Der Schabbat - Theologische Hochschule Friedensau

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Spes Christiana 18–19, 2007–2008, 7–22
Der Schabbat: Wandel und Kontinuität seiner
Bedeutung in der jüdischen Religionsgeschichte
Susanne Talabardon-Galley
Das „gegenwärtige Judentum“ zeichnet sich zunächst und vor allem dadurch aus,
dass es sich um eine äußerst pluralistische Erscheinung handelt. Da gibt es
ultraorthodoxe Juden, die beispielsweise in Jerusalem Straßensperren errichten,
um zu verhindern, dass säkular orientierte Juden dortselbst am Schabbat mit dem
Auto einen Ausflug unternehmen. Da gibt es progressive, die programmatisch so
ziemlich alles erlauben, was der Freude am Schabbat dienlich ist – zum Beispiel
das Autofahren zur Synagoge – während konservative Juden es womöglich vorziehen, zu Fuß zu gehen. Viele Einzelfragen finden sich in ständiger Diskussion
oder werden höchst unterschiedlich bewertet.
Die sehr breit gespannte Unterschiedlichkeit der Gestaltung des Schabbat lässt
sich natürlich in weiten Teilen auf die Vielfalt des modernen Judentums zurückführen. Um die erstaunliche Variationsbreite der Schabbatbräuche zu verstehen,
ist es aber mindestens ebenso wichtig, die inneren Spannungen zu berücksichtigen, die bereits dem Konzept des wöchentlichen Ruhetages innewohnen.
Wie aus einem Vergleich der beiden Fassungen des Dekalogs (Ex 20,8–11 und
Dtn 5,12–15) deutlich wird, findet der Schabbat in der Hebräischen Bibel zwei
ebenso unterschiedliche wie theologisch gewichtige Begründungen. Deren eine
(Ex 20,11) verankert den wöchentlichen Ruhetag mythisch im Schöpfungshandeln
Gottes, die zweite (Dtn 5,15) historisch als einen Erinnerungsakt an den Exodus.
Damit erfährt der Schabbat die größte theologische Aufwertung, die im Rahmen
des biblischen Wertsystems zu vergeben ist:1 Er ist in der kosmischen Grundordnung ebenso verankert, wie im Exodus als dem Urdatum israelitischer Geschichte. Doch diese doppelte Begründung verursacht auch einen gewissen inneren Gegensatz. Die Auffassung, der Mensch sei mit der Einhaltung des Schabbat
zur Nachahmung des Ewigen, zur imitatio Dei, gerufen, führt den Ruhetag unmittelbar in die Sphäre des Heiligen, der Transzendenz über. Die im Deuteronomium
vertretene Begründung, der Ruhetag solle der erleichterten Erinnerung an das
frühere Sklavendasein dienen, bindet den Schabbat hingegen fest an den Menschen. Er dient immanenten Zielen, der dankbaren Freude und Erholung.
Diese doppelte Begründung spiegelt sich in vielen weiteren Äußerungen zum
wöchentlichen Ruhetag wider, sei es in der Bibel, sei es in der nachfolgenden
1
Dies wiederum wird von der biblischen Theologie so formuliert, dass der Schabbat (gemeinsam
mit der Beschneidung) in den Rang eines „Bundeszeichens“ (vgl. Ex 31,16; Lev 24,8) erhoben wird.
jüdischen Tradition. Die dialektische Spannung zwischen Mythos, Transzendenz
und Heiligkeit einerseits, Geschichte, Immanenz und freudiger Dankbarkeit
andererseits reichen von der Todesstrafe, die dem Schabbatbrecher wiederholt
angedroht wird, bis hin zur besonderen Betonung der Freude, die denjenigen
erwartet, der sich den Ruhetag angelegen sein lässt:
Und es sagte der Ewige zu Mosche, indem er sagte: Du aber, sprich zu den
Kindern Israel, indem du sagst: Meine Schabbate aber sollt ihr halten. Denn
ein Zeichen ist er zwischen mir und euch und den euch [nachfolgenden]
Generationen, zu wissen, dass Ich der Ewige, euch heilige. Ihr sollt aber den
Schabbat halten, denn er ist euch heilig. Wer ihn aber entweiht, wird gewiss
sterben, denn jeder, der an ihm zielgerichtete Arbeit tut, dieses Leben soll
ausgeschnitten werden von inmitten seiner Völker (Ex 31,12–14).2
Wenn du deinen Fuß vom Schabbat zurückbringst dir ein Bedürfnis zu
schaffen am Tage meiner Heiligkeit, dann wirst du den Schabbat eine Freude
nennen, dem Ewigen heilig und gewichtig und ehrst ihn mehr als [durch] das
Tun deiner Wege, mehr als [durch] das Finden deines Bedürfnisses, ein Ding
[zu] dingen (Jes 58,13).
So gängig wie die ernste Warnung vor der Übertretung des Schabbats ist auch die
Betonung der besonderen Freude am Ruhetag, des Oneg Schabbat (vgl. Jes
58,13). Sowohl dieser vermeintliche innere Gegensatz als auch die Merkwürdigkeit, dass die Bibel kaum mit konkreten positiven Bestimmungen zur Gestaltung
des wöchentlichen Ruhetages aufwartet, wird von der spätantiken rabbinischen
Theologie, wie sie im Babylonischen Talmud3 und dem Midrasch4 niedergelegt
ist, tiefgründig reflektiert. Uns wird im Folgenden in der Hauptsache die Grundlegung der Schabbathalacha interessieren.
Die Spannung zwischen der angedrohten Todesstrafe und der biblischen Feststellung, dass der Mensch durch die Gebote leben soll (Lev 18,5) bewältigt die
rabbinische Theologie dahingehend, dass die Bewahrung des Lebens den meisten
Geboten strikt übergeordnet wird. Die Mekhilta, ein Midrasch aus dem 3. Jahrhundert, argumentiert folgendermaßen:
Rabbi Schim’on ben Menassja sagt: Siehe, es heißt: Ihr sollt aber den Schabbat
halten, denn er ist euch heilig (Ex 31,14). Euch ist der Schabbat übergeben,
nicht aber seid ihr dem Schabbat übergeben. Rabbi Nathan sagt: Siehe, es
heißt: Und es sollen die Kinder Israels den Schabbat halten, um den Schabbat
2
Hervorhebungen nicht im Original. Wenn es nicht eigens angegeben ist, stammen die Übersetzungen (auch die folgenden) von der Autorin.
3
Der Babylonische Talmud ist eine gewaltige Enzyklopädie jüdischen Wissens, kompiliert in
Persien („Babylon“), der die Traditionen der Gelehrten (Rabbinen, d.i. Meister) des 3. bis 6. Jh.
umfasst.
