Neue Z}rcer Zeitung
AUSLAND
Mittwoch, 02.08.2000 Nr.177
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Hitlers Krieg und Stalins Absichten
Deutsche und russische Beiträge zur These vom Präventivkrieg
Von Jürgen Zarusky*
Ist Hitler mit seinem Angriff auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 Stalin nur zuvorgekommen? Hat Hitler einen Präventivkrieg geführt und Stalin einen Angriffskrieg geplant?
Die seit Mitte der achtziger Jahre in Deutschland kontrovers diskutierte Präventivkriegsthese
hat seit 1992 auch in Russland für Debatten gesorgt. Jetzt versuchen deutsche und russische
Historiker gemeinsam, Planungen und Handlungen der Diktatoren zu klären.
Überschattet von den grossen Kontroversen
des Historikerstreits, der Goldhagen-Debatte und
der Diskussion um die sogenannte «Wehrmachtsausstellung», wird seit Mitte der achtziger Jahre
ein «kleiner Historikerstreit» – so die Konstanzer
Osteuropahistorikerin Bianka Pietrow-Ennker –
über den deutsch-sowjetischen Krieg ausgetragen.
Dieser war nicht nur die blutigste Auseinandersetzung des Zweiten Weltkriegs, sondern auch die
Voraussetzung für die Etablierung der sowjetischen Herrschaft über Ost- und Ostmitteleuropa,
die unseren Kontinent bis 1989/91 politisch entscheidend geprägt hat. Kein Wunder, dass sich
um den Kriegsbeginn am 22. Juni 1941 Diskussionen ranken, in denen sich Identitätsfragen,
politische Neigungen und historiographische Probleme unübersichtlich ineinander verschlingen.
Hitler als Werkzeug Stalins?
Das Grundproblem, um das die Debatte kreist,
lautet indes einfach: Handelte es sich um Hitlers
Krieg – wie das etwa unlängst im Titel einer
Tagung der Akademie für politische Bildung im
bayrischen Tutzing über «Hitlers Krieg und Stalins Absichten» eindeutig postuliert wurde – oder
um Stalins Krieg, wie das 1985 der Grazer Soziologe Ernst Topitsch in seinem gleichnamigen
Buch behauptete, oder gar um Stalins Vernichtungskrieg, wie ein zehn Jahre später erschienenes
Werk des Militärhistorikers Joachim Hoffmann
betitelt ist? Auf der Hand liegt natürlich, dass am
22. Juni 1941 Deutschland der Angreifer war,
aber, so wendet eine sich seit Mitte der achtziger
Jahre immer lautstärker artikulierende Gruppe
von Publizisten und Historikern ein, Hitler sei damit – absichtlich oder unabsichtlich – nur einem
Angriff Stalins zuvorgekommen. Dieser habe
überdies alles getan, um Hitler in den Krieg mit
den Westmächten zu verwickeln, mit dem Ziel,
die «imperialistischen Mächte» sich gegenseitig
schwächen zu lassen. Dahinter habe das Grand
Design der Weltrevolution gestanden.
Hitler als Werkzeug Stalins – bereits Topitsch
hatte diese These vorgetragen, aber durchschlagende Wirkung erhielt sie erst mit dem 1989 erschienenen Buch «Der Eisbrecher» von Viktor
Suworow. Hinter diesem Pseudonym verbirgt sich
der 1978 vom sowjetischen militärischen Spionagedienst abgesprungene Wladimir Resun. Im
Westen machte es Eindruck, dass er mit der Autorität eines Kenners sowjetischer Interna auftrat.
1992 löste die in riesiger Auflage erschienene russische Ausgabe seines Buches kontroverse Diskussionen unter russischen Historikern aus. Damit hatte die deutsche Präventivkriegsdebatte eine
russische Entsprechung gefunden.
Die Voraussetzungen sind hierbei indes höchst
unterschiedlich. Denn während die umfangreiche
Akten-Hinterlassenschaft des NS-Regimes der
Forschung
schon
seit
Jahrzehnten
uneingeschränkt zugänglich ist, hat in Russland eine quellengestützte zeithistorische Forschung erst vor
rund zehn Jahren begonnen. Und trotz einer weitgehenden Öffnung der russischen Archive gibt es
dort, wo es um die Kernbereiche der Macht geht,
immer noch erhebliche Einschränkungen des
Aktenzugangs. So ist die Diskussion um Stalins
Absichten auf einige wenige, keineswegs eindeutige Schlüsseldokumente und indirekte Schlussfolgerungen angewiesen. Die deutschsprachigen
Vertreter
der
Präventivkriegsthese
–
neben
Topitsch und Hoffmann sind vor allem Werner
Maser mit seinem Buch «Der Wortbruch» (1994)
und Walter Post («Unternehmen Barbarossa» –
1995) zu nennen – treten nichtsdestoweniger mit
apodiktischen Aussagen auf. Hoffmann etwa
nennt die These, Hitler sei einem von Stalin vorbereiteten Angriffskrieg nur kurzfristig zuvorgekommen, eine «unbezweifelbare wissenschaftliche
Erkenntnis» und attestiert all jenen, die sich dieser nicht anschliessen wollen, «doktrinäre Verblendung».
