Projektbericht für die „Selbsthilfe – Fördergemeinschaft der

Werbung
Projektbericht für die „Selbsthilfe – Fördergemeinschaft der
Ersatzkassen“ zur
Entwicklung und Förderung des internen Diskurses zwischen Krankenkassen und Selbsthilfegruppen
„Einfluss des pharmazeutisch-industriellen Komplexes
auf die Selbsthilfe“
vorgelegt von
Dr. med. Kirsten Schubert und
Prof. Dr. rer. nat. Gerd Glaeske
Zentrum für Sozialpolitik (ZeS), Universität Bremen
April 2007
1
Vorbemerkung
Der folgende Projektbericht basiert auf Analysen von schriftlichen Materialien, Interviews und eigenen Beobachtungen zum Umgang der Selbsthilfe- und PatientInnengruppen mit pharmazeutischen Herstellern. Er bietet an Hand von Beispielen
Interpretationen, Wertungen und Vorschläge an. Die Beschäftigung mit diesem Thema hat gezeigt, wie schwierig es ist, Transparenz in diesen Bereich von Finanzierung
und Abhängigkeiten, Sponsoring und Unterstützung zu bringen, vor allem unter dem
Aspekt, dass bestimmte Kriterien darüber Auskunft geben oder zumindest die Entscheidung erleichtern sollen, ob eine Selbsthilfe- oder PatientInnengruppe unterstützungswürdig ist oder nicht, oder ob sie eher als eine Gruppe „betroffener
Pharmareferenten“ angesprochen werden muss, die mit dem Vorteil der Betroffenheit
sehr viel eher Zugang und Einfluss auf das ärztliche Verordnungsverhalten erreichen
kann als die üblicherweise tätigen Repräsentanten pharmazeutischer Hersteller.
Der direkte Zugang zu Patientinnen und Patienten ist für pharmazeutische Unternehmen ohne Zweifel von nicht zu unterschätzendem Nutzen. Die Anstrengungen,
auch in Europa und Deutschland zu einer direkt an den Patienten gerichteten Werbemöglichkeit für verschreibungspflichtige Arzneimittel zu kommen, sind unübersehbar. Vor allem stehen solche Patienten stehen dabei im Mittelpunkt, die dauerhaft
wegen ihrer chronischen Erkrankungen behandelt werden müssen (z.B. wegen Osteoporose oder Parkinson Krankheit). Ohne Zweifel ist es notwendig, Patientinnen
und Patienten über die diagnostischen, therapeutischen und präventiven Möglichkeiten im Umgang mit der jeweiligen Krankheit zu informieren. Damit es aber zu einer
partnerschaftlichen, autonomen und souveränen Entscheidung der Patientinnen und
Patienten mit ihren Ärzten kommen kann, sind Informationen erforderlich, die nicht
von einem ökonomischen Interesse bestimmt sind. Dass ein Informationsbedürfnis
insbesondere von chronischen Patienten1 in Bezug auf ihre Behandlung besteht, ist
ohne jede Einschränkung nachvollziehbar. Dass aber der evidenzbasierte Behandlungsbedarf möglicherweise durch eminenzbasierte und industriegeleitete Empfehlungen konterkariert wird, ist im höchsten Maße unerwünscht.
Das Ziel des hier vorgestellten Projektes war es, diese Zusammenhänge zu untersuchen. Je mehr die Autoren sich allerdings mit dem Thema beschäftigten, desto viel-
1
Selbstverständlich sind im Folgenden beide Geschlechter inhaltlich einbezogen, auch wenn nur die
männliche Form Erwähnung findet.
2
fältiger traten die Aspekte von direkter oder indirekter Beeinflussung zutage und desto klarer wurden auch die zum Teil bestehenden personellen, strukturellen, organisatorischen und finanziellen Ressourcendefizite mancher Selbsthilfegruppen, die
angetreten waren, den Betroffenen Hilfsstellung anzubieten. Die Autoren kommen
daher zu dem Schluss, dass auf allen Seiten darüber nachgedacht werden muss, wie
sich eine Selbsthilfegruppenbewegung möglichst unanfällig für ökonomische oder
sächliche Anreize der pharmazeutischen Industrie weiterentwickeln kann und an welche Grundbedingungen von Transparenz und Selbstverpflichtung eine finanzielle
Förderung der Selbsthilfegruppen durch den Staat oder durch Krankenkassen geknüpft werden muss. Keinesfalls sollen damit die Selbsthilfegruppen an sich in Frage
gestellt werden: Dass diese einen wertvollen Beitrag zur Versorgung und Orientierung leisten können und sollen, ist allseits unbestritten.
Bremen, im April 2007
Dr. Kirsten Schubert
Prof. Dr. Gerd Glaeske
3
Inhaltsverzeichnis
Häufig verwendete Abkürzungen
6
I. Einleitung
7
I.1 Warum diese Untersuchung
7
I.2 Marketing allgemein
9
I.3 Direct-to-consumer advertising (DTCA)
10
I.4 Die Finanzierung der Selbsthilfe
17
II Strukturen der gesundheitsbezogenen Selbsthilfe
in Deutschland
21
II.1 Entwicklung
21
II.2 Die Verbreitung der Selbsthilfe
22
II.3 Begriffsbestimmungen
23
II.3.1 Selbsthilfegruppen
23
II.3.2 Selbsthilfeorganisationen
24
II.3.3 Selbsthilfekontaktstellen
25
II.4 Wer gründet Selbsthilfegruppen
25
II.5 Zur aktuellen Finanzierungssituation der gesundheitsbezogenen Selbsthilfe
27
III Methodisches Vorgehen
33
III.1 Beschreibung
33
III.2 So sind wir vorgegangen
34
III.3 Wer wurde interviewt?
36
III.4 Untersuchte Indikationsbereiche
37
III.4.1 Alzheimer
37
III.4.2 Neurodermitis
38
III.4.3 Osteoporose
39
III.4.4 Parkinson
41
III.4.5 Psoriasis
43
IV Statements der Industrie
46
4
V Diskussion
47
V.1 Welches sind die Nutzenkalküle auf Seiten der Selbsthilfe
und der Pharma-Industrie
48
V.1.1. Nutzenkalküle
48
V.1.2 Strategien der Einflussnahme
49
V.1.3 Bewertung der Rechercheergebnisse
55
V.1.4 Tabellarische Übersicht über die Ergebnisse
der Untersuchung
56
VI Kurzfassung und Ausblick
59
VI.1 Stärkung der Ressourcen
59
VI.2 Transparenz auf Nutzer- und Anbieterseite
59
VI.3 Verantwortlichkeit auf beiden Seiten
59
VI.4 Task Force „Good Sponsoring Practice (GSP)“
60
VII Vorschlag für einer Kriterienkatalog für eine
Selbstverpflichtungserklärung
61
VIII Verzeichnis der interviewten Experten
63
IX Literatur
65
X Anhang: Exkurs ADHS
70
5
Häufig verwendete Abkürzungen
AM
Arzneimittel
BAGS
Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe von Menschen
mit Behinderung und chronischer Erkrankung und ihren
Angehörigen e.V.
BfArM
Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte
BMJ
British Medical Journal
DAG SHG
Deutsche Arbeitsgemeinschaft Selbsthilfegruppen e.V.
EMEA
European Medicines Agency (Europäische Arzneimittelzulassungsbehörde)
FDA
Food and Drug Administration (Amerikanische Arzneimittelzulassungsbehörde)
G-BA
Gemeinsamer Bundesausschuss
GKV
Gesetzliche Krankenversicherung
GRV
Gesetzliche Rentenversicherung
HWG
Heilmittelwerbegesetz
HWG
Heilmittelwerbegesetz
IQWIG
Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen
JAMA
Journal of the American Medical Association
NAKOS
Nationale Kontakt- und Informationsstelle zur Anregung
und Unterstützung von Selbsthilfegruppen
NICE
National Institute for Health and Clinical Excellence
Off-label-use
Anwendung eines Arzneimittels außerhalb seiner zugelassenen Indikationen und/oder Dauer und/oder Dosierung und/oder Altersbegrenzung
RCT
Randomised Controlled Trials (Randomisierte kontrollierte Studien)
SGB
Sozialgesetzbuch
SH
Selbsthilfe
SHG
Selbsthilfegruppen
SHO
Selbsthilfeorganisationen
6
SHK
Selbsthilfekontaktstellen
7
I. Einleitung
I.1 Vorwort: Warum diese Untersuchung
Selbsthilfe ist notwendig. Sie ist in unserem Versorgungssystem ein unverzichtbarer
Bestandteil. Sie steht zwischen Eigenverantwortung und Solidarität im Zentrum der
Subsidiarität und wird nach den institutionalisierten Anfängen in den späten 80er
Jahren des letzten Jahrhunderts mehr und mehr eingebunden in die Vertretung der
Belange von Versicherten und Patienten in unserem Gesundheitssystem. Die Gesundheitspolitik hat daher die Selbsthilfebewegung ebenfalls gefördert, sowohl durch
Regelungen im Rahmen des 5. Sozialgesetzbuches (siehe § 20 c SGB V), durch die
Förderung von Modellvorhaben mit dem Ziel der unabhängigen Patienteninformation
nach § 65 b und durch die Verankerung der „3. Bank“ z.B. im Gemeinsamen Bundesausschuss oder im Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG), in beiden Gremien haben die Vertreter der Patientinnen und Patienten
derzeit zumindest Anhörungsrechte, die Berechtigung, über Beschlüsse auch formell
mit abstimmen zu können, wird sicherlich folgen. Im SGB V ist zudem festgelegt,
dass die Krankenkassen die Selbsthilfegruppen mit bestimmten, von Jahr zu Jahr
steigenden Beträgen fördern können – im Jahre 2006 z.B. mit 0,55 € pro Versichertem. Bei 71 Mio. Versicherten in der GKV kann damit ein Betrag von 39,1 Mio. €
ausgezahlt werden – allerdings: Bisher wurde in keinem Jahr die volle mögliche
Summe ausgezahlt, die Förderpraxis einzelner Krankenkassen ist durchaus unterschiedlich und nicht immer transparent. Mit dem Inkrafttreten der Gesundheitsreform
wird übrigens aus der „kann“-Bestimmung eine verpflichtende Bestimmung: Insofern
ist es noch wichtiger, möglichst rasch eine verbindliche Regelung für die Förderung
zu vereinbaren, damit die Finanzmittel der Kassen auch die „richtigen“ Selbsthilfegruppen erreichen.
