M e d iz i n Komo r b i d ität Ein Übel kommt selten allein Körper und Psyche erkranken oft gleichzeitig. So leiden etwa Diabetiker häufig auch unter Ängsten oder Depressionen. Was sind die Gründe dafür? Text: Ph o e b e Cyra F l e i s c h e r u n d F ra n k Jaco b i I llustratio n e n : Me i k e Te i c hma n n J ens ist 30 Jahre alt und ein Computer- Mal in Gegenwart seiner Freunde erlebt, ist es Freak. Der IT-System­administrator hilft ihm extrem peinlich. Auch den Blutzucker vor auch in seiner Freizeit hin und wieder anderen zu messen, ist ihm unangenehm, denn Freunden und Kollegen bei Problemen dazu muss er sich in den Finger piksen und einen mit ihren Rechnern. Wenn er nicht mit sei- Blutstropfen entnehmen. Deshalb findet Jens es nen Kumpels Bowling spielt oder ins Kino nun am einfachsten, zu Hause zu bleiben. geht, sitzt er stundenlang vor dem neuesten Beim nächsten Termin erklärt sein Hausarzt, ­Actionspiel am PC. Eine Freundin hat Jens zurzeit die Zuckerwerte seien im Durchschnitt immer nicht. Dass es ihm schwerfällt, mit Frauen in noch zu hoch. Jens kann das nicht verstehen: Re- Kontakt zu kommen, schiebt er auf sein Überge- gelmäßig erlebt er Schwindelgefühle, Kribbeln, wicht. Schwitzen und Herzklopfen – Vorboten einer Un- Vor einigen Wochen bemerkte Jens körperli­che terzuckerung? Deshalb versucht er oft schon, ei- Veränderungen an sich. Er fühlte sich sehr müde nen etwas erhöhten Blutzuckerwert zu halten. und antriebslos, sah leicht verschwommen und Das sei auf Dauer aber ungesund, so der Arzt. Ihm Au f ei n en B lic k musste dauernd auf die Toilette. Im Lauf weniger sei außerdem aufgefallen, dass Jens neuerdings Doppelt ­schweres Los Wochen nahm er fast sechs Kilo ab, obwohl er traurig und antriebslos wirke und ihm die Be- nach wie vor einen gesunden Appetit hatte. handlung seines Diabetes offenbar schwerfalle. 1 Körperliche Krankheiten und seelische Störungen treten oft gemeinsam auf – Wissenschaftler sprechen von Komorbidität. 2 Zwischen zwei oder mehr Erkrankungen gibt es meist vielfältige Wechselwirkungen, welche die Behandlung erschweren. 3 Derzeit wird erforscht, ob spezielle Therapie­programme für komorbide Patienten einen Mehr­wert gegenüber herkömmlichen Behandlungen bieten. 68 Eine Blutuntersuchung beim Hausarzt bringt es schließlich an den Tag: Jens leidet an Diabetes Vier Millionen Diabetiker mellitus vom Typ 2. Täglich soll er nun seinen Jens gehört zu den mehr als vier Millionen Deut- Blutzucker messen und ein Medikament neh- schen, die an Diabetes mellitus erkrankt sind. men, das den Zuckerspiegel senkt. Das allein, Der Großteil der Patienten, rund 90 Prozent, lei- sagt der Arzt, reiche jedoch nicht: Er müsse sich det unter Typ-2-Diabetes, früher auch Alters­ zudem gesünder ernähren und mehr Sport trei- diabetes genannt (obwohl er nicht nur ältere ben, um sein Übergewicht zu reduzieren. Menschen betrifft, siehe »Diabetes – die ›Zucker- Jens fühlt sich völlig überfordert. Ängste und krankheit‹«, S. 71). Nur jeder zehnte hat Typ-1-­ Sorgen sind seit der Diagnose seine ständigen Diabetes oder eine andere Form, wie zum Bei- Begleiter. Die Tabletten, die er nimmt, regen die spiel vorübergehenden Schwangerschafts­dia­ Insulinproduktion an, was in Kombination mit betes. Seit 1998 ist der Anteil der Diabeteskranken sportlicher Aktivität zu Unterzuckerungen füh- in Deutschland gestiegen, wie die »Studie zur Ge- ren kann. Dann wird Jens schwindelig, sein Herz sundheit Erwachsener in Deutschland« (DEGS) rast, und er muss sich hinsetzen und schnell belegt. Vor allem die Erkrankungen mit Typ-2-­ ­Zucker zu sich nehmen. Als er das zum ersten Diabetes scheinen dabei häufiger zu werden. ImGehirn und Geist Meike Teichmann mer mehr Deutsche