2 Neuere Entwicklungen im Wahlrecht - Fünf-Prozent

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Präsident des Bundesverfassungsgerichts Prof. Dr. Andreas Voßkuhle
Sommersemester 2012
Kolloquium zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
Neuere Entwicklungen im Wahlrecht
Fünf-Prozent-Klausel im Europawahlrecht (BVerfG NVwZ 2012, 33)
Sachverhalt:
Am 20. September 1976 beschloss der Rat der Europäischen Gemeinschaften den sogenannten Direktwahlakt (Akt zur Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen der Abgeordneten der Versammlung), der erstmals die Wahl der Abgeordneten des Europäischen Parlaments durch die Wahlberechtigten in den Mitgliedstaaten vorsah. Gemäß Art. 8 des Direktwahlaktes (i.d.F. des Beschlusses des Rates vom 25. Juni 2002 und 23. September 2002) richtet sich das Wahlverfahren, soweit
der Direktwahlakt keine Vorgaben enthält (vgl. u. a. Art. 1 und 3), nach den innerstaatlichen Vorschriften der Mitgliedstaaten.
In Deutschland bildet das Gesetz über die Wahl der Abgeordneten des Europäischen Parlaments aus
der Bundesrepublik Deutschland (Europawahlgesetz - EuWG) seit 1979 die gesetzliche Grundlage
für die Europawahl. § 2 Abs. 1 – 6 EuWG schreibt dabei eine Verhältniswahl mit Listenwahlvorschlägen vor, wobei die auf die Wahlvorschläge (bzw. Listenverbindungen) entfallenden Sitze gemäß der dort festgelegten Reihenfolge zu besetzen sind (sog. „starre“ Listen, vgl. § 9 Abs. 2
EuWG). Schließlich sieht § 2 Abs. 6 EuWG eine Sperrklausel in Höhe von 5 %, bezogen auf die im
Wahlgebiet abgegebenen gültigen Stimmen, vor. Parteien und politische Vereinigungen, die dieses
Quorum verfehlen, bleiben bei der Verteilung der Abgeordnetensitze unberücksichtigt.
Bei der Europawahl am 7. Juni 2009 nahmen insgesamt 32 Parteien und sonstige politische Vereinigungen teil. Bei der Sitzverteilung wurden aufgrund der Fünf-Prozent-Sperrklausel nur sechs Parteien (CDU, SPD, Grüne, FDP, Die Linke, CSU) mit ihrem jeweiligen Stimmanteil berücksichtigt.
Ohne die Fünf-Prozent-Klausel hätten von den sonstigen Parteien und politischen Vereinigungen,
auf die insgesamt 10,8 % der gültigen Stimmen entfielen, sieben jeweils einen Sitz oder zwei Sitze
errungen.
Die Beschwerdeführer haben, nachdem ihre Wahleinsprüche vom Deutschen Bundestag als unbegründet zurückgewiesen worden waren, ordnungsgemäß Wahlprüfungsbeschwerde beim BVerfG
eingelegt. Gerügt wird von allen die Verfassungswidrigkeit der Fünf-Prozent-Klausel des § 2 Abs. 7
EuWG; ein Beschwerdeführer macht darüber hinaus geltend, dass die Bindung der Wähler an die
Reihenfolge der Listenbewerber gem. §§ 2 Abs. 5, 9 Abs. 2 EuWG gegen die Grundsätze der unmittelbaren und freien Wahl verstieße.
Haben die Wahlprüfungsbeschwerden Aussicht auf Erfolg?
Kolloquium zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
Präsident des Bundesverfassungsgerichts Prof. Dr. Andreas Voßkuhle
Sommersemester 2012
Akt zur Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen der Abgeordneten der Versammlung (Direktwahlakt)
i. d. F. des Beschlusses des Rates vom 25. Juni 2002 und 23. September 2002
Art. 1 Direktwahlakt:
(1) In jedem Mitgliedstaat werden die Mitglieder des Europäischen Parlaments nach dem Verhältniswahlsystem auf der
Grundlage von Listen oder von übertragbaren Einzelstimmen gewählt.
(2) [...]
(3) Die Wahl erfolgt allgemein, unmittelbar, frei und geheim.
