In der Deutschen Demokratischen Republik wurden zahlreiche Patienten ohne ihr Wissen Teilnehmer großer
Medikamentenstudien. Die wirtschaftlich marode DDR stellte dabei für
über 200 Studien westlicher Firmen mehr als 14.000 Patienten gegen
lukrative Deviseneinnahmen für die Forschung zur Verfügung. Eine
völlige Aufklärung ist hier immer noch nicht erfolgt, man kann die Dimensionen des Missbrauchs bisher nur erahnen.30
27
28
29
30
Schmidt/Frewer (2007), siehe neuerdings auch Schmidt (2015)
Reverby (2000)
Frewer/Neumann (2001), Pethes et al. (2008), Griesecke et al. (2009), Lehner/Frewer (2014)
Erices et al. (2014)
25
4.
Ethische Qualitätssicherung internationaler Forschung –
Schlussüberlegungen
Es ist offensichtlich: Auch nach der Verabschiedung mehrerer detaillierter Richtlinien und Deklarationen zur Forschungsethik müssen auch
weiterhin die neuesten medizinischen Entwicklungen in diesem Gebiet
kritisch und aufmerksam beobachtet werden. Zahlreiche ethische Fragen sind kontinuierlich Gegenstand intensiver Diskussionen, sodass
die Richtlinien in Bearbeitung bleiben – es handelt sich um „lebendige
Dokumente“.
Manche Punkte der Deklaration von Helsinki sind in Bezug auf die
ausreichende Umsetzung weiter umstritten: Sind die seit der Fassung
der Revision von 1975 (Tokyo) geforderten und in Deutschland flächendeckend eingerichteten Ethikkommissionen31 wirklich neutral und
unabhängig sowie ausreichend interdisziplinär besetzt? Wie gut funktioniert die Überwachung der Studiendurchführung? Auch der „informed consent“ steht immer wieder im Mittelpunkt der Debatte: Wurden
den Teilnehmenden alle Hintergründe und Risiken des Versuchs ausreichend erklärt? Es bleibt das Problem der nicht einwilligungsfähigen
Patienten und ob eine Zustimmung für Studien mit Fremdnutzen legitim ist. Dieser Punkt wird weiter diskutiert werden müssen, da es mit
den neuesten medizinischen Möglichkeiten immer öfter solche Situationen geben kann. Ungeklärt sind auch die Debatten zu Studien mit
Individual- oder Kollektivwohl und das Problem, wie groß jeweils das
Risiko für Teilnehmer sein darf. Dabei geht es vor allem um die Frage,
wie viel einem Einzelnen zugemutet werden darf, wenn er selbst keinen Nutzen aus der Forschung haben wird, sondern diese nur nachfolgenden Patienten zugutekommt. Gleichzeitig wird bis heute darüber
diskutiert, ob eine Nutzen-Risiko-Abschätzung objektiv möglich ist.
Ethische Abwägungen sind allerdings in vielen Fällen notwendig,
wenn es um die Abschätzung zum Schutz von Patienten geht. Und
auch in der Forschungsethik schlägt sich die Globalisierung nieder und
führt zu der Frage, ob Gerechtigkeit bei der Verteilung von Risiken und
dem erwarteten Nutzen gewährleistet ist. Viele Versuche werden heute
in Entwicklungsländern durchgeführt, die gewonnenen Erkenntnisse
nutzen allerdings oft primär oder sogar ausschließlich westlichen Län-
31
26
Wiesing (2003)
dern, die eine Anwendung der Forschungsergebnisse bezahlen und
neueste Therapieverfahren umsetzen können.32 Zahlreiche Studien werden heute an mehreren Standorten oft über Ländergrenzen hinweg
durchgeführt. Hierbei stellt sich jedoch die Frage, welche moralischen
Grundsätze dann Grundlage der Bewertung der Studien sein dürfen:
Wer soll in solchen Studien die ethische Bewertung anhand welcher
Standards vornehmen? Ist die Pflicht zur Publikation auch der negativen Forschungsergebnisse immer gewährleistet? Zudem bleiben der
Schutz vulnerabler Gruppen, Placebo-Versuche und „post-trial benefit“
Probleme. Insgesamt stellen sich also auch in Zukunft allen Beteiligten
zahlreiche Herausforderungen für eine ethische Kultur der Forschungspraxis. Gerade Kindern – um auf das Eingangsbeispiel zurückzukommen – als besonders verletzlichen Patienten und Probanden sowie den
zukünftigen Generationen sollte dies zugutekommen.
32
Angell (1997), Rothman (2003)
27
5.
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30
Richard Neumeyer
Erster Preisträger
Don-Bosco-Schule
Gesamtschule
Rostock,
Katholische
Kooperative
Gentechnik – Die größte Herausforderung des 21. Jahrhunderts an die Ethik?
Gentechnik – Biologische Grundlagen
Die Geschichte der Menschheit hat eine beeindruckende Länge. Seit
etwa 200.000 Jahren als homo sapiens existierend, hat der Mensch bis
heute unzählige Erkenntnisse gewonnen und sich ständig weiterentwickelt. Dabei ging es zunächst um die grundlegendsten Bereiche der
Lebensführung, die lediglich dem Überleben dienten, bald darauf begann die Gesellschaft der Menschen sich zu bilden, dadurch entstanden
auch Kultur und Wissenschaft. Nur die erfüllte Voraussetzung, dass
der Mensch sich seines Überlebens sicher war, hatte es dem Menschen
ermöglicht, zahlreiche Wissenschaften zu begründen. Mit der Zeit entstanden immer mehr dieser Wissenschaften, bestehende entwickelten
sich weiter, Relevanzen verschoben sich mit der Zeit. So gibt es heutzutage unüberblickbar viele Wissenschaftszweige, einige davon bereits
umfassend erforscht (z.B. die Mathematik), andere noch relativ neu
und deshalb noch mit sehr viel Raum für Fortschritte.
In den letzten Jahren kam es zu gewaltigen Entwicklungen in vielen
alltagsrelevanten Wissenschaftsbereichen. Am offensichtlichsten sind
diese Fortschritte für viele Menschen wahrscheinlich auf dem Sektor
der Kommunikationstechnik, der sich seit der Einführung des Internets
sehr schnell entwickelt hat, seit wenigen Jahren aber wiederholt extreme Veränderungen erfährt. Ein anderer Sektor, der bei weitem nicht so
öffentlichkeitswirksam, aber von mindestens gleichwertiger Relevanz
für die Menschheit ist, auf dem sich in den letzten Jahren eine Revolution vollzogen hat, ist die Gentechnik. Der Begriff „Gentechnik“, der
bei vielen Menschen oft ausschließlich mit genetisch veränderten Le31
bensmitteln assoziiert wird, umfasst dabei jedoch weitaus mehr als den
viel diskutierten Genmais.
Die Brockhaus Enzyklopädie definiert Gentechnologie wie folgt:
„Gentechnologie bezeichnet ein Teilgebiet der Molekularbiologie und
Molekulartechnik, das sowohl die theoretischen Aspekte als auch die
praktischen Methoden umfasst, durch die Gene und deren Regulatoren
isoliert, analysiert, verändert und wieder in Organismen eingebaut
werden.“1 Das heißt zusammengefasst, dass der Begriff „Gentechnik“
allgemein die nicht natürliche Veränderung und Rekombination von
Genen von Organismen sowohl auf theoretischer als auch auf praktischer Ebene beschreibt.
Um zu verstehen, wie Gentechnik funktioniert, ist es hilfreich, sich
einige biologische Grundlagen zu verschaffen. Zunächst also die Klärung der Frage: Was sind eigentlich Gene?
Als Gen bezeichnet man eine bestimmte, codiert auf der DNA einer
Zelle vorliegende Information über den Bau von Proteinen, die zur
Ausprägung eines Merkmals führt. Die DNA (= desoxyribonucleic
acid) hat die Struktur einer Doppelhelix, besteht aus 2 zusammengefügten komplementären Strängen. Diese sind zusammengesetzt aus
Untereinheiten, den Nukleotiden, die jeweils drei Hauptbestandteile
haben: einen Phosphatrest, einen Zucker und eine von vier Basen. Dabei wird die genetische Information durch die Abfolge dieser Basen
(Adenin, Thymin, Guanin, Cytosin) an einer bestimmten Stelle codiert.
Die DNA enthält Millionen von Genen. Mit lediglich vier vorkommenden Basen handelt es sich bei der DNA um einen theoretisch leicht
zu lösenden Code. Wie schwer die Entschlüsselung praktisch jedoch
ist, zeigt das Human Genome Project, im Zuge dessen erst 2003 die
menschliche DNA komplett entziffert wurde, da die Basen der DNA
aufgrund ihrer sehr geringen Größe und ihrer gigantischen Anzahl
sehr aufwändig zu bestimmen sind. Außerdem wurde das heute gültige Doppelhelix-Modell, das den Aufbau der DNA beschreibt und damit notwendige Grundlage aller weiteren Forschungen ist, erst im Jahre 1953 durch die Forscher James Watson und Francis Crick aufgestellt,
die für diese Entdeckung 1962 mit dem Nobelpreis der Medizin ausgezeichnet wurden.
Gene sind also Informationen, die durch Basensequenzen der DNA
1
32
Brockhaus (1989)
codiert sind. Genau dort setzt Gentechnik an. Das Ziel der Gentechnik
sind diese Basen. Versucht wird, die Basensequenz so zu verändern,
dass sich dadurch für den betreffenden Organismus veränderte Eigenschaften ergeben.
