READ - Psychologische Hochschule Berlin

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M e d iz i n
Komo r b i d ität
Ein Übel kommt
selten allein
Körper und Psyche erkranken oft gleichzeitig. So leiden etwa Diabetiker
häufig auch unter Ängsten oder Depressionen. Was sind die Gründe dafür?
Text: Ph o e b e Cyra F l e i s c h e r u n d F ra n k Jaco b i
I llustratio n e n : Me i k e Te i c hma n n
J
ens ist 30 Jahre alt und ein Computer-
Mal in Gegenwart seiner Freunde erlebt, ist es
Freak. Der IT-System­administrator hilft
ihm extrem peinlich. Auch den Blutzucker vor
auch in seiner Freizeit hin und wieder
anderen zu messen, ist ihm unangenehm, denn
Freunden und Kollegen bei Problemen
dazu muss er sich in den Finger piksen und einen
mit ihren Rechnern. Wenn er nicht mit sei-
Blutstropfen entnehmen. Deshalb findet Jens es
nen Kumpels Bowling spielt oder ins Kino
nun am einfachsten, zu Hause zu bleiben.
geht, sitzt er stundenlang vor dem neuesten
Beim nächsten Termin erklärt sein Hausarzt,
­Actionspiel am PC. Eine Freundin hat Jens zurzeit
die Zuckerwerte seien im Durchschnitt immer
nicht. Dass es ihm schwerfällt, mit Frauen in
noch zu hoch. Jens kann das nicht verstehen: Re-
Kontakt zu kommen, schiebt er auf sein Überge-
gelmäßig erlebt er Schwindelgefühle, Kribbeln,
wicht.
Schwitzen und Herzklopfen – Vorboten einer Un-
Vor einigen Wochen bemerkte Jens körperli­che
terzuckerung? Deshalb versucht er oft schon, ei-
Veränderungen an sich. Er fühlte sich sehr müde
nen etwas erhöhten Blutzuckerwert zu halten.
und antriebslos, sah leicht verschwommen und
Das sei auf Dauer aber ungesund, so der Arzt. Ihm
Au f ei n en B lic k
musste dauernd auf die Toilette. Im Lauf weniger
sei außerdem aufgefallen, dass Jens neuerdings
Doppelt
­schweres Los
Wochen nahm er fast sechs Kilo ab, obwohl er
traurig und antriebslos wirke und ihm die Be-
nach wie vor einen gesunden Appetit hatte.
handlung seines Diabetes offenbar schwerfalle.
1
Körperliche Krankheiten und seelische
Störungen treten oft
gemeinsam auf – Wissenschaftler sprechen von
Komorbidität.
2
Zwischen zwei oder
mehr Erkrankungen
gibt es meist vielfältige
Wechselwirkungen,
welche die Behandlung
erschweren.
3
Derzeit wird erforscht, ob spezielle
Therapie­programme für
komorbide Patienten
einen Mehr­wert gegenüber herkömmlichen
Behandlungen bieten.
68
Eine Blutuntersuchung beim Hausarzt bringt
es schließlich an den Tag: Jens leidet an Diabetes
Vier Millionen Diabetiker
mellitus vom Typ 2. Täglich soll er nun seinen
Jens gehört zu den mehr als vier Millionen Deut-
Blutzucker messen und ein Medikament neh-
schen, die an Diabetes mellitus erkrankt sind.
men, das den Zuckerspiegel senkt. Das allein,
Der Großteil der Patienten, rund 90 Prozent, lei-
sagt der Arzt, reiche jedoch nicht: Er müsse sich
det unter Typ-2-Diabetes, früher auch Alters­
zudem gesünder ernähren und mehr Sport trei-
diabetes genannt (obwohl er nicht nur ältere
ben, um sein Übergewicht zu reduzieren.