Art. 3 Direktwahlakt: Für die Sitzvergabe können die Mitgliedstaaten eine Mindestschwelle festlegen. Diese Schwelle
darf jedoch landesweit nicht mehr als 5 % der abgegebenen Stimmen betragen.
Art. 8 Direktwahlakt: Vorbehaltlich der Vorschriften dieses Akts bestimmt sich das Wahlverfahren in jedem Mitgliedstaat nach den innerstaatlichen Vorschriften. [...].
Gesetz über die Wahl der Abgeordneten des Europäischen Parlaments aus der Bundesrepublik Deutschland
(Europawahlgesetz - EuWG)
§ 2 EuWG (Wahlsystem, Sitzverteilung)
(1) Die Wahl erfolgt nach den Grundsätzen der Verhältniswahl mit Listenwahlvorschlägen. Listenwahlvorschläge können für ein Land oder als gemeinsame Liste für alle Länder aufgestellt werden. Jeder Wähler hat eine Stimme.
(2) Für die Sitzverteilung werden die für jeden Wahlvorschlag abgegebenen Stimmen zusammengezählt. [...] Verbundene Listen gelten bei der Sitzverteilung im Verhältnis zu den übrigen Wahlvorschlägen als ein Wahlvorschlag.
(3) und (4) [Sitzzuteilung mittels des Divisorverfahrens mit Standardrundung nach Sainte-Laguë/Schepers und Mehrheitsklausel entsprechend § 6 BWahlG]
(5) Die auf die Wahlvorschläge entfallenden Sitze werden in der dort festgelegten Reihenfolge besetzt. [...].
(6) Die auf eine Listenverbindung entfallenden Sitze werden auf die beteiligten Listen für die einzelnen Länder entsprechend Absatz 3 Satz 2 bis 7 verteilt. Absatz 5 gilt entsprechend.
(7) Bei der Verteilung der Sitze auf die Wahlvorschläge werden nur Wahlvorschläge berücksichtigt, die mindestens 5
vom Hundert der im Wahlgebiet abgegebenen gültigen Stimmen erhalten haben.
§ 3 EuWG (Wahlgebiet)
(1) Wahlgebiet ist das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland.
(2) Das Wahlgebiet wird für die Stimmabgabe in Wahlbezirke eingeteilt.
§ 8 EuWG (Wahlvorschlagsrecht)
(1) Wahlvorschläge können nach Maßgabe des § 9 Abs. 5 von Parteien und von sonstigen mitgliedschaftlich organisierten, auf Teilnahme an der politischen Willensbildung und Mitwirkung in Volksvertretungen ausgerichteten Vereinigungen mit Sitz, Geschäftsleitung, Tätigkeit und Mitgliederbestand in den Gebieten der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft (sonstige politische Vereinigungen) eingereicht werden.
(2) Eine Partei oder eine sonstige politische Vereinigung kann entweder Listen für einzelne Länder, und zwar in jedem
Land nur eine Liste, oder eine gemeinsame Liste für alle Länder einreichen. [...].
§ 9 EuWG (Inhalt und Form der Wahlvorschläge)
(1) [...]
(2) In dem Wahlvorschlag müssen die Namen der Bewerber in erkennbarer Reihenfolge aufgeführt sein. Neben jedem
Bewerber kann ein Ersatzbewerber aufgeführt werden.
(3) – (6) [...]
§ 16 EuWG (Stimmabgabe)
(1) [...]
(2) Der Wähler gibt seine Stimme in der Weise ab, daß er durch ein auf den Stimmzettel gesetztes Kreuz oder auf andere Weise eindeutig kenntlich macht, welchem Wahlvorschlag sie gelten soll. Der Wähler faltet daraufhin den
Stimmzettel in der Weise, dass seine Stimmabgabe nicht erkennbar ist, und wirft ihn in die Wahlurne.
§ 26 EuWG (Wahlprüfung und Anfechtung)
(1) Über die Gültigkeit der Wahl wird im Wahlprüfungsverfahren entschieden.
(2) Für das Wahlprüfungsverfahren gelten die Bestimmungen des Wahlprüfungsgesetzes [...].