4
Als Midrasch (von hebr. darasch, forschen, ergründen) bezeichnet man die in Inhalt und Struktur
an biblischen Büchern orientierten Schriften der Rabbinen, in denen sie die Texte der Hebräischen
Bibel auf das in ihnen enthaltene ethische und narrative Potenzial (d.i. Haggada) sowie auf ihre
religionsgesetzlichen Implikationen (d.i. Halacha) hin befragen.
8
[zu einem ewigen Bund] für die ihnen [nachfolgenden] Generationen zu
machen (Ex 31,16). [Dies bedeutet:] Man verletzt einen Schabbat, um [ein
Leben zu retten], dann kann der [Gerettete] viele Schabbate einhalten
(Mekhilta, Schabbata I, in Auslegung von Ex 31,12–14).
Der so hart artikulierte Gegensatz zwischen ernster Heiligkeit und Schabbatfreude
findet auch im Midrasch Psikta Rabbati, einer Sammlung von Homilien zu
Schabbat und Festen, seinen Niederschlag:
Rabbi Berekhja [sagt im Namen R. Chijja bar Abbas]: Nicht wurde der
Schabbat gegeben außer zum Vergnügen. Rabbi Chaggai [sagt im Namen
Rabbi Schmu’el bar Nachmans: Nicht wurde] der Schabbat gegeben außer
zum Torastudium! Es ist aber nicht gegensätzlich, was Rabbi Berekhja im
Namen R. Chijja bar Abbas vom Vergnügen sagt. Dies sind die Gelehrtenschüler, welche alle Tage der Woche mit der Tora Umgang pflegen. Am
Schabbat aber kommen sie und vergnügen sich. Was Rabbi Chaggai im
Namen Rabbi Schmu’el bar Nachmans vom Torastudium sagt: Dies sind
diejenigen, die sich während der Wochentage ihrer Arbeit widmen. Aber am
Schabbat kommen sie und beschäftigen sich mit der Tora (Psikta Rabbati 23).
Die zitierten Versuche, zwischen immanenter Freude und dem Dienst am Heiligen zu vermitteln (man könnte ihnen weitere hinzufügen), gehen das Problem
sowohl halachisch (Mekhilta) als auch narrativ (haggadisch) an. Die Todesstrafe,
mit der die Entweihung des Schabbats bewehrt ist, wird dem höheren Wert der
Lebenserhaltung untergeordnet und somit interpretiert und eingegrenzt. Damit
wird auch in der transzendenten Domäne das soziale Element zur Geltung gebracht. Der haggadische Ansatz der Psikta Rabbati vermittelt zwischen Freude
und Heiligkeit dahingehend, dass er das totaliter aliter des Schabbats zu einem
übergeordneten Grundsatz entwickelt: Entscheidend ist, dass sowohl Hand- als
auch Kopfarbeiter am siebenten Tag der Woche ihren Lebensrhythmus unterbrechen.5
Beiden Interpretationen ist jedoch anzumerken, dass sie den Kontrast zwischen
Tremendum und Feierstimmung nicht wirklich bewältigen können. Letztlich
drückt sich in dieser Spannung zwischen Ernst und Freude der Gegensatz
zwischen der hellen und der dunklen Seite Gottes aus; sie ist Spiegelbild Seiner
erschreckenden Heiligkeit, die für den Menschen Gefahr birgt und Seiner lebensspendenden Milde. Im Folgenden soll an einigen Beispielen gezeigt werden, wie
in verschiedenen Strängen der jüdischen Tradition das Paradoxon zwischen
mythischer Heiligkeit und immanenter Lebensfreude zum Ausdruck kommt.
5
Dass Gelehrte am Schabbat nicht Tora studieren sollen, ist allerdings eher eine rhetorische Figur
und stand in der Praxis nie zur Debatte.
9
1.
Triumph der Vernunft? Rationale Philosophen begründen den
Schabbat
Rabbi Chanina sagt: Ein Glücksstern macht weise, ein Glücksstern macht
reich, und [auch] Israel hat einen Glücksstern. Rabbi Jochanan aber sagte:
Israel unterliegt dem Glücksstern nicht (bSchabbat 156a).
Die besondere Schwierigkeit, ein Gebot zu begründen, liegt im Wesen des Gebotes beschlossen. Ein Gebot, insbesondere dann, wenn es sich um ein göttliches
handelt, ist eben ein Gebot und bedarf zwar einer unterliegenden Autorität, nicht
aber einer einleuchtenden Erklärung dafür, warum man es denn halten solle.
Dennoch fällt insbesondere hinsichtlich des Schabbats auf, wie sorgfältig bereits
die Hebräische Bibel um eine Begründung dieser Vorschrift bemüht ist.
Für philosophisch denkende Geister innerhalb des Judentums, angefangen mit
Philo von Alexandrien (ca. 20 v. d.Z. bis 50 n. d. Z.) bis in die Moderne (vgl.
Rosenzweig 1996, 344 –347 u.ö.), schienen indessen weder die imitatio der
göttlichen Ruhe nach der Weltschöpfung noch die Erinnerung an das Sklavendasein in Ägypten zu dessen Erklärung hinreichend. Oft findet man jüdische
Denker damit befasst, den Schabbat in der Naturordnung zu verankern. Dies
erklärt sich aus der verbreiteten philosophischen Überzeugung, dass „vernünftige“
Regeln für menschliches Zusammenleben die Gesetze der Natur zu widerspiegeln
hätten.
Ein solches Unterfangen gestaltet sich jedoch hinsichtlich des Schabbats schwierig, da zwar die Monate und Jahre, nicht aber der siebentägige Rhythmus der
Woche von astronomischen (und somit naturgesetzlichen) Gegebenheiten abgeleitet werden können. Die Einbettung des wöchentlichen Ruhetages in die Natur
wird von den Religionsphilosophen der Antike und des Mittelalters auf sehr verschiedenen Wegen bewerkstelligt. Philo, und nach ihm vor allem der Exeget, Dichter, Grammatiker, Philosoph, Astronom und Arzt Abraham ibn Esra (1089–1164)
begründeten den Schabbat mit astronomisch-astrologischen Konstellationen.6 Im
Wissenschaftsgefüge des Mittelalters unterschied man kaum zwischen dem, was
nach heutigem Verständnis Astrologie umfasst, und der Astronomie, weshalb
beider Methoden und Inhalte als rationale Verfahren angesehen wurden. Seit der
Antike galt es als ausgemacht, dass jeder Wochentag einem bestimmten Planeten
und somit der ihn symbolisierenden Gottheit zugewiesen wurde.7 Diese
6
Ähnliches gilt aber auch von Levi ben Abraham ben Chajim (ca. 1245–1315), einem französischjüdischen Philosophen, von David ben Re’uven ben Samuel ha-Kokhavi d’Estella (um 1300), einem
provençalischen Gelehrten, oder vom Philosophen und Exegeten Nissim ben Mose von Marseille
(14. Jh.). Ähnlich auch der Ralba’g, Levi ben Gerschom (1288–1344), der ebenfalls aus der Provence stammende große Mathematiker, Astronom, Philosoph und Exeget. Vgl. dazu Kreissel (2004,
69–81 [hebräischer Teil]).