Menschen betrifft, siehe »Diabetes – die ›Zucker-
Jens fühlt sich völlig überfordert. Ängste und
krankheit‹«, S. 71). Nur jeder zehnte hat Typ-1-­
Sorgen sind seit der Diagnose seine ständigen
Diabetes oder eine andere Form, wie zum Bei-
Begleiter. Die Tabletten, die er nimmt, regen die
spiel vorübergehenden Schwangerschafts­dia­
Insulinproduktion an, was in Kombination mit
betes. Seit 1998 ist der Anteil der Diabeteskranken
sportlicher Aktivität zu Unterzuckerungen füh-
in Deutschland gestiegen, wie die »Studie zur Ge-
ren kann. Dann wird Jens schwindelig, sein Herz
sundheit Erwachsener in Deutschland« (DEGS)
rast, und er muss sich hinsetzen und schnell
belegt. Vor allem die Erkrankungen mit Typ-2-­
­Zucker zu sich nehmen. Als er das zum ersten
Diabetes scheinen dabei häufiger zu werden. ImGehirn und Geist
Meike Teichmann
mer mehr Deutsche sind stark übergewichtig
Maß an Selbstkontrolle und oft das Umstellen all-
und gehören deshalb zur Risikogruppe.
täglicher Gewohnheiten, etwa auf eine gesündere
Diabetes ist damit eine der großen Volks-
Ernährung und deutlich mehr Bewegung.
krankheiten. Diesen ist gemeinsam, dass sie
Zudem gilt häufig in der Medizin: Ein Übel
nicht übertragbar sind und nicht nur von gene-
kommt selten allein. Wissenschaftler sprechen
tischen Faktoren beeinflusst werden, sondern
von Komorbidität, wenn mehrere Erkrankungen
insbesondere vom allgemeinen und individu-
zugleich auftreten. Das ist keine Seltenheit, denn
ellen Lebensstil.
wer bereits an einer Krankheit leidet, hat im
Kaum eine andere chronische Erkrankung
­Vergleich zu Gesunden ein größeres Risiko, dass
stellt so hohe Anforderungen an die Mitarbeit der
­weitere Leiden hinzukommen (siehe »Was ist
Betroffenen wie Diabetes. Während ein gesunder
­Komorbidität?«, S. 70). Perfide daran ist, dass die
Körper den Zuckerspiegel automatisch regelt,
verschiedenen Erkrankungen die Behandlung
muss der Diabetiker diese Funktion ständig im
der anderen jeweils erschweren können. Die Le-
Blick haben, um notfalls regulierend einzugrei-
bensqualität der Betroffenen ist dann teils er-
fen. Leben mit Diabetes verlangt daher ein hohes
heblich eingeschränkt.
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Bedrückende
­Diagnose
Viele chronische Krank­
heiten wie Diabetes
mellitus erfordern ein
aufwändiges Selbst­
management. Das kann
manchen Betroffenen
überfordern.
69
Was ist Komorbidität und wie entsteht sie?
B
ei jedem Krankheitsge-
psychische Erkrankung wirkt
psychische Belastung dar, die
schehen greifen psychische
sich oft ungünstig auf den
langfristig Depressionen her-
das Vorliegen von zwei Krank-
und körperliche Prozesse in-
Verlauf einer körperlichen
vorrufen kann. In anderen Fäl-
heiten: Beide haben eine
einander: Angststörungen
Erkrankung aus – und umge-
len ziehen psychische Leiden
gemeinsame Ursache. Bei
beispielsweise gehen mit
kehrt. So sterben etwa depres-
körperliche nach sich – zum
Diabetes und Depression etwa
Atemnot und Herzattacken
sive Herzkranke früher als
Beispiel bei einem Suchtkran-
könnten dies biochemische
einher, und Menschen mit
nichtdepressive. Mögliche Ur-
ken, der durch übermäßigen
Veränderungen im Botenstoff-
Depression zeigen oft auch
sachen sind ein ungesünderer
Alkohol- oder Drogenkonsum
haushalt sein, die auf Grund
körperliche Veränderungen.
Lebensstil und eine weniger
seine Organe schädigt. Auch
von chronischem Stress ent­
Liegen mindestens zwei von-
erfolgreiche Bewältigung der
die Behandlung mit manchen
stehen. Und schließlich ist
einander abgrenzbare Erkran-
Krankheit.