Besonderen Unmut zieht sich dabei Andreas
Hillgruber (1925–1989) zu. Der politisch durchaus konservative Historiker hatte 1965 in seiner
fulminanten Habilitationsschrift «Hitlers Strategie» dargelegt, dass es sich bei dem Feldzug
gegen die Sowjetunion um einen, so wörtlich,
«rassenideologischen» Vernichtungskrieg handelte, der dem langfristig angelegten programmatischen Denken des «Führers» entsprach. Der
Massenmord an den Juden, das betonte Hillgruber immer nachdrücklicher, war ebenso untrennbarer Bestandteil dieses Krieges wie das Ziel
der Errichtung eines Ostimperiums, das mit einer
mörderischen Dezimierung der slawischen Einwohnerschaft einhergehen sollte. – Die Vertreter
der Präventivkriegsthese versuchen hingegen den
Entschluss zum Angriff auf die Sowjetunion als
einen rein machtpolitischen, strategisch motivierten Schritt darzustellen, der vor allem durch die
Politik der UdSSR selbst herbeigeführt worden
sei. Sie folgen damit weitgehend den strategischen
und propagandistischen Argumenten, mit denen
die nationalsozialistische Führung der Generalität
und dem Volk den Angriff plausibel machen
wollte: Das kapitulationsunwillige England zähle
auf die Sowjetunion als seinen «Festlandsdegen»,
den es daher auszuschalten gelte. Hillgruber hat
hingegen darauf hingewiesen, dass Hitler dieses
Argument nur als einen zusätzlichen Grund für
ein längst anvisiertes Vorhaben anführte. Für eine
unmittelbare Bedrohung Deutschlands durch die
Sowjetunion hatte die militärische und politische
Elite des Dritten Reiches 1940/41 jedenfalls keinerlei Anzeichen. So muss auch Walter Post einräumen, der Feldzug gegen die Sowjetunion sei
kein Präventivkrieg im engeren Sinne gewesen,
vielmehr ein Schlag gegen eine langfristige Bedrohung, also ein Präventivkrieg im weiteren Sinne.
Verteidigung einer Lebenslüge
Mit einer derartigen Überdehnung des Begriffes Präventivkrieg wird dieser indes seines Sinnes
beraubt und die Rechtfertigung nahezu jeglicher
Aggression als «Prävenire» ermöglicht. Die Aufstellung der Einsatzgruppen, die hinter der Front
systematisch Hunderttausende von Juden ermordeten, die von den Spitzen der Wehrmacht ausgearbeiteten verbrecherischen Befehle und die
Ausbeutungsplanungen, die das Verhungern von
Millionen von Bewohnern der besetzten Gebiete
eiskalt einkalkulierten, lassen aber selbst die Anwendung des uferlosen Präventivkriegsbegriffs als
absurd erscheinen. Die einschlägigen Autoren
gehen einer Auseinandersetzung mit diesen Themen daher in der Regel aus dem Weg, verharmlosen oder rechtfertigen sie gar.
Die Präventivkriegsthese, die in Büchern mit
durchaus hoher Auflage und in weiten Teilen der
Veteranenpublizistik ebenso wie im rechtsextremen Schrifttum eifrigst kolportiert wird, läuft auf
die Verteidigung einer alten Lebenslüge hinaus,
nämlich der Chimäre, der Krieg gegen die Sowjetunion sei ein im Grunde regulärer und legitimer,
nur von nationalsozialistischen Exzessen eingetrübter Krieg gewesen. Die tatsächliche Natur dieses Krieges ist indes von der Forschung bereits
seit langem aufgezeigt worden, und eine ganze
Reihe jüngerer Arbeiten über die deutsche Kriegführung und Herrschaft im Osten bestätigt und
veranschaulicht Hillgrubers Befund vom rassenideologischen Vernichtungskrieg. Auch diejenigen
russischen Historiker, die in Anlehnung an Suworows Thesen von sowjetischen Angriffsabsichten
ausgehen, lehnen in der Regel die Einstufung des
deutschen Angriffs als Präventivkrieg ab. Das
Vorgehen Deutschlands war kein Präventivkrieg,
sondern eine offenkundige Aggression, stellt etwa
Michail Meltjuchow fest. Was immer also Stalin
geplant hat, zu einer Legitimation von Hitlers
Krieg taugt es nicht.