sind stark übergewichtig Maß an Selbstkontrolle und oft das Umstellen all- und gehören deshalb zur Risikogruppe. täglicher Gewohnheiten, etwa auf eine gesündere Diabetes ist damit eine der großen Volks- Ernährung und deutlich mehr Bewegung. krankheiten. Diesen ist gemeinsam, dass sie Zudem gilt häufig in der Medizin: Ein Übel nicht übertragbar sind und nicht nur von gene- kommt selten allein. Wissenschaftler sprechen tischen Faktoren beeinflusst werden, sondern von Komorbidität, wenn mehrere Erkrankungen insbesondere vom allgemeinen und individu- zugleich auftreten. Das ist keine Seltenheit, denn ellen Lebensstil. wer bereits an einer Krankheit leidet, hat im Kaum eine andere chronische Erkrankung ­Vergleich zu Gesunden ein größeres Risiko, dass stellt so hohe Anforderungen an die Mitarbeit der ­weitere Leiden hinzukommen (siehe »Was ist Betroffenen wie Diabetes. Während ein gesunder ­Komorbidität?«, S. 70). Perfide daran ist, dass die Körper den Zuckerspiegel automatisch regelt, verschiedenen Erkrankungen die Behandlung muss der Diabetiker diese Funktion ständig im der anderen jeweils erschweren können. Die Le- Blick haben, um notfalls regulierend einzugrei- bensqualität der Betroffenen ist dann teils er- fen. Leben mit Diabetes verlangt daher ein hohes heblich eingeschränkt. 10_2014 Bedrückende ­Diagnose Viele chronische Krank­ heiten wie Diabetes mellitus erfordern ein aufwändiges Selbst­ management. Das kann manchen Betroffenen überfordern. 69 Was ist Komorbidität und wie entsteht sie? B ei jedem Krankheitsge- psychische Erkrankung wirkt psychische Belastung dar, die schehen greifen psychische sich oft ungünstig auf den langfristig Depressionen her- das Vorliegen von zwei Krank- und körperliche Prozesse in- Verlauf einer körperlichen vorrufen kann. In anderen Fäl- heiten: Beide haben eine einander: Angststörungen Erkrankung aus – und umge- len ziehen psychische Leiden gemeinsame Ursache. Bei beispielsweise gehen mit kehrt. So sterben etwa depres- körperliche nach sich – zum Diabetes und Depression etwa Atemnot und Herzattacken sive Herzkranke früher als Beispiel bei einem Suchtkran- könnten dies biochemische einher, und Menschen mit nichtdepressive. Mögliche Ur- ken, der durch übermäßigen Veränderungen im Botenstoff- Depression zeigen oft auch sachen sind ein ungesünderer Alkohol- oder Drogenkonsum haushalt sein, die auf Grund körperliche Veränderungen. Lebensstil und eine weniger seine Organe schädigt. Auch von chronischem Stress ent­ Liegen mindestens zwei von- erfolgreiche Bewältigung der die Behandlung mit manchen stehen. Und schließlich ist einander abgrenzbare Erkran- Krankheit. Psychopharmaka führt lang­ denkbar, dass sich Erkran- fristig zu körperlichen Folge- kungen gänzlich unabhängig kungen vor, spricht man von Komorbide Erkrankungen Eine weitere Erklärung für Komorbidität. Sie beeinträch­ können als Folge eines bereits schäden, genau wie Medika- voneinander entwickeln. In tigt die Lebensqualität der bestehenden Leidens auftre- mente gegen körperliche diesem Fall sind sie nur zufällig Patienten und den Behand- ten. So stellt eine chronische Erkrankungen zuweilen psy- zeitgleich oder nacheinander lungserfolg erheblich. Eine Krankheit wie Diabetes eine chische Probleme verursachen. aufgetreten. Risiken in Zahlen Eine körperliche Krankheit erhöht das Risiko, an einer psychischen Störung zu erkranken, auf rund das Doppelte. So leidet mehr als ein Drittel der Menschen mit einer chronischen körperlichen Erkrankung auch an einer seelischen Störung, etwa bei … •K rebserkrankungen: 36 % •M uskel-SkelettErkrankungen: 37 % Menschen mit chronischen ­körperlichen richtig einzuordnen. Das ist oft nicht so einfach, Krankheiten erleben überdurchschnittlich