Giuseppe Verdi Ein Maskenball

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Giuseppe Verdi
Ein Maskenball - Un ballo in maschera
In den letzten paar Jahren haben wir in diesem Hause einige Opern von Verdi
sehen und hören können; ich erinnere an Nabucco, an Rigoletto, an die Traviata
und an Macbeth. Alle diese vier Opern sind Schlüsselwerke in Verdis Oeuvre. Der
Nabucco markiert den Beginn von Verdis grosser Bedeutung für die italienische
Einigung, der Macbeth ist ein Meilenstein auf dem Weg vom Gattungswerk zum
Individualwerk und mit dem Rigoletto und der Traviata schafft Verdi gleichsam den
internationalen Durchbruch. Auch der "Maskenball" heute Abend ist Schlüsselwerk
und Meilenstein im künstlerischen Leben Verdis. Dies wird zu erörtern sein.
Wir widmen uns zuerst dem Inhalt der Oper, der Geschichte:
Erstes Bild: Der Graf Riccardo wird von seinen Höflingen, von Adeligen, Bürgern
und Dienern in seinem Kabinett am frühen Morgen zu einer Audienz erwartet. Er
tritt ein, begrüsst leutselig und jovial die Anwesenden und lässt sich eine Reihe
von Schriftstücken vorlegen. Darunter befindet sich auch die Gästeliste eines geplanten Maskenballs. Mit grosser Freude entnimmt Riccardo der Liste, dass seine
heimliche grosse Liebe Amalia zum Ball erscheinen wird. Amalia ist aber die Gattin
seines besten und ergebensten Freundes Renato. Sie ahnen den Konflikt, meine
Damen und Herren.
Der Graf entlässt die Höflinge. Renato warnt nun seinen Herrn eindringlich und
loyal – einmal mehr - vor einer Verschwörung und vor Leuten, die ihm nach dem
Leben trachten. Der Graf wird zwar vom Volk vergöttert, nicht aber von allen Adeligen, da er ihnen offenbar angestammte Rechte entzogen hat. Der Graf fürchtet
schon, dass Renato seine Liebe zu dessen Gattin entdeckt haben könnte, doch als
dieser "nur" von der Verschwörung berichtet, ist er beruhigt. Er nimmt die Sache
auf die leichte Schulter.
Da erscheint der Page Oskar und meldet den Richter. Dieser möchte eine Unterschrift unter einen Verbannungsbefehl. Und zwar soll eine Frau verbannt werden.
Der Graf stutzt und will Näheres wissen. Der Page erklärt ihm, dass es sich um
eine Wahrsagerin handle, um Ulrika. Alle ihre Weissagungen seien in Erfüllung
gegangen. Der Graf ist von der ehrlichen Begeisterung des Pagen angetan, er erklärt, er wolle sich selbst ein Bild machen und fordert die Höflinge auf, mit ihm zu
Ulrike zu gehen. Renato warnt, dass man ihn dort erkennen könne. Aber der Graf
will sich als Fischer verkleiden. Die Verschwörer, die auch anwesend sind, beraten,
ob dies eine gute Gelegenheit wäre, den Grafen zu beseitigen.
Im zweiten Bild befinden wir uns in der Höhle der Ulrika. Ein Seemann, der lange
Jahre im Dienst des Grafen gestanden hatte, fragt, ob er endlich belohnt würde.
Die Wahrsagerin sagt ihm reiche Belohnung voraus. Der Graf, als armer Fischer
verkleidet, hört dies und macht die Prophezeiung gleich wahr, indem er dem Seemann einen Beutel Gold in die Tasche steckt. Da erscheint die Dienerin der Amelia
und verlangt eine Unterredung. Ulrike schickt die Leute weg, der Graf versteckt
sich aber, um das Gespräch der Wahrsagerin mit Amelia zu belauschen. Amelia
bitte die Wahrsagerin, ihr ein Mittel zu geben, damit sie die unerlaubte Liebe zu
einem anderen Mann endlich ablegen könnte und damit die Liebesqual endlich ein
Ende hätte. Der Graf erkennt überglücklich, dass seine Liebe zu Amelia erwidert
wird. Ulrika weiss ein Mittel: Amelia müsse ein Getränk brauen aus gewissen Kräutern, die sie des Nachts auf dem Galgenfeld pflücken müsse, dort wo die Verbrecher hingerichtet werden. Amelia beschliesst, dorthin zu gehen.