Sichtbares Zeichen der Notwendigkeit, den Belangen der Patientinnen und Patienten
mehr gesetzlich verankerten Raum zu bieten, ist auch die mit dem GKVModernisierungsgesetz (GMG) ab dem 1.Januar eingerichtete Stelle der Patientenbeauftragen im Bundesministerium für Gesundheit, besetzt mit der Dipl. Psych. Helga Kühn-Mengel, MdB.
Die Aufgaben der Vertreter der Patientinnen und Patienten sowie der Selbsthilfegruppen wurden durch diese gesetzlich geregelten Mitsprache- und Vertretungsmöglichkeiten erheblich erweitert – neben den originären Aufgaben der Selbsthilfe,
8
Patientinnen und Patienten in der notwendigen Krankenversorgung zu unterstützen
und die partnerschaftliche Kommunikation der Medizinerinnen und Medizinern mit
den Patienten zu fördern, kam nun die gesundheitspolitisch gewollte Vertretung der
Patientengruppen in den Gremien hinzu, in denen über den Leistungskatalog der
GKV und über die Rechte von Patienten auf bestimmte Leistungen entschieden wird.
Solche Aufgaben verlangen sowohl nach personeller wie struktureller und finanzieller
Ausstattung in den Patientengruppen , weil sie nur auf diese Weise die Chance haben, gegenüber den wohl organisierten und gut ausgestatteten Vertretungen der Ärzte und Krankenkassen eine Chance haben, auch inhaltlich mitdiskutieren zu können.
Allein die Mitgliedsbeiträge und bisherigen Fördermittel der Krankenkassen reichen
hier nicht aus.
Aber gerade weil die Selbsthilfe nun stärker und offiziell in Entscheidungsabläufe im
GKV-System eingebunden ist, wird sie mehr und mehr interessant für Lobbyisten der
Anbieter, die auf diesem Wege versuchen, ihre Interessen in Diskussionen über den
Leistungskatalog und Leistungsumfang einzubringen. Getragen ist dieses Interesse
sicherlich auch von der richtigen Einschätzung, dass Patientinnen und Patienten als
Betroffene in sehr viel überzeugenderer Weise und mit persönlich unterlegtem Nachdruck bestimmte Leistungen positiv bewerten, wenn ihnen von diesen Leistungen
einer Verbesserung ihrer Erkrankung möglich erscheint. Die Glaubwürdigkeit, Unabhängigkeit und Neutralität, die drei wichtigsten Imagevorteile der Selbsthilfe, lassen
sich auf diese Weise u. U. für die eigenen ökonomischen Interessen der Anbieter
instrumentalisieren. Sie waren daher schon früh bereit, der Selbsthilfe in ihren organisatorischen, strukturellen und finanziellen, manchen mal auch personellen Engpässen und Nöten Hilfe anzubieten und trafen damit oft genug auf Selbsthilfegruppen,
die auf der Suche nach einer solchen Unterstützung waren und diese zusätzlichen
Finanzierungsquellen nur allzu gerne annahmen.
Grundsätzlich gibt es gegen eine solche Unterstützung auch so lange keine Einwände, wie diese Mittel ausgewiesen und im Hinblick auf Ihre Zweckbestimmung transparent gemacht werden und nachgewiesen werden kann, dass weder die Autonomie
der Selbsthilfegruppen tangiert noch ihre Unabhängigkeit gefährdet sind. Bei einer
direkt erkennbaren Beeinflussung z. B. im Bezug auf neue und teure Therapien, für
die bislang der Nachweis einer therapeutischen Überlegenheit gegenüber bisher angewendeten und bewährten Mitteln noch nicht erbracht ist, ist jedoch die Kritik der
GKV verständlich: Auf der einen Seite finanzieren sie die Selbsthilfegruppen mit ei9
nem bestimmten Betrag, auf der anderen Seite wird sie zusätzlich mit unnötig hohen
Ausgaben für Arzneimittel, Hilfsmittel oder andere Therapien belastet, die über die
Patienten in die Arztpraxen „getragen“ und dort verordnet werden. Im Gutachten
2005 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen wurde zu diesem Punkt bezogen auf Marketing allgemein und auf die
Auswirkungen der direkten Konsumenten-Werbung für rezeptpflichtige Arzneimittel
im besonderen ausgeführt:
I.2 Marketing allgemein:
Informationssteuerung und Produktmarketing zielen vor oder nach der Markteinführung eines Arzneimittels darauf ab, im Bewusstsein der verordnenden Ärzte und der
Verbraucher das zu behandelnde Krankheitsbild sowie den Produktnamen oder den
Herstellernamen zu verankern. Im Vorfeld der Markteinführung eines neuen Medikaments wird häufig versucht, den Eindruck eines (objektiven) Bedarfs zu erwecken,
auf den verordnende Ärztinnen und Ärzte sowie potenzielle Endverbraucher mit dem
Wunsch nach einer pharmakotherapeutischen Lösung reagieren sollen. Informationen zu Krankheiten und Medikamenten werden gezielt selektiert und über den Lebenszyklus eines Produkts in unterschiedlichen Strategien vermittelt. Dazu gehören
u. a.
−
das Erstellen vielfältiger Pressematerialien, die teilweise direkt von den Medien
verwendet werden; entsprechende Berichte lenken die Aufmerksamkeit auf die
fokussierte „Krankheit“ und die passenden „Therapieoptionen“.
−
das Sponsoring von „unabhängigen“ Experten, „wissenschaftlichen“ Symposien
und anderen Informations- und Fortbildungsveranstaltungen bis hin zu internationalen Konsensuskonferenzen.
−
das Entsenden von Pharmareferenten, die in Praxen und Krankenhäusern Informationen zu bestimmten Produkten bereitstellen.
−
die Finanzierung von sog. Anwendungs-Beobachtungs-Studien, deren Ergebnisse nur selten wissenschaftlich wertvoll sind und die teilweise selektiv publiziert
werden.
−
die Unterstützung (bis hin zur Gründung) von Selbsthilfeorganisationen, aus deren Reihen bei Bedarf Betroffene für Auskünfte zur Verfügung stehen.
10
−
die Initiierung und Beteiligung an „Aufklärungskampagnen“ zu absatzrelevanten
Gesundheitsstörungen.
Der Einsatz von Marketingstrategien ist, solange sie sich im Bereich der Legalität
befinden, das ‚gute Recht‘ der Hersteller 1).2 Es liegt jedoch an dem Gesetzgeber,
den rechtlichen Rahmen so zu organisieren, dass Ärzte und Verbraucher - u. a.
durch die Verpflichtung zur Veröffentlichung negativer Studienergebnisse - möglichst
objektive Information erhalten. Dies beinhaltet auch die Bereitstellung von unabhängiger Information.
I.3 Direct-to-consumer advertising (DTCA)
In §§ 11 und 12 Heilmittelwerbegesetz wird die Werbung für Arzneimittel außerhalb
von Fachkreisen geregelt. In der Anlage zum Gesetz sind Krankheiten oder Leiden
aufgeführt, auf deren Erkennung, Verhütung, Beseitigung oder Linderung sich Werbung außerhalb der Fachkreise nicht beziehen darf. Damit ist in Deutschland Arzneimittelwerbung, die sich direkt an Verbraucher wendet (direct-to-consumer
advertising, DTCA), stark reglementiert. Für rezeptpflichtige Medikamente darf nicht
geworben werden. Allerdings wird auch hierzulande über eine Lockerung dieser Vorgaben diskutiert. Zudem werden in der Praxis die Verbote teilweise umgangen. Beispielsweise werden keine konkreten Präparatenamen aufgeführt, sondern lediglich
auf ein medizinisches Problem wie Erektionsstörungen hingewiesen (siehe Stolze, C.
2003).
In den USA und Neuseeland ist Kundenwerbung für verschreibungspflichtige Arzneimittel erlaubt. Die zu den USA vorliegenden Zahlen zeigen einen stetigen Anstieg
der Herstelleraufwendungen für DTCA von 9,2 Mrd. US$ im Jahr 1996 auf 19,1 Mrd.
US$ im Jahr 2001 (vgl. Abbildung 1). Für das Jahr 2000 wurde errechnet, dass jeder
zusätzliche Dollar, der in direct-to-consumer advertising gesteckt wurde, zu einer zusätzlichen Umsatzsteigerung von 4,20 US $ führte. Der Elastizitätskoeffizient für
1)2 Allerdings gibt es immer wieder Verstöße gegen geltendes Recht durch einzelne Hersteller oder deren Referenten. Dass die damit verbundene negative Publicity ein Anliegen für die Pharmaindustrie ist, zeigt die
Gründung des Vereins „Freiwillige Selbstkontrolle für die Arzneimittelindustrie“ am 16. Februar 2004 durch
den VFA, der den Umgang zwischen Pharmaunternehmen und Ärzten regeln und kontrollieren soll. Selbstkontrolle oder Verhaltensempfehlungen können jedoch einen entsprechenden gesetzlichen Rahmen und die
Sanktionierung von Verstößen nicht voll ersetzen.