häu- wie es klingt: Angstsymptome, wie sie zum Bei- fig psychische Störungen wie eine Depression spiel bei einer Panikattacke auftreten, können oder Angststörung. Dieser Zusammenhang zeigt den Beschwerden einer Unterzuckerung biswei- sich auch bei Diabetes: Sowohl Typ-1- als auch len zum Verwechseln ähnlich sein. Typ-2-Diabetiker leiden etwa doppelt so häufig Auch Jens ist sich oft unsicher: Kribbeln, unter einer Depression wie Menschen ohne die Schwitzen, Herzklopfen – habe ich gerade zu Stoffwechselstörung. Auch das Risiko, eine niedrigen Blutzucker? Oder registriere ich nur Angststörung zu entwickeln, ist bei Diabetikern die Symptome meiner eigenen Angst davor, in um mehr als 20 Prozent erhöht. Ohnmacht zu fallen? Fehlinterpretationen wir- Dass er an einer schweren chronischen Krank- ken sich un­güns­tig auf die Behandlung aus. So heit leidet und seinen Lebensstil ändern muss, stopft Jens bei dem kleinsten Verdacht auf eine war für Jens im ersten Moment natürlich ein Unterzuckerung Schokoriegel, Cola und Marme- Schock. Angst, Verunsicherung und Zeiten, in de- ladenbrote in sich hinein, was seinen Blut­ nen man sich niedergeschlagen fühlt, sind dabei zuckerspiegel in die Höhe schnellen lässt. eine ganz natürliche Reaktion und nicht unbe- Wenn Patienten unter dem Gefühl leiden, we- dingt Zeichen einer Depression. Bei den meisten nig Kontrolle über ihren Körper und ihre Krank- Patienten verschwinden diese Gefühle mit der heit zu haben, kann das psychische Probleme Zeit wieder: Die Betroffenen akzeptieren die ebenfalls begünstigen. Aus der Forschung ist Krankheit und finden Mittel und Wege, mit ihren schon lange bekannt, dass wiederholtes Erleben Beeinträchtigungen zu leben. Misslingt das je- von Hilfslosigkeit – neben anderen Faktoren – doch, können sich die negativen Gefühle allmäh- das Risiko für Depressionen erhöht. lich zu einer psychischen Störung auswachsen. Psychische Störungen entstehen also manch- Die erste Gegenmaßnahme besteht darin, die mal als Folge einer körperlichen Krankheit. Ande- Betroffenen detailliert über ihre Erkrankung zu rerseits ist es genauso gut möglich, dass ein see- informieren und sie dazu zu motivieren, aktiv lisches Leiden auch einer körperlichen Erkran- •H erzerkrankungen: 39 % ­etwas dagegen zu unternehmen. Die Patienten kung vorausgeht und diese mitverursacht oder • Atemwegserkrankungen: sollten gewissermaßen zu Experten für ihre zumindest die Prognose verschlechtert. Jens Krankheit werden und lernen, ihre Symptome könnte so bereits lange vor seiner Diabetes­ 70 42 % Gehirn und Geist erkrankung unter einer Depres­sion gelitten ha- steht, das Risiko für weitere Krankheiten. Dia­ ben: Er lebte eher zurückgezogen, aß viel und war betiker etwa, die an einer Depression leiden, sind bis auf eine gelegentliche Bowling-Partie körper- besonders gefährdet, Folgeerkrankungen wie lich kaum aktiv. Gedrückte Stimmung, Antriebs- ­Gefäßschäden zu entwickeln. und Energielosigkeit, wie Jens sie oft empfunden hat, sind auch bei Depressionen vorhanden. Sol- Hormone fördern Entzündungen che Symptome müssen allerdings unterschieden Woher kommt das? Depressionen und Typ-2-­ werden von normaler Erschöpfung oder von Diabetes haben auf biologischer Ebene einen Stimmungsschwankungen, die nicht unbedingt ­gemeinsamen Marker: Bei beiden Krankheiten eine klinische Depression bedeuten. Aber selbst sind das vegetative Nervensystem und Teile des wenn der Schweregrad für eine Diagnose nicht Stresshormonsystems (die Hypothalamus-Hy- ausreicht, können depressive Symptome und der pophysen-Nebennierenrinden-Achse) überaktiv. daraus resultierende Lebensstil die Entstehung Das führt dazu, dass unter anderem Cortisol und und den Verlauf von Diabetes ­beeinflussen. das »Corticotropin-releasing Hormone« (CRH) Im ungünstigsten Fall entsteht ein Teufels- vermehrt freigesetzt werden. CRH wirkt sich sti- kreis, in dem sich körperliche und psychische Lei- mulierend auf das Herz-Kreislauf-System aus, es den gegenseitig aufrechterhalten und wechsel- fördert Entzündungsprozesse und damit Schä- seitig für eine Chronifizierung der Beschwerden den an den Gefäßen. sorgen. So ist Jens nach der Diabetesdiagnose nie- Da sich Mehrfacherkrankungen gegenseitig dergeschlagen und noch antriebsloser als zuvor. verstärken können und dadurch bedrohlicher Also bleibt er zu Hause, statt das ärztlich empfoh- werden, ist es wichtig, sie frühzeitig zu erkennen lene Fitnessprogramm anzugehen. Die Curry- und zu behandeln. Aber gerade hier beginnt das wurst beim Imbiss an der Ecke ersetzt eine ausge- Problem. In der Praxis werden Komorbiditäten wogene Ernährung, die erneute Gewichtszunah- oft falsch oder gar nicht diagnostiziert. Von den me führt zu Versagensgefühlen und Selbstzwei- Diabetikern mit Depression in Deutschland etwa feln. Diese verstärken wiederum die Depression. wird nur rund die Hälfte auch als depressiv er- Wechselwirkungen dieser Art treten bei vielen kannt; früher waren es noch weniger. Kombinationen von Erkrankungen auf. Zudem Günstig ist, wenn Ärzte und Krankenhäuser erhöht sich, wenn bereits eine Komorbidität be- ein standardmäßiges Screening auf Komorbidi- Kontrolle muss sein Bei Diabetes mellitus ist die Blutzuckerkonzen­ tration dauerhaft erhöht. Grund ist ein Mangel an Insulin: Das Hormon sorgt dafür, dass die Körperzellen die Glukose aus dem Blut aufnehmen und verarbeiten. Bei Typ-1-­ Diabetes werden die Insulin produzierenden Zellen in der Bauch­ speicheldrüse von einer Autoimmunerkrankung zerstört. Dagegen produziert die Bauchspeicheldrüse bei Diabetes vom Typ 2 (früher Altersdiabetes genannt) eigentlich ausreichend Insulin, der Körper entwickelt jedoch eine Resistenz dagegen. Daneben gibt es noch seltenere Formen wie Schwangerschaftsdiabetes. Ein erhöhter Blutzucker verursacht zunächst keine Beschwerden, erst im Verlauf von Jahren oder Jahrzehnten drohen Gefäß- und Nerven­ schäden. Daher haben Diabe­tiker ein etwa zweibis dreimal so großes Risiko für Herz­infarkt und Schlaganfall wie Nicht­ diabetiker. Die diabetische Retinopathie, bei der kleinste Blutgefäße auf der Netzhaut geschädigt werden, ist in westlichen Ländern eine der häufigs­ ten Ursachen für Erblindungen. Auch Nieren- und Nervenschäden sind verbreitete Folgen von Diabetes. Meike Teichmann Diabetiker sollten stets im Blick haben, wie viele Kohlenhydrate sie zu sich nehmen – denn die erhöhen den Blut­ zuckerspiegel. Depres­ siven fällt das oft schwer. Diabetes – die »Zuckerkrankheit« 10_2014 71 Meike Teichmann täten vornehmen. Allerdings fällt die Diagnostik kungen hat sich in Studien vor allem die kogni- oft schwerer als bei allein auftretenden Krank- tive Verhaltenstherapie als wirksam erwiesen. heiten, und nicht alle Ärzte sind darin geschult, Körperliche Erkrankungen sollten dabei in der psychische Störungen zu identifizieren. Hierbei Therapie berücksichtigt werden. Im Fall von besteht sowohl die Gefahr des Nicht­erkennens ­Diabetes und Depression kamen mittlerweile als auch die Gefahr des Überdiag­nostizierens. Be- ­einige Untersuchungen zu dem Ergebnis, dass stimmte Beschwerden passen sowohl zum Bild speziell angepasste verhaltenstherapeutische einer körperlichen als auch einer psychischen Behandlungen nicht nur die depressive Symp­ Erkrankung: Müdigkeit, Schlafstörungen, Kraft- tomatik verbessern, sondern darüber hinaus die losigkeit und Appetitverlust sind beispielsweise Blutzuckereinstellung der Patienten. Es kann Begleiterscheinungen von