* Jürgen Zarusky lebt in Dachau und ist
Mitarbeiter am Institut für Zeitgeschichte in München.
wissenschaftlicher
Das falsche Kalkül des sowjetischen Diktators
Aber was eigentlich hatte Stalin geplant? Ohne
Zweifel waren seine Motive nicht von übergrosser
Friedensliebe geprägt. Weder war der Abschluss
des Paktes mit Hitler 1939 ein defensiver Akt, wie
Stalin später glauben machen wollte, noch war er
mit den Eroberungen zufriedengestellt, die er im
Zuge des Diktatoren-Bündnisses machen konnte.
So sagte er etwa am 7. September 1939 in einer
Besprechung mit Georgi Dimitrow, dem Vorsitzenden
der
Kommunistischen
Internationale,
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über die kapitalistischen Staaten: «Wir haben
nichts dagegen, wenn sie ordentlich gegeneinander Krieg führen und sich gegenseitig schwächen», und fuhr fort: «Ohne es zu wissen und zu
wollen, untergräbt Hitler das kapitalistische
System.» Obwohl sie sich bestens in ihren Raster
fügen, hat, wie der Bochumer Historiker Bernd
Bonwetsch vermerkte, noch kein Vertreter der
Präventivkriegsthese bisher diese 1992 veröffentlichten Äusserungen zur Kenntnis genommen.
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Tatsächlich zeigt sich die Politik des sowjetischen Diktators aber sehr viel komplexer und
widersprüchlicher. So war die Mission des Regierungschefs und Aussenministers Molotow in Berlin im November 1940, wo er unter anderem
Finnland und Bulgarien als Moskauer Einflusszone reklamierte, keineswegs eine Provokation,
mit dem Ziel, Deutschland zum Angriff zu reizen,
wie Topitsch das darstellt.
Es war Hitler, der am ersten Tag von Molotows
Besuch die Weisung erliess, die Planungen für
den Ostkrieg ohne Einschränkungen fortzuführen, während die von Lew Besymenski publizierten Weisungen Stalins an Molotow belegen, dass
Stalin am Nichtangriffspakt festhalten wollte und
die Gespräche in Berlin als Auftakt zu einer längeren
Verhandlungsrunde
betrachtete.
Dafür
spricht auch, dass die Sowjetunion dem Deutschen Reich in den Wirtschaftsverhandlungen des
Herbstes 1940 weit entgegenkam. «Gerade der
Wirtschaftsvertrag vom 10. Januar 1941 sollte
Hitler dann signalisieren, dass die Sowjetunion in
der nächsten Phase des Krieges verlässlicher
Bündnispartner des Reiches bleiben werde», stellt
der Freiburger Historiker Heinrich Schwendemann, Autor einer grundlegenden Studie hierzu,
auf der erwähnten Tutzinger Tagung fest. Dabei
war man in Moskau über die deutschen Angriffspläne durchaus informiert. So wussten etwa,
wenige Tage nachdem Hitler am 18. Dezember
1940 die Weisung «Barbarossa» erlassen hatte,
die sowjetischen Geheimdienste darüber Bescheid. Doch Stalin hielt die Warnungen für Provokationen mit dem Ziel, die UdSSR an der Seite
Englands in den Krieg zu ziehen. Dass die Briten
den Flug von Hitlers offiziellem Stellvertreter
Rudolf Hess nach Schottland im Mai 1941 für
entsprechende Manöver nutzten, zeigt, dass Stalins Grundannahme nicht ganz unrealistisch war.
Auch das Kalkül, Deutschland werde sich nicht
auf einen Zweifrontenkrieg einlassen, war durchaus rational – unter der Voraussetzung, dass Hitler ein rationaler Stratege und Pragmatiker war.
Dass Stalin in seiner Furcht, einer britischen
Provokation auf den Leim zu gehen, die Warnungen vor Deutschland ignorierte und die Sicherheit
seines Landes vernachlässigte, ist mit der Präventivkriegsthese schwerlich in Einklang zu bringen
und wurde schon 1965 von dem sowjetischen
Historiker Alexander Nekritsch in seinem Buch
«22. Juni 1941» kritisiert, was ihm Massregelungen und den Ausschluss aus der KPdSU eintrug
und schliesslich zu seiner Emigration im Jahre
1976 führte. Nekritschs Befunde deckten sich mit
der in der westlichen Historiographie vorherrschenden Einstellung, Stalin habe trotz seinen expansiven Zielen 1940/41 Deutschland gegenüber
eine defensive Strategie verfolgt.