Bis vor einiger Zeit bestand Gentechnik oft darin, fremdes Erbmaterial in jenes der behandelten Zelle zu integrieren und zu hoffen, dass
sich dadurch ein positiver Effekt einstellt. Inzwischen haben sich die
verwendeten Methoden jedoch drastisch verändert, sodass der Mensch
mittlerweile in der Lage ist, die DNA hochpräzise und nach Wunsch zu
verändern. Seit langer Zeit wird die Gentechnik bereits auf Pflanzen
angewendet, man spricht in diesem Zusammenhang von „grüner Gentechnik“2. Bei dieser ist in der Regel das Ziel der Forschung, die Eigenschaften der betreffenden Pflanzen für die geplante Anwendung zu
optimieren. So können zum Beispiel Pflanzenarten gegen Schädlinge
oder andere widrige Umwelteinflüsse resistent gemacht werden oder
Wuchseigenschaften verbessert werden, des Weiteren ist eine Verbesserung des Gehalts an Nährstoffen und Vitaminen bei Nahrungspflanzen möglich.
Die sogenannte „rote Gentechnik“, auch medizinische Biotechnologie genannt, beschäftigt sich dagegen mit der genetischen Veränderung
von Wirbeltieren, daher auch des Menschen.3 Dabei geht es primär
darum, Krankheiten zu heilen. Die Gentechnik am Menschen war bisher wenig erfolgreich, ein sicheres Verfahren zur Veränderung der
DNA fehlte. Korrekturen konnten nur durch die Einbringung fremden
Erbgutes mithilfe von adaptierten Viren durchgeführt werden. Die
Erfolgsquote tendierte bei diesem Verfahren stets gegen null, weil die
Rekombination der DNA mit der fremden DNA bei diesem Verfahren
zufällig abläuft, sodass das therapeutische Gen an einem zufälligen Ort
in die DNA integriert wird. An einigen Stellen hat aber selbst ein eigentlich „gutes“ Gen fatale Folgen: Durch die Behandlung einiger
Krankheiten kann es zum Ausbruch neuer Krankheiten kommen. So
erkrankten nach einem Modellversuch zur Heilung des WiskottAldrich-Syndroms der Münchner Uniklinik sieben von zehn behandelten Kindern in der Folge an Leukämie (Typus C91 + C92), zwei starben
daran bis heute. Umfassende Untersuchungen bestätigten, dass durch
2
3
Wikipedia. (2014a)
Wikipedia. (2014b)
33
die Therapie Gene aktiviert worden waren, die den Ausbruch der Erkrankung begünstigt hatten.4
Seit wenigen Jahren verbreitet sich jedoch ein neues Verfahren zur
Bekämpfung von Krankheiten. Mithilfe dieser neuen Methode ist theoretisch eine zu hundert Prozent exakte Bearbeitung der DNA jedes
Lebewesens möglich. Auch die ersten praktischen Tests zeigen generell
positive Ergebnisse, so wurde dieses neue Verfahren bereits einige Mal
erfolgreich angewendet. Diese CRISPR (Clustered Regularly Interspaced Short Palindromic Repeats) genannte Technik nutzt dabei zwei
Grundelemente, einen RNA-Abschnitt, der künstlich erzeugt wird und
dafür sorgt, dass das zweite Element, ein Enzym, an der richtigen Stelle
arbeitet. Experten versprechen sich von dieser neuen Methode in naher
Zukunft die sichere Heilung aller genetisch bedingten Krankheiten.5
Gentechnik – Pro und Contra
Seit dem Aufkommen der Gentechnik existiert auch eine große Debatte
über dieses Thema. Immerhin geht es dabei direkt um die Gesundheit
der Menschen und weltbewegende Veränderungen.
Auf der einen Seite der Auseinandersetzung lehnen die erklärten
Gegner der Gentechnik diese aufgrund von gesundheitlichen Gefahren
für den Menschen ab, die möglicherweise entstehen oder verursacht
werden. Häufig vorgebrachte Argumente, die von Gegnern der Gentechnik vorgebracht werden, thematisieren die möglichen Gefahren
durch die unzureichenden wissenschaftlichen Erkenntnisse in diesem
Zusammenhang, besonders in Bezug auf die Langzeitwirkung von
Eingriffen in den genetischen Code. Denkbare negative Auswirkungen
sind zum Beispiel Anpassungsreaktionen, sowohl von Schädlingen als
auch des Organismus selbst, sodass die veränderten Organismen anderen schaden könnten. Dieses sind jedoch ausschließlich Vermutungen.
Starke Kritik erheben Gegner außerdem gegen Versuche, die durchgeführt werden, um wissenschaftlich aussagekräftige und unbestreitbare
Beweise der Funktionsfähigkeit bestimmter Verfahren zu erhalten.
Außerdem werden die verwendeten Methoden, bei denen die behandelten Organismen nahezu immer zum Weiterleben unfähig zugerich4
5
34
Hamberger (2014)
Zu Potenzialen und Risiken dieser Methode vgl. Ledford (2015)
tet werden, angezweifelt.
Andere Gegner stützen ihre Kritik auf ethische Bedenken, argumentieren also auf philosophischer Grundlage.
Ein sehr wichtiges Argument ist religiös motiviert: laut der Schöpfungsgeschichte schuf Gott den Menschen nach seinem Bilde, der Text
in Gen 1,27 lautet: „So schuf Gott die Menschen nach seinem Bilde, als
Gottes Ebenbild schuf er sie.“6 Aufgrund dieser Aussage lehnen viele
gläubige Menschen Gentechnik grundsätzlich ab. Denn für sie steht
fest: Was Gott geschaffen hat, darf der Mensch nicht verändern und die
Aussage, dass der Mensch so geschaffen ist wie Gott, macht Gentechnik nicht ausschließlich für orthodoxe Christen zu einer Perversion,
bedeutete diese doch ein Hinwegsetzen der Menschen über Gott, die
Annahme, dass der Mensch mächtiger sei als Gott. Für viele Menschen
eine furchtbare Anmaßung, die bereits seit dem Mittelalter unter den
Gelehrten diskutiert wurde. Die Alchemie hatte große Anziehungskraft, der Versuch, durch Verwandlung real existierender Stoffe den
Menschen selbst zu verwandeln, war lange Zeit sehr verlockend. So
beschreibt Goethe im Faust II die Erschaffung eines künstlichen Menschen durch den Gelehrten Wagner, der sich in seiner Hybris mächtiger
fühlt als Gott. Bezeichnenderweise kommt im selben Moment Mephisto
in das Labor, wird vom künstlichen Homunculus, der nur im Reagenzglas existieren kann, herzlich begrüßt: „Du aber, Schalk, Herr Vetter,
bist du hier? Im rechten Augenblick, ich danke dir.“7 Der Bund mit
dem Teufel wird mit der Metapher der Verwandtschaft deutlich gemacht. In Goethes Dichtung hat Homunculus keine wirkliche Überlebenschance, er kann nur im Reagenzglas existieren. Dies zeigt deutlich
die Position des Verfassers zu dem Thema.
Viele Kritiker befürchten zudem, dass durch den gesellschaftlich
anerkannten, erfolgreichen Einsatz der Gentechnik in der Krankheitsbekämpfung die zunehmend kommerzielle Nutzung gentechnischer
Verfahren auf anderen Gebieten mit dem Ziel entsprechender Gewinnabschöpfung sich mehr und mehr der politischen Kontrolle entzieht.
Hierbei wird besonders auf die potentiellen Missbrauchsmöglichkeiten
hingewiesen. Der Mensch wäre bei entsprechender Ausreifung der
Gentechnik mit Sicherheit in der Lage, Superorganismen zu erschaffen,
6
7
Gute Nachricht Bibel (1997)
Goethe (1986)
35
die für falsche Zwecke genutzt Furchtbares ausrichten könnten. Sogar
die kriegstechnische Nutzung der Gentechnik ist kaum abwegig, könnte bei entsprechend hoher Kompetenz ebenfalls dramatische Auswirkungen haben.
Zahlreiche Kritiker führen als Argument oft das empfindliche
Gleichgewicht der Natur an, das durch den Eingriff des Menschen in
Form von Gentechnik heikel gestört werden könnte. Das Worst-CaseSzenario beschreibt dabei Auswirkungen, die bis zur vollständigen
Vernichtung der Menschheit führen.8 Erscheinen diese Befürchtungen
stark übertrieben, ist die Abwegigkeit dieser jedoch keinesfalls zu beweisen. Kritiker der Gentechnik geben zu bedenken, dass der Mensch
nicht im Geringsten über allumfassendes Wissen der Natur verfüge,
scheint es auch so, als nähme er das manchmal an. Je mehr der Mensch
verändert, desto größer wird seine Verantwortung für alles Leben.
Wenn der Mensch nicht in der Lage ist diese Verantwortung zu tragen,
sollte er sich bemühen nichts so Grundlegendes zu verändern.
Eine weitere negative Folge der Gentechnik könnte sich ergeben,
wenn diese zur gängigen Behandlungspraxis wird. Im Moment sieht es
so aus, als wenn eine solche Art der Behandlung zwar bald relativ sicher möglich sein wird, jedoch zeichnet sich auch ab, dass damit enorme Kosten verbunden sein werden. Es ergäbe sich vermutlich ein Dilemma: Es wäre zwar möglich alle genetisch bedingten Krankheiten zu
heilen, jedoch nur für die Menschen, die in der Lage wären, die gewaltigen finanziellen Aufwendungen zu tragen. Krankenkassen würden
solche Summen wohl kaum aufbringen. Das Prinzip Gesundheit gegen
Geld hat, speziell bei der Gentechnik, erhebliches Konfliktpotenzial
und ist in dieser Ausprägung eigentlich kaum noch moralisch zu vertreten. Eine mögliche Rechtfertigung gäbe der Utilitarismus mit seinem
Grundsatz, nach möglichst viel Wohlergehen für möglichst viele zu
streben.