Psychopharmaka führt lang­
denkbar, dass sich Erkran-
fristig zu körperlichen Folge-
kungen gänzlich unabhängig
kungen vor, spricht man von
Komorbide Erkrankungen
Eine weitere Erklärung für
Komorbidität. Sie beeinträch­
können als Folge eines bereits
schäden, genau wie Medika-
voneinander entwickeln. In
tigt die Lebensqualität der
bestehenden Leidens auftre-
mente gegen körperliche
diesem Fall sind sie nur zufällig
Patienten und den Behand-
ten. So stellt eine chronische
Erkrankungen zuweilen psy-
zeitgleich oder nacheinander
lungserfolg erheblich. Eine
Krankheit wie Diabetes eine
chische Probleme verursachen.
aufgetreten.
Risiken
in Zahlen
Eine körperliche Krankheit
erhöht das Risiko, an einer psychischen Störung
zu erkranken, auf rund
das Doppelte. So leidet
mehr als ein Drittel der
Menschen mit einer
chronischen körperlichen
Erkrankung auch an
einer seelischen Störung,
etwa bei …
•K
rebserkrankungen: 36 %
•M
uskel-SkelettErkrankungen: 37 %
Menschen mit chronischen ­körperlichen
richtig einzuordnen. Das ist oft nicht so einfach,
Krankheiten erleben überdurchschnittlich häu-
wie es klingt: Angstsymptome, wie sie zum Bei-
fig psychische Störungen wie eine Depression
spiel bei einer Panikattacke auftreten, können
oder Angststörung. Dieser Zusammenhang zeigt
den Beschwerden einer Unterzuckerung biswei-
sich auch bei Diabetes: Sowohl Typ-1- als auch
len zum Verwechseln ähnlich sein.
Typ-2-Diabetiker leiden etwa doppelt so häufig
Auch Jens ist sich oft unsicher: Kribbeln,
unter einer Depression wie Menschen ohne die
Schwitzen, Herzklopfen – habe ich gerade zu
Stoffwechselstörung. Auch das Risiko, eine
niedrigen Blutzucker? Oder registriere ich nur
Angststörung zu entwickeln, ist bei Diabetikern
die Symptome meiner eigenen Angst davor, in
um mehr als 20 Prozent erhöht.
Ohnmacht zu fallen? Fehlinterpretationen wir-
Dass er an einer schweren chronischen Krank-
ken sich un­güns­tig auf die Behandlung aus. So
heit leidet und seinen Lebensstil ändern muss,
stopft Jens bei dem kleinsten Verdacht auf eine
war für Jens im ersten Moment natürlich ein
Unterzuckerung Schokoriegel, Cola und Marme-
Schock. Angst, Verunsicherung und Zeiten, in de-
ladenbrote in sich hinein, was seinen Blut­
nen man sich niedergeschlagen fühlt, sind dabei
zuckerspiegel in die Höhe schnellen lässt.
eine ganz natürliche Reaktion und nicht unbe-
Wenn Patienten unter dem Gefühl leiden, we-
dingt Zeichen einer Depression. Bei den meisten
nig Kontrolle über ihren Körper und ihre Krank-
Patienten verschwinden diese Gefühle mit der
heit zu haben, kann das psychische Probleme
Zeit wieder: Die Betroffenen akzeptieren die
ebenfalls begünstigen. Aus der Forschung ist
Krankheit und finden Mittel und Wege, mit ihren
schon lange bekannt, dass wiederholtes Erleben
Beeinträchtigungen zu leben. Misslingt das je-
von Hilfslosigkeit – neben anderen Faktoren –
doch, können sich die negativen Gefühle allmäh-
das Risiko für Depressionen erhöht.
lich zu einer psychischen Störung auswachsen.