Schukows Offensivplan
Gegner wie Befürworter dieser Auffassung sind
im Wesentlichen auf indirekte Schlüsse angewiesen, da es an direkten Willensbekundungen Stalins mangelt. Zwar äusserte er sich am 5. Mai
1941 vor den Absolventen der Kriegsakademien
ausführlich zur militärischen Lage in Europa, aber
von dieser Rede kursieren höchst unterschiedliche
Versionen. Während etwa laut dem langjährigen
britischen
Moskau-Korrespondenten
Alexander
Werth Stalin erklärte, der Krieg mit Deutschland
werde unweigerlich 1942 beginnen, wobei die
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UdSSR womöglich die Initiative übernehmen
werde, ist in einer 1948 dem Parteiarchiv zugegangenen maschinenschriftlichen Kurzfassung davon überhaupt keine Rede. Deutlich wird aber
auch in dieser Fassung eine veränderte Einschätzung Deutschlands. Es sei von der verständlichen
Losung der Zerstörung des Versailler Systems zu
einer
Eroberungspolitik
übergegangen.
Stalin
pries die Erneuerung der Roten Armee, die sich
als moderne Offensivarmee verstehen müsse, und
erklärte zugleich, die Wehrmacht sei keineswegs
unbesiegbar.
Eine unmittelbare Folge der Rede war, wie der
Moskauer Historiker Wladimir Neweschin dargestellt hat, die Umstellung der sowjetischen Propaganda auf eine offensive Kriegführung. Von der
Propaganda lässt sich zwar nicht auf unmittelbare
Absichten schliessen, aber es ist klar, dass im Mai
die Stimmung in Moskau immer stärker umschlug. Am 15. Mai 1941 unterbreiteten der
Volkskommissar für Verteidigung, Timoschenko,
und der Chef des Generalstabs, Schukow, Stalin
einen Plan für einen Präventivschlag gegen den
massiven deutschen Aufmarsch an der sowjetischen Westgrenze. Er sah massive Vorstösse und
schliesslich die Inbesitznahme ganz Polens und
Ostpreussens vor.
Ob der Plan, den der russische Militärhistoriker
Waleri Danilow 1993 veröffentlichte, von Stalin
angenommen wurde, ist umstritten; der verstärkte
Aufmarsch der Roten Armee an der Westgrenze
steht jedenfalls mit ihm im Einklang. Einen
Beweis für einen lange geplanten Angriffskrieg
der Sowjetunion gegen Deutschland, wie dies
Post, Maser und Hoffmann sehen möchten, bildet
er dennoch nicht – nicht nur wegen seines unklaren Status, sondern auch weil er sich als eine Reaktion auf die deutschen Vorbereitungen des
Unternehmens Barbarossa darstellt. De facto
blieb die sowjetische Haltung bis zum Beginn der
Kampfhandlungen defensiv. Noch als die Truppen an der Westgrenze in der Nacht auf den
22. Juni wegen des vermuteten deutschen Angriffs
in Alarmbereitschaft versetzt wurden, erhielten sie
die strikte Weisung, sich auf keinerlei Provokationen einzulassen.
Über die weitergehenden Absichten Stalins
können beim gegenwärtigen Kenntnisstand keine
gesicherten Aussagen getroffen werden. Dass die
Sowjetunion begann, sich auf eine militärische
Auseinandersetzung mit Deutschland vorzubereiten, und dass diese gemäss der sowjetischen
Militärdoktrin auf dem Territorium des Gegners
ausgetragen werden sollte, ist ziemlich sicher. Die
These, dass Stalin und Hitler etwa gleichzeitig
Angriffsbeschlüsse gefällt hätten, ist indes quellenmässig keineswegs belegt, und die Nennung
angeblicher konkreter sowjetischer Angriffstermine, wie sie sich bei Suworow und anderen finden, ist pure Spekulation. Jüngste Gemeinschaftspublikationen deutscher und russischer Zeitgeschichte geben allerdings Anlass zu der Hoffnung, dass die Debatte um den 22. Juli 1941 den
Bereich apologetischer Legendenbildung hinter
sich lässt.
Gerd R. Überschär, Lev. A. Besymenski (Hrsg.): Der deutsche Angriff auf die Sowjetunion 1941. Die Kontroverse um die
Präventivkriegsthese. Darmstadt 1998.
Bianka
Pietrow-Ennker
(Hrsg.):
Präventivkrieg?
Der
deutsche Angriff auf die Sowjetunion. Frankfurt a. M. 2000.
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