Wenn man eine neue Art der Krankheitsbehandlung entwickelt,
ergibt sich daraus die moralische Verpflichtung sich nicht nur zu fragen, welche Probleme bei der unmittelbar geplanten Anwendung auftreten können, sondern auch: Kann diese Methode oder zumindest das
Wissen, das durch diese Methode erlangt wurde, für andere Zwecke
missbraucht werden? Wenn ja, welche Auswirkungen sind im
8
36
So z.B. Rees (2005)
schlimmsten Fall denkbar? Die Antwort auf die erste Frage fällt leicht.
Natürlich kann diese Technik missbraucht werden, sie ist schlicht nicht
kontrollierbar, wie bereits erwähnt. Zur zweiten Frage: Im Moment
scheint es durchaus denkbar, dass man mithilfe von Gentechnik Menschen über das normale Maß „verbessern“ könnte. Nicht Wiederherstellung von Normalzuständen, sondern gezieltes Gestalten des Patienten über das Natürliche hinaus. Ein solches Streben nach einem „perfekten“ Menschen erinnert stark an die Zielsetzung der Euthanasie, die
im nationalsozialistischen Deutschland unter der Führung Adolf Hitlers praktiziert wurde. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse des Biologen Charles Darwin waren soweit missbraucht worden, dass die Theorie vom Kampf ums Dasein in der Natur zur „Rassenhygiene“ benutzt
wurde. Menschen wollten mit denkbar unmenschlichen Methoden die
Schöpfung korrigieren. Die Erinnerung an solche Verbrechen wird im
Gedächtnis der Menschheit unauslöschlich bleiben, und die Anwendung von Gentechnik immer mit starken moralischen Bedenken versehen.
Trotz bemerkenswert vieler Positionen gegen die Anwendung von
Gentechnik, von denen ein kleiner Teil aufgezeigt wurde, gibt es auch
zahlreiche Gründe, die dafür sprechen, die Gentechnik zu nutzen.
Angefangen bei den Pflanzen ergeben sich bemerkenswerte Möglichkeiten. Denkbar und sehr wahrscheinlich sind Hochleistungspflanzen, die vielschichtig optimiert sind. Gezielte Manipulation macht
Pflanzen resistent gegen Schädlinge, lässt Pflanzen unter widrigeren
Bedingungen wachsen, erhöht den Ertrag der Ernte, verändert Inhaltsstoffe für mehr Nährstoffe und Vitamine sowie Mineralstoffe. Bei konsequenter Nutzung aller dieser Möglichkeiten könnte der Traum der
erfolgreichen Bekämpfung des Welthungers Wirklichkeit werden.
Der Vorteil, der wahrscheinlich alle anderen überwiegt, ist jedoch
die Heilung von Krankheiten. Und es geht dabei keineswegs nur um
einzelne, seltene Krankheiten. Nein, tatsächlich ist die Heilung aller
Krankheiten denkbar, abgesehen von psychischen Krankheiten selbstverständlich. Das würde einen Paradigmenwechsel von nie dagewesener Relevanz für die gesamte Menschheit bedeuten. Solange es Menschen gibt, gab es immer auch Krankheiten. Die Vorstellung einer Welt
ohne jegliche Krankheit ist von der Abwegigkeit für den Menschen
vergleichbar mit jener, ohne Hilfsmittel fliegen zu können.
37
Relativ einfach vorstellbar ist für die meisten Menschen noch die
Behandlung von Erbkrankheiten, da die DNA, in die bekanntlich bei
der Gentechnik eingegriffen wird, im Volksmund ja das „Erbgut“ ist.
Das Erschließen dieses Zusammenhangs fällt deshalb leicht. Von der
Behandelbarkeit aller anderen Krankheiten wissen die meisten Menschen jedoch nicht. Viruserkrankungen zum Beispiel werden in Zukunft behandelt, indem die Immunabwehr genetisch verbessert wird
oder Zellen in der Weise verändert werden, dass sie resistent gegen alle
Art Viren sind. Ähnlich die Möglichkeiten bei bakteriellen Erkrankungen. Neben diesen primären Krankheiten ergeben sich sogar gewaltige
Aussichten für die Behandlung von Verletzungen. Neben Beschleunigung der Wundheilung scheint es sogar möglich, bleibende Schäden zu
bekämpfen, zerstörtes Gewebe zu regenerieren. Die Behandlung einer
Narbe gehört dabei ebenso dazu, wie das Regenerieren verlorener Körperteile, was der Körper in vielen Fällen nicht alleine schafft. Die genetisch initiierte Regeneration bestimmten Gewebes würde darüber hinaus sogar viele Operationen ersetzen. Solche umfassenden Möglichkeiten lassen bereits Überlegungen zu, ob der Tod irgendwann vermeidbar sein wird.
Weitere Vorteile kann die Gentechnik bei der Entwicklung von Medikamenten bringen. So können beispielsweise bakterielle „Gentechnisch veränderte Organismen“ (GVO), wenn sie menschliche Gene für
Insulin versetzt bekommen, nahezu identisches Insulin herstellen, dass
viele Vorteile gegenüber Insulin bietet, das durch andere Methoden
gewonnen wird. Außerdem kann, wenn die DNA eines Bakteriums
oder Virus´ entschlüsselt wurde, aus den Daten ein Impfstoff entwickelt werden, der das Potential hat, alle Menschen gegen die von diesen Erregern verursachten Krankheiten immun zu machen.9 Durch
Gentechnik wäre es letztendlich auch möglich, bedrohte Lebewesen zu
schützen oder sogar ausgestorbene wieder zu erschaffen.10
9
10
38
Kritisch hierzu: Klimpel (2012)
Kupferschmidt (2014)
Fazit
Zusammenfassend bleibt festzustellen, dass die Entscheidung für oder
gegen Gentechnik nicht absolut und allgemeingültig gefällt werden
kann. Rein rational ist die Entscheidung über Gentechnik nämlich nicht
möglich. Dass trotzdem fast jeder Mensch, den man darauf anspricht,
eine Meinung zu diesem Thema hat, liegt folglich daran, dass es dem
Mensch schwerfällt rein rational zu entscheiden. So spricht jeden Menschen mindestens ein Argument aufgrund von persönlichen Erfahrungen oder individueller Prioritätensetzung mehr an als die anderen,
sodass es ihn von der Position, für die es spricht, überzeugt. Dem einen
gehen Moralvorstellungen oder christlicher Glaube über alles, dem
anderen sind mögliche Positiva wichtiger, sodass er die Pro-Gentechnik
Position vertritt. Ich finde bei beiden Positionen schlagkräftige Argumente, sodass meine ausschließliche Entscheidung für eine Position die
Leugnung von unwiderlegbaren Thesen der Gegenposition bedingen
würde. Die beste Lösung wäre meiner Meinung nach nicht der Grundsatzstreit der konträren Ansichten, sondern ein Versuch der Kompromissfindung.
Da die Entwicklung der Gentechnik nicht aufzuhalten ist, sollte sich
die Gesellschaft mit der Einschränkung und Optimierung befassen und
sich für deren Anwendung ethische Normen setzen.
39
Literatur- und Quellenverzeichnis
Brockhaus Enzyklopädie (1989): „Gentechnik“. In: Band 8 (FRAU-GOS),
19. Auflage, Mannheim
Goethe, Johann Wolfgang (1986): Faust. Der Tragödie zweiter Teil in fünf
Akten. Stuttgart, 2. Akt, Vers 6885f.
Gute Nachricht Bibel (1997). Revidierte Fassung der „Bibel in heutigem
Deutsch“, Stuttgart
Hamberger, Beatrice (2014): Rückschlag bei Therapie des Wiskott-AldrichSyndroms. (18.03.2014). URL: http://www.gesundheitsstadt-berlin.de/
rueckschlag-bei-therapie-des-wiskott-aldrich-syndroms-3381/ (Stand: 17.
06.2015)
Klimpel, Annett (2012): Frankenstein-Insekten als Waffe gegen Malaria.
(10.02.2012). URL: http://www.welt.de/wissenschaft/article13859267/
Frankenstein-Insekten-als-Waffe-gegen-Malaria.html (Stand: 09.07.2015)
Kupferschmidt, Kai (2014): Mammutprobleme. Forscher wollen Tiere zum
Leben erwecken. (19.04.2014). URL: http://www.tagesspiegel.de/wissen/
forscher-wollen-tiere-zum-leben-erwecken-mammutprobleme/9781618.html
(Stand: 17.06.2015)
Ledford, Heidi (2015): Werkzeug der Genmanipulation. Gentechnik: CRISPR
verändert alles. (24.6.2015). URL: http://www.spektrum.de/news/gentechnikcrispr-erleichtert-die-manipulation/1351915?utm_source=zon&utm_
medium=teaser&utm_content=feature&utm_campaign=ZON_KOOP
(Stand: 25.06.2015)
Rees, Martin (2005): Unsere letzte Stunde. Warum die moderne Naturwissenschaft das Überleben der Menschheit bedroht. München
Wikipedia. Die freie Enzyklopädie (2014a): „Grüne Gentechnik“. URL (Permanentlink): https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Gr%C3%BCne_
Gentechnik&oldid=143345064
Wikipedia. Die freie Enzyklopädie (2014b): „Rote Gentechnik“. URL (Permanentlink): https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Rote_Biotechnologie
&oldid=138418840
40
Anna Keussen
Zweite Preisträgerin
Bischöfliche Maria-Montessori-Gesamtschule Krefeld
Die Präimplantationsdiagnostik als ein großes ethisches
Diskussionsthema der Gegenwart
Inhaltsverzeichnis
1.