7
Vgl. die römischen Bezeichnungen für die Wochentage, wie sie sich noch heute in den
romanischen Sprachen, wie zum Beispiel dem Französischen, spiegeln: Lundi (Mond), Mardi
10
Überzeugung wurde auch von jüdischen Autoren der Spätantike und des Mittelalters geteilt, auch wenn sie die römischen Götter zu dämonischen Kräften
herabstuften. In seinem Langkommentar zu den Zehn Geboten (zu Ex 20,14)
reflektiert Abraham ibn Esra die Konsequenzen dessen, dass der Schabbat vom
Saturn beherrscht würde:
Die „experimentierenden“ Gelehrten sagen, dass jeder einzelne der dienstbaren
[Planeten] einen bestimmten Tag der Woche hat, da er seine Kraft erweist. Er
beherrscht aber [jeweils] die erste Stunde am [jeweiligen] Tag. Und ebenso mit
dem, der die erst Stunde der [jeweiligen] Nacht beherrscht.8 Und [jene Gelehrten] sagen, dass Saturn [Schabtai] und Mars Schaden verursachende Sterne
sind. Und wer eine zielgerichtete Arbeit beginnt oder des Weges geht während
einer von den beiden [Einfluss nimmt], wird durch sie zu Schaden kommen.
Daher sagen unsere Vorfahren, ihr Andenken sei zum Segen: Es ist Erlaubnis
gegeben, in den vierten Nächten und in den Schabbatnächten zuzuschlagen.
Siehe, du findest keinen Tag der Woche, an dem Tag und Nacht, einer wie die
andere, von diesen beiden Schädiger[-Sternen] beherrscht werden, außer an
diesem Tag [dem Schabbat].9 Daher ist es nicht gestattet, sich an ihm mit
weltlichen Geschäften zu befassen, sondern ausschließlich mit der Gottesfurcht.
Mit der Verknüpfung von Planetenkonstellationen und Schabbatgebot gelingt
Abraham ibn Esra eine Harmonisierung zwischen sozialer (Vermeidung von
Schaden) und metaphysischer (Konzentration auf die Gottesfurcht) Begründung
des wöchentlichen Ruhetags. Er ist somit „vernünftig“ in die Ordnung des
Kosmos wie in das menschliche Zusammenleben integriert. Sowohl die negative,
warnende Komponente, die Warnung vor Unglück, und das positive Gebot, die
Zuwendung zu Gott, wird in eine Erklärung zusammengeführt.
Eine andere Fraktion innerhalb der jüdischen Religionsphilosophie, repräsentiert
vor allem von Mosche ben Maimun (Maimonides, 1135–1204),10 die sich darin
vor allem an Aristoteles orientierten,11 hielten den Einfluss der Gestirne auf das
Schicksal von Menschen für irrelevant. Maimonides musste sich infolge seiner
Ablehnung der Astronomie nach einer anderen Verankerung des Schabbats in der
Ordnung der Dinge umsehen – und fand diese in der Metaphysik. In seinem
(Mars), Mercredi (Merkur), Jeudi (Jupiter), Vendredi (Venus). Der Sonnabend galt als vom Saturn,
der Sonntag von der Sonne beherrscht.
8
Die Planeten beeinflussten, der spätantiken und mittelalterlichen Astrologie bzw. Astronomie
zufolge, abwechselnd je eine Stunde jeden Tages bzw. jeder Nacht, und wer die jeweils erste Stunde
des Tages „beherrschte“, galt als maßgebliche Kraft des betreffenden Wochentages.
9
Mars „beherrscht“ den Dienstag und die Nacht zwischen Freitag und Sonnabend, Saturn den
Sonnabend und die Nacht von Dienstag auf Mittwoch, die aber schon zum Mittwoch gehört.
10
Zu ihr gehören neben Maimonides aber auch die großen Exegeten und Kabbalisten Mosche ben
Nachman (Nachmanides, 1194 –1270) und Bachja ben Ascher (13. Jh.).
11
Aristoteles polemisierte in seiner Metaphysik (XIV,3–6) gegen die Zahlenlehre der Pythagoräer,
die zwischen bestimmten Zahlen und Gestirnen, Zeiten oder Gegenständen seiner Meinung nach
unzulässige Strukturparallelen sahen.
11
philosophischen Hauptwerk, dem Moré Nevukhim (etwa: „Führer der Verirrten“)
beschreibt er den tieferen Grund für das Schabbatgebot wie folgt:
Du hast vielleicht den Grund schon erkannt, weswegen man derart auf dem
Gebot des Schabbat insistiert und warum es die Steinigung [zur Strafe] hat, so
sehr, dass der Fürst der Propheten [Mose] es mit der Todesstrafe bewehrt hat.
[Das Sabbatgebot] nimmt nach der Existenz Gottes und der Abwehr des
Dualismus den dritten Rang [unter den Glaubensüberzeugungen] ein. Man hat
uns aber für dieses Gesetz zwei unterschiedliche Ursachen benannt, die zu
zwei verschiedenen Konsequenzen führen. Es wurde uns nämlich über den
Schabbat und hinsichtlich der Ruhe geboten, um zwei Dinge miteinander zu
vereinen: die Festsetzung einer richtigen Anschauung – dies ist die Erneuerung
der Welt, welche im ersten Nachdenken und bei leichter Reflexion zur
Existenz Gottes führt – sowie das Angedenken an die Milde des Ewigen uns
gegenüber, der uns ausruhen ließ von den Fronlasten Ägyptens. Es ist
gewissermaßen eine umfassende Milde, die der Bestätigung spekulativer
Anschauung und der körperlichen Wiederherstellung [dient] (Moré Nevukhim
2, 31).