Psychische Störungen entstehen also manch-
Die erste Gegenmaßnahme besteht darin, die
mal als Folge einer körperlichen Krankheit. Ande-
Betroffenen detailliert über ihre Erkrankung zu
rerseits ist es genauso gut möglich, dass ein see-
informieren und sie dazu zu motivieren, aktiv
lisches Leiden auch einer körperlichen Erkran-
•H
erzerkrankungen: 39 %
­etwas dagegen zu unternehmen. Die Patienten
kung vorausgeht und diese mitverursacht oder
• Atemwegserkrankungen: sollten gewissermaßen zu Experten für ihre
zumindest die Prognose verschlechtert. Jens
Krankheit werden und lernen, ihre Symptome
könnte so bereits lange vor seiner Diabetes­
70
42 %
Gehirn und Geist
erkrankung unter einer Depres­sion gelitten ha-
steht, das Risiko für weitere Krankheiten. Dia­
ben: Er lebte eher zurückgezogen, aß viel und war
betiker etwa, die an einer Depression leiden, sind
bis auf eine gelegentliche Bowling-Partie körper-
besonders gefährdet, Folgeerkrankungen wie
lich kaum aktiv. Gedrückte Stimmung, Antriebs-
­Gefäßschäden zu entwickeln.
und Energielosigkeit, wie Jens sie oft empfunden
hat, sind auch bei Depressionen vorhanden. Sol-
Hormone fördern Entzündungen
che Symptome müssen allerdings unterschieden
Woher kommt das? Depressionen und Typ-2-­
werden von normaler Erschöpfung oder von
Diabetes haben auf biologischer Ebene einen
Stimmungsschwankungen, die nicht unbedingt
­gemeinsamen Marker: Bei beiden Krankheiten
eine klinische Depression bedeuten. Aber selbst
sind das vegetative Nervensystem und Teile des
wenn der Schweregrad für eine Diagnose nicht
Stresshormonsystems (die Hypothalamus-Hy-
ausreicht, können depressive Symptome und der
pophysen-Nebennierenrinden-Achse) überaktiv.
daraus resultierende Lebensstil die Entstehung
Das führt dazu, dass unter anderem Cortisol und
und den Verlauf von Diabetes ­beeinflussen.
das »Corticotropin-releasing Hormone« (CRH)
Im ungünstigsten Fall entsteht ein Teufels-
vermehrt freigesetzt werden. CRH wirkt sich sti-
kreis, in dem sich körperliche und psychische Lei-
mulierend auf das Herz-Kreislauf-System aus, es
den gegenseitig aufrechterhalten und wechsel-
fördert Entzündungsprozesse und damit Schä-
seitig für eine Chronifizierung der Beschwerden
den an den Gefäßen.
sorgen. So ist Jens nach der Diabetesdiagnose nie-
Da sich Mehrfacherkrankungen gegenseitig
dergeschlagen und noch antriebsloser als zuvor.
verstärken können und dadurch bedrohlicher
Also bleibt er zu Hause, statt das ärztlich empfoh-
werden, ist es wichtig, sie frühzeitig zu erkennen
lene Fitnessprogramm anzugehen. Die Curry-
und zu behandeln. Aber gerade hier beginnt das
wurst beim Imbiss an der Ecke ersetzt eine ausge-
Problem. In der Praxis werden Komorbiditäten
wogene Ernährung, die erneute Gewichtszunah-
oft falsch oder gar nicht diagnostiziert. Von den
me führt zu Versagensgefühlen und Selbstzwei-
Diabetikern mit Depression in Deutschland etwa
feln. Diese verstärken wiederum die Depression.
wird nur rund die Hälfte auch als depressiv er-
Wechselwirkungen dieser Art treten bei vielen
kannt; früher waren es noch weniger.
Kombinationen von Erkrankungen auf. Zudem
Günstig ist, wenn Ärzte und Krankenhäuser
erhöht sich, wenn bereits eine Komorbidität be-
ein standardmäßiges Screening auf Komorbidi-
Kontrolle muss sein
Bei Diabetes mellitus ist
die Blutzuckerkonzen­
tration dauerhaft erhöht.