Einleitung .......................................................................................... 42
2.
Das Verfahren der Präimplantationsdiagnostik ........................... 42
2.1
Extrakorporale Befruchtung............................................................ 43
2.2
Überprüfung der künstlich befruchteten Eizelle ......................... 43
2.2.1
Embryobiopsie .................................................................................. 43
2.2.1.1 Blastomerbiopsie............................................................................... 43
2.2.1.2 Blastozystenbiopsie .......................................................................... 43
2.2.2
Polkörperbiopsie der Eizelle ........................................................... 44
3.
Aktuelle Gesetzessituation in Deutschland .................................. 44
4.
Die Debatte um die Präimplantationsdiagnostik......................... 45
4.1
Ausschluss von Erbkrankheiten und Heilung kranker
Familienangehöriger als Chance ..................................................... 45
4.2
Eingriff in das menschliche Erbgut ............................................... 47
4.2.1
Die Würde des Menschen ............................................................... 47
4.2.2
Auf dem Weg zur Selektion ............................................................ 48
5.
Schlussbewertung ............................................................................ 49
6.
Literatur- und Quellenverzeichnisverzeichnis............................. 51
41
1.
Einleitung
Die moderne Welt ist von der Technik gezeichnet und bestimmt. Aber
nicht nur moderne Technologien und die Medizin entwickeln sich
mit jedem Tag weiter, auch in der Genforschung werden enorme
Fortschritte gemacht.
Im Rahmen des Aufsatzwettbewerbs „Darf der Mensch alles, was
er kann? - Bioethische Grenzen in der Forschung“ des Förderkreises
für Bildungsarbeit im KKV e.V. setzt sich diese Arbeit mit der
Präimplantationsdiagnostik (PID) und den durch diese aufgeworfenen
Fragen auseinander. Die Thematik der Präimplantationsdiagnostik
ist auch noch nach der Diskussion im Bundestag ein hochaktuelles
Thema und wird sowohl in Presse, als auch den modernen Medien
in unzähligen Beiträgen diskutiert, da sie den Eingriff in die Menschwerdung und die biologischen Prozesse der Fortpflanzung darstellt.
Im ersten Teil wird das Verfahren der Präimplantationsdiagnostik
kurz vorgestellt und darauffolgend mit Hilfe von ausgewählten P round Contra-Argumenten bewertet. Dabei sollen neben Fragen nach
richtigem oder falschem Handeln auch religiöse Aspekte zu den heutigen Möglichkeiten in der Reproduktionsmedizin und die aktuelle
Gesetzeslage in Deutschland in Betracht gezogen werden.
2.
Das Verfahren der Präimplantationsdiagnostik
2.1
Extrakorporale Befruchtung
Zur Präimplantationsdiagnostik muss eine extrakorporale, befruchtete
Eizelle vorliegen. Durch eine vorangegangene Hormontherapie wird
es der Frau ermöglicht, mehr als nur eine Eizelle pro Zyklus zu produzieren, um eine spätere Untersuchung und Selektion überhaupt
einzuleiten. Die Eizellen werden dem Uterus operativ entnommen
und in flüssigem Stickstoff bei einer Temperatur von minus 196°
Celsius1 eingefroren und gelagert. Befruchtet wird die Eizelle anschließend entweder durch die In-Vitro-Fertilisation, kurz IVF, oder
mit Hilfe der intrazytoplasmatischen Spermieninjektion (ICSI).
Bei der In-Vitro-Fertilisation (lateinisch „im Glas“), wird die Be1
42
Kinderwunschzentrum Mittelhessen (2014)
fruchtung im Reagenzglas durchgeführt. Die Eizelle wird in ein
Spermien und Nährboden enthaltendes Reagenzglas gegeben. Wie
bei einer Befruchtung in vivo verschmilzt das Spermium, das als
erstes die Eizelle erreicht, mit eben dieser. Das Sperma wird folglich
nicht nach bestimmten Kriterien ausgewählt. Nach zwanzig Stunden
kann eine Befruchtung bestätigt oder negiert werden.2
Bei einer intrazytoplasmatischen Spermieninjektion wird ein einzelnes Spermium unter dem Mikroskop in die Eizelle injiziert. Diese
Methode wird vornehmlich angewandt, wenn beispielsweise die Anzahl der Spermien im Ejakulat zu gering für eine IVF ist.
2.2
Überprüfung der künstlich befruchteten Eizelle
2.2.1
Embryobiopsie
2.2.1.1 Blastomerbiopsie
Die Blastomerbiopsie wird im sogenannten 8-Zell-Stadium des
Embryos, also circa „drei Tage nach der Befruchtung“3 durchgeführt.
Dabei werden dem Embryo ein bis zwei Zellen durch Ansaugung
und Perforation der Eihaut entnommen und ihre DNA auf „krankheitsrelevante[r] Mutationen“4 untersucht. Es handelt sich bei diesen Zellen um totipotente Zellen, das heißt, sie sind unter gewissen Umständen in der Lage, sich zu einem vollständigen Organismus zu entwickeln.
2.2.1.2 Blastozystenbiopsie
Die Blastozystenbiopsie wird fünf bis sechs Tage nach der Befruchtung
in einem Stadium von 32-58 Zellen angewandt.5 Hierbei werden bis zu
zehn Zellen extrahiert, wobei das Verfahren aufgrund der engeren
Zellverbindung wesentlich komplizierter und risikoreicher für den
Embryo ist, als es bei der Blastomerbiopsie der Fall ist. Auch hier wird
im folgenden Schritt die DNA auf mögliche negative Mutationen
untersucht. Die Zellen sind nun pluripotent, weshalb sie sich faktisch
nicht mehr zu einem eigenständigen Organismus entwickeln können.
2
3
4
5
Diethard (2004), S. 161
Deutsches Referenzzentrum (2014b)
Ebd.
Ebd.
43
2.2.2
Polkörperbiopsie der Eizelle
Eine Polkörperbiopsie der Eizelle zählt streng genommen nicht zur
PID, sondern gehört der Präkonzeptionsdiagnostik an und bildet
damit ein Gegenstück der extrakorporalen Untersuchung zur PID.
Hierbei werden die Polkörper der Eizelle, die das Genmaterial tragen, vor einer künstlichen Befruchtung untersucht. Die Zerstörung
eines Embryos ist ausgeschlossen. Die Analyse liefert jedoch nur Aufschluss über das mütterliche Erbgut. Sie kann „durch die präkonzeptielle Untersuchung männlicher Samenzellen ergänzt werden“6,
welche bei der Prozedur allerdings vorwiegend zerstört und damit
unbrauchbar gemacht werden.
3.
Aktuelle Gesetzessituation in Deutschland
Das 1991 in Kraft getretene Embryonenschutzgesetz (ESchG), gilt bis
heute mit nachträglich verfassten Additionen als Gesetzesgrundlage
der Präimplantationsdiagnostik. Das Gesetz definiert in dreizehn Paragraphen den richtigen Umgang mit Embryonen und die strafrechtliche
Verfolgung bei der Missachtung des Gesetzes. Besonders interessant
für die Thematik der Präimplantationsdiagnostik sind § 3a „Präimplantationsdiagnostik; Verordnungsermächtigung“7 und § 8 Abs. 1
und 2 „Begriffsbestimmung“8. Der § 8 Abs. 1 definiert ein Embryo
„vom Zeitpunkt der Kernverschmelzung an“9, demnach eine befruchtete und entwicklungsfähige Eizelle und darüber hinaus jegliche
dem Embryo entnommene totipotente Zelle, die sich unter gegebenen Umständen zu einem Embryo entwickeln könnte. § 3a wurde
nach einer Debatte im Bundestag am 7. Juli 2011 dem ESchG hinzugefügt. Vorausgegangen war dieser Ergänzung der Freispruch des Berliner Gynäkologen Dr. Bloechle durch den 5. („Leipziger“) Strafsenat
des Bundesgerichtshofs im Juli 2010 vom Verdacht, gegen § 1 Abs. 1
Nr.2 und § 2 Abs. 1 ESchG verstoßen zu haben.10 Die Abstimmung
über die Erweiterung des ESchG erfolgte ohne Fraktionsdisziplin.
6
7
8
9
10
44
Ebd.
ESchG, § 3a
ESchG, § 8, Abs. 1 und 2
ESchG, § 8, Abs. 1
Deutsches Referenzzentrum (2014c)
Die PID ist seitdem in einzelnen Fällen rechtlich erlaubt. Die Paare
müssen sogenannte „Risikopaare“11 sein, deren leiblichen Kindern
eine schwerwiegende Erbkrankheit droht. In dem jeweiligen Fall
entscheiden interdisziplinäre Ethikkommissionen über eine Genehmigung der PID. Alle Fälle werden anonym dokumentiert und werden
vierjährlich von der Bundesregierung in einem Bericht herausgegeben.
4.
Die Debatte um die Präimplantationsdiagnostik
4.1
Ausschluss von Erbkrankheiten und Heilung kranker Familienangehöriger als Chance
Die Entscheidung, auf die PID als Reproduktionsverfahren zurückzugreifen, geschieht nicht nach Belieben, sondern aus „Notsituationen“12 heraus, in denen sich Eltern befinden, „die um eine verhängnisvolle erbliche Belastung wissen oder die das Drama einer Tot- oder
Fehlgeburt erlebt haben.“13 Die PID stellt folglich eine Alternative zu
einer späteren Abtreibung dar.