Der Schabbat führt nach Auffassung des Maimonides in seiner ersten, kosmologisch-mythischen Begründung (Ex 20,11) direkt auf die zentrale Erkenntnis,
dass Gott existiert.12 Nur wenn von einem zeitlichen Anfang der Welt (Ruhe nach
der Schöpfung) ausgegangen werden kann, lässt sich die Einheit und Einzigkeit
Gottes philosophisch korrekt begründen. Somit gibt es eine Art metaphysische
Absicherung des Schabbats als eines Zeichens für das Sein Gottes. Die zweite
biblische Begründung, die Erinnerung an die Sklavenarbeit, gerät bei Maimonides
zu einer Art Sozialhygiene höherer Ordnung. Das muss nicht unbedingt verwundern, schließlich war der größte jüdische Philosoph des Hochmittelalters
gleichzeitig ein gefragter Arzt. Auch Sa’adja Gaon (882–942), der erste in der
Reihe bedeutender jüdischer Rationalisten, betont in seinem philosophischen chef
d’oeuvre Sefer Emunot we-De’ot die physische Nützlichkeit des Schabbatgebots,
das ansonsten nicht vernunftgemäß zu begründen sei (Emunot we-De’ot III, 2.).
Ob nun schädliche Gestirne oder die Existenz Gottes, die intellektuelle Betätigung
oder die physische Rekreation: Allen Begründungen der mittelalterlichen Philosophen ist gemeinsam, dass sie den Schabbat sozusagen aus seinem zeitlich umgrenzten Umfeld (Anknüpfung an Schöpfungsruhe oder Ägypten) abzulösen
trachten, um ihn quasi auf eine „ewige“ naturgesetzliche oder metaphysische
Basis zu stellen. Niemand würde die Rationalität einer Unterwerfung unter die
Gestirnumläufe, tiefe metaphysische Einsichten oder die Sozialhygiene ernsthaft
bestreiten wollen.
12
Ähnlich Jehuda ha-Levi (um 1075–1141) in seinem philosophischen Hauptwerk Sefer ha-Kusari.
Der Schabbat sei ein Glaubensbekenntnis, der den Menschen näher zu Gott bringt (Kusari II,50).
12
2.
Das „religiöse Mehr“: Kabbalisten begründen den Schabbat
Der rationale „Mehrwert“, der dem Schabbat durch die philosophischen Begründungen zuwuchs, mag nun denjenigen Denkern genügen, die ihr Handeln unter
dem Blickwinkel intellektueller Maximen organisieren. Die Kabbala, eine jüdische Traditionsform, die sich im Mittelalter nahezu zeitgleich zu den großen
Religionsphilosophen zu entwickeln begann, gab sich mit dem Vorgehen letzterer
nicht zufrieden. Wie man bei Maimonides gut beobachten kann, fielen die theoretische Reflexion über die Grundlegung der Gebote13 einerseits und das Nachdenken über deren praktische Ausübung14 andererseits allzu oft auseinander. Der
Kabbala war es hingegen darum zu tun, die beiden divergenten Ströme, metaphysische Grundlegung und konkrete Gestaltung (Halacha), wieder zusammenzuführen. Dabei bedienten sich die kabbalistischen Denker – wie der Name
Kabbala (hebr. Tradition) schon zum Ausdruck bringt – besonders der rabbinischen Überlieferung.15 Im Ergebnis einer oft philosophisch (neoplatonisch) inspirierten Umdeutung dieser Traditionen entstanden umfassende theologische Systeme, die dem jüdischen Menschen eine entscheidende Aufgabe bei der Erhaltung
und Vollendung der Schöpfung zuerkannten.
Der Schabbat spielt, beginnend mit dem prägenden Werk der klassischen
Kabbala, dem Sohar, in vielen dieser Entwürfe eine zentrale Rolle.16 Etliche
kabbalistische Systeme enthalten eine neoplatonisch beeinflusste Emanationslehre, der zufolge der Ewige einen Teil von sich offenbart, indem er wirkmächtige
Kräfte, die Sefirot (hebr. Zahl, eigentlich Zählen) (vgl. Grözinger 2005, 37– 41),
aus sich herausströmen lässt. Diese Sefirot, zehn an der Zahl, werden in der
klassischen Kabbala als hierarchisch geordnet aufgefasst (vgl. Abb. 1). Oft wird
die obere Triade, bestehend aus den Sefirot Keter, Chokhma und Bina, von der
unteren Heptade abgesetzt. Die unteren sieben Sefirot lassen sich nun sehr gut mit
13
Diese findet man vor allem in dessen philosophischen Hauptwerk Moré Nevukhim, das in
arabischer Sprache an die jüdische Bildungselite gerichtet ist.
14
Diesem Anliegen wiederum ist Maimonides’ halachisches Hauptwerk, der hebräisch geschriebene
Mischné Tora gewidmet. Dabei handelt es sich um ein systematisches Handbuch der Religionsgesetze, auch wenn es unter rationalen Vorzeichen (vgl. die religionsphilosophische Grundlegung
im ersten Teil des Mischné) gelesen und angewendet werden soll.
15
Es ist irreführend, die Kabbala ausschließlich als „klassische jüdische Mystik“ zu definieren.
Viele kabbalistische Werke enthalten, legt man gängige religionswissenschaftliche Kategorien
zugrunde, mystische Elemente. Der gemeinsame Nenner der Kabbala besteht aber durchaus nicht in
deren mystischer Ausrichtung, sondern darin, ältere jüdische Traditionen neu zu gewichten und
systematisch (oft neoplatonisch) umzuinterpretieren.
Eine sehr instruktive und strukturierte Übersicht zu verschiedenen kabbalistischen Ansätzen zur
Deutung des Schabbat vermittelt Idel (2004, 57–93 [englischer Teil]). Vgl. auch Ginsburg (1989)
bzw. die kommentierte Anthologie zum Sohar von Tishby (1991, 1215–1280), wo Tishby eine
detaillierte Einführung zur soharischen Sicht auf den Schabbat und die Feste nebst ihrer Vorgeschichte bietet.
16
Eine ähnlich bedeutende Rolle spielt der Schabbat auch im Denken Joseph Gikatillas (um 1248 –
1325), einem Zeitgenossen des Kabbalisten Mosche ben Schem Tov de Leon (um 1240–1305), der
für große Teile der soharischen Traditionen verantwortlich ist.