11
Konsumentenwerbung wurde in derselben Studie (Kaiser Family Foundation 2003)
mit 0.10 angegeben. Das heißt, eine zehnprozentige Erhöhung der Werbeausgaben
in diesem Segment führt zu einem Anstieg der Umsätze um 1 %. Zum Vergleich:
Werden die Ausgaben für Ärztewerbung um 10 % erhöht, nimmt der Umsatz nur um
0,2 bis 0,3 % zu. Bemerkenswerter Weise fördert die Werbung für ein Präparat den
Umsatz der ganzen Gruppe. Insofern ist DTCA nur bedingt spezifisch.
Aus Befragungen US-amerikanischer (DTCA erlaubt) und kanadischer (DTCA nicht
erlaubt, doch vor allem via Fernsehen zugänglich) Patienten geht hervor, dass Werbung zu erhöhter Leistungsinanspruchnahme, verstärkter Patientennachfrage nach
den beworbenen Medikamenten und einer Zunahme der Verschreibung solcher oder
ähnlicher Arzneimittel führt. Die befragten Ärzte rezeptierten die Mittel, obwohl sie
mindestens in der Hälfte der Fälle nicht wirklich von deren Notwendigkeit und Nutzen
überzeugt waren (Mintzes, B. et al. 2003, vgl. auch Weissman, J. S. et al. 2003).
Außer auf diese empirisch nachweisbare Förderung der Leistungsinanspruchnahme
weisen Kritiker von DTCA immer wieder auf die falsche, verzerrte oder irreführende
Gestaltung der Verbraucherwerbung hin (Morgan, S. et a. 2003, Cassels, A. et al.
2003). In den USA existieren zwar seit 1997 Vorgaben der Food and Drug Administration 2)3 (www.fda.gov/cder/ddmac/lawsregs.htm), die gesondert von anderen Regelungen zur Gestaltung von Werbung angewendet werden. Pharmazeutische
Unternehmen müssen sämtliche Werbekampagnen und -materialien für Arzneimittel
vor ihrem ersten Erscheinen in der Öffentlichkeit der FDA zur Begutachtung vorlegen. Dies soll verhindern, dass sie irreführende Aussagen enthalten. Allerdings erhält
das FDA nicht von allen Werbekampagnen Kenntnis, und Mahnschreiben werden
von einzelnen Unternehmen ignoriert. Eine Änderung des Begutachtungsverfahrens
in 2001 reduzierte seine Effektivität zudem erheblich. Während zuvor ein Mahnschreiben an das entsprechende Pharmaunternehmen innerhalb weniger Tage verschickt werden konnte, lagen in 2002 zwischen der Kenntnisnahme durch das FDA
und dem Versenden eines solchen Briefs bis zu 78 Tage. Etwa ein Drittel der Fernsehspots im untersuchten Zeitraum war aber weniger als zwei Monate auf Sendung.
(Gahart, M. T. et al. 2003).
Die Befürworter der Verbraucherwerbung für Arzneimittel berufen sich u. a. darauf,
dass diese zur Information der Bürger und Patienten beiträgt. Die Zunahme der Arzt-
2)3 Zuständige Organisationseinheit: Division of Drug Marketing, Advertising, and Communication (DDMAC)
beim Center for Drug Evaluation and Research (CDER).
12
besuche und deren Folgen (veranlasste Untersuchungen, Stellen neuer Diagnosen,
Gespräche über gesunde Lebensführung, Empfehlungen für andere Maßnahmen,
etc.) werden positiv gewertet. Negative Konsequenzen im Sinne einer Verschlechterung des Gesundheitszustandes von Personen, die beworbene Medikamente nachfragen und erhalten, seien nicht festzustellen (Calfee, J. E. 2003, Weissman, J. S. et
al. 2003, vgl. auch Äußerungen von Herstellervertretern, z. B. Bonaccorso, S. N. und
Sturchio J. L. 2002, Kelly, P. 2004). Angesichts der vielfältigen negativen Erfahrungen mit Arzneimittelwerbung, die Ärzte und andere Fachleute zur Zielgruppe hat,
sollte aus Sicht des Rates die deutsche Zurückhaltung bei der Liberalisierung der
direkten Verbraucherwerbung für verschreibungspflichtige Pharmaka beibehalten
werden.
Die Einführung eines neuen Arzneimittels in den Markt bedeutet noch nicht, dass der
Arzt, der das Medikament verordnen soll, von seiner Existenz Kenntnis gewinnt. Eine
zentrale Aufgabe für ein Pharmaunternehmen ist daher die Bereitstellung von Produktinformation sowie die Werbung und das Produktmarketing (vgl. Jacobzone, S.
2000). Das Gesetz über die Werbung auf dem Gebiete des Heilwesens (Heilmittelwerbegesetz, zuletzt geändert durch das GKV-Modernisierungsgesetz vom 14. November 2003) regelt, welche Informationen über ein Arzneimittel in der Werbung für
das Produkt enthalten sein müssen bzw. nicht enthalten sein dürfen, sowie welche
Art von Werbung unzulässig oder irreführend ist. So darf generell keine Konsumentenwerbung für rezeptpflichtige Medikamente gemacht werden. Auch darf sich Werbung nur auf den Indikationsbereich beziehen, für den das Medikament zugelassen
ist. Darüber hinaus gehende Hinweise dürfen nur gegeben werden, wenn sie direkt
erbeten werden.
Die genaue Höhe der Ausgaben für Marketing ist schwer zu beziffern. Allgemein wird
jedoch die Ansicht vertreten, dass sie die Forschungs- und Entwicklungsausgaben
eines Unternehmens erreichen oder sogar übersteigen kann. Reinhardt, U. E. (2004)
präsentiert Zahlen für 13 große forschungsbasierte Pharmaunternehmen in den USA,
die 14,0 % des Umsatzes in F&E und 32,8 % in Verkaufsaktivitäten und allgemeine
Verwaltungsausgaben investieren. Dies deckt sich mit Angaben von Families USA
(2002) für die US-Firmen, die die 50 wichtigsten Arzneimittel für ältere Menschen
herstellen und durchschnittlich 27 % ihres Umsatzes für Marketing, Werbung und
13
Verwaltungsaufgaben ausgeben. Nach Millenson, M. L. (o. J.) bzw. der Kaiser Family
Foundation verwendeten pharmazeutische Unternehmen im Jahr 2000 14 % ihres
Umsatzes auf das Marketing ihrer Produkte. Dabei stellte der Verkaufswert von Ärztemustern mit 7,1 % den größten Ausgabenblock dar, gefolgt von Detailing (4,3 %),
Direct-to-consumer-advertising (2,2 %) und Zeitschriftenwerbung (0,4 %). Unter Detailing versteht man die Praxis der Pharmaindustrie, Pharmavertreter zu niedergelassenen Ärzten und Krankenhäusern zu schicken, um dort ihre Produkte bekannt zu
machen. Direct-to-consumer-advertising bezeichnet Werbung, die sich direkt an den
Verbraucher richtet. Nach Daten der Kaiser Family Foundation (2003) stiegen im
Verlauf der letzten Jahre vor allem die Ausgaben für Ärztemuster und direkte Kundenwerbung (Abbildung 1). In einer Zusammenstellung von Angaben des Verbands
der forschenden Arzneimittelhersteller (VFA), des Bundesverbands der pharmazeutischen Industrie (BPI) und der Gesellschaft für Pharmainformation in Nürnberg (GPI)
gelangte Koch, K. (2001) für die pharmazeutische Industrie in Deutschland in 2000
zu folgenden Daten: Im Bereich der Selbstmedikation mit einem Umsatz von 3,8 Mrd.
€ wurden 418 Mio. € für Publikumswerbung ausgegeben. Im Bereich verordneter
Medikamente mit einem Umsatz von 23,9 Mrd. € wurden Anzeigen in Fachzeitschriften für 143 Mio. € geschaltet, 51 Mio. € für Aussendungen und Werbepost verbraucht
sowie 1,4 Mrd. € für Gehälter, Spesen, Provisionen etc. von Pharmareferenten ausgegeben.
Ob diese hohen Marketing-Ausgaben der pharmazeutischen Industrie aus gesellschaftlicher Sicht wünschenswert sind, ist fraglich. Zwar ist zu vermuten, dass aus
der Sicht des einzelnen Unternehmens über die Mittelverwendung individuell rational
entschieden wird, jedoch wird damit nicht zwangsläufig ein gesamtwirtschaftlich effizientes Ergebnis erzielt. Ein Teil der Ausgaben für Werbung wird vermutlich in einem
Nullsummen-Spiel im Wettbewerb um bestehende Marktvolumina verbraucht (vgl.
Reinhardt, U. E. 2004).