Im Falle von in der Familie vorkommenden Erbkrankheiten kann
die PID hilfreich sein, um ein weiteres Ausbrechen der Krankheit zu
unterbinden. Das modifizierte ESchG ermöglicht diese vorgeburtliche
Selektion von Embryonen in Einzelfällen, jedoch existiert ein festgelegter Krankheitskatalog für die Zulassung einer PID nicht und es soll
auch keiner aufgestellt werden. Die PID soll in Fällen angewandt werden, in denen sie „wirklich Leid verhindern kann“14. Sie soll nicht ein
„kategorisches Urteil über bestimmte Krankheitsbilder und über lebensunwertes und lebenswertes Leben fällen“15. Insgesamt wurden
bisher etwa 170 Krankheiten16 mit Anwendung der PID festgestellt.
Trotz des Listenverbotes werden vereinzelte Krankheiten häufiger aufgeführt als andere, dazu zählen unter anderem Chorea Huntington,
Spinale Muskelatrophie, Cystische Fibrose oder die Muskeldystro-
11
12
13
14
15
16
Wallner (2009)
stern.de (2011)
Ebd.
Reutlinger General-Anzeiger (2003)
Frank (2011)
Henn (2014)
45
phie Typ Duchenne.17 Allgemein wird nach X-chromosomal bedingten, beziehungsweise einzelne Chromosomen betreffenden Krankheiten gesucht.18
Die Methode zur Überprüfung der Human- LeukocyteAntigen‑Kompatibilität, kurz HLA-Kompatibilität, ermöglicht es
Eltern eines von einer Erbkrankheit betroffenen, Kindes ein „saviour
sibling“, zu Deutsch ein „ Rettergeschwisterchen“, zu identifizieren.
Stimmt die HLA-Kompatibilität von Embryo und erkranktem Kind
überein, wird dieser Embryo in den Uterus transferiert. Nach der
Geburt dient ein „saviour sibling“ seinem erkrankten Geschwisterkind durch Spenden von Gewebe und Stammzellen zur Heilung.
Berühmt geworden ist diese Art von Entscheidung zur PID besonders durch den Roman „My Sisters Keeper“ von Jodi Picoult, der
von der dreizehnjährigen Anna erzählt, die als Knochenmarkspenderin für ihre ältere, an Leukämie erkrankte Schwester in vitro ausgewählt wurde.19 Der erste reale Fall ereignete sich 2000 in den USA, als
Adam Nash als gesunder und kompatibler Spender für seine an
Fanconi‑Anämie erkrankte Schwester geboren wurde. 20 Das Verfahren
ist in Deutschland, sowie in Österreich und der Schweiz verboten, um
eine Verselbstständigung zu verhindern.
Mit der PID sinken gleichzeitig die Risiken für eine spätere Abtreibung gegen Null, da in den Uterus nur gesunde Embryonen
eingepflanzt werden. Eine Pränataldiagnostik, kurz PND, die die
Erkenntnis mit sich bringen kann, dass eine Abtreibung für die Mutter
sinnvoller ist, ist nahezu ausgeschlossen. Vor der Debatte im Bundestag
äußerte sich CDU-Politiker Peter Hintze folgendermaßen zu dem Thema:
„Ein totales PID-Verbot würde zu schweren Wertungswidersprüchen in unserer Rechtsordnung führen. Diese erlaubt den Gebrauch
nidationshemmender Mittel, (...) schon jetzt rechtlich eine Untersuchung des Embryos im Mutterleib und nach Beratung eine Abtreibung (...). Auch eine Spätabtreibung ist sogar bis zur Geburt möglich
(...).“21
17
18
19
20
21
46
Deutsches Referenzzentrum (2014a)
European Journal (2009)
Picoult (2005)
The Status of the Human Embryo (2014)
stern.de (2011)
Hintze zeigt hier den Widerspruch auf, dass der Embryo auf der einen Seite vom Gesetz her geschützt werden soll und auf der anderen
Seite aber auch bis kurz vor der endgültigen Menschwerdung, der
Geburt, abgetrieben werden darf. Frauen „bei Vorliegen einer schweren genetischen Belastung gewissermaßen in diese Konfliktsituation zu
treiben“22, sei ethisch und rechtlich unvertretbar, weswegen die PID
eine alternative Form der erfolgreichen Krankheitsprävention anbietet.
4.2.
Eingriff in das menschliche Erbgut
4.2.1
Die Würde des Menschen
„Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu
schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“23
Dieser Satz ist in der deutschen Verfassung der erste Abschnitt und
spielt in der Argumentation um die PID in direkter, beziehungsweise
veränderter Form eine enorme Rolle. Der Begriff der Würde des
Menschen existiert jedoch nicht erst seit Inkrafttreten des deutschen
Grundgesetztes am 23. Mai 1949, sondern blickt auf eine lange Geschichte zurück.
Zwei Wurzeln für die moderne Definition der Menschenwürde finden sich in der Antike wieder: zum einen in der griechischen „Selbstachtung des Individuums“24 und zum anderen in der jüdischchristlichen Ergänzung der „Achtung vor dem Anderen“25. Der
Mensch wurde als Ebenbild Gottes geschaffen (Gen 1,26) und stellt
dessen Vertreter auf Erden dar. Er wacht über Gottes Schöpfung und
das Leben. Damit ist der Mensch zugleich ebenso unverfügbar wie
Gott, dessen Unverfügbarkeit sich im biblischen Bilderverbot (Ex 20,4)
äußert. Ein rigoroses Bilderverbot soll die Verdinglichung verhindern
und zwar nicht nur die Gottes, sondern auch die des Menschen.26
Genau an diesem Punkt muss man ansetzen und fragen, ob eine
extrakorporale Befruchtung, die eine PID mit sich führt, die Gottesebenbildlichkeit und letztendlich die Menschenwürde nicht verletzt, da sie das Bild des Menschen neu zu formen vermag. Um dies zu
22
23
24
25
26
Ebd.
Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Art. 1, Abs. 1
Gebhard et al. (2005), S. 175
Ebd.
Ebd., S. 35
47
beantworten, ist eine Definition vonnöten, wann der Mensch, beziehungsweise der Embryo als Mensch mit Anrecht auf Würde und
Leben wahrzunehmen ist. Das deutsche ESchG sieht einen Embryo
als das sofortige Ergebnis der Befruchtung an (siehe Kapitel 3 ), aber
dadurch ebenfalls auch automatisch als Menschen? Die katholische
Kirche spricht mit der Befruchtung vom „embryonalen Menschen“27
und statuiert damit sofort, dass sich selbst die gerade befruchtete
Eizelle schon auf dem Weg der „Menschwerdung“28 befindet. Der
Embryo ist bereits eine Person und hat daher Anrecht auf Würde und
Leben, was durch eine Selektion während der PID missachtet würde.
Definiert man den Embryo zu Beginn hingegen als „menschlichen
Embryo“29, ist er noch keine Person mit Anspruch auf Leben und
Schutz, sondern befindet sich noch auf dem Weg dorthin. Aus dieser
Perspektive kann man den Prozess der Entwicklung genau festlegen
und einen Zeitpunkt bestimmen, wann der Mensch Mensch wird.
Diese eher biologische Annäherung ermöglicht die PID und das Selektieren von Embryonen ohne einen direkten moralischen Konflikt, der
Tötung einer Person.
Für diejenigen, die sich in der Debatte um die ethische Richtigkeit
der PID gegen diese aussprechen, ist die Unantastbarkeit der Würde
des Menschen ein häufig angeführtes Argument. Denn, wie oben
bereits angeführt, ist der Embryo mit der Kernverschmelzung ein
menschliches Wesen und nicht erst nach der beispielsweise dritten
Zellteilung. Folglich steht ihm das Recht auf Leben zu, denn die Menschenwürde gilt nicht nur für die auserwählten gesunden Embryonen,
sondern ebenso für die „schadhaften“30.
4.2.2
Auf dem Weg zur Selektion
Das Wort „Designerbaby“ ist seit 1985 ein feststehender Begriff, der
Babys beschreibt, die durch In-Vitro-Fertilisation entstanden sind
und deren Gene auf Grund gewisser Präferenzen untersucht und
modifiziert wurden. Die Gegner der PID sehen genau diesen Vorgang
als Gefahr an. Denn am Anfang, also heutzutage, steht die Selektion
27
28
29
30
48
Huber (2013), S. 42
Ebd.
Ebd.
Willam (2011)
eines gesunden Embryos, aber was ist beispielweise in fünfzig oder
hundert Jahren wichtig und möglich, fragen sich die Gegner. Es ist
durchaus möglich, dass die Bestimmung von Augen und Haarfarbe
des Embryos auf Grund seiner DNA festgestellt werden kann,
wenn auch dieser Prozess heute noch nicht möglich ist, da viele
DNA- und Proteinstrukturen noch nicht vollends aufgeklärt sind. Es
ist das sogenannte „Dammbruchargument“31, welches angeführt
wird. Vor der neuen Gesetzesregelung in Deutschland (siehe Kapitel
3) lautete die Befürchtung ihrer Gegner, dass, werde die PDI in Einzelfällen erlaubt, sie sich bald verselbstständige und unerwartete Ausmaße an annähme.
Der achte Bundespräsident Deutschlands, Johannes Rau, hielt 2001
eine Rede über die Fortschritte in der Biotechnologie und die dadurch
aufkommenden ethischen Probleme. Im Zusammenhang mit dem
Thema Sterbehilfe brachte er die Eugenik zur Sprache, eine Passage, die
sich auch auf die PID anwenden lässt. Johannes Rau verweist darauf,
dass „die Geschichte uns hilft - nicht nur uns Deutschen - zu begreifen,
was geschieht, wenn Maßstäbe verrückt werden, wenn Menschen vom
Subjekt zum Objekt gemacht werden.“32
Dabei gilt dieser mögliche, negative Prozess nicht nur für die
Deutschen, sondern genauso für andere Länder, deren technischer
Fortschritt den Weg zum Designerbaby praktikabel machen kann.