13
Wochentagen und Planeten identifizieren. Für dieses Konzept konnten sich die
kabbalistischen Autoren auf eine rabbinische Tradition stützen, die besagt:
Sprach der Schabbat vor dem Heiligen, gelobt sei Er: Herr der Welt, alle
[sechs Wochentage] haben einen Partner [d.i., lassen sich zu Paaren ordnen],
ich aber habe keinen Partner! Sagte ihm Gott, Er sei gesegnet: Die Gemeinde
Israels – sie sei dein Partner. Und als Israel vor dem Berg Sinai stand, sagte der
Heilige, gelobt sei Er, zu ihnen: Erinnert euch des Wortes, das ich zum
Schabbat gesagt habe: die Gemeinde Israels – sie sei dein Partner! (Bereschit
Rabba 11,9)
Die Vorstellung vom Schabbat als einem ehelichen Partner Israels wird von
einigen kabbalistischen Denkern aufgegriffen und mythisch transformiert. Der
Vereinigungsvorgang wird dabei allerdings in die Sphäre der offenbaren Kräfte
Gottes, der zu einem „Lebensbaum“ (Ez Chajim) angeordneten Sefirot, verlegt.
Das mythologische Konzept, das zur Deutung des wöchentlichen Ruhetages
aufgegriffen wird, ist das der sogenannten Heiligen Hochzeit (hieros gamos).
Ordnet man die unteren sieben Sefirot zu Paaren, dann bleibt eine von ihnen –
manchmal die unterste Sefira Malkhut, in anderen Systemen Jessod (selten
Tif’eret) – „ohne Partner“ zurück. Der Dopplung der Zuordnung des Schabbat zu
Malkhut bzw. Jessod entspricht nach kabbalistischer Auffassung die zwiefache
Form des Ruhegebotes in den beiden Dekalogfassungen der Hebräischen Bibel.
Sie symbolisiert gleichzeitig Nacht und Tag des Schabbat wie auch den
männlichen (Jessod resp. Tif’eret) und weiblichen (Malkhut) Aspekt Gottes. Die
Malkhut, die innerhalb der Sefirot zugleich den himmlischen Archetyp Israels
repräsentiert, ist die Braut des Jessod (Sohar II, 63b). Das talmudische Diktum
von der Partnerschaft Israels mit dem übrig gebliebenen Wochentag erfährt also
im Sohar eine konkretisierende Neuinterpretation, die einer Mythisierung der
rabbinischen Tradition gleichkommt. Wenn Israel den Schabbat adäquat begeht,
dann wird die Vereinigung zwischen den männlichen und weiblichen Gotteskräften möglich. Unheilvolle Trennungen in der himmlischen Welt werden überwunden und eine umfassende Harmonie lässt Segenskräfte frei werden, die auf
die Erde herabströmen.17
Joseph Gikatilla (1248 –1325), der wohl am meisten systematische Denker
innerhalb des kabbalistischen Mainstream, entwirft – analog zu den beiden
Dekalogfassungen und den zahlreichen weiteren Dualitäten innerhalb der
Schabbattradition – ein zwiefaches Vereinigungsgeschehen innerhalb der Sefirot.
Eine „niedere Vereinigung“ vollzieht sich zwischen Malkhut und Jessod, eine
höhere zwischen Bina, „dem Großen Schabbat“, und Malkhut-Israel. Damit sind
nahezu alle Gotteskräfte, von der untersten (Malkhut-10) bis zu den höchsten
(Bina-3) in das Geschehen einbezogen.
17
Ähnlich auch das dem Sohar zeitlich vorausgehende Sefer ha-Bahir und Mosche ben Nachman
(Nachmanides) in seinem Kommentar zu Lev 19,30.
14
Abb. 1. Der kabbalistische Ez Chajim (Galley 2006, 90)
Die Sphären der diesseitigen Welt erfahren so etwas wie einen Vorgeschmack auf
die kommende Welt:
15
Der Sabbat ist das Geheimnis des Tores, durch das jemand in das Leben der
kommenden Welt eingeht, weil der Sabbat der Große Sabbat genannt wird;
wenn er aber den Sabbat in dieser Welt nicht gehalten hat, hat er kein Tor zu
der kommenden Welt, weil der Sabbat und die kommende Welt mit demselben
Namen bezeichnet sind (Gikatilla, Sod ha-Schabbat [Geheimnis des Schabbat],
MS Paris BN 823, fol. 52ab, zit. nach Idel 2004, 76.).
Mit dieser Re-Mythisierung der Tradition gelingt der Kabbala die Integration der
auseinanderstrebenden Aspekte von Freude und Heiligkeit des Schabbats. Der
sakrale Charakter des siebenten Tages wird zurückgewonnen, sogar kosmisch
überhöht. Andererseits wird der einzelne Jude zu einem wichtigen Global Player
im universalen Spiel der Gotteskräfte. Doch auch in diesem Fall greift die
Kabbala auf vorliegende rabbinische Traditionen zurück, die sie mythisch und
mystisch neu fasst. Im Babylonischen Talmud lesen wir:
Jeder, der am Schabbat-Abend betet und spricht: „und es wurden vollendet“
(vgl. Gen 2,2), dem rechnet es die Schrift an, als ob er beim Schöpfungswerk
zum Partner des Heiligen, gelobt sei Er, gemacht worden wäre (bSchabbat
119b).
Die wahrhaft gewaltige Verantwortung, die dem einzelnen Juden bei der
Gestaltung seines Schabbats zuwächst, wird balanciert durch die Vorstellung
einer unterstützenden Seele, die einem jeden von Israel anlässlich des Schabbats
vom Himmel her gesandt wird, um die Heiligkeit jenen Tages zu gewährleisten:
Wenn der untere Punkt [die Malkhut] aufsteigt, aufscheint und sich bereitet,
dann ist vollkommene Freude in der Oberen und der Unteren [Welt] zu finden
und die Welten sind erfüllt von Freude. Und in derselben Nacht verströmt
dieser Punkt sein Licht und breitet seine Flügel aus über die Welt und alle
fremden Mächte vergehen und seine Wächter sind auf Erden zu finden. Dann
wird der Geist der [zusätzlichen Schabbat-] Seele Israel hinzugefügt, auf jeden
einzelnen. Und durch jene zusätzliche Seele wird jede Sorge und aller Zorn
vergessen, und es findet sich nichts als Freude in den Oberen und Unteren
[Welten]. Und jener Geist, der herniederfährt und jedem Erdenkind hinzugefügt wird, war hinabgezogen und eingetaucht in die Balsamteiche des Gartens
Eden. So fährt [der Geist] hinab und lässt sich auf das Heilige Volk nieder.