14
Abbildung 1: Verteilung der Werbeausgaben für verschreibungspflichtige Medikamente in den USA (Mrd. US $)
$12
$10,5
$10
$8,0
$8
$7,2
$6,6
$6,0
$6
$5,5
$4,9
$4,8
$4,1
$4
$4,3
$3,4
$3,0
$2,5
$2,7
$1,8
$2
$0,8
$0,5
$1,1
$0,5
$1,3
$0,5
$0,5
$0,5
$0,4
$0
1996
1997
1998
Vertriebswert Arztmuster
Direct-to-consumer advertising
1999
2000
2001
Detailing
Anzeigen in Fachzeitschriften
Quelle: Kaiser Family Foundation (2003); www.kff.org/rxdrugs/6084-index.cfm
Dr. Etgeton beschreibt in seinem Interview über seine Erfahrungen bei der Deutschen AIDS-Hilfe in Bezug auf den AIDS-Kongress 1999 in Essen, dass ihnen „damals das Problembewusstsein gefehlt“ hätte. Die Veranstalter hätten sich auf
Wunsch der Betroffenen für die Zusammenlegung der Ärzte- und Patientenkongresse engagiert. Eine derartige Aktion würde er heute nicht mehr unterstützen. „Die Industrie erhält auf diese Weise ungehindert Gelegenheit, die Betroffenen zu bewerben
und somit das Arzneimittelwerbegesetz zu unterlaufen.“ Ein ähnlicher Bewusstwerdungsprozess kann bei vielen der in den Interviews befragten Mitglieder von Selbsthilfegruppen und –organisationen beobachtet werden. Sie sehen sich durch gezielte
Nachfragen und einen steigenden Anteil an Pressemitteilungen mit dem Vorwurf kon15
frontiert, sie würden „sich vor den Karren der Industrie spannen lassen“ (Feyerabend,
2005).
Dr. Etgeton unterstreicht diese Problematik und bekräftigt, dass es geradezu die Aufgabe „der Dachverbände (sei), dieses Problembewusstsein zu schärfen. Teil dieses
Prozesses könnte durch eine Selbstverpflichtungserklärung in Gang gebracht werden.“ Er sieht im Prozess der Bewusstmachung, welcher zum Teil durch eine Selbstverpflichtungserklärung geleistet werden könnte, eine Möglichkeit, den Umgang mit
Pharma-Sponsoring zu regeln.
Für die Selbsthilfe-Spitzenverbände (BAGS, Paritätischer Wohlfahrtsverband und
DAG SHG, DSH) stellt eine Selbstverpflichtungserklärung jeder Selbsthilfegruppe
und Selbsthilfeorganisation ein wichtiges Instrumentarium dar, ihre Unabhängigkeit
nach innen und außen zu manifestieren. Ein solches Instrument sei in ihrem eigenen
Interesse und müsse daher von der Organisation selbst erstellt werden. Seit mehreren Jahren (2000) existiert eine Erklärung der BAGS, deren Inhalte viele Selbsthilfeorganisationen übernommen haben. Eine inhaltliche, von den Krankenkassen
ausgehende Erklärung sehen die Spitzenverbände der Selbsthilfe als konfliktreich
an, insbesondere dann, wenn Fortbestand und Höhe der Förderung in Zukunft davon
abhängen sollten.
Der einstige, langjährige Herausgeber des „British Medical Journals“ (BMJ), Richard
Smith, betont den Einfluss der pharmazeutischen Industrie auf Veröffentlichungen
medizinischer Studien in Fachzeitschriften. Dabei sieht Smith das Problem weniger in
den direkten Werbeauftritten, für jeden erkennbar sind, als in der Veröffentlichung
von Originalstudien, meist auf höchstem Evidenzniveau (RCT) durchgeführt und
durch die Industrie finanziert. Allein das Erscheinen einer Originalstudie in einer renommierten Fachzeitschrift sei für viele Leser ausreichender Qualitätsnachweis.
Allerdings erstellten und veröffentlichten viele Wissenschaftler ihre Studienergebnisse industriefreundlich. Selbst Peer Reviews könnten dieses Problem nicht lösen.
Selbstkritisch fordert Smith, Fachzeitschriften sollten Studien kritisieren, nicht lediglich veröffentlichen (Smith, 2005). Ebenso beziehen medizinische Fachgesellschaften
Pharma-Gelder (Meyer, 2005), entsprechend verändert fallen die Studienergebnisse
und Therapieempfehlungen in den Leitlinien aus. (JAMA, 2002) Auch bei den publizierenden Wissenschaftlern ist der Bewusstseinsgrad über eine mögliche Pharmabeeinflussung gering: In einer kanadischen Studie wurde deutlich, dass lediglich 7%
der Leitlinien-erstellenden Autoren glaubte, ihre Beziehungen zur Pharmaindustrie
16
könnten ihre eigenen Empfehlungen beeinflussen, 19% unterstellten den Kollegen
durch Industriekontakte beeinflusst zu sein (JAMA, 2002). Als Referenten zu pharmagesponserten Kongressen geladene Wissenschaftler erhalten nebst Einladung und
Flugticket die industriegefertigte Power-Point-Präsentation für ihren Vortrag mitgeliefert (Kleine-Tebbe im Interview). In England sind seit Januar 2006 die PharmaUnternehmen verpflichtet, ihre Sponsoring-Verbindungen offen zu legen (Day, 2006).
Die gesundheitsbezogene Selbsthilfe hat zweifelsohne eine entscheidende Funktion
und Aufgabe in der gesundheitlichen Versorgungslandschaft. Sie ist weit ausdifferenziert in ihrer Ausgestaltung und in ihrem Leistungsspektrum. Dazu zählen medizinisch orientierte Dienstleistungen wie auch politische Interessenvertretung. Sie
kooperiert mit professionellen Strukturen und erfährt durch das Mitspracherecht in
den Gremien des G-BA Beraterfunktion und Einfluss auf Entscheidungen auf höchster politischer Ebene eine hohe Wertschätzung. Diese gewollte politische und gesellschaftliche Aufwertung der Selbsthilfe sollte einerseits zu einer gesetzlich geregelten
und gesicherten Finanzierung verhelfen und sie andererseits in die Verantwortung
setzen, Transparenz nach „innen“ und „außen“ zu gewährleisten. Bislang laufen Entscheidungen über Annahme und Anwendung von Pharmageldern zumeist in den
Geschäftsleitungen der Selbsthilfeorganisationen ab, die Regionalgruppenmitglieder
sind in den meisten Fällen nicht darüber informiert. Über eine Offenlegung ihrer Bezüge von Pharmageldern kann für sämtliche Mitglieder ein Awareness- Prozess in
Gang gesetzt werden, der bei ihren Entscheidungen eine wichtige Rolle spielen
kann.
Eine weitere Verantwortung der Selbsthilfeorganisationen besteht darin, Informationsquellen transparent zu machen. Sind Arzneimittel-bezogene Publikationen in Mitgliederzeitschriften und Web-Sites pharmagesponsert, so ist es Aufgabe der Leitung
der Selbsthilfeorganisationen, dies für alle Leser sichtbar zu machen. Nur so können
Betroffene unabhängig über bestehende Therapieoptionen informiert werden. Pharma-Werbung muss als solche erkennbar sein und nicht unter dem Deckmantel der
Betroffenen-Beratung „verkauft“ werden. Vermischungen von pharma- gesponserter
Werbung und objektiver Information sind irreführend, da der Absender nicht eindeutig
identifizierbar ist. Die gleiche Vorgehensweise ist bezogen auf pharmagesponserte
Mitglieder der wissenschaftlichen Beiräte oder anderer Referenten auf Vorträgen anzuwenden. Bestehende Verträge zur Industrie müssen aufgedeckt werden (public
17
disclosure), damit Interessenten an der Selbsthilfegruppe entscheiden können, welcher Organisation oder Gruppe sie sich anschließen..
Die Selbsthilfe steht weiterhin in der Verantwortung, Transparenz nach außen zu
schaffen. 20% ihrer Förderung werden durch gesetzlich krankenversicherte Bürgerinnen und Bürger getragen. Die zusätzliche Finanzierung durch die Industrie kann
sich zu Lasten der Solidargemeinschaft auswirken, wenn hierfür Gegenleistungen
erwartet werden. Diese könnten z.B. in einer breiten Bewerbung für neue und teure,
aber keineswegs nützlichere Arzneimittel liegen, das gleich gilt für Anwendungen für
Mittel, die medizinisch nicht indiziert oder im „off-label-use“ verordnet werden. Transparenz kann über eine Selbstverpflichtungserklärung geschaffen werden. Sie hilft
Abhängigkeiten zu erkennen und zu benennen und möglicherweise Begehrlichkeiten
zu widerstehen. Sie wird die Demokratie innerhalb der Selbsthilfe stärken und beiden
Seiten, der Selbsthilfe und der Industrie, Rechtssicherheit geben sowie die Möglichkeit, sich gar nicht erst dem Vorwurf der Korruption auszusetzen.
I.4 Die Finanzierung der Selbsthilfe nach SGB V
Die GKV verwaltet die Versichertengelder treuhänderisch und hat daher natürlich zu
prüfen, ob die Mittel zur Unterstützung und Förderung der Selbsthilfe so ausgegeben
werden, dass eine neutrale und unabhängige Patienteninformation gewährleistet ist.
Bei der Mittelvergabe nach § 20 c SGB V (pro Versichertem 0,55 Euro) ist daher auf
Transparenz insbesondere im Hinblick auf die Fördergelder und die Kooperationsbeziehungen und –abkommen mit Wirtschaftsunternehmen allgemein und mit Unternehmen des pharmazeutisch-industriellen Komplexes allgemein zu achten. Dies
sollten die Selbsthilfegruppen übrigens als selbstverständliche Aufgabe und Berichtsverpflichtung nicht nur gegenüber der GKV, sondern auch und vor allem gegenüber den eigenen Mitgliedern erachten.