Auch wenn zur Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland die PID technisch noch nicht umsetzbar war, sollten ihre Euthanasiebestrebungen als Warnung für die heutige Gesellschaft gelten,
um eine zukünftige Gesellschaft ohne Krankheiten und Behinderungen nicht zum Ziel werden zu lassen.
5.
Schlussbewertung
Die eingeschränkte Erlaubnis zu einer PID ist für deren Fürsprecher ein
erster Schritt zu einem krankheitsfreieren Leben, weil Erbkrankheiten
erkannt und unterbunden werden können. Darüber hinaus können
ausgewählte Embryonen bei der Heilung von erkrankten Geschwistern helfen, selbst wenn dies in Deutschland bisher nicht erlaubt ist.
31
32
Ebd.
Zitiert nach Graumann (2001), S. 26
49
Für ihre Gegner ist die PID hingegen der erste Schritt zu einem unkontrollierbaren Prozess, der nicht nur die Menschenwürde und das
von Gott geschenkte Leben in Frage stellt, sondern auch das menschliche Bestreben nach mehr und größerer Perfektion ins Rollen bringt,
was letztendlich zu sogenannten Designerbabys führen könnte.
Die PID greift vehement in die Schöpfung Gottes ein, aber nicht nur
das, sie unterbricht auch den natürlichen Lebensablauf des Menschen. Es wird über Merkmale geurteilt, die jeden Menschen einzigartig machen und ihm eine Identität geben. Auch wenn die PID in
einem Stadium der menschlichen Entwicklung angewandt wird, in der
es schwer zu differenzieren ist, ob der Embryo bereits unter Schutz
steht oder nicht, wird ein zukünftiges Leben vorab beeinflusst.
Ethisch handelt der Mensch in dieser Situation nach Albert Schweizer
nicht, da dies nur geschieht, „wenn ihm das Leben als solches, das der
Pflanze und des Tieres wie das des Menschen, heilig ist und er sich
dem Leben, das in Not ist, helfend hingibt“33, eine Gegebenheit, die
bei der Präimplantationsdiagnostik durch das Vorschieben guter
Absichten umgangen wird. Stattdessen befindet sich die Menschheit
mit der Benutzung der PID auf einem Weg zu einer homogenen
Gesellschaft, die keinerlei Fehler aufweist. Die Menschen, die noch
durch herkömmliche Reproduktion entstanden sind und eine Krankheit oder Behinderung aufweisen, werden im Extremfall an den Rand
der Bevölkerung gedrückt und geraten in eine Außenseiterposition.
33
50
AISL (2014)
6.
Literatur- und Quellenverzeichnisverzeichnis
AISL - Internationale Albert Schweitzer Vereinigung (2014): Ehrfurcht
vor dem Leben. URL: http://www.schweitzer.org/2012/de/leben-und-werk/
ehrfurcht-vor-dem-leben (Stand: 04.11.2014)
Baron, Diethard. u.a. (Hrsg.) (2004): Grüne Reihe. Materialien S II. Genetik.
Braunschweig
Deutsches Referenzzentrum für Ethik in Biowissenschaften (2014a): PIDAnwendung bei genetisch bedingten Krankheiten. URL: http://www.drze.de/
im-blickpunkt/pid/module/pid-anwendung-bei-genetisch-bedingtenkrankheiten-1 (Stand: 02.11.2014)
Deutsches Referenzzentrum für Ethik in Biowissenschaften (2014b):
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Deutsches Referenzzentrum für Ethik in Biowissenschaften (2014c): Urteil des Bundesgerichtshofs zur PID an Blastozysten. URL: http://www.drze.
de/im-blickpunkt/pid/module/urteil-des-bundesgerichtshofs-zur-pid
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51
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10.2014)
52
Regina Kirschner
Dritte Preisträgerin
St. Marien-Gymnasium der Schulstiftung der Diözese
Regensburg
Kinderwunsch auf Eis? – Zur ethischen Problematik des
Social Freezing
Inhaltsverzeichnis
1.
Problemerörterung ............................................................................... 54
2.
Ein abzulehnendes Angebot? .............................................................. 54
3.
Gegner und Befürworter des Verfahrens .......................................... 56
4.
Ethische Herausforderungen .............................................................. 58
5.
Utilitaristisches Angebot...................................................................... 60
6.
Zusammenfassung................................................................................ 62
7.
Literatur- und Quellenverzeichnis ..................................................... 62
53
1.
Problemerörterung
„Dynamisch, innovativ und wegweisend“, so in etwa könnte die Charakterisierung der beiden Wirtschaftsgiganten Apple und Facebook
lauten. Diese beiden Firmen eint nun die Idee zu einem Konzept, dass
jungen Mitarbeiterinnen mehr Freiheit und Flexibilität bezüglich der
Vereinbarung von Karriere und Familie bieten soll. Social Freezing soll
die langersehnte Lösung eines durch die Emanzipation bedingten Gewissenskonflikts sein. Im Klartext, auf die beiden oben genannten Unternehmen bezogen, bedeutet das folgendes: Junge, US-amerikanische
Arbeitnehmerinnen sollen die Möglichkeit nutzen, ihre Eizellen einfrieren zu lassen. Dies soll den zum persönlichen Glück beitragenden Kinderwunsch, auch jenseits des 40. Geburtstages, sichern. Das Verfahren
der Entnahme, Konservierung und Lagerung der unbefruchteten Zellen ist jedoch kostspielig.1 In Deutschland beispielsweise kann man
derzeit mit ca. 1.200 Euro für den Eingriff und je durchschnittlich 300
Euro für ein Jahr zur Aufbewahrung der Eizellen rechnen.2 Hinzu
kommen noch je nach Anbieter 3.000 bis 3.500 Euro für die präoperative Medikation. Bei dieser Summe wäre die Eizellenlagerung bereits mit
inbegriffen.3 Hier kommen Apple und Facebook ins Spiel. Sie übernehmen den finanziellen Part des Social Freezing. So erhält die Mitarbeiterin die Möglichkeit, sich voll und ganz auf ihren Beruf zu konzentrieren.4
2.
Ein abzulehnendes Angebot?
Auf den ersten Blick wirkt das Angebot sehr verlockend. Wer viel Zeit,
Aufwand und, besonders in den USA, jede Menge Geld in seine (Aus-)
Bildung investiert hat, möchte als junge Frau selbstverständlich in einer
Position arbeiten, die nicht nur den erreichten Qualifikationen entspricht, sondern auch aus monetärer Sicht nichts zu wünschen übrig
lässt. Mit anderen Worten: Es wird suggeriert, dass sich dank dieser
Technik Erfolg im Job und Familiengründung nicht ausschließen. Doch
wie gehen die Unternehmen mit den Mitarbeiterinnen um, die dieses
1
2
3
4
54
Weber (2015)
Grüneberg (2015)
ZEIT ONLINE (2014)
Weber (2015)
Angebot aus ethischen Beweggründen ablehnen?
Spiegel TV befragte junge Frauen zu diesem Thema.5 Ob diese Umfrage in einer Fußgängerzone nun repräsentativ ist, sei dahin gestellt,
jedoch werden klar und deutlich Bedenken geäußert. Dadurch würden
die Frauen eher unter Druck gesetzt, so eine Passantin. Denn die versteckte Aussage der Konzerne sei, dass sie von ihren Mitarbeiterinnen
erwarteten, die Arbeit als erste Priorität zu betrachten. Wie stünden die
Unternehmen dann zu jungen Müttern? „Ich frage mich gerade, was es
meinen Arbeitgeber angeht, was mit meinen Eizellen passiert?“ Das
Misstrauen dieser jungen Frau ist ebenso verständlich, wie die Aussage
einer weiteren Passantin, die der Meinung ist, dass die Beweggründe
von Apple und Facebook lediglich eine Steigerung der Qualität, der
Dauer und der Produktivität der Leistung der Arbeitnehmerin seien.
Eine andere Frau spricht sogar von Diskriminierung derer, die sich
nicht die Eizellen einfrieren lassen wollen würden. Würden jene dann
bei diesen Konzernen noch einen Arbeitsplatz bekommen?
Auch losgelöst von diesem von Apple und Facebook subventionierten Eingriff, sind die Meinungen zum Social Freezing in Deutschland
kontrovers. Eine Umfrage der „ZEIT“ ergab, dass 37 Prozent der Befragten nichts gegen eine nach hinten verschobene Familienplanung
mithilfe der Eizelleneinfrierung hätten, die Mehrheit sieht dies jedoch
anders. Doch es wird prognostiziert, dass sich in Zukunft mehr Frauen
für dieses Verfahren entscheiden werden. Grund zu dieser Annahme
liefern 53 Prozent der 14- bis 18-Jährigen, welche das Social Freezing
aus Karrieregründen befürworten.6 Bedeutet dies, dass in Zukunft
wirtschaftliche Aspekte unser Handeln mehr als zuvor bestimmen
werden? Oder sieht sich der Mensch einer neuen Stufe der Freiheit
gegenüber, die sein Leben verändern wird? Gelten jene, die sich gegen
diese Praxis aussprechen, als zurückgeblieben?