Grund ist ein Mangel an
Insulin: Das Hormon sorgt
dafür, dass die Körperzellen die Glukose aus
dem Blut aufnehmen und
verarbeiten. Bei Typ-1-­
Diabetes werden die
Insulin produzierenden
Zellen in der Bauch­
speicheldrüse von einer
Autoimmunerkrankung
zerstört. Dagegen produziert die Bauchspeicheldrüse bei Diabetes vom Typ 2
(früher Altersdiabetes
genannt) eigentlich ausreichend Insulin, der Körper
entwickelt jedoch eine
Resistenz dagegen. Daneben gibt es noch seltenere
Formen wie Schwangerschaftsdiabetes.
Ein erhöhter Blutzucker
verursacht zunächst
keine Beschwerden, erst
im Verlauf von Jahren
oder Jahrzehnten drohen
Gefäß- und Nerven­
schäden. Daher haben
Diabe­tiker ein etwa zweibis dreimal so großes
Risiko für Herz­infarkt und
Schlaganfall wie Nicht­
diabetiker. Die diabetische
Retinopathie, bei der
kleinste Blutgefäße auf der
Netzhaut geschädigt
werden, ist in westlichen
Ländern eine der häufigs­
ten Ursachen für Erblindungen. Auch Nieren- und
Nervenschäden sind
verbreitete Folgen von
Diabetes.
Meike Teichmann
Diabetiker sollten stets
im Blick haben, wie
viele Kohlenhydrate sie
zu sich nehmen – denn
die erhöhen den Blut­
zuckerspiegel. Depres­
siven fällt das oft schwer.
Diabetes –
die »Zuckerkrankheit«
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71
Meike Teichmann
täten vornehmen. Allerdings fällt die Diagnostik
kungen hat sich in Studien vor allem die kogni-
oft schwerer als bei allein auftretenden Krank-
tive Verhaltenstherapie als wirksam erwiesen.
heiten, und nicht alle Ärzte sind darin geschult,
Körperliche Erkrankungen sollten dabei in der
psychische Störungen zu identifizieren. Hierbei
Therapie berücksichtigt werden. Im Fall von
besteht sowohl die Gefahr des Nicht­erkennens
­Diabetes und Depression kamen mittlerweile
als auch die Gefahr des Überdiag­nostizierens. Be-
­einige Untersuchungen zu dem Ergebnis, dass
stimmte Beschwerden passen sowohl zum Bild
speziell angepasste verhaltenstherapeutische
einer körperlichen als auch einer psychischen
Behandlungen nicht nur die depressive Symp­
Erkrankung: Müdigkeit, Schlafstörungen, Kraft-
tomatik verbessern, sondern darüber hinaus die
losigkeit und Appetitverlust sind beispielsweise
Blutzuckereinstellung der Patienten. Es kann
Begleiterscheinungen von Diabetes, sie könnten
zum Beispiel sinnvoll sein, Diabetes-Schulungen
KU RZ ER KL ÄRT
aber auch auf eine beginnende Depression hin-
in die Therapie zu integrieren, um den Patienten
Psychosomatik
weisen.
mehr Kontrolle über ihre Krankheit zu geben.
Uns bleibt »vor Schreck
das Herz stehen« oder
etwas »liegt uns schwer
im Magen«. Solche
Redewendungen zeigen,
dass die gegenseitige
Beeinflussung von Psyche
und Körper altbekannt
ist. Als somatoforme
Störungen bezeichnet
man körperliche Beschwerden, für die keine
organische Ursache
erkennbar ist und die
mutmaßlich durch
psychische und soziale
Belastungen (mit-)
verursacht werden. Die
Psychosomatik (heutzutage oft integriert in
Psychiatrie sowie Klinische Psychologie)
erforscht dieses Zusammenspiel. Man sollte
allerdings körperliche
Erkrankungen nicht allzu
sehr »psychologisieren«.
Für manche als psychosomatisch eingeordnete
Erkrankung haben sich
andere Erklärungen
gefunden als Stress oder
ein ungünstiger Persönlichkeitstyp.