Sicher ist, dass die von der Selbsthilfe insgesamt benötigten finanziellen Mittel nicht
von der GKV alleine kommen können. Auch andere Sozialversicherungsträger und
die „öffentliche Hand“ auf Landes- und auf Bundesebene sind hier in der Pflicht, eine
ausreichende Ausstattung der Selbsthilfe sicher zu stellen. Nur dann wird es auf
Dauer keine Notwendigkeit der Selbsthilfe geben, zusätzliche Finanzierungsquellen
von Anbieterseite in Anspruch zu nehmen, die immer mit der Gefahr verbunden sind,
18
die eigene Autonomie, Neutralität und Unabhängigkeit aufs Spiels zu setzen, wenn
nicht sogar aufzugeben.Die Einflüsse auf die Selbsthilfegruppen durch einzelne
Pharmaunternehmen oder durch Hilfsmittel-anbietende Hersteller sind immer wieder
in einzelnen journalisti schen Beiträgen aufgedeckt worden ((z.B. in der ZEIT durch
Martina Keller am 19.5.2005 „Geben und Nehmen“ oder Erika Feyerabend im BioSkop-Forum: „Ungleiche Partner Geld, Wissen, Marketing – Wie Pharmaunternehmen und Selbsthilfegruppen zunehmend zusammenarbeiten“ Nr. 13, März 2001,
Seiten 8-10). Auch der GKV sind diese Vorgänge natürlich nicht verborgen geblieben, zumal sich z.B. einzelne Selbsthilfe- oder Patientengruppen wie „mamazone“,
die mit erheblicher finanzieller Unterstützung z.B. von der Firma Hoffman LaRoche
ihren Haushalt bestreiten, ganz offensiv für die schon weiter oben problematisierte
direkt an die Verbraucherinnen und Verbraucher gerichtete Werbung und Information
einsetzen. In letzter Zeit erreichen die Kassen sogar mehr und mehr Hinweise auf
solche „unangemessene“ Kooperationsformen, die zumeist nicht einmal transparent
gemacht werden. Diese Hinweise kommen zumeist aus dem Kreis einzelner Selbsthilfe- oder Dachorganisationen und sind verbunden mit dem Signal, dass aus ihrer
Sicht einer „Selbstverpflichtungserklärung“ dringend überfällig erscheint.
Es sind auch zusätzliche Lösungsstrategien denkbar, auf die Christoph Kranich, Fachabteilungsleiter Gesundheitsdienstleitungen der Verbraucherzentrale Hamburg, in
seinem Interview hinweist: Er ist sehr vertraut mit dem Phänomen des PharmaSponsorings bei Selbsthilfe-Organisationen und plädiert für eine so genannte „Poolfinanzierung": Alle Akteure zahlen in einen großen Topf, werden namentlich ausgewiesen, und die Selbsthilfe-Organisationen entscheiden über den
Verwendungszweck. Eine derart paritätische Finanzierung erspare den SelbsthilfeOrganisationen die gängigen Gegenleistungen, wie konkretes Marketing für bestimmte Produkte und Image-Pflege der Firmen.
In Hamburg gäbe es diese Poolfinanzierung und paritätisch besetzte Gremien in
Form eines „Selbsthilfegruppentopfes“ bereits seit 15 Jahren. Sie funktioniere gut,
allerdings ohne Beteiligung der Industrie. Sie würden zwar stark umworben, hätte
sich jedoch bislang erfolgreich fernhalten können. Herr Kranich verweist auf den Unterschied zwischen den ehrenamtlich geführten Selbsthilfe-Gruppen, die nur mit
knappen finanziellen Ressourcen ausgestattet seien, und den großen Verbänden,
den Selbsthilfe-Organisationen, die über ganz andere Einnahmequellen verfügten.
19
All die genannten Zusammenhänge haben die „Selbsthilfe-Fördergemeinschaft der
Ersatzkassen“ veranlasst, diese Thematik in einem Projektbericht am Beispiel einzelner Krankheitsbereiche näher zu durchleuchten, um Typologien der Förderung
oder des Sponserings der Selbsthilfe in diesem vorliegenden Fall durch pharmazeutische Hersteller erstellen zu können (Unterstützung auf Kongressen, Vermittlung von
Referenten, Werbung in Mitgliederzeitschriften, Aufstellen von Info-Ständen auf Veranstaltungen, Anmieten der Räume usw.). Ziel dieses Projekts war es, mit der
Selbsthilfe auf der Basis der Ergebnisse eines solchen Berichts in eine konstruktive
Diskussion einzutreten, um gemeinsam Rahmenbedingungen für die künftige Förderpraxis von Seiten der Kassen aufzustellen, damit beiderseitig in Zukunft der Eindruck der Intransparenz vermieden werden kann: Auf der einen Seite kritisieren die
Selbsthilfegruppen die nicht immer erkennbaren Entscheidungsgründe für eine Förderung von Seiten der Kassen („Förderung nach Gutsherrenart“), auf der anderen
Seite kritisieren die Kassen eine Antragspraxis, in der Haushaltspläne oder Kooperationsverträge nur ungenügend transparent gemacht werden. Um in dem Förderverfahren aber zu einem für alle Seite akzeptablen Procedere zu kommen, soll dieser
Projektbericht als Standortbestimmung und gleichzeitig als Gesprächsangebot dienen: Fragen wie
•
„Wo sind Defizite in der Transparenz erkennbar, welche Aspekte müssen bei
Kooperationsvereinbarungen berücksichtigt werden und wie kann es Selbsthilfe auch auf Dauer gelingen, das so gewichtige Image von Neutralität, Patientenorientierung und Autonomie selbst dann aufrecht zu erhalten, wenn
Finanzmittel von Wirtschaftsunternehmen wie der Pharmaindustrie eingeworben werden?“
sollten in einem offenen Diskurs beantwortet und mit einer allseits verabschiedeten
Strategie für die Zukunft antizipiert werden.
Der Projektbericht kann nur einzelne Beispiele nennen, die nicht einmal als stellvertretend und schon gar nicht repräsentativ für alle Selbsthilfegruppen oder Krankheitsbereiche gelten dürfen. Erkennbar ist aber, dass vor allem solche
Selbsthilfegruppen für Pharmahersteller interessant sind, die chronische und/oder
teure Erkrankungen vertreten, zu deren Behandlung auch Arzneimittel gehören
(Krebs, Rheumatoide Arthritis, Osteoporose). Dies ist dann von besonderem Interesse, wenn Veränderungen in der Arzneimitteltherapie durch neuzugelassene Arznei20
mittel bevorstehen (z.B. Biologicals bei der rheumatoirden Arthritis oder - nach der
kritischen Bewertung der Hornonpräparate - die Bisphosphonate für die Therapie der
Osteoporose). In solchen Fällen besteht die Gefahr der Instrumentalisierung von
Selbsthilfegruppen und Patientinnen und Patienten, um die Durchdringung des Marktes mit den neuen Arzneimitteln zu beschleunigen.
Wenn daher in diesem Projektbericht einige Beeinflussungstypologien kritisch kommentiert werden, ist dies nicht als grundsätzliche Kritik und schon gar nicht als Diskreditierung der Selbsthilfe zu interpretieren, sondern mehr als Aufforderung, zu
Lösungen zu kommen, die im Förderalltag berücksichtigt werden sollten, damit die
Selbsthilfe ihren Status als unabhängig und neutral bewahren kann. Alle Lösungen
sollen daher dazu dienen, der Selbsthilfe eine stabile Basis für die Zukunft zu sichern. Eine von allen Beteiligten getragene Selbstverpflichtungserklärung wäre in
diesem Zusammenhang eine denkbare Strategie.
21
II. Strukturen der gesundheitsbezogenen Selbsthilfe in Deutschland
II. 1 Entwicklung
Die gesundheitsbezogene Selbsthilfebewegung in Deutschland hat sich in den letzten 30 Jahren seit ihrer Aufbruchzeit Anfang der 70er Jahre strukturell, numerisch
und in ihrer Zielsetzung deutlich gewandelt. Zu jener Zeit rekrutierten sich ihre Mitglieder ausschließlich aus ehrenamtlich tätigen Betroffenen mit dem gemeinsam erklärten Ziel der besseren Krankheitsbewältigung, der damit möglicherweise verbundenen Veränderung der persönlichen Lebensumstände und sozialer Kompetenzentwicklung außerhalb der etablierten Medizinstruktur. Ihre wachsende Bedeutung für
die Betroffenen und die zunehmende gesellschaftliche Anerkennung verhalfen der
Selbsthilfe zu einen enormen Zulauf und Aufschwung. Folgende Faktoren können für
diese Entwicklung ursächlich beschrieben werden:
•
Veränderungen sozialer Netzwerke wie Familie, Nachbarschaft, Kirchengemeinden oder Sportvereine
•
Zunehmende Vernachlässigung psycho-sozialer Bedürfnisse behinderter und chronisch kranker Menschen
•
Zunahme chronischer Erkrankungen durch verbesserte Therapiemaßnahmen und steigende Lebenserwartung
•
Zunehmende Ausdifferenzierung und Spezialisierung einzelner
Krankheitsbilder
•
Unzulänglichkeiten in der medizinischen Versorgung und Rehabilitation
•
Bewusstseinswandel und Vertrauenseinbuße gegenüber etablierten
Medizinstrukturen
(Trojan,1986; Englert,2005; Hundertmark-Mayser,2005)
Die Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in den 80er Jahren sowie frühe Forschungsprojekte zum Thema Selbsthilfe an den Universitäten Gießen
im Jahre 1977 (Moeller, 1992;1996) und Hamburg im Jahre 1979 (Trojan, 1986) begünstigten die Gründung erster Selbsthilfekontaktstellen. Diese haben entscheidend
zur Entwicklung und Stabilisierung der beteiligten Selbsthilfegruppen und Selbsthilfeorganisation beigetragen (Matzat, 2001). Das erweiterte Profil und Aufgabenspekt22
rum der Selbsthilfe und die Mitwirkung bei Fragen der Versorgung sowie die Kooperation mit professionellen Strukturen bedingten vielfach eine Veränderung ihrer Arbeits- und Organisationsstrukturen. An die Stelle ehrenamtlich tätiger Betroffener
traten vermehrt Hauptamtliche in den Dienst der Selbsthilfe, die in der Regel nicht
selbst von einer chronischen Erkrankung oder Behinderung betroffen waren. Zu
dem hat sich die Selbsthilfe in den letzten 10 Jahren zunehmend in einer landesund bundesweit institutionalisierten Verbandsstruktur organisiert. All diese Veränderungen bedingen einen erhöhten Verwaltungsaufwand und damit einhergehend einen erhöhten Finanzierungsbedarf, welcher mit dem bisherigen Mittelzufluss nur
unzureichend abzudecken ist.