Wohl denen, die jenen Geist erwecken! … Es steht geschrieben: Und Er
erholte sich [wajjinafesch] (Ex 31,17). Und man hat [den Vers] interpretiert:
„Weh der Seele [nefesch], die zugrunde geht“ [bBeiza 16a]. Und das ist
passend. Aber sollte man nicht auch sagen: „Weh dem Körper“ sei angemessen? Denn mit ihm geht die Seele zugrunde. Dies jedoch ist ein wirkliches
Mysterium: der Mensch hat nämlich eine Seele, die am Schabbat-Abend den
Geist empfängt. Jener Geist aber ruht auf der Seele und wohnt in ihr während
des gesamten Schabbat-Tages. Und somit wird jene Seele größer an Fülle und
bleibt in einer besseren Fassung zurück als zuvor. Und daraus lernen wir: alle
Seelen von Israel werden am Schabbattag bekrönt. Ihre Krone aber, die ihnen
einwohnt, ist der Geist auf ihnen. Wenn aber der Schabbat beendet ist und
16
jener Geist [wieder] in die Höhe steigt: „Wehe der Seele, die zugrunde geht!“
(Sohar II, 204a–b).
Ausgerüstet mit jener himmlischen Kraft, die dazu dient, den Alltag vom
Schabbat fernzuhalten, geht der Mensch an die aktive Gestaltung der göttlich
verordneten Ruhe, bei der, wie sich denken lässt, viele ihrer Elemente eine
mythische Ausdeutung erfahren. In besonderer Weise gilt dies von den drei am
Schabbat auszurichtenden festlichen Mahlzeiten, die von den Rabbinen in
besonderer Weise als Ausdruck der Schabbatfreude gewertet werden:
Worin äußert sich die [Schabbat-]Freude? Rav Jehuda, der Sohn des Rav
Schmu’el ben Schilat sagte im Namen Ravs: In einem Gericht aus Mangold
[oder Runkelrüben], großen Fischen und Knoblauchzehen. Rav Chijja bar Ischi
sagte [im Namen] Ravs: Sogar eine kleine Sache, wenn sie zu Ehren des
Schabbat bereitet ist, siehe – dies ist Freude! Was ist [eine kleine Sache]?
Sagte Rav Papa: Eine Pastete aus gehacktem Fisch (bSchabbat 118b).
Im Sohar entzündet sich die universale Freude des Schabbats an der Vereinigung
der männlichen und weiblichen Sefirot. Seinen sichtbaren Ausdruck findet dieses
„Vergnügen“ aber auch in den Gegenständen des jüdischen Hauses, die man für
eine Feier des Ruhetages benötigt. Darin kommt jene Grundauffassung der
Kabbala (eine ihrer tatsächlich mystischen Komponenten) zum Ausdruck, die
besagt, dass alles, was hienieden geschieht, sein unmittelbares Echo in der Oberen
Welt und somit in Gott findet. Vor diesem Hintergrund kann es nicht verwundern,
dass die Utensilien des Schabbats – die Leuchter, die zum Beginn des Schabbats
entzündet werden, der festlich gedeckte Tisch, das Bett, in dem Mann und Frau in
der Schabbatnacht ihre Art von Vereinigung vollziehen – zu Symbolen der himmlischen Kräfte werden. Vor allem die drei vom Talmud geforderten Mahlzeiten
am Schabbat werden als Hinweis auf drei Sefirot (z. B . Keter, Tif’eret und
Malkhut, die Mittelachse des Ez Chajim) (vgl. Tishby 1991, 1234 –1235; Sohar
III, 288b u.ö.) verstanden. Deren exakte Ausführung verbürgt wiederum himmlische Harmonie. Ähnliches gilt für Brot und Wein und die Segen, die über ihnen
gesprochen werden.
Grundprinzip aller am Schabbat zu vollziehenden Riten ist die vollkommene
Andersartigkeit des Schabbat von den Wochentagen. Der Unterschied zwischen
„heilig“ und „profan“ muss ein vollständiger sein, weder Sorge noch Streit, weder
überflüssiges Geschwätz noch säkulare Betätigung sollen in seine Sphäre eindringen. Jede am Schabbat vollzogene Handlung dient der Unterstützung himmlischer Vereinigungen durch individuelle Heiligkeit; jede unterlassene Handlung
dazu, den Alltag aus der heiligen Zeit heraus- und Störungen von der himmlischen Welt fernzuhalten. Die Würde menschlichen Handelns und die persönliche Verantwortung des Einzelnen für das Ganze sind kaum mehr zu überbieten.
17
3.
Ratio und Mythos: Die großen jüdischen Strömungen der Gegenwart
Beide Konzeptionen, sowohl die in Maimonides kulminierende philosophischrationalistische Deutung der jüdischen Tradition als auch deren mythische
Interpretation durch die Kabbala, haben im Judentum heftige Kontroversen ausgelöst, bis sie sich schließlich auf je ihre Weise allgemein durchsetzten. Hinsichtlich der kabbalistischen Systeme geschah dies allerdings mit einer zeitlichen
Verzögerung, da deren Schriften zunächst als arkan galten, in kleinen Zirkeln
gelesen und nur zögernd weitergegeben wurden. Erst das mystische Konzept
Jitzchak Lurias (1534 –1572) und seiner Gefährten, die nach der Vertreibung der
Juden aus Spanien und Portugal in Safed/Zefat ein neues spirituelles Zentrum
entwickelt hatten, erfuhr eine große Verbreitung. Das lurianische System war es
auch, das der größten messianischen Bewegung des Judentums seit der Spätantike, der des Schabtai Zwi,18 als Interpretationsmodell diente. So nimmt es nicht
wunder, dass nach dem Scheitern des Sabbatianismus eine heftige Diskussion
darüber losbrach, inwieweit kabbalistische Schriften und Lehren überhaupt
außerhalb kleiner Gelehrtenkreise zirkulieren dürften.19
Doch waren dies nur Rückzugsgefechte, wie das Aufblühen des osteuropäischen
Chassidismus im 18. und 19. Jahrhundert verdeutlicht. Kabbalistische Interpretationsmuster, lurianische Bräuche und Gebetbücher erfuhren eine Verbreitung
buchstäblich bis in die Walachei. Selbst die erklärten Gegner des Chassidismus,
unter ihnen der berühmte Gaon von Wilna (1720 –1787), waren große Kabbalisten – wenn sie auch manchmal die Popularisierung mystischer Ideen entschieden bekämpften. Im Grunde teilt das gesamte orthodox-jüdische Spektrum, ob
chassidischer oder nicht-chassidischer Prägung, die wesentlichen Konzepte der
Kabbala – darunter auch die skizzierten umfassenden Deutungen des Schabbats.