72
Nicht nur das Erkennen von Zweit- und
Auch körperliches Training wirkt sich sowohl auf
­Dritt­erkrankungen stellt Ärzte vor Probleme,
den Zuckerstoffwechsel als auch auf depressive
sondern auch deren Behandlung. Denn dabei gilt
Symptome günstig aus.
es, alle Symptome und ihr Zusammenwirken zu
berücksichtigen. Immerhin gibt es mittlerweile
Unklarer Mehrwert
für einige Krankheiten medizinische Leitlinien,
Allerdings: Ob Behandlungen, die speziell an
die häufig auftretende Komorbiditäten berück-
mehrfach erkrankte Patienten angepasst sind, ei-
sichtigen. So veröffentlichte die Deutsche Dia­
nen wirklichen Mehrwert bieten, ist bislang viel-
betes Gesellschaft 2013 die zweite Auflage ihrer
fach noch nicht nachgewiesen – dafür existieren
Leit­linie »Psychosoziales und Diabetes«. Diese
diese Angebote noch nicht lange genug. Entspre-
informiert Patienten, Ärzte und Institutionen
chende Langzeitstudien laufen jedoch, etwa zur
über den aktuellen wissenschaftlichen Erkennt-
Wirksamkeit diabetesspezifischer Verhaltensthe-
nisstand zu psychischen Problemen, die häufig
rapien. Doch auch ohne besondere Behandlungs-
bei Diabetes mellitus auftreten, sowie über die
manuale gelingt es schon heute vielen Psycho­
Besonderheiten der Behandlung und den mög-
therapeu­ten, körperliche Einschränkungen ihrer
lichen Einfluss auf die D
­ iabetestherapie.
Klienten und Belastungen durch chronische
Für Betroffene, bei denen noch keine voll aus-
Krankheiten in die Therapie zu integrieren.
geprägte psychische Störung vorliegt, kommen
Bei der Therapie von komorbiden psychi-
insbesondere so genannte psychosoziale Ange-
schen Störungen können manchmal auch Psy-
bote in Frage. Gemeint sind damit etwa Schu-
chopharmaka sinnvoll sein. Die Studienlage zu
lungen, in denen es vor allem darum geht, Infor-
möglichen Wechselwirkungen mit Diabetes ist
mationen über die Erkrankungen zu vermitteln
allerdings uneinheitlich, in einigen Fällen führte
und hilfreiche Fertigkeiten zu trainieren. Für Dia-
die Behandlung mit Antidepressiva beispielswei-
betiker gibt es das Angebot, an solchen Schulungs-
se zu einem Anstieg der Blutzuckerwerte. Die be-
programmen teilzunehmen. Einige Trainings
handelnden Ärzte müssen daher zwischen der
widmen sich speziellen Aspekten der Krankheit,
Schwere der Depression, eventuellen Erfah-
die auch für viele psychisch komorbide Patienten
rungen des Patienten mit Antidepressiva und
wichtig sind. So gibt es etwa Kurse, in denen die
der gewünschten Blutzucker­einstellung genau
Teilnehmer gezielt üben, Unterzuckerungen zu
abwägen.
erkennen und sie besser in den Griff zu bekom-
Menschen, die an mehr als einer Krankheit
men. Das hilft gleichzeitig, die Symptome zu
leiden, stehen verschiedene Behandlungsmög-
niedrigen Blutzuckers besser von denen einer Pa-
lichkeiten offen. Es hapert allerdings bislang da-
nikattacke unterscheiden zu können.
ran, dass die verschiedenen Therapie­ansätze un-
Patienten mit dem Vollbild einer psychischen
verbunden und wenig aufeinander abgestimmt
Störung hilft eine psychotherapeutische Be-
sind. Oft bleibt das verantwor­­tungs­volle »Ma-
handlung. Für komorbide psychische Erkran-
nagement« seiner Erkrankungen dem Patienten
Gehirn und Geist
selbst überlassen. Symptome wie Antriebs- und
Motivationslosigkeit oder körperliche Beschwerden, etwa chronische Schmerzen, können dies erschweren. Daher gelingt es vielen Betroffenen
Das bewegt mich!