Die gesundheitsbezogene Selbsthilfe nimmt heute einen festen Platz im deutschen
Gesundheitssystem ein. Bei vielen Erkrankungen oder Behandlungsabläufen ist die
Kooperation mit oder der Verweis auf Selbsthilfegruppen nicht mehr wegzudenken –
auch Ärztinnen oder Ärzte verweisen auf deren Kompetenz und Mithilfe. In Studien
aus den Jahren 2002 und 2004 weisen zwei Drittel der Mitglieder von Selbsthilfegruppen eine höhere Bewältigungskompetenz gegenüber ihrer Erkrankung und eine
verbesserte Compliance auf, als Patienten außerhalb von Selbsthilfegruppen (Borgetto, 2004, 2002; Herzog-Diem, 2004). Die Selbsthilfe hat daher verdientermaßen
Einzug gefunden in bundesweite Plattformen und Gremien wie z.B. das Forum Prävention und Gesundheitsförderung und das Patientenforum und seit dem Inkrafttreten des GKV-Modernisierungsgesetzes im Januar 2004 in die Gremien des
Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA).
II. 2 Die Verbreitung der Selbsthilfe
Nach empirisch gestützten Schätzungen existierten im Jahre 2005 rund 50.-70.000
regionale Selbsthilfegruppen zu nahezu allen chronischen Krankheiten und Behinderungen, in denen ca. 3 Millionen Betroffene oder ihre Angehörigen organisiert
sind. Von den regionalen Selbsthilfegruppen vollziehen sich fließende Übergänge zu
den Selbsthilfeorganisationen. Auf der Landesebene existieren ca. 800-1000
Selbsthilfeorganisationen, auf der Bundesebene ca. 300. Hinzu kommen auf der
regionalen Ebene noch rund 280 Selbsthilfekontaktstellen, die in 15 Landesarbeits23
gemeinschaften der Selbsthilfekontaktstellen und 3 landesweiten Koordinationsstellen organisiert sind und die auf Bundesebene durch die Nationale Kontakt- und Informationsstelle zur Anregung und Unterstützung von Selbsthilfegruppen (NAKOS)
und durch die Deutsche Arbeitsgemeinschaft Selbsthilfegruppen (DAG SHG) vertreten werden.
Die regional- und landesorganisierten Selbsthilfezusammenschlüsse werden auf
Bundesebene von folgenden Spitzenorganisationen der Selbsthilfe vertreten:
•
Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe von Menschen mit Behinderungen
und chronischen Erkrankungen und ihren Angehörigen e.V. (BAG Selbsthilfe)
•
Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband (DPWV) – Gesamtverband e.V.
•
Deutsche Arbeitsgemeinschaft Selbsthilfegruppen e.V. (DAG SHG)
•
Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e.V. (DHS)
Diese Spitzenorganisationen der Selbsthilfe sind für ihre Mitglieder nach außen aktiv. Sie leisten Patientenaufklärung und Öffentlichkeitsarbeit und nehmen über ihre
Beteiligung in entsprechenden Gremien Einfluss auf die Gesundheits- und Sozialpolitik.
II. 3 Begriffsbestimmungen
Nach den gemeinsamen und einheitlichen Grundsätzen der Spitzenverbände der
Krankenkassen zur Umsetzung von § 20 Abs. 4 SGB V werden Selbsthilfegruppen,
-organisationen und –kontaktstellen wie folgt definiert (Arbeisgemeinschaft der Spitzenverbände der Krankenkassen, Mai 2006):
II 3.1 Selbsthilfegruppen
Selbsthilfegruppen sind freiwillige Zusammenschlüsse von betroffenen Menschen
auf örtlicher/regionaler Ebene, deren Aktivitäten sich auf die gemeinsame Bewältigung von einer bestimmten Krankheiten und/oder psychischen Problemen richten,
24
von denen sie entweder selbst oder als Angehörige betroffen sind. Das Ziel ihrer
Arbeit ist die Verbesserung der Behandlungs- und persönlichen Lebensqualität sowie die Überwindung der mit vielen chronischen Krankheiten und Behinderungen
einhergehenden Isolation und gesellschaftlichen Ausgrenzung. Sie wirken im örtlichen/regionalen Bereich in ihr soziales und politisches Umfeld hinein. Ihre Arbeit ist
nicht auf materielle Gewinnerzielung ausgerichtet. In der regelmäßigen Gruppenarbeit geben Selbsthilfegruppen Hilfestellung und sind Gesprächspartner für ihre Mitglieder sowie gegenüber externen Ansprechpartnern. Ihre Arbeit ist geprägt von
gegenseitiger Unterstützung und dem Erfahrungsaustausch über den Krankheitsund Behandlungsverlauf. Selbsthilfegruppen werden nicht von professionellen Helfern (z.B. ÄrztInnen, TherapeutInnen, anderen Medizin-, Gesundheits- oder Sozialberufen) geleitet. Das schließt eine gelegentliche Hinzuziehung von Experten zu
bestimmten Fragestellungen nicht aus.
II. 3.2 Selbsthilfeorganisationen
Zu Selbsthilfeorganisationen/-verbänden haben sich Selbsthilfegruppen auf Landesoder Bundesebene zusammengeschlossen, die auf ein bestimmtes Krankheitsbild,
eine gemeinsame Krankheitsursache oder eine gemeinsame Krankheitsfolge spezialisiert sind. Selbsthilfeorganisationen sind Organisationen mit überregionaler Interessenvertretung, meist größeren Mitgliederzahlen, teilweise mit hauptamtlichem
Personal, bestimmter Rechtsform (zumeist als eingetragener Verein), stärkeren
Kontakten zu Behörden, Sozialleistungsträgern, Trägern der Freien Wohlfahrtspflege, Leistungserbringern usw. Als Aufgaben der Selbsthilfeorganisationen sind beispielhaft zu nennen: Interessenvertretung im gesundheits- und sozialpolitischen
Bereich, Herausgabe von Medien zur Information und Unterstützung der betroffenen
Menschen sowie der ihnen nahe stehenden weiteren Organisationen, Durchführung
von Lehrgängen, Seminaren, Konferenzen und Fachtagungen. Neben Dienstleistungen für die eigenen Mitglieder erbringen sie Beratungs- und Informationsleistungen für Dritte. Abhängig vom jeweiligen Selbstverständnis und vom Verbreitungsgrad einer chronischen Erkrankung oder Behinderung haben sich unterschiedliche
Verbands- bzw. Organisationsstrukturen herausgebildet. Dementsprechend weisen
25
Bundesorganisationen nicht immer eigenständig ausgebildete Strukturen auf der
Landes- und der Orts-/Regionalebene auf.
II. 3.3 Selbsthilfekontaktstellen
Selbsthilfekontaktstellen sind örtlich oder regional arbeitende, professionelle Beratungseinrichtungen mit hauptamtlichem Personal. Sie stellen Bereichs-, Themenund Indikationsgruppen übergreifend Dienstleistungsangebote zur methodischen
Anleitung, Unterstützung und Stabilisierung von Selbsthilfegruppen bereit. Sie unterstützen aktiv bei der Gruppengründung und vermitteln oder bieten z.B. infrastrukturelle Hilfen in Form von Gruppenräumen, Beratung oder Praxisbegleitung von
Gruppen an. Eine Hauptzielgruppe von Selbsthilfekontaktstellen sind Bürger, die
noch nicht Teilnehmer bzw. Mitglieder von Selbsthilfegruppen sind, sondern sich
über Möglichkeiten und Grenzen der Selbsthilfe informieren und beraten lassen,
z.B. über das Spektrum regionaler Selbsthilfegruppen. Selbsthilfekontaktstellen
stärken die Kooperation und Zusammenarbeit von Selbsthilfegruppen und Professionellen, vermitteln Kontakte und Kooperationspartner und fördern die Vernetzung
der Angebote in der Region. Selbsthilfekontaktstellen verstehen sich als Agenturen
zur Stärkung der Motivation, Eigenverantwortung und gegenseitigen freiwilligen Hilfe. Sie nehmen eine Wegweiserfunktion im System der gesundheitsbezogenen und
sozialen Dienstleistungsangebote wahr und können dadurch zur Verbesserung der
sozialen Infrastruktur beitragen (Arbeitsgemeinschaft der Spitzenverbände der
Krankenkassen, 2006).
II.4 Wer gründet Selbsthilfegruppen und -organisationen?