Die rationalistische Philosophie erfuhr hingegen in der jüdischen Aufklärung, der
Haskala, ihre Renaissance. Unter veränderten geistesgeschichtlichen Vorzeichen,
nämlich der Aufklärungsphilosophie mit ihrer Unterscheidung zwischen Vernunftreligion und religiöser Offenbarung, sichteten Moses Mendelssohn (1729 –1786)
und seine Mitstreiter die eigene Überlieferung. Mendelssohn selbst unterschied in
diesem Zusammenhang zwischen „ewigen Wahrheiten“, die „allen vernünftigen
Geschöpfen durch Sache und Begriff“ offenbart worden seien (Mendelssohn
1989, 444 f., Hervorhebungen im Original) und „Zeremonialgesetzen“,20 die Israel
quasi als bürgerliche Verfassung von Gott gegeben wurden, aber unbedingt zu
18
Schabtai Zwi (1626–1676) war ein Jude aus Smyrna, der von seinem glühenden Anhänger Nathan
von Gaza 1665 zum Messias ausgerufen wurde. Nathans Denken war weitgehend lurianisch
beeinflusst. Die Nachricht vom Messias Schabtai löste eine unvorstellbare Resonanz in der
jüdischen Welt aus, die erst durch die Konversion Schabtais zum Islam 1666 einen Dämpfer erhielt.
19
Beispiel einer solchen Kontroverse bildet die Auseinandersetzung zwischen Emden und
Eibeschütz, die in den Jahren 1750 und 1764 in Deutschland tobte.
20
„Gesetze, Vorschriften, Gebote und Lebensregeln, die dieser [der jüdischen, S.T.] Nation eigen
seien und durch deren Befolgung sie sowohl zur Nationalglückseligkeit als jedes Glied derselben
zur persönlichen Glückseligkeit gelangen sollte“ (Mendelssohn 1989, 446).
18
beachten wären. Seine Erben und Nachfolger21 (miss)verstanden diese Differenzierung dahingehend, dass an den ewigen Wahrheiten, die das Judentum zu einer
Vernunftreligion machten, zwingend festzuhalten sei, während man die „Zeremonialgesetze“ einer rationalen Überprüfung zu unterziehen hätte. Dieser Ansatz,
das Judentum gewissermaßen zu einer modernen Konfession zu reformieren und
es in die europäische Mehrheitskultur einzufügen, führte zur Entstehung des
Liberalen oder Reformjudentums22 und seiner Gegenbewegung, der Neoorthodoxie.23 Beiden war der Wunsch gemeinsam, das Judentum in die moderne
Gesellschaft zu führen – allein der Weg dahin wurde von beiden Strömungen sehr
unterschiedlich gefasst. Verkürzt gesprochen, bestand das Idealbild der Liberalen
im „deutschen Staatsbürger jüdischer Konfession“, während insbesondere Samson
Raphael Hirsch den „durch das jüdische Gesetz erzogenen Menschen“, den
„echten Jisroel-Menschen“ als Inbegriff der Vollkommenheit postulierte.
Der Schabbat, mit seinem Doppelcharakter von fröhlicher Arbeitsruhe und
Eintritt in die Sphäre des Heiligen, stand dabei selbstverständlich im Fokus der
Auseinandersetzung. Es galt zu klären, in welcher Weise die Heiligung des
Schabbats mit dem jeweiligen religiösen Idealbild zu vereinbaren war. Abraham
Geiger postulierte, zum biblischen Schabbatbegriff zurückzukehren, den er
allerdings eher sozial als mythisch-religiös fasste. Häusliches Musizieren, Reisen
zur Synagoge oder „zu einem andern höheren Zweck“, dringende Arbeit und
„Pflichten der Menschlichkeit“, Militär- und Beamtendienst sollten am Schabbat
freigegeben sein.24 Der Eingliederung der Juden in ein modernes Staatswesen
sollte der wöchentliche Ruhetag nicht im Wege stehen.
In der Tradition Geigers bewegt sich auch das moderne liberale Judentum, das
den Schabbat zwar als „Mittelpunkt jüdischen Lebens“ definiert (Romain und
Homolka 1999, 152), bei dessen konkreter Ausgestaltung er jedoch viele der
traditionellen Bestimmungen außer Acht lässt:
In progressiven Gemeinden wird dagegen der Einsicht Rechnung getragen,
dass sich das Wesen der „Arbeit“ im Laufe der Jahrhunderte beträchtlich
gewandelt hat und die talmudischen Verbote gelegentlich keine Bedeutung für
die modernen Umstände haben. Deshalb suchte man nach einer Neudefinition
der Tätigkeiten, die am Schabbat erlaubt und verboten sind. Ziel ist es, den
ursprünglichen Geist des Schabbatgebotes zu erhalten: Es ist ein Tag erhol21
Unter ihnen Naftali Herz Wessely (1725–1805), Naftali Herz Homberg (1749–1841), Lazarus
Bendavid 1762–1832) und Israel Jakobsohn (1768–1828). Letzterer initiierte erste Reformen des
synagogalen Gottesdienstes.
22
Dessen bekannteste Repräsentanten waren Abraham Geiger (1810–1874) und der radikale
Reformer Samuel Holdheim (1806–1860). Das immer noch beste Werk zu Inhalt und Bedeutung der
verschiedenen jüdischen Strömungen in Deutschland des 19. Jahrhunderts ist das von Max Wiener
(1933 [Nachdruck: Berlin 2002]).
23
Deren Begründer und wichtigste Protagonisten waren Samson Raphael Hirsch (1808–1888) und
Asriel Hildesheimer (1820–1899).
24
Abraham Geiger in seinem Bericht an die dritte Rabbinerversammlung zu Breslau 1846, zitiert
nach Wiener (1933, 107).
19
samer Ruhe und geistiger Erneuerung, der sich durch die Enthaltung von der
gewöhnlichen Arbeit auszeichnet. In einigen Fällen gelten die traditionellen
Bestimmungen nach wie vor, wie zum Beispiel das Verbot des Handels… In
vielen anderen Fällen werden Tätigkeiten, die von der Orthodoxie verboten
sind, im progressiven Judentum erlaubt, zum Beispiel Licht anzuzünden, denn
es bereichert den Schabbat eher als dass es ihn zerstört. In einigen Fällen hängt
das Erlaubtsein einer Tätigkeit von ihrem Zweck ab, zum Beispiel im Falle des
Autofahrens. Es wird in aller Regel nicht als wirkliche Arbeit betrachtet und ist
nur ein Mittel zum Zweck. Das Fahren am Schabbat ist demnach erlaubt, wenn
es dazu dient, die Synagoge zu besuchen oder Angehörige oder Freunde zu
besuchen, nicht aber, um Einkaufen zu gehen (Romain und Homolka 1999,
157).