Die Menge wird wieder eingelassen. Der Graf will nun seine Zukunft geweissagt
bekommen. Ulrika sagt ihm, dass er bald heimtückisch ermordet werde. "Presto
morrai", sagt sie ihm. Er werde durch die Hand eines Freundes sterben und zwar
Giuseppe Verdi: Ein Maskenball
jenes Freundes, der ihm zuerst die Hand reichen werde. Der Graf lacht und streckt
jedem seine Hand hin, doch niemand will sie ergreifen. Da erscheint Renato, der
Angst um den Freund gehabt hat, nichts von der Prophezeiung weiss und drückt
ihm herzlich seine Hand. Damit ist für den Grafen der Unsinn der Weissagung endgültig erwiesen.
Das ist der erste Akt, in zwei Bildern. Im zweiten Akt – nur ein Bild - befinden wir
uns auf dem Galgenfeld vor der Stadt. Amelia ist tatsächlich dorthin gegangen, um
das Kraut zu pflücken. Der Graf Riccardo ist ihr heimlich gefolgt und er drängt sie
nun zu einem Geständnis ihrer Liebe zu ihm. Amelia gesteht ihm ihre Liebe, aber
auch, dass sie sich diese Liebe aus dem Herzen reissen will. Der Graf überhört das
und ist selig. Da erscheint Renato, der dem Grafen gefolgt ist aus Sorge. Amelia
kann sich im letzten Moment verschleiern, sodass sie ihr Ehemann nicht erkennt.
Renato sagt, die Mörder seien auf dem Weg hierher. Der Graf solle sich so schnell
als möglich in Sicherheit bringen. Riccardo tut dies, nimmt aber dem Freund Renato den Schwur ab, die verschleierte Dame ohne weitere Fragen in sein Schloss
zu führen. Renato verspricht es und der Graf macht sich davon. Da erscheinen
aber schon die Mörder. Sie sind erstaunt, hier Renato vorzufinden und verlangen,
notfalls mit Gewalt zu wissen, wer die verschleierte Dame sei. Renato verteidigt
die Dame, wie er geschworen hat. Amelia wirft sich dazwischen, um ein Blutvergiessen zu vermeiden. Da fällt ihr Schleier und Renato erkennt mit masslosem
Erstaunen seine eigene Frau. Was nun folgt, ist eine der grössten Spottszenen der
Operngeschichte. Die Mörder verhöhnen und verspotten Renato, der sich clandestin nächtlich mit seiner eigenen Frau auf dem Galgenfeld trifft. Renato steigt der
furchtbare Verdacht auf, dass sein Freund, der Graf, ein Verhältnis hat zu seiner
Frau. Mit grösster Beherrschung bietet er die Mörder für den nächsten Tag auf in
seine Wohnung. In einem Moment ist er vom loyalen und treuen Freund des Grafen
zu dessen Todfeind geworden.
Im dritten Akt – im ersten Bild - finden wir uns im Kabinett Renatos. Er stellt seine
Frau zu Rede, doch er glaubt ihren Unschuldsbeteuerungen kein Wort. Da erscheinen die Verschwörer und Renato erklärt ihnen, dass er längst wisse, dass sie dem
Grafen nach dem Leben trachten und dass er auch Beweise dafür habe. Doch nun
will er selbst zum Verschwörer werden und den Grafen töten. Das Los soll entscheiden, wer von den dreien den Graf töten soll. Renato zwingt Amelia, das Los
zu ziehen. Es trifft auf Renato. Da erscheint Oscar, der Page, und überbringt die
Einladung zum Maskenball. Der Graf wird dort auch anwesend sein. Damit ist auch
der Ort des Attentats bestimmt. Renato soll den Grafen am Maskenball erstechen.
Riccardo, der Graf, überdenkt im zweiten Bild die vergangene Nacht. Er sieht, dass
die Liebe zur Frau seines Freundes nicht möglich ist und er will Renato und Amelia
in einer würdigen Mission weit weg schicken. Der Page überbringt ihm ein Schreiben von Amelia, das ihn warnt. Der Graf schlägt die Warnung in den Wind. Er will
Amelia unbedingt ein letztes Mal sehen.