(3) Gegen die Entscheidung des Deutschen Bundestages im Wahlprüfungsverfahren ist die Beschwerde an das Bundesverfassungsgericht zulässig. Die Beschwerde kann [...] ein Wahlberechtigter, dessen Einspruch vom Deutschen
Bundestag verworfen worden ist, wenn ihm mindestens einhundert Wahlberechtigte beitreten, binnen einer Frist von
zwei Monaten seit der Beschlußfassung des Deutschen Bundestages beim Bundesverfassungsgericht erheben; die
Beschwerde ist innerhalb dieser Frist zu begründen. Für die Beschwerde an das Bundesverfassungsgericht gelten die
Vorschriften des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht entsprechend.
(4) [...]
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Wahlprüfungsbeschwerde Europawahl: Gliederung
A. Zulässigkeit: Art. 93 Abs. 3 GG, § 26 Abs. 3 EuWG i.V.m. §§ 13
Nr. 15, 48 BVerfGG
I.
Beschwerdeberechtigung (§ 26 Abs. 3 S. 2 EuWG)
• Wahlberechtigter, dessen Einspruch vom BT zurückgewiesen wurde
II.
Beschwerdegegenstand (§ 26 Abs. 3 i.V.m. Abs. 1 EuWG)
•
•
Unmittelbar: Entscheidung des BT über die Gültigkeit der Wahl
Mittelbar: § 2 Abs. 7 EuWG (Fünf-Prozent-Hürde); §§ 2 Abs. 5, 9 Abs. 2
EuWG („starre Listen“)
III. Öffentliches Interesse an der Wahlprüfung
• Anstoßfunktion der Wahlprüfungsbeschwerde
• Möglichkeit der Erledigung mit Ablauf der Wahlperiode
IV. Form und Frist (§ 26 Abs. 3 S. 2 und 3 EuWG)
•
•
•
V.
Schriftlicher Antrag und Begründung (§ 26 Abs. 3 S. 2 HS. 2 EuWG)
Beitritt von 100 Wahlberechtigten, § 26 Abs. 3 S. 2 EuWG
(unter Beachtung der Formvorschriften des § 26 Abs. 3 S. 3 EuWG
i. V. m. § 48 Abs. 2 BVerfGG)
Zwei Monate nach Beschlussfassung des BT (§ 26 Abs. 3 S. 2 EuWG)
Entgegenstehende Rechtskraft von BVerfGE 51, 222?
P. Selbstbindung des Gerichts? Änderung der Sach- oder Rechtslage?
VI. Zwischenergebnis
B. Begründetheit
I.
Prüfungsumfang der Wahlprüfungsbeschwerde beim BVerfG
•
•
II.
Einhaltung der Wahlvorschriften beim Wahlvorgang
Verfassungsmäßigkeit der Wahlvorschriften
Vorrang des Unionsrechts?
•
Gestaltungsspielräume des nationalen Gesetzgebers
(vgl. Art. 8 des Direktwahlakts)
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III. Verfassungsmäßigkeit der Fünf-Prozent-Klausel (§ 2 Abs. 7 EuWG)
1.
Prüfungsmaßstäbe
a)
b)
c)
Art. 38 Abs. 1 GG (-)
Grundsatz der Gleichheit der Wahl: Art. 3 Abs. 1 GG
Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien: Art. 21 Abs. 1,
Art. 3 Abs. 1 GG
2.
Beeinträchtigung des Grundsatzes der Gleichheit der Wahl und der
Chancengleichheit der Parteien durch die Fünf-Prozent-Klausel
3.
Rechtfertigung
a)
Einschränkbarkeit: Erfordernis eines „besonderen, sachlich legitimierten, ‚zwingenden’ Grundes“
•
•
b)
Sicherung der Funktionsfähigkeit der Volksvertretung
Sicherung des Charakters der Wahl als Integrationsvorgang bei
der politischen Willensbildung
Eignung und Erforderlichkeit
P. Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers
aa) Auswirkungen einer Wahl ohne Fünf-Prozent-Klausel
bb) P. Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit durch Erschwerung
der Mehrheitsbildung infolge einer Vermehrung der vertretenen Parteien?