Der Sozialethiker Dr. Arne Manzeschke weist auf den Faktor der
Kontrolle hin.7 Dank des Social Freezing könnten Frauen selbstbestimmter schwanger werden und mehr Rücksicht auf die jeweils aktuelle Lebenssituation nehmen. Es gebe also die Möglichkeit, freier zu
agieren als bisher. Auf diese Weise werde das menschliche Handlungs5
6
7
Spiegel TV (2014)
Sharp (2014)
Bayerischer Rundfunk (2014)
55
spektrum erweitert. Freier zu sein, bedeutet auch, sich in einem größeren Umfang als bisher entscheiden zu müssen und damit wächst die
Verantwortung. Jedoch entstehe, laut Dr. Manzeschke, der Zwang, die
neugewonnene Freiheit auszuschöpfen. Auch kann es zu einer Überforderung kommen, wann der geeignete Zeitpunkt sei. Wann sprechen
rationale Gründe für das Auftauen der Zellen? Wenn ich einen Partner
gefunden habe? Wenn ich glaube, dass mein Arbeitsplatz sicher ist
oder gerade wenn ich im Beruf gescheitert bin? Zudem würden beim
Social Freezing Zufall, Liebe, Natur und Schicksal durch Kalkulation
ersetzt werden. Somit steht der Wert Kontrolle bei diesem Eingriff weit
über dem Wert Liebe, zumindest was die Schwangerschaft betrifft,
denn spontan würde wohl eine große Mehrheit der Frauen Liebe als
weitaus essentieller als Kontrolle betrachten. Das heißt, dass eine
scheinbar allgemeingültige Hierarchie von Werten die Wirklichkeit
nicht adäquat abzubilden vermag. Dringlichkeit und Höhe eines Wertes bleiben also völlig offen. Lediglich die betroffene Person, die junge
Frau, die sich nun wohl bald immer öfter dieser Entscheidung stellen
muss, bestimmt welchen Rang ein Wert in einer individuellen, momentanen Situation für sie einnimmt. Hier wird der Wertewandel unserer
Gesellschaft besonders deutlich. Es gibt keine vorgeformte Wertepalette mehr; unsere Wertvorstellungen sind ebenso individualistisch wie
auch subjektivistisch.
3.
Gegner und Befürworter des Verfahrens
Arline Schuller, 25 Jahre alt, hat ihre persönlichen Beweggründe für das
Social Freezing: „Ich will jetzt mein Leben leben […] und im Beruf weiterkommen".8 Sie plant deshalb erst ab Mitte 30 eine Schwangerschaft.
Sie hat die Erfahrung gemacht, dass sich insbesondere die ältere Generation gegen das Social Freezing ausspricht. Dies mag in erster Linie
von ihrem ethischen Naturverständnis herrühren. Hier wird davon
ausgegangen, dass alles innerhalb unserer empirischen Welt zweckgebunden zur Erfüllung einer Aufgabe existiert. Dieser Zweck wiederum
hat die Bestimmung, die natürliche Ordnung im Gleichgewicht zu halten. Das Tier hat einen Instinkt, welcher es bei seiner Zweckerfüllung
8
56
Guyton (2014)
leitet. Der Mensch ist jedoch frei. Dies macht ihn schuldfähig, was dazu
führen kann, dass seine Handlungsweisen die natürliche Ordnung
negativ beeinflussen. Somit sollte eine junge Frau, nach traditionellem
Verständnis, den Weg zur Schwangerschaft im Einklang mit der Natur
gehen, indem sie mit ihrem Partner schläft. Wenn es auf diese Weise
nicht zur Schwangerschaft kommen sollte, so hat auch dies seinen
Zweck. Social Freezing ist, aus diesem Blickwinkel heraus betrachtet,
unnatürlich. Eizellen zu entnehmen und einzufrieren war in dieser
immanenten Ordnung nicht vorgesehen. Daraus folgt, dass diese Art
des Kinderkriegens sich negativ auswirken wird.9 Jedoch ist diese Einstellung altersunabhängig. Junge Menschen schließen sich dieser Meinung ebenso an.
Die Befürworter des Social Freezing halten diese Argumentation für
antiquiert. „[Die Ethik] hängt [vom] Menschenbild ab“10, in diesem Fall
in Abhängigkeit vom jeweiligen Frauenbild. Innerhalb der letzten 70
Jahre hat sich, die technische Entwicklung ausgenommen, nichts so
grundlegend gewandelt wie das Leben der Frauen in den Industrieländern. Heute sind Frauen zum Teil Single, weil sie sich so entschieden
haben. Dank der Antibabypille und anderen Verhütungsmethoden
führen sie ein flexibleres Sexualleben als je zuvor. Mütter wurden immer selbstbewusster und damit auch ihre Töchter. Dass Frauen nun
nicht aufgrund von Faktoren wie Beruf, dem fehlenden Partner oder
das Alter auf einen ganz wesentlichen Teil ihres Glückes verzichten
wollen, ist verständlich. Der Wunsch, einem Kind das Leben zu schenken, ist hier wesentlich entscheidender als zum Teil anerzogene Moralbedenken. Im Bayerischen Rundfunk äußert sich in einem Beitrag eine
Frau, die sich für die Möglichkeit des Social Freezing entschieden hat.
Sie ist noch auf der Suche nach einem Partner. Jedoch ist die 41-jährige
optimistisch, dass sie den Richtigen finden wird. Auch wünscht sie
sich, eine Familie gründen zu können, ein Kind zu bekommen. Dank
Social Freezing besteht für sie immer noch die Möglichkeit, ihren
Traum zu verwirklichen. Doch sie betrachtet die neue Methode auch
von einem realistischen Standpunkt aus. Die Wahrscheinlichkeit mit 41
oder älter ein Kind zu bekommen, ist gering und das Risiko für Komplikationen steigt mit jedem zusätzlichen Lebensjahr. „Ich sehe es so
9
10
Galindo/Zagal (2000), S. 41-46
Ebd., S. 46
57
ein bisschen wie einen Lottoschein, den ich mir jetzt gekauft habe. Die
Wahrscheinlichkeit, dass man gewinnt, die ist wahnsinnig gering, aber
wenn man nicht mitspielt, kann man auch nicht gewinnen, oder?“11
4.
Ethische Herausforderungen
Die Technik des Social Freezing ist keine Neuheit. Früher war der Vorgang jedoch sehr aufwändig, weshalb lediglich Frauen mit einer
fruchtbarkeitsmindernden Erkrankung bzw. Patientinnen, die mit Medikamenten therapiert wurden, die sich negativ auf die Eierstöcke
auswirken, die Möglichkeit hatten, ihre Eizellen einfrieren zu lassen.
Der Eingriff wurde vor einer Chemo- oder Strahlentherapie vorgenommen, ebenso bei Frauen mit eingeschränkter Eierstockfunktion
(„Premature Ovarian Failure“), Endometriose oder immunologischen
Krankheiten, wie der Hashimoto-Thyreoiditis.12 Mittlerweile ist es wesentlich einfacher Eizellen einzufrieren. Man verwendet dazu derzeit
200 Grad Celsius kalten Stickstoff. Dieser Fortschritt macht das Social
Freezing für jede Frau erst möglich.
Da jeder Mensch gleichberechtigt ist und somit die gleichen Rechte
besitzt, wie das Wort schon beinhaltet, ob nun krank oder nicht, wäre
es aus diesem Verständnis heraus falsch, gesunden Frauen die Möglichkeit, ihre Eizellen einfrieren zu lassen, zu verbieten. Allerdings ist
zu beachten, dass der Handlungsspielraum, den der technische Fortschritt ermöglicht, nicht blindlings ausgeschöpft werden darf. Unter
dem Gesichtspunkt ethischer Bewertung muss miteinbezogen werden,
dass sowohl die Weiterentwicklung der Technik, als auch diese selbst
aus dem Tun des Menschen resultieren. Es stellt sich also die Frage, ob
die Natur und ihre Ordnung beim Social Freezing missachtet wird oder
nicht.13 Denn auch hier gilt der Grundsatz: „Der Mensch ist nicht das
Maß der Natur.“14 Problematisch ist die Eizellenentnahme an sich nicht.
Es gibt jedoch noch keine Langzeitstudien, die nachweisen, ob es eventuell gesundheitliche Risiken für ein Kind gibt, das aus einer wieder
11
12
13
14
58
Bayerischer Rundfunk (2014)
Winsauer (2013)
Galindo/Zagal(2000), S. 212.
Ebd.
aufgetauten Eizelle entstanden ist.15 Ist ein derart blindes Vertrauen in
die Technik, wenn es um Menschenleben geht, zulässig?
Aus gesetzlicher Sicht steht dem Social Freezing nichts im Wege. Da
die Eizellen unbefruchtet sind, stellt sich die Frage „Ab wann ist der
Mensch ein Mensch?“ nicht, da es sich nicht um einen Embryo handelt.
Sowohl die Entfernung der Eizellen als auch deren Aufbewahrung in
gefrorenem Zustand verstößt gegen kein gültiges Gesetz.16 Zwar wird
der Eingriff von Reproduktionsmedizinern durchgeführt, doch im Gegensatz zur künstlichen Befruchtung handelt es sich um keine assistierte Reproduktion, zumindest nicht zum Zeitpunkt der Eizellenentnahme. Laut Bundesärztekammer „[wird] als assistierte Reproduktion […]
die ärztliche Hilfe zur Erfüllung des Kinderwunsches eines Paares
durch medizinische Hilfen und Techniken bezeichnet.“17
Da die Frau, die diese Technik anwendet, zumeist in keiner Partnerschaft ist, sind diese Kriterien, unzutreffend. Die ausführenden Ärzte,
wie Dr. Jörg Puchta, haben keine Bedenken. Dieser verweist auf die
künstliche Befruchtung, die gesetzlich zulässig ist und von vielen Paaren mit Kinderwunsch in Anspruch genommen wird. Ohne die Hilfe
des Medizinnobelpreisträgers Robert Edwards, der sich nicht von moralisch und ethisch begründeten Vorwürfen von seiner Forschung abhalten ließ, wären zahlreiche Kinder nicht geboren worden, so Puchta.