Der Ball beginnt, alle sind verkleidet und maskiert. Renato erfährt vom ahnungslosen Pagen die Kostümierung des Grafen. Amelia beschwört den Grafen noch einmal, den Ball unverzüglich zu verlassen, ergreifend nehmen beide Abschied voneinander. Da ist der Moment für Renato gekommen. Er wirft sich dazwischen und
stösst dem Grafen den Dolch ins Herz. Sterbend ruft der Graf Renato zu sich: Nie
hätte er die Ehre des Freundes aus Liebe zu dessen Frau befleckt, nie den Freund
hintergangen. Der Graf vergibt allen Verschwörern und stirbt.
Das ist die schreckliche Geschichte um Liebe, Leid und Hass, Eifersucht und Leidenschaft, die Sie heute Abend hören werden. Liebe, Hass und Leidenschaft, die
grossen, unbedingten Emotionen waren es, die Verdi an diesem Stoff gereizt haben. Die Geschichte ist verstörend, auch heute noch. Um so mehr in der Zeit ihrer
Entstehung. So verstörend, dass die Zensur damals die Oper nicht hat zulassen
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Giuseppe Verdi: Ein Maskenball
wollen. Ursprünglich hat die Oper einen historischen Hintergrund. Der schwedische
König Gustav III. wurde 1792 auf einem Maskenball in Stockholm ermordet. Um
diesen Mord gestaltete Eugène Scribe ein Drama, das der Librettist Antonio Somma
zu einem Textbuch für Verdi umgestaltete. Die Oper war für Neapel vorgesehen.
Die neapolitanische Zensur verbot aber, dass ein König auf der Bühne ermordet
wird. Sie verlangte eine völlige Umgestaltung der Oper. Da löste Verdi den Vertrag
und verhandelte mit dem Teatro Apollo in Rom. Wir dürfen nicht vergessen, dass
wir uns in den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts uns noch ganz knapp in einem
nicht geeinten Italien befinden. Rom gehörte zum Kirchenstaat und der war in
Sachen Opernzensur liberaler als Neapel. Die römische Zensur verlangte nur, dass
der Schauplatz nach Übersee verlegt werden müsse und dass aus dem König von
Schweden ein Graf gemacht werden müsse. Verdi ging darauf ein und verlegte den
Schauplatz in die amerikanischen Kolonien, nach Boston. Aus dem König machte
er einen Grafen Riccardo von Warwick. Damit war die Zensur zufrieden. Die Verlegung nach Nordamerika ist natürlich ein Blödsinn, weil die Handlung bestimmt
ist von Europa und seiner Geschichte des Adels. Boston kannte kein Hofzeremoniell, es kannte auch keine absolutistischen Fürsten. Verdi liess sich trotzdem darauf
ein. Sie haben erkannt in meiner Erzählung des Inhalts, dass diese Oper letztlich
überall spielen kann. Auch Schweden ist keineswegs zwingend. Es geht um die
menschlichen Leidenschaften, um die grossen und verheerenden Gefühle. Der
"Maskenball" ist keine historische Oper. Später, als die Zeiten sich geändert hatten, nur zwei Jahre nach der Uraufführung erstand das geeinte Italien – hätte man
die Handlung wieder nach Schweden zurückverlegen können. Verdi interessierte
sich nicht dafür. Ein deutliches Zeichen, worum es in dieser Oper eigentlich geht.
Heute wird die Handlung in den Aufführungen manchmal wieder nach Schweden
verlegt, aber ein Gewinn ist dabei nicht auszumachen.
Vielleicht ein kurzes Wort zur Zensur: In unserem Fall erscheint sie als Verhinderin,
als Ausdruck despotischer staatlicher Macht, die das freie Denken unterdrückt.
Gewiss hat sie diese Züge. Aber das ist sie in Italien keineswegs immer. Die Behörden setzten sehr oft Fachleute als Zensoren ein, die etwas von Oper verstanden. Die Zensur war so oft auch etwas, was wir heute "Qualitätssicherung" nennen
würden. Sie wachte nicht nur über die Konformität, sondern auch über die Qualität.
Es ist interessant, dass sich Verdi in seinen Briefen eigentlich nie über die Zensur
als Einrichtung beklagt. Er beklagt sich höchstens über unfähige Zensoren.