In der Regel gründen Betroffene oder ihre Angehörigen Selbsthilfegruppen und verleihen dadurch ihren Bedürfnissen und Zielen Ausdruck.
In den letzten Jahren ist zu beobachten, dass auch Ärzte oder Ärzteverbände oder
Wirtschaftsunternehmen (insbesondere die Pharmaindustrie) an der Gründung von
Selbsthilfegruppen und -organisationen beteiligt sind oder selber eine aktive Gründungsrolle übernehmen. So gab es Hinweise darauf, dass die „Arbeitsgemeinschaft
Agenda 5.11.“ in der Kassenärztlichen Vereinigung Hesser um Selbetshilfegruppen26
Mitglieder wirbt (Roth, 2006) und das eine Gruppe von Schmerztherapeuten aus der
Nähe von Fulda die Selbsthilfegruppe „Notbremse“ ins Leben gerufen hat. (Lenz,
2005). So wurde die Web-Site www.selbsthilfe.de ursprünglich vom Bundesverband
der Pharmazeutischen Industrie (BPI) installiert (Franke, 2004; heute unterhalten von
einer Agentur medandmore communication, mit Buttons von pahramzeutischen Unternehmen wie B.R.A.H.M.S. und Hexal), die Domaine www.selbsthilfegruppen.de
gehörte bis Mai 2005 der BASF AG (Feyerabend, 2005). Die Pharmaunternehmen
Bristol-Meyers-Squibb und Roche haben den Versuch unternommen, Selbsthilfegruppen zum Thema Darmkrebs zu installieren, allerdings wohl ohne Erfolg (Keller,
2005). Die Firma Roche führte 1999 mehrere Brustkrebs-Selbsthilfegruppen zusammen und gründete damit die „Koalition Brustkrebs“. „Die Firma Roche war Hauptakteur, als im Jahre 1999 aus der Zusammenführung einzelner Selbsthilfegruppen
gegen Brustkrebs die „Koalition Brustkrebs“ gegründet wurde. Es entstand ein für
zwei Jahre vertraglich geregeltes Sponsoring Verhältnis. Bei bundesweiten Mitgliederversammlungen zahlte die Firma Roche die Anreise 1. Klasse, die Unterbringung
in Luxushotels und stellte die Referenten. In der Folgezeit wurden die Mitglieder der
zunehmenden Einflussnahme durch den Konzern gewahr und überdrüssig und forderten die Loslösung. Dies führte zum Streit und zur Gründung der pharmaunabhängige Stiftung Koalition Brustkrebs“, so Frau Dr. med. Angela Spelsberg,
Ärztliche Leiterin des Tumorzentrums Aachen und Mitglied bei der Stiftung Koalition
Brustkrebs, in einem Interview zu diesem Projekt. Ähnlich äußert sich Dr. med. Arne
Schäffler, Arzt und Vorstandsmitglied bei Transparency International Deutschland,
übrigens eine Organisation, die auch noch einen kleinen Anteil ihres Haushalts (ca.
3%) durch finanzielle Zuwendungen der Firma Schering bestreitet. Herr Schäffler
betont die absolute Notwendigkeit der Transparenzschaffung in Bezug auf die Herkunft von Informationen. Wenn die Pharmaindustrie inhaltlich und/oder mittels Sponsoring an Publikationen oder Vorträgen beteiligt sei, müsse das deklariert,
transparent gemacht werden. Die Betroffenen ständen der Pharmaindustrie kritisch
gegenüber, sie hätten wenig Vertrauen auf Grund des schlechten Images der Pharmaindustrie. Sei der Absender bekannt, würden sie sich zurückhaltend verhalten.
Genau diese Kenntnis nutze die Industrie, indem sie mittels subtiler Marketingstrategien, z. B. das Heilmittelwerbegesetz unterwandere, und so gezielt eine Vermischung
von objektiver Information und Vermarktungsstrategie betreibe. Als Beispiel spricht
Herr Schäffler das „Überlebensbuch Brustkrebs“ der Autorinnen Rita Rosa Martin von
27
„Breast Health“ und Ursula Goldmann-Posch, Mitgründerin von mamazone, an. Beide Brustkrebs Selbsthilfegruppen/-organisationen würden mit Unterstützung der Firma Roche gegründet und werden durch sie bis heute finanziell unterstützt. In dem
Buch würden Krebsmedikamente mit Markennamen, Herstellern und Preisen benannt. Den Frauen würde suggeriert, die neuesten teuersten Substanzen seien auch
die wirksamsten. Die Firma Roche als finanzieller Unterstützer der Publikation träte
nicht in Erscheinung. Überhaupt hätten die Pharmahersteller kein Interesse Transparenz zu schaffen. Sie würden die Konkurrenz untereinander fürchten. Sollten sie ihre
Strategien offen legen müssen , „könnten sie nur verlieren“. Von daher sei es Aufgabe der Selbsthilfeorganisationen, Transparenz über Sponsoring-Aktionen mit der
Pharmaindustrie zu schaffen, um so einen Awareness-Prozess ihrer Mitglieder anzustoßen. Nur so könne einer innerverbandlichen Demokratieaushöhlung entgegengewirkt werden. Eine Selbstverpflichtungserklärung der Selbsthilfegruppen und –
organisationen sei hierfür ein wichtiger Schritt, allerdings müssten die Kriterien greifbar und nachhaltig sein.
II. 5 Zur aktuellen Finanzierungssituation der gesundheitsbezogenen Selbsthilfe
Die finanzielle Förderung der gesundheitsbezogenen Selbsthilfe erfolgt über Zuschüsse durch die öffentliche Hand (Bund, Länder, Kommunen), durch die Sozialversicherungsträger (GKV und GRV) und durch private Geldgeber in Form von
Spenden, Sponsoring und Stiftungen.
Die Selbsthilfe-Förderung der öffentlichen Hand ist gesetzlich nicht geregelt und
stellt daher eine freiwillige Leistung dar. Auf Bundesebene erfolgt die Förderung
vornehmlich durch das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) und das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ). Jedes Jahr wird
erneut über die Gesamtfördersumme im Haushaltsgesetz parlamentarisch entschieden. Für die Jahre 2005 und 2006 betrug das Fördervolumen des BMG jeweils 2,5
Mio. €, davon wurden 2,3 Mio. € im Jahre 2005 genehmigt und als projektbezogene
28
Förderung den bundesweiten Dachverbänden (BAGS, DAG SHG, NAKOS) und einzelnen Selbsthilfeorganisationen zur Verfügung gestellt (Interview BMG, 2006).
Die Selbsthilfe-Förderung durch die Bundesländer und Kommunen erfolgt uneinheitlich und sinkt in den letzten Jahren stetig (siehe Tabelle 1, NAKOS 2005). Betrug
die Förderung im Jahr 2001 für die Selbsthilfe insgesamt noch 14,7 Mio. €, so betrug sie im Jahre 2005 lediglich 12,1 Mio. €. Der bundesweite Durchschnitt für das
Jahr 2005 liegt bei 0,15 € je Einwohner, zwischen den einzelnen Bundesländern
schwankt dieser Wert erheblich. Diese zunehmend finanziell angespannte Situation
der Selbsthilfeförderung kommt durch eine eher ungeregelte und rechtlich nicht gesicherte Förderstruktur zustande (NAKOS Paper 5, 2005).
29
Tab. 1: Ausgaben in Millionen Euro für die Selbsthilfeförderung durch die
Bundesländer, die Gesetzlichen Krankenkassen und die Deutsche
Rentenversicherung Bund 1997 – 2005
Förderung der Selbsthilfe 1997-2005
1997
1998
1999 2000 2001 2002 2003
2004
2005
Ministerien der Bundesländer 1
Gesamt
12,5
15,0
14,7
12,9
12,1
für SHG
5,2
6,1
5,9
5,4
5,4
für SHO
2,4
3,7
3,9
3,1
2,8
für SHK
4,9
5,2
4,8
4,4
3,9
Gesetzliche Krankenversicherung
Für Selbsthilfe insgesamt 2
12,8
8,4
7,5
9,6
15,7
21,5
24,2
28,0 5
26,4
Davon für Selbsthilfekontaktstellen 3
0,3
0,3
0,3
0,7
1,9
2,7
3,7
4,2
Deutsche Rentenversicherung Bund 4
keine
keine
3,4
3,4
Angabe Angabe
3,2
3,2
3,2
nicht
bekannt
SHG = Selbsthilfegruppen, SHO = Selbsthilfeorganisationen, SHK = Selbsthilfekontaktstellen
Quellen:
1
NAKOS PAPER 5, 2-jährliche Befragung
2
BMGS: KJ1
3
NAKOS-Befragung von Selbsthilfekontaktstellen
4
Deutsche Rentenversicherung Bund (ehem. BfA)
5
Amtliche Statistik, KV 45/IV, Quartal
© NAKOS 2005
http://www.nakos.de, Dezember 2005
30
Die Selbsthilfe-Förderung durch die Sozialversicherungsträger unterteilt sich in eine
rechtlich gesicherte und verpflichtende „Soll-Regelung“ durch die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) und in eine freiwillige „Kann-Bestimmung“ durch die Gesetzliche Rentenversicherung (GRV), die Gesetzliche Unfallversicherung (GUV) und der
Deutsche Rentenversicherung Bund (ehemals: Bundesanstalt für Arbeit). Seit der
Novellierung des §20 Abs. 4 im SGB V mit der Gesundheitsreform im Jahre 2000
hat die GKV Verpflichtung, pro Versichertem und Jahr eine vorgeschriebene Summe unter Berücksichtigung der jährlichen Dynamisierung zu vergeben („soll“Regelung). Für das Jahr 2005 betrug der Richtwert 0,54 € je Versicherten, das ausgeschüttete Fördervolumen erreichte knapp 0,40 € pro Versicherten, allerdings mit
starken Unterschieden zwischen den einzelnen Kassen und Kassenarten. Die derzeit noch unzureichende Nutzung des Fördervolumens liegt in strukturellen Gegebenheiten der Förderpraxis begründet. Die Bewilligungsverfahren erfolgten in den
260 Einzelkassen (2005) bislang uneinheitlich und oftmals wenig transparent für die
Antragsteller. Die Förderung kann sowohl projektbezogen wie auch pauschal erfolgen und verteilt sich auf vier Förderbereiche (Selbsthilfeorganisationen auf Bundesund Landesebene, regionale Selbsthilfegruppen, Selbsthilfekontaktstellen) und drei
Förderebenen (Bund, Länder, Kommunen). Voraussetzung für den Erhalt einer Förderleistung ist das erklärte Ziel der Selbsthilfegruppe oder Selbsthilfeorganisation,
die Sekundärprävention oder Rehabilitation in dem jeweiligen Krankheitsbereich zu
fördern. Seit der Novellierung des § 20 Abs. 4 SGB V hat die Höhe der Förderbeiträge durch die GKV kontinuierlich zugenommen (Hundertmark-Mayser et al., 2004).