nicht, sich selbst um eine optimale Versorgung
zu kümmern – das Gesundheitssystem ist aber
in vielen Regionen nur unzureichend auf ihre
Bedürfnisse eingestellt. Doch muss man bedenken, dass nicht alle Lebensprobleme, die mit ei-
Selbstzweifel
ner Erkrankung verbunden sind, an das Gesundheitssystem delegiert werden können. Insbeson-
verursachen viele seelische
dere sollten Patienten darin unterstützt werden,
Ressourcen in ihrem Umfeld zu mobilisieren.
Probleme und Krankheiten.
Bei Jens entscheidet sich der Hausarzt, ihn ne-
Sie verbauen uns Chancen
ben der üblichen Behandlung des Diabetes an
eine Psychotherapeutin zu vermitteln. Sie stellt
und dämpfen die Lebens-
eine leichte Depression im Rahmen einer chroni­
schen Erkrankung fest. Die zusätzliche Einschät-
freude. Können wir lernen,
zung eines Psychiaters ergibt, dass unter ande-
freundlicher über uns zu den-
rem wegen möglicher Wechselwirkungen (etwa
ken? Durchaus: Denn Minder-
der Beeinflussung von Körpergewicht und Glukosestoffwechsel) zu diesem Zeitpunkt keine
Psychopharmaka indiziert sind, wohl aber eine
psychotherapeutische Behandlung.
Die Therapeutin motiviert Jens dazu, körperlich aktiver zu sein. Zudem besucht er bei einem
Dia­betologen eine Schulung, die besonders auf
das Selbst­management der Krankheit abzielt
und zu der auch ein Unterzucker-Wahrnehmungstraining gehört. Nicht zuletzt sind für Jens
auch intensive Gespräche über die Hilflosigkeit,
die er empfindet, über Schuldgefühle und
Versagens­ängste in Bezug auf die Diabetesbehandlung wichtig, um besser mit seiner Erkrankung umgehen zu können. Nach Abschluss dieser Therapie sieht er seiner Zukunft deutlich zuversichtlicher entgegen. Ÿ
Phoebe Cyra Fleischer
ist Diplompsychologin
und absolviert ein postgraduales Psychotherapiestudiumstudium
(M. Sc., in Kombination
mit der Approbation
zur Psychologischen Psychotherapeutin) an der Psychologischen Hochschule Berlin. Frank Jacobi ist dort Professor für Klinische Psychologie (Schwerpunkt Verhaltenstherapie). In seinen wissenschaftlichen Arbeiten
befasst er sich unter anderem mit der Epidemiologie
psychischer Störungen, mit Versorgungs- und Psychotherapieforschung.
10_2014
Quellen
Beutel, M. E., Schulz, H.:
Epidemiologie psychisch
komorbider Störungen bei
chronisch körperlichen
Erkrankungen. In: Bundesge­
sundheitsblatt 54, S. 15 – 21,
2011
Deuschle, M., Schweiger, U.:
Depression und Diabetes
mellitus Typ 2. In: Der Ner­
venarzt 83, S. 1410 – 1422, 2012
Heidemann, C. et al.: Prä­
valenz und zeitliche Ent­
wicklung des bekannten
Diabetes mellitus. Ergeb­
nisse der Studie zur Gesund­
heit Erwachsener in
Deutschland (DEGS1). In:
Bundesgesundheitsblatt 56,
S. 668 – 677, 2013
Jacobi, F.: Psychische Stö­
rungen bei Patienten mit
körperlichen Erkrankungen
in der Allgemeinbevölke­
rung. In: Härter, M. et al.
(Hg.): Psychische Störungen
bei körperlichen Erkran­
kungen. Springer, Berlin
2007, S. 45 – 53
Weitere Quellen im Internet:
www.spektrum.de/artikel/
1305921
wertigkeitsgefühle
sind
oft
hausgemacht.
ALS A
PP
ZT
JETU
NE !
AUCH
www.psychologie-heute.de
73
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