Eingangs habe ich gesagt, dass auch der "Maskenball" ein Schlüsselwerk sei in
Verdis Werk. Uraufgeführt wurde die Oper im Jahre 1859. Auch 1859 beendet
Richard Wagner die Komposition von "Tristan und Isolde" in Luzern. Uraufgeführt
wurde der Tristan allerdings erst 1865, die Anforderungen waren zu hoch. Ich will
hier nun nicht die Kontroverse zwischen Verdi und Wagner – die ja beide gleich alt
waren – erörtern. Sie füllt ganze Bibliotheken. Es ist eine Kontroverse, vielleicht
weniger der Betroffenen beiden Künstler, als eine Kontroverse der Umwelt und
Nachwelt. Nur soviel: es stehen sich in Verdi und Wagner eigentlich nicht zwei
Komponisten gegenüber, der Gegensatz ist nicht ein Gegensatz zweier Menschen,
sondern letztlich ein Gegensatz zweier Auffassungen von Oper. Der grundlegende
Unterschied ist der folgende. Wenn wir im Theater sitzen und Verdi hören und
sehen, dann haben wir den Eindruck, diese Musik entstehe im jetzigen Moment,
im Moment ihrer Aufführung. Es gibt Szenen bei Verdi, die schlagen uns in einer
umfassenden Unmittelbarkeit entgegen, und wir gewinnen die momentane Überzeugung, dass diese Situation, dieses Gefühl nur so, ausschliesslich so, ausgedrückt werden kann. Verdi hat eine geradezu ungeheure Bühnenpräsenz! Leidenschaften und Gefühle, die über jede Grenze hinausgehen, werden gültig und abschliessend sichtbar und hörbar gemacht, in jeder Aufführung. Leidenschaften und
Gefühle werden absolut. Deswegen war für Verdi die Logik und Nachvollziehbarkeit
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Giuseppe Verdi: Ein Maskenball
der Handlung zweitrangig. Es geht immer um die Schlagkraft des Gefühls in der
Musik. Das ist auch heute abend so. Die Handlung des "Maskenballs" ist ja auch
voller Unwahrscheinlichkeiten; wenn man ihn als Schauspiel aufführen würde und
nicht als Oper, wäre er wohl eine richtige Lachnummer.
Das ist nun bei Wagner anders. Nicht von ungefähr spricht Wagner nicht mehr von
Oper, sondern von Musikdrama. Niemals geht es ihm um Bühnenpräsenz im Sinne
Verdis. Alle seine Werke, eigentlich schon im "Fliegenden Holländer", vermitteln
Weltanschauung. Wir als Zuhörer sind immer aufgefordert, nachzudenken über die
letzten Fragen des Mensch-seins, über das Woher und das Wohin. Wagners Werke
sind letztlich immer Welterklärungen durch Musik. Wagner deutet immer aus, Verdi
stellt immer dar.
Es leuchtet nun unmittelbar ein, dass beide Formen, Oper zu verstehen, je eine
andere Form der Komposition bedingen. Bei Wagner hat das Orchester immer die
Aufgabe, gedankliche Bezüge herzustellen, zu kommentieren gleichsam, was auf
der Bühne geschieht, die Handlung in den philosophischen und weltanschaulichen
Kontext zu stellen. Das ist letztlich der Sinn des Leitmotivs, uns als Zuhörer immer
wieder daran zu erinnern, wie das, was da auf der Bühne geschieht, in einem
grösseren Zusammenhang zu verstehen sei. Bei Verdi hat das Orchester die Funktion zu untermalen, zu unterstützen, Gefühl und Leidenschaft unmissverständlich
und noch unmittelbarer zu machen. Vergleichen wir die Orchesterbehandlung beim
frühen Verdi mit der des Maskenballs, so ist unübersehbar, dass hier eine gewaltige Entwicklung vorliegt. Das Orchester des "Maskenballs" ist äusserst differenziert und vielschichtig. Das hat nun dazu geführt, dass man Verdi vorgeworfen hat,
er sei zum Nachahmer von Wagner geworden. Man hat den "Maskenball" sogar
seinen "Tristan" genannt. Das ist alles völlig verfehlt. Es ist allerdings nicht zu
übersehen, dass diese Entwicklung mit derjenigen Wagners technisch zum Teil
vergleichbar ist. Die Ausdifferenzierung des Orchesters stellt auch bei Verdi neue
Bezüge her, was aus dem Orchestergraben klingt, fordert von uns Aufmerksamkeit
und Deutung. Aber es steht nie auf einer weltanschaulichen Grundlage, wie bei
Wagner.