Das Social Freezing stellt, von diesem Standpunkt aus, nach der IVF
nur einen weiteren Schritt dar.18
Jedem Menschen sollte meines Erachtens selbst überlassen werden,
ob er sich für oder gegen das Social Freezing entscheidet. Ein einheitlicher, von allen befürworteter Konsens wird in Situationen wie dieser
nicht mehr gefunden werden.19 Die Institutionalisierung der Ethik sowie gemeinsame ethische Grundprinzipen würden in der Streitfrage
des Social Freezing wenig nützen. Wenn wir es als oberste Priorität
ansehen, das Leben des Menschen zu schützen, so sind darauf abzielende Bedenken bei jenem Verfahren irrelevant. Weder von einem gesetzlichen noch von einem religiösen Standpunkt aus wird gegen einen
gemeinsamen Ethikkodex verstoßen, da das Leben noch gar nicht vor15
16
17
18
19
ZEIT ONLINE (2014)
Winsauer (2013)
Bundesärztekammer (2006), A 1393
Bayerischer Rundfunk (2014)
Wiesing (2012), S.29
59
handen ist. Social Freezing an sich dürfte also trotz einiger moralischer
Bedenken auf wenig gesellschaftlichen Widerstand stoßen, da die Achtung vor dem Menschen jederzeit gewahrt wird. Das neue Verfahren
als ruchlos zu bezeichnen, käme einer starken Vereinfachung des Sachverhaltes gleich.
Allerdings ist nachvollziehbar, weshalb das Angebot von Apple
und Facebook von vielen Frauen so betitelt wird. Es geht darum, dass
sich der Mensch dem Gesellschaftssystem anpassen soll. Dies ist aus
ethischer Sicht keinesfalls gutzuheißen und reflektiert wiederum den
zunehmenden Eudämonismus-Trend, mit dem Arbeitgeber ihre Arbeitnehmer zu etwas verpflichten wollen, das dem Mitarbeiter als eine
Life-Work-Balance verkauft wird, ungeachtet dessen, dass Life dabei
auf der Strecke bleibt. Anhand einer relativistischen Methode wird
versucht, eine Arbeitnehmerin zu diesem Schritt zu bringen. Finanzielle Mittel sollen den Frauen hierbei ihre Gewissensentscheidung erleichtern. Doch selbst wenn die Konzerne karrieristisch Großes mit jungen
Arbeitnehmerinnen vorhaben sollten, wer garantiert ihnen, dass ihr
Arbeitsplatz sicher ist, während ihrer nach hinten verlegten Schwangerschaft? Die Frage „Kind und parallel Erfolg im Beruf?“ und damit
die damit einhergehende Problematik wird lediglich temporär verschoben, doch für alle ambitionierten jungen Frauen nicht gelöst, da die
Wirtschaft nicht ihren Bedürfnissen angepasst wird. Lediglich ökonomische Aspekte sind hier für Apple und Facebook ausschlaggebend.
5.
Utilitaristisches Angebot
Andererseits kann das Angebot dieser beiden Unternehmen für das
Social Freezing im Sinne des ethischen Utilitarismus auch positiv bewertet werden. Laut Jeremy Bentham (1748 – 1832), einem der Begründer des klassischen Utilitarismus, ist „Nutzen“ nur ein Synonym für
Wohlergehen und Glück: „Mit dem Prinzip des Nutzens ist jenes Prinzip gemeint, das jede beliebige Handlung gutheißt oder missbilligt
entsprechend ihrer Tendenz, das Glück derjenigen Gruppe zu vermehren oder zu vermindern, um deren Interessen es geht […] Mit ‚Nutzen‘
ist diejenige Eigenschaft an einem Objekt gemeint, wodurch es dazu
60
neigt, Wohlergehen, Vorteil, Freude, Gutes oder Glück zu schaffen.“20
Es geht in erster Linie darum, für eine größtmögliche Anzahl an Personen den maximalen Nutzen über einen möglichst lang andauernden
Zeitraum zu erzielen. Nicht nur der Arbeitgeber, sondern auch Frauen,
denen die nötigen finanziellen Ressourcen für das Social Freezing fehlen, deren Partner und damit selbstverständlich Kinder, die geboren
werden, profitieren davon. Für eine junge Frau, die sich wünscht im
Job aufzusteigen und gleichzeitig versucht, ein Kleinkind zu betreuen,
ist dieses Glück gemindert. Der Nutzen für die Mitarbeiterin besteht
also darin, dass sie sich nicht zwischen Erfolg am Arbeitsplatz und
Muttersein entscheiden muss. Dank der neuen Idee könnten sich Frauen vollständig in jungen Jahren ihrem Beruf widmen. Der Vorteil für
die Betriebe besteht darin, dass die Mitarbeiterinnen in diesem Zeitraum erfolgsorientierter und effizienter arbeiten, da sie nicht durch
familiäre Verpflichtungen und Erziehungsaufgaben in Anspruch genommen werden. Die Zeitspanne, in denen die Arbeitnehmerinnen
ihrem Job den Vorrang geben, würde vermutlich im Schnitt zehn Jahre
betragen. Denn sind erst einmal Kinder da, wird der Einsatz der Frauen
im Beruf deutlich geringer. Dies bedeutet, dass Apple und Facebook
zehn Jahre an leistungsorientierter Arbeit gewinnen und die Mitarbeiterin mehr Zeit bekommt für einen beruflichen Aufstieg, für berufliche
und persönliche Entfaltung und Selbstverwirklichung und den Zugewinn von finanziellen Mitteln. Der Utilitarismus argumentiert, im Gegensatz zu anderen philosophischen Strömungen, rein ergebnisorientiert. Wenn das Ergebnis also darin besteht, dass sich die junge Arbeitnehmerin nicht zwischen Kind und Arbeit entscheiden muss und der
Arbeitgeber dadurch wirtschaftliche Erfolge aufweisen kann, wird aus
utilitaristischer Sicht ein Optimum erreicht.
Kritisch bleibt anzumerken, dass sich die Wirklichkeit meist anders
dar, da Nutzen, Glück, Freude und Wohlergehen nicht zwangsläufig
identisch sind. Apple und Facebook setzen voraus, dass alle weiblichen
Mitarbeiterinnen, die eine Familie gründen wollen, kein Problem damit
haben, in den nächsten zehn Jahren noch kinderlos zu bleiben. Des
Weiteren werden die Ansichten des Partners, sofern dieser vorhanden
ist, völlig vernachlässigt.
20
Wikipedia. Die freie Enzyklopädie (2015)
61
6.
Zusammenfassung
Es ist davon auszugehen, dass die Zahl der Frauen, die das Social Freezing als eine mögliche Option der Familienplanung in Betracht ziehen,
steigen wird. Wenn nicht Wege gefunden werden, die dazu beitragen,
dass junge Mütter ihre berufliche Tätigkeit besser mit ihrem Familienleben verbinden können, wird dieses Verfahren wohl an Popularität
gewinnen. Inwieweit sich auch andere Firmen für das Modell von Apple und Facebook mit der gesponserten Eizelleneinfrierung entscheiden
werden, hängt wohl zum einen von den moralischen und ethischen
Bedenken der Vorstandschaft, aber vor allem von einer neuen Generation von Arbeitnehmerinnen ab und wie diese ihre Prioritäten im Leben setzen wird.
7.
Literatur- und Quellenverzeichnis
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(16.10.2014), URL: Das Video kann aufgrund gesetzlicher Bestimmungen nicht mehr abgerufen werden.
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Wiesing, Urban (2012): Allgemeine Einführung in die medizinische Ethik.
Aufgabe und Gegenstand der medizinischen Ethik. In: Wiesing, Urban
(Hrsg.): Ethik in der Medizin: Ein Studienbuch, Stuttgart
Wikipedia. Die freie Enzyklopädie (2015): „Utilitarismus“. URL (Permanentlink): https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Utilitarismus&
oldid=143930494
Winsauer, Rene (2013): “Social Freezing”. Emanzipierte Familienplanung
oder Lifestyle-Trend? (20.12.2013). URL: http://www.kinderwunsch-blog.
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URL: http://www.zeit.de/wissen/gesundheit/2014-10/social-freezing-eizellefaq (Stand:13.07.2015)
63
Ein herzlicher Dank gilt der Jurorin und den Juroren
Prof. Dr. Dr. Sigrid Graumann
Professorin für Ethik im Fachbereich Heilpädagogik
und Pflege
Ev. Fachhochschule Rheinland-Westfalen-Lippe
Prof. Dr. med. Andreas Frewer. M.A.
Institut für Geschichte und Ethik in der Medizin
Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg
Jens Spahn, MdB
Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister der Finanzen
Früherer gesundheitspolitischer Sprecher der
CDU/CSU-Bundestagsfraktion
Prof. em. Dr. Dietmar Mieth
Professor für Theologische Ethik/Sozialethik
Eberhard Karls Universität Tübingen
Prof. Dr. Peter Schallenberg
Lehrstuhl für Moraltheologie und Ethik an der
Theologischen Fakultät Paderborn
Geistlicher Beirat des KKV-Bundesverbandes
Prof. Dr. Franz Bölsker
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Bischöflich Münsterschen Offizialat Vechta
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solches, das der Pflanze und des Tieres wie das des Menschen, heilig ist und er sich dem Leben, das in Not ist,
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