•
•
Integrationsleistung und Absprachefähigkeit der Fraktionen im Europäischen Parlament
Geschäftsordnungsautonomie des Europäischen Parlaments
cc) P. Erfordernis einer gleichbleibenden Mehrheit wie im Deutschen Bundestag?
•
•
•
•
4.
Keine fortlaufende Unterstützung der Kommission
durch das Europäische Parlament vorausgesetzt
Rechtsetzung der Union erfordert Zustimmung des Parlaments bis auf wenige Ausnahmen nicht
Wahrnehmung der Informations- und Kontrollrechte
Zudem: Untätigkeit des Europäischen Gesetzgebers
Zwischenergebnis
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IV. Verfassungsmäßigkeit der Wahl mit „starren Listen“ (§§ 2 Abs. 5, 9
Abs. 2 EuWG)
1.
P.
Prüfungsmaßstab? „Aufladung“ des Art. 3 Abs. 1 GG um alle
Wahlrechtsgrundsätze des Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG?
• Jedenfalls dann keine Verfassungswidrigkeit, wenn Regelung
den strengen Maßstäben des Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG genügt:
a)
b)
2.
Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl: Kein Dazwischentreten
Dritter zwischen Wahlentscheidung und Mandatsverteilung
Grundsatz der Freiheit der Wahl: Freiheit der Wahlbetätigung vor
Zwang und sonstiger unzulässiger Beeinflussung von außen
Beeinträchtigung dieser Wahlrechtsgrundsatzes durch die Wahl
nach „starren“ Listen
a)
Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl
• Wahlergebnis bleibt allein von der im Wahlakt bekundeten Willensentscheidung der Wähler abhängig
b)
Grundsatz der Freiheit der Wahl
• „Starre“ Listen sind eine Ausgestaltung der Wahlrechtsausübung
und beeinträchtigen die Freiheit der Wahl nicht
3.
Zwischenergebnis
C. Ergebnis
1.
P.
Nichtigerklärung von Wahlvorschriften im Rahmen des Wahlprüfungsverfahrens
• Analoge Anwendung von §§ 78 S. 1, 95 Abs. 3 S. 2 BVerfGG
2.
P.
Auswirkung der Nichtigkeit einer Wahlvorschrift auf die Gültigkeit der Wahl
• Mandatsrelevanz des Wahlfehlers
• Gebot des geringstmöglichen Eingriffs
• Abwägung mit dem Bestandsschutz der im Vertrauen auf die
Verfassungsmäßigkeit der Wahlvorschriften zusammengesetzten Volksvertretung
D. Sondervotum der Richter Di Fabio und Mellinghoff
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Vertiefungshinweise:
Rechtsprechung:
• Fünf-Prozent-Klausel: BVerfGE 6, 84; 82, 322 (338 f.) (Bundestagswahl) BVerfGE 120, 82
(Kommunalwahl); BVerfGE 55, 122; BVerfG, NVwZ 2012, 33 (Europawahl).
• Wahl nach „starren“ Listen: BVerfGE 7, 63 (67 ff.); 47, 253 (283) (Bundestagswahl);
BVerfG, NVwZ 2012, 33 (Europawahl).
• Wahlkreiseinteilung: BVerfG, NVwZ 2012, 622 (Bezugsgröße bei Wahlkreiseinteilung);
BVerfGE 95, 335 (363 ff.); 16, 130 (138 ff.); StGH BW, Urt. v. 22.05.2012 – GR 11/11 (Grund
und Grenzen für eine zulässige Abweichung vom Ideal gleich großer Wahlkreise).
• Nachwahl: BVerfGE 124, 1.
Literaturhinweise:
Kramer/Bahr, Die verschiedenen Sperrklauseln im Wahlrecht auf dem Prüfstand, ZJS 2012, 184;
Morlok, Chancengleichheit ernst genommen – Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
zur Fünf-Prozentklausel bei der Europawahl, JZ 2012, 76; Schönberger, Das Bundesverfassungsgericht und die Fünf-Prozent-Klausel bei der Wahl zum Europäischen Parlament, JZ 2012, 80;
Rossi, Gesetzgebungspflicht zum Schutz politischer Minderheiten? - Zur Unzulässigkeit von
Sperrklauseln im Kommunalwahlrecht, ZJS 2008, 304.
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