Warum ist der "Maskenball" nun also ein Schlüsselwerk Verdis? Es gelingt hier
Verdi eine Synthese zu schaffen zwischen Handlung und Musik, die Stilelemente
der Tradition werden aufgenommen und vollkommen verarbeitet in einer Synthese
von Handlung und Komposition. Der "Maskenball" ist keine Nummernoper mehr,
das alte Problem der Arien, die die Handlung stagnieren lassen, ist gelöst.
Das ist vielleicht das Wichtigste: die italienische Oper vor Verdi und auch diejenige
des frühen Verdi, eben bis zum Maskenball, war immer Nummernoper. Das heisst,
die Oper war eine Abfolge von musikalischen Nummern, die einen bestimmten
Aufbau hatten: Rezitativ, dann Arie, dann eine Cabaletta oder eine Stretta, also
einen Schlussteil. Diese reltiv starre Form war nicht zuletzt auf die Produktionsbedingungen zurückzuführen. Die italienische Aufführungspraxis von Opern verlangte immer wieder neue Werke, das Repertoire ist eine Erscheinung des späten
19. Jahrhunderts. Der Komponist hatte nicht allzuviel Zeit, eine Oper zu komponieren, also musste er nach einem bestimmten Schema vorgehen. Dieses Schema
erlaubte einem Donizetti oder einem Rossini, eine Oper in zwei oder drei Wochen
fertig zu stellen. Schwierig war es nun aber, das Schema Rezitativ und Arie der
Handlung anzupassen. Die Handlung fand meist im Rezitativ statt in Form einer
Erzählung oder eines Dialogs, dann folgte die Arie. Die Handlung, das Bühnengeschehen, wurde gleichsam angehalten, der schönen Musik wegen. Am Schluss der
Arie war es dann wieder schwierig, in die Handlung hineinzukommen. Wurde nun
die Handlung komplexer, und suchte der Komponist Handlung und Musik stärker
zu verknüpfen und aufeinander zu beziehen, so taugte dieses Schema nicht mehr.
Verdi gibt im Maskenball denn zum ersten Mal dieses Schema weitgehend auf und
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Giuseppe Verdi: Ein Maskenball
wählt eine andere Form, die Form der Durchkomposition. Damit kann Verdi sich
musikalisch immer direkt auf die Handlung und ihre Entwicklung beziehen. Die
durchkomponierte Oper war die Oper der Zukunft. Auch Richard Wagner hatte das
Schema von Rezitativ und Arie längstens zurück gelassen oder eigentlich gar nie
verwendet. Das hat eben dazu geführt, dass man Verdi des Epigonentums bezichtigt hat, ihm nachgesagt hat, er ahme Wagners Stil nach. Das ist aber überhaupt
nicht so, die Durchkomposition und die Aufgabe des Schemas folgen auch bei Verdi
innermusikalischen Entwicklungen.
In zweiter Hinsicht ist der Maskenball ein Schlüsselwerk. Verdi erfüllt mit dem
"Maskenball" die Anforderungen der "Grand Opéra" weitgehend. Paris war die
Hauptstadt der Oper, Bedeutung als Opernkomponist erlangte nur, wer in Paris
Erfolg hatte. Verdi hat ja einen beträchtlichen Teil seines Lebens in Paris verbracht.
Die "Grand Opéra" ist eine Ausstattungsoper, die vor allem historische Themen
behandelte. Mit der "Aida" wird Verdi dann diese Anforderungen ganz erfüllen. Im
"Maskenball" gelingt Verdi gleichsam die Synthese auch zwischen italienischer
Oper und der "Grand Opéra", die italienische Oper wird mit dem Maskenball ein
gutes Stück internationaler.
Lassen Sie mich, meine Damen und Herren, nun an einigen Besonderheiten zeigen,
welch bedeutendes Werk der "Maskenball" ist. Es ist übrigens auch die erste Oper
Verdis, die man ohne Striche spielt. Nichts ist zuviel, nichts kann weggelassen
werden.