Diabetes, sie könnten zum Beispiel sinnvoll sein, Diabetes-Schulungen KU RZ ER KL ÄRT aber auch auf eine beginnende Depression hin- in die Therapie zu integrieren, um den Patienten Psychosomatik weisen. mehr Kontrolle über ihre Krankheit zu geben. Uns bleibt »vor Schreck das Herz stehen« oder etwas »liegt uns schwer im Magen«. Solche Redewendungen zeigen, dass die gegenseitige Beeinflussung von Psyche und Körper altbekannt ist. Als somatoforme Störungen bezeichnet man körperliche Beschwerden, für die keine organische Ursache erkennbar ist und die mutmaßlich durch psychische und soziale Belastungen (mit-) verursacht werden. Die Psychosomatik (heutzutage oft integriert in Psychiatrie sowie Klinische Psychologie) erforscht dieses Zusammenspiel. Man sollte allerdings körperliche Erkrankungen nicht allzu sehr »psychologisieren«. Für manche als psychosomatisch eingeordnete Erkrankung haben sich andere Erklärungen gefunden als Stress oder ein ungünstiger Persönlichkeitstyp. 72 Nicht nur das Erkennen von Zweit- und Auch körperliches Training wirkt sich sowohl auf ­Dritt­erkrankungen stellt Ärzte vor Probleme, den Zuckerstoffwechsel als auch auf depressive sondern auch deren Behandlung. Denn dabei gilt Symptome günstig aus. es, alle Symptome und ihr Zusammenwirken zu berücksichtigen. Immerhin gibt es mittlerweile Unklarer Mehrwert für einige Krankheiten medizinische Leitlinien, Allerdings: Ob Behandlungen, die speziell an die häufig auftretende Komorbiditäten berück- mehrfach erkrankte Patienten angepasst sind, ei- sichtigen. So veröffentlichte die Deutsche Dia­ nen wirklichen Mehrwert bieten, ist bislang viel- betes Gesellschaft 2013 die zweite Auflage ihrer fach noch nicht nachgewiesen – dafür existieren Leit­linie »Psychosoziales und Diabetes«. Diese diese Angebote noch nicht lange genug. Entspre- informiert Patienten, Ärzte und Institutionen chende Langzeitstudien laufen jedoch, etwa zur über den aktuellen wissenschaftlichen Erkennt- Wirksamkeit diabetesspezifischer Verhaltensthe- nisstand zu psychischen Problemen, die häufig rapien. Doch auch ohne besondere Behandlungs- bei Diabetes mellitus auftreten, sowie über die manuale gelingt es schon heute vielen Psycho­ Besonderheiten der Behandlung und den mög- therapeu­ten, körperliche Einschränkungen ihrer lichen Einfluss auf die D ­ iabetestherapie. Klienten und Belastungen durch chronische Für Betroffene, bei denen noch keine voll aus- Krankheiten in die Therapie zu integrieren. geprägte psychische Störung vorliegt, kommen Bei der Therapie von komorbiden psychi- insbesondere so genannte psychosoziale Ange- schen Störungen können manchmal auch Psy- bote in Frage. Gemeint sind damit etwa Schu- chopharmaka sinnvoll sein. Die Studienlage zu lungen, in denen es vor allem darum geht, Infor- möglichen Wechselwirkungen mit Diabetes ist mationen über die Erkrankungen zu vermitteln allerdings uneinheitlich, in einigen Fällen führte und hilfreiche Fertigkeiten zu trainieren. Für Dia- die Behandlung mit Antidepressiva beispielswei- betiker gibt es das Angebot, an solchen Schulungs- se zu einem Anstieg der Blutzuckerwerte. Die be- programmen teilzunehmen. Einige Trainings handelnden Ärzte müssen daher zwischen der widmen sich speziellen Aspekten der Krankheit, Schwere der Depression, eventuellen Erfah- die auch für viele psychisch komorbide Patienten rungen des Patienten mit Antidepressiva und wichtig sind. So gibt es etwa Kurse, in denen die der gewünschten Blutzucker­einstellung genau Teilnehmer gezielt üben, Unterzuckerungen zu abwägen. erkennen und sie besser in den Griff zu bekom- Menschen, die an mehr als einer Krankheit men. Das hilft gleichzeitig, die Symptome zu leiden, stehen verschiedene Behandlungsmög- niedrigen