Ganz anders argumentiert die Neoorthodoxie. In seinem 1837 erschienenen
Hauptwerk Chorew: Versuch über Israels Pflichten in der Zerstreuung betont
deren prominentester Vertreter, Samson Raphael Hirsch, den Schabbat als
wichtigstes Merkmal der Anerkennung von Gottes Herrschaft über die Welt:
Werklosigkeit selber ist nicht etwa Ausruhen von den Mühen der vergangenen
Woche, und gibt etwa Raum für die geistige Beschäftigung, sondern selbst
wesentlicher Bestandteil des Schabbat, und jedes im Schabbat-Sinn am
Schabbat unterlassene Werk selbst ein unmittelbares Tatzeugnis und Denkmal,
dass der alleinige Gott Herr sei allein, und der Mensch mit allem nur zu
Seinem Dienst berufen sei,= Rüsten zum Gottesdienst der Tat! – Und nun,
mein Jüngling! Willst du Gewinnes halber den Schabbat entweihen? die Hand
an Gottes Eigentum legen und sprechen: „das ist mein?“ Hast du ihn
durchgedacht, den Gedanken, den unsinnigen, den schrecklichen, ganz
durchgedacht, den du mit jedem kleinsten, zum Brotverdienst am Schabbat
geübten Werk aussprichst? „Um mein Lebensglück zu fördern – höhne ich
Gott“… Und mit jeder Beachtung der von den Chachamim25, nach ihrer
göttlichen Verpflichtung, schützend beigegebenen Anordnungen wirst du die
Heiligkeit, die für dein ganzes Leben entscheidende Wichtigkeit dieses
Gedankens und dieses Entschlusses beherzigen, damit du sie auch von ferne
nicht schmälerst. Jeder Augenblick des Schabbattages wird durch dein
Nichtwerküben dich erziehen, und tief einprägend den grossen einzigen
Gedanken deines ganzen Lebensberufes erneuern, wird dir die Welt um dich
zu einem Gottestempel heiligen, und dich selber zum Gottespriester und all
dein Leben zum Gottesdienst (Hirsch 1992, 83 f.).26
Diese rhetorisch dichten Zeilen schärfen den wöchentlichen Ruhetag als
Anspruch der göttlichen Heiligkeit an den Menschen ein, der in der Bibel (trotz
Geigers gegenteiliger Wahrnehmung) genauso begegnet wie die Akzentuierung
der Freude (Oneg Schabbat). Vor diesem Hintergrund scheint es nachgerade
überflüssig zu erwähnen, dass die Neoorthodoxie des 19. und 20. Jahrhunderts
25
26
Den Rabbinen, d. h. den talmudischen Bestimmungen zum Schabbat.
Hervorhebungen und Sonderzeichen (=) im Original.
20
und mit ihr große Teile des gegenwärtigen konservativen Judentums keinen
Anlass sehen, die umfassende traditionelle Beschreibung des Werkverbots am
Schabbat infrage zu stellen. Ganz zu schweigen von der klassischen chassidischen
und nicht-chassidischen Orthodoxie (Charedim), die an der vor allem in Deutschland und Westeuropa des 19. Jahrhunderts geführten Debatte um eine Modernisierung des Judentums gar nicht aktiv teilnahm.
4.
Zusammenfassung
Die überragende Bedeutung des Schabbat für die jüdische Kultur spiegelt sich in
der Vielzahl der Begründungen, die dies Gebot im Laufe der Geschichte erfahren
hat. Deren Spektrum reicht von einer sozial-anthropologischen bis hin zur
theurgisch-eschatologischen Grundlegung, von der Möglichkeit, sich von Strapazen und alltäglichen Demütigungen zu erholen bis hin zur aktiven Einflussnahme auf die Geschicke der Welt. Der jeweiligen Verortung des Schabbats, sei
es primär im menschlichen Zusammenleben oder im Wirken der offenbaren
Gotteskräfte, entspricht dessen Ausgestaltung als Familientag oder als ein von
allem Profanen strikt abzuschirmender Einbruch von Heiligkeit in die untere
Welt.
Die bereits in der Bibel angelegte Spannung zwischen laientheologisch-sozialer
Ausprägung und priestertheologisch-kultischer Fassung des Schabbatgebotes
zieht sich wie ein Cantus Firmus mit wechselnden Vorzeichen (falls so etwas
musikalisch überhaupt möglich ist) durch die jüdische Religions- und Geistesgeschichte. Schabbat und die Lebensumstände des jüdischen Volkes stehen im
ständigen Dialog mit der stetig anwachsenden Tradition, wodurch sie sich gegenseitig interpretieren und verändern. So war es gerade der dem wöchentlichen
Ruhetag inhärente Gegensatz zwischen Freude und Furcht, der dem Schabbat
über die Jahrhunderte die unvergleichliche Dynamik pluralistischer Deutungen
eingegeben hat.
21
Literatur
Galley, Susanne: Das Judentum. Frankfurt a. M.: Campus, 2006.
Ginsburg, Elliot K.: The Sabbath in the Classical Kabbalah. Albany: State
University of New York Press, 1989.
Grözinger, Karl Erich: Jüdisches Denken: Theologie, Philosophie, Mystik. Bd. 2:
Von der mittelalterlichen Kabbala zum Hasidismus. Frankfurt a . M.:
Campus, 2005.
Hirsch, Samson Raphael: Chorew: Versuch über Jisraels Pflichten in der
Zerstreuung. Zürich: Morascha, 1992.
Idel, Moshe: „Sabbath: On Concepts of Time in Jewish Mysticism.“ G. J.
Blidstein (Hg.): Sabbath: Idea, History, Reality. Beer-Sheva: Ben Gurion
University of the Negev Press, 2004, 57–93 (englischer Teil).
Kreissel, Chaim: „Ha-Schabbat be-Filosofija ha-jehudit bimej ha-Benajim.“ G. J.
Blidstein (Hg.): Sabbath: Idea, History, Reality. Beer-Sheva: Ben Gurion
University of the Negev Press, 2004, 69–81 (hebräischer Teil).
Mendelssohn, Moses. Schriften über Religion und Aufklärung. Hg. von Martina
Thom. Berlin: Union, 1989.
Romain, Jonathan A., und Walter Homolka: Progressives Judentum: Leben und
Lehre. München: Knesebeck, 1999.
Rosenzweig, Franz: Stern der Erlösung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1996.
Tishby, Isaiah: The Wisdom of the Zohar: An Anthology of Texts. Bd. 3. London:
Oxford University Press, 1991.
Wiener, Max: Jüdische Religion im Zeitalter der Emanzipation. Berlin: Philo,
1933 (Nachdruck: Berlin 2002).
PD Dr. Susanne Talabardon-Galley, Institut für Religionswissenschaft, Universität Potsdam. E-Mail: [email protected]
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