Die Oper umfasst 3 Akte, wichtiger aber ist ihre Struktur in 5 Bildern. Das erste
und fünfte, letzte Bild bringen das gesellschaftliche Leben auf die Bühne, die Audienz und dann den Maskenball. In der Mitte, im dritten Bild, das den ganzen zweiten Akt umfasst, finden wir den Höhepunkt, die Peripetie des Dramas. Hier geschieht das Schicksalshafte, das dann nicht mehr rückgängig gemacht werden
kann. Das zweite Bilder ist eine Steigerung zum Höhepunkt, das vierte Bild eine
Steigerung zur Katastrophe. In diesen beiden Bildern besiegelt sich das Schicksal
Riccardos, in der Prophezeiung der Zigeunerin und dann in der Verschwörung der
Mörder. Die Oper ist also spiegelsymmetrisch aufgebaut um das dritte Bild als dem
Höhepunkt der Leidenschaften.
Der Titel der Oper "Ein Maskenball" ist als Programm zu verstehen. Die Oper heisst
nicht einfach so, weil im dritten Akt ein Maskenball stattfindet. Die Maske ist eine
Metapher für das ganze Geschehen. Zuerst rein äusserlich: im ersten Akt verkleiden und maskieren sich die Höflinge, um die Wahrsagerin aufzusuchen. Riccardo
verkleidet sich als Fischer. Verdi nimmt diese Verkleidung auf in der Anrede Riccardos an Ulrike: es ist eine einfache Barkarole. Im zweiten Akt tauschen Riccardo
und Renato ihre Kleider und auch Amelia maskiert sich mit dem Schleier. Und die
Oper endet mit einem "Maskenball", keiner kennt den anderen. Diese äusserlichen
Maskeraden sind aber wirklich nur äusserlich. Wir befinden uns in einer durch und
durch dekadenten höfischen Gesellschaft. Alles ist auf Verkleidung und Verstellung
angelegt, jedes Erkannt-Werden führt in die Katastrophe. Verdis Musik übersetzt
die Scheinhaftigkeit, die Falschheit und die Maskerade genial in Musik. Ich zeige
es Ihnen am zweiten Akt, dem Höhepunkt der Oper. Der ganze Akt ist eigentlich
eine ungeheure Steigerung der Leidenschaften, der Liebe und der Eifersucht. Er
beginnt düster, Amelia hat den dunkeln Ort aufgesucht, um sich durch Magie von
ihrer Liebe zu befreien. Riccardo tritt herzu und es kommt zum gegenseitigen Liebesgeständnis. Renato, Amelias Ehemann, entdeckt alles. Aber auf diesem Höhepunkt verkommt alles zur Maskerade. Alles bricht in Gelächter aus, weil Renato
sich offenbar mit der eigenen Ehefrau des Nachts im Verborgenen verlustiert. Die
Musik entwickelt sich quasi gegenläufig. Auf dem Höhepunkt der Eifersucht, lacht
alles den Betrogenen aus. Im ersten Akt reagiert Riccardo auf die Prophezeiung,
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Giuseppe Verdi: Ein Maskenball
dass er bald einem Mord zum Opfer fallen werde, mit einem Gelächter! Alles ist
Maskerade und alles ist scheinhaft. Die Fröhlichkeit der höfischen Gesellschaft im
ersten und letzten Bild ist hohl, hat keinen Boden. Fröhlichkeit und Entsetzen, Komisches und Schreckliches sind immer gleichzeitig präsent. Die Fröhlichkeit ist eine
Maske, auch sie; hinter ihr lauert immer das Entsetzen. Verdis Musik ist doppelbödig. Verdi übersetzt diese dauernde Ambivalenz des Geschehens rhythmisch in
eine tänzerische Feinmotorik, welche die Figuren – aber auch uns – gleichsam in
einem Rausch dem Verderben und dem Verhängnis entgegen treibt. Achten Sie
darauf im ersten Bild. Gegen Schluss, als alle sich verkleiden wollen, um die Wahrsagerin aufzusuchen, mündet die Musik ein in einen rasenden Tanzrhythmus, der
seine Verwandtschaft mit dem Höllentanz, dem Can-Can von Jacques Offenbach,
nicht verleugnen kann. "Orpheus in der Unterwelt" wurde 1858 uraufgeführt. Verdi
hat ihn bestimmt gekannt. Sie sehen, meine Damen und Herren, solche Anspielungen wären im alten Schema von Rezitativ und Arie nicht mehr zu realisieren
gewesen. An diesem Beispiel wird die Komplexität deutlich, die fröhliche Hofgesellschaft tanzt ihrem Verhängnis entgegen, alles ist Maskerade. Die Oper beginnt
auch schon mit dieser Doppelbödigkeit. Im Audienzzimmer des Grafen sind am
Morgen nicht nur seine Höflinge versammelt, sondern auch die Verschwörer, die
den Grafen ermorden wollen, sind da. Huldigung an den Herrscher und Morddrohung laufen musikalisch gleichzeitig ab und sind aufeinander bezogen. Alles ist
doppelbödig. In Klammern bemerkt: So etwas ist nur in der Oper möglich, in einem
Schauspiel wäre das undenkbar! Die geheimen Mordabsichten werden öffentlich
in einem Massenmonolog geäussert!