Blutzuckers besser von denen einer Pa- lichkeiten offen. Es hapert allerdings bislang da- nikattacke unterscheiden zu können. ran, dass die verschiedenen Therapie­ansätze un- Patienten mit dem Vollbild einer psychischen verbunden und wenig aufeinander abgestimmt Störung hilft eine psychotherapeutische Be- sind. Oft bleibt das verantwor­­tungs­volle »Ma- handlung. Für komorbide psychische Erkran- nagement« seiner Erkrankungen dem Patienten Gehirn und Geist selbst überlassen. Symptome wie Antriebs- und Motivationslosigkeit oder körperliche Beschwerden, etwa chronische Schmerzen, können dies erschweren. Daher gelingt es vielen Betroffenen Das bewegt mich! nicht, sich selbst um eine optimale Versorgung zu kümmern – das Gesundheitssystem ist aber in vielen Regionen nur unzureichend auf ihre Bedürfnisse eingestellt. Doch muss man bedenken, dass nicht alle Lebensprobleme, die mit ei- Selbstzweifel ner Erkrankung verbunden sind, an das Gesundheitssystem delegiert werden können. Insbeson- verursachen viele seelische dere sollten Patienten darin unterstützt werden, Ressourcen in ihrem Umfeld zu mobilisieren. Probleme und Krankheiten. Bei Jens entscheidet sich der Hausarzt, ihn ne- Sie verbauen uns Chancen ben der üblichen Behandlung des Diabetes an eine Psychotherapeutin zu vermitteln. Sie stellt und dämpfen die Lebens- eine leichte Depression im Rahmen einer chroni­ schen Erkrankung fest. Die zusätzliche Einschät- freude. Können wir lernen, zung eines Psychiaters ergibt, dass unter ande- freundlicher über uns zu den- rem wegen möglicher Wechselwirkungen (etwa ken? Durchaus: Denn Minder- der Beeinflussung von Körpergewicht und Glukosestoffwechsel) zu diesem Zeitpunkt keine Psychopharmaka indiziert sind, wohl aber eine psychotherapeutische Behandlung. Die Therapeutin motiviert Jens dazu, körperlich aktiver zu sein. Zudem besucht er bei einem Dia­betologen eine Schulung, die besonders auf das Selbst­management der Krankheit abzielt und zu der auch ein Unterzucker-Wahrnehmungstraining gehört. Nicht zuletzt sind für Jens auch intensive Gespräche über die Hilflosigkeit, die er empfindet, über Schuldgefühle und Versagens­ängste in Bezug auf die Diabetesbehandlung wichtig, um besser mit seiner Erkrankung umgehen zu können. Nach Abschluss dieser Therapie sieht er seiner Zukunft deutlich zuversichtlicher entgegen. Ÿ Phoebe Cyra Fleischer ist Diplompsychologin und absolviert ein postgraduales Psychotherapiestudiumstudium (M. Sc., in Kombination mit der Approbation zur Psychologischen Psychotherapeutin) an der Psychologischen Hochschule Berlin. Frank Jacobi ist dort Professor für Klinische Psychologie (Schwerpunkt Verhaltenstherapie). In seinen wissenschaftlichen Arbeiten befasst er sich unter anderem mit der Epidemiologie psychischer Störungen, mit Versorgungs- und Psychotherapieforschung. 10_2014 Quellen Beutel, M. E., Schulz, H.: Epidemiologie psychisch komorbider Störungen bei chronisch körperlichen Erkrankungen. In: Bundesge­ sundheitsblatt 54, S. 15 – 21, 2011 Deuschle, M., Schweiger, U.: Depression und Diabetes mellitus Typ 2. In: Der Ner­ venarzt 83, S. 1410 – 1422, 2012 Heidemann, C. et al.: Prä­ valenz und zeitliche Ent­ wicklung des bekannten Diabetes mellitus. Ergeb­ nisse der Studie zur Gesund­ heit Erwachsener in Deutschland (DEGS1). In: Bundesgesundheitsblatt 56, S. 668 – 677, 2013 Jacobi, F.: Psychische Stö­ rungen bei Patienten mit körperlichen Erkrankungen in der Allgemeinbevölke­ rung. In: Härter, M. et al. (Hg.): Psychische Störungen bei körperlichen Erkran­ kungen. Springer, Berlin 2007, S. 45 – 53 Weitere Quellen im Internet: www.spektrum.de/artikel/ 1305921 wertigkeitsgefühle sind oft hausgemacht. ALS A PP ZT JETU NE ! AUCH www.psychologie-heute.de 73