Die Figurenkonstellation entspricht nicht dem üblichen Schema der italienischen
Oper. Es gibt zwar ein Liebespaar, Sopran und Tenor, aber es ist keine erfüllte
Liebe, im Gegenteil. Die Handlung erzählt, wie diese Liebe beiden – Sopran und
Tenor – zum Verhängnis wird. Es gibt auch keine Erfüllung der Liebe im Tod. Der
Tenor Riccardo ist nicht der strahlende Held, sondern das Opfer. Der Sopran, Amelia, findet keine Erfüllung, sie ist die dauernd von ihrer Liebe Gehetzte und steigert sich hinein in den Konflikt zwischen Liebe und Ehebruch.
Der Bariton ist bei Verdi oft die Figur, die alles trägt, die Schlüsselfigur. Denken
Sie an den Rigoletto, an die Traviata auch. Der Bariton trägt den Konflikt ganz aus.
Das ist hier nicht so. Renato ist keine Vaterfigur, er erleidet nicht den Konflikt, er
verschuldet ihn. Er wandelt sich vom selbstlosen, treuen Beschützer zum blindwütigen Vernichter seines Herrn.
Interessant sind die beiden Figuren der Ulrika und des Oscar. Ulrika ist die erste
grosse Altpartie in einer Oper von Verdi. Der Page Oscar ist eine Entlehnung aus
der französischen Oper. In keinem anderen Werk gibt es eine Hosenrolle, Oscar
erinnert an den Cherubino in Mozarts Figaro. Beide Figuren sind nicht in die Haupthandlung integriert, sie befördern aber die Katastrophe massgeblich. Es ist das
einzige Mal, dass Verdi zwei grosse Partien schreibt für Figuren, die nicht Teil der
Haupthandlung sind.
Die Wirkung des Maskenballs nach der Urauuführung 1859 in Rom war gewaltig.
Der Maskenball verbreitete sich sehr schnell über alle Bühnen der Welt. Bereits
1861 gab es Aufführungen in Buenos Aires, in Sidney. Der Maskenball gehört auch
zu den wenigen Opern Verdis, die immer und ohne Unterbruch auf den Spielplänen
der Welt anzutreffen sind. Heute wird der Maskenball oft wieder an den
ursprünglich geplanten Schauplatz zurückversetzt, der Graf Riccardo ist dann nicht
mehr der Gouverneur in Boston, sondern wieder Gustav III, König von Schweden.
Die Aufführung heute Abend verzichtet, soviel ich sehe, mehr oder weniger ganz
auf die Beantwortung der Frage des Schauplatzes. Sie lässt den Maskenball heute
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Giuseppe Verdi: Ein Maskenball
spielen. Dies, finde ich, ist eine ausgezeichnete Lösung. Sie macht deutlich, wie
sehr es in allen Opern Verdis nicht um Schauplätze, nicht um historische
Authentizität geht, sondern um Leidenschaften, um absolute Gefühle. Diese sind
zeitlos, es gibt sie immer und überall. Darum sind die Werke Verdis nicht
wegzudenken aus unserem Leben.
22. Februar 2014
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