Auf der Landes- und der Bundesebene haben sich inzwischen mehrere Krankenkassen oder Krankenkassenverbände zu so genannten Förderpools oder Fördergemeinschaften zusammengeschlossen und fördern darüber gemeinsam die
Selbsthilfe. Im Jahre 2005 bewilligte die „Selbsthilfe-Fördergemeinschaft der Ersatzkassen“ (Zusammenschluss von Techniker Krankenkasse (TK), Kaufmännische
Krankenkasse (KKH), Hamburg-Münchener Krankenkasse, Hanseatische Krankenkasse (HEK), Krankenkasse für Holz- und Bauberufe, Krankenkasse Eintracht,
Gmünder Ersatzkasse (GEK)) Fördermittel für 201 Bundesorganisationen der
Selbsthilfe. 60 % der Beträge lagen unter 6.000 €, 25 % betrugen bis zu 10.000 €
und 15 % lagen darüber, die Höchstförderung erreichte 88.000 €. Allein für die Förderung der Selbsthilfe auf Bundesebene entspricht diese Gesamtsumme nahezu
einem Viertel des gesetzlich vorgegebenen Richtwertes (Niederbühl, 2006).
31
Die Förderung der Selbsthilfe durch die gesetzlichen Rehabilitationsträger soll ebenfalls nach einheitlichen Grundsätzen erfolgen (vgl.: § 29 SGB IX), wobei diese Regelung keinen Leistungsanspruch für die Selbsthilfe nach sich zieht. Die Gesetzliche
Rentenversicherung und die Träger der gesetzlichen Unfallversicherung sollen
demnach im Rahmen einer freiwilligen „Kann-Regelung“ die Selbsthilfegruppen,
Selbsthilfeorganisationen und Selbsthilfekontaktstellen fördern, die sich nach § 31
Abs. 1 Nr. 5 und Abs.3 SBG VI die Prävention, Rehabilitation und Früherkennung
zum Ziel gesetzt haben. In den zurückliegenden Jahren förderte die Deutsche Rentenversicherung Bund (ehemals BfA) die Selbsthilfe insgesamt mit jeweils 3,2 Mio. €
(Gesundheitsberichterstattung des Bundes, 2004).
Zu einem nicht unerheblichen Anteil bestreitet die Selbsthilfe ihre Finanzierung
durch private Geldgeber, so aus Stiftungen, Spenden und Sponsoring. Dieser Anteil
machte im Jahre 2004 23,9 % ihres Gesamtvolumens aus. Erhebungen aus dem
Jahre 2004 über den Förderanteil von Sponsoren belegen, dass derzeit bei ca. 25
% der Selbsthilfe-Einrichtungen der Sponsoringanteil unter 20% liegt. Nur einige
wenige dieser Einrichtungen, ca. 5%, bestreiten über die Hälfte ihres Etats aus
Sponsoringmitteln (Nakos, 2006). Diese Art der Finanzierung nimmt offensichtlich
zu. Allerdings besteht die Schwierigkeit der Datenerhebung zu diesem Thema darin,
dass die Analyse auf der Basis von Selbstauskünften beruht und die Genauigkeit
der Angaben darunter leidet.
Annähernd die Hälfte (40,6 %) ihres Finanzierungsbedarfes deckte die Selbsthilfe
im Jahre 2004 aus Eigenmitteln, also überwiegend aus Mitgliederbeiträgen ab (Gesundheitsberichterstattung des Bundes, 2004).
Die politisch gewollte qualitative Aufwertung der Selbsthilfe, die sich unter anderem
in der Beteiligung in den Gremien des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA)
zeigt, sollte die politischen Entscheidungsträger dazu auffordern, eine gesicherte
Finanzierung der Selbsthilfe zu garantieren. Dazu dient auch die mit der Gesundheitsreform 2007 gesetzlich festgeschriebene Förderung der Selbsthilfe durch die
GKV mit 0,55 Euro pro Versichertem (siehe § 20 c) – damit müssen ca. 39,6 Mio.
Euro ausgeschüttet werden. Diese Förderung muss an Kriterien wie Patientenorientierung und Transparenz des Mittelzuflusses sowie der Mittelverwendung gebunden
sein. Ebenso wäre auch die nachweisbare Unabhängigkeit Voraussetzung für eine
derartige Förderung. Dieser Projektbericht will nicht zuletzt wegen dieser Verpflich32
tung der GKV einen Einblick und eine Bestandsaufnahme der derzeitigen „Selbsthilfegruppen- und Selbsthilfeorganisationenszene“ anbieten und einen Vorschlag für
künftig anzuwendende Prüfkriterien bei der Vergabe von Fördermitteln unterbreitet.
33
III Methodisches Vorgehen
III.1 Beschreibung
Die vorliegende Studie untersucht die Einflussnahme des pharmazeutisch-industriellen Komplexes auf die Selbsthilfe auf der Basis von Dokumentenanalysen, Experten-Interviews und teilnehmender Beobachtung anhand beispielhaft ausgewählter
Krankheitsbilder. Die Auswahl der hierbei berücksichtigten Selbsthilfegruppen und
Selbsthilfeorganisationen der entsprechenden Krankheitsbereiche erfolgte über die
Adress-Datenbanken „rote und grüne Adressen“, stellvertretend jeweils für die lokalen Selbsthilfegruppen und die bundesweiten Selbsthilfeorganisationen über den Internetauftritt der Nationalen Kontakt- und Informationsstelle zur Anregung und
Unterstützung von Selbsthilfegruppen (NAKOS) www.nakos.de. Die Dokumentenanalyse basiert auf der Sichtung von Mitgliederzeitschriften und Internetauftritten der
Selbsthilfeorganisationen hinsichtlich der Werbeauftritte von Pharmaunternehmen in
der Arzneimittel-Produktwerbung, in der Firmenlogo-Werbung (im Folgenden: direkte
Auftritte der Pharma-Industrie), in den Links zur Pharma-Industrie auf den Internetseiten der Selbsthilfe sowie in Arzneimittel-Publikationen (im Folgenden: indirekte
Auftritte der Pharma-Industrie). Die Arzneimittel-Publikationen der Pharma-Industrie
wurden im Hinblick auf ihre Übereinstimmung mit evidenzbasierten Leitlinien der jeweiligen Fachgesellschaften geprüft, bei vorliegenden Studien wurde der Inhalt bevorzugt mit den Bewertungen industrieunabhängiger Institutionen wie dem Institut für
Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWIG), dem National Institute
of Health and Clinical Excellence (NICE) oder dem Bundesinstitut für Arzneimittel
und Medizinprodukte (BfArM) abgeglichen. Weiter wurden persönliche Interviews mit
Mitgliedern und Gruppenleitern von Selbsthilfegruppen sowie Geschäftsführern von
Selbsthilfeorganisationen über ihre Erfahrungen mit Pharmasponsoring geführt.
Wesentliche Auswahlkriterien für die Repräsentanten von Selbsthilfegruppen waren
deren jeweiliger Erfahrungshintergrund und deren Kenntnisse bei der Akquirierung
von Fördermitteln.
Die Auswahl der ärztlichen Interviewpartner erfolgte unter den Aspekten der Erfahrungen in wissenschaftlicher Beiratstätigkeit und der Beteiligung an der Erstellung
von Leitlinien. Die transkribierten Interviews wurden ausgewertet und sind in Auszügen in den entsprechenden Abschnitten zitier. Einige der Befragten wollten gänzlich
anonym bleiben, andere namentlich nicht mit dem Inhalt in Verbindung gebracht
34
werden. Eine Liste aller Interviewpartnerinnen und –partner findet sich im Anhang
Ergänzend dazu erfolgte die teilnehmende Beobachtung auf Patientenkongressen,
zur Identifizierung des direkten Wirkens von Pharmasponsoren und –sponsoring „vor
Ort“. Weiter wurden an 25 Pharmafirmen, die maßgeblich an der Arzneimittelversorgung der zugrunde liegenden Indikationsbereiche beteiligt sind, Fragebögen
bzgl. der Art und des Ausmaßes ihrer Sponsoring-Verträge mit Selbsthilfeorganisationen versandt. Die eingegangenen Antworten sind dokumentiert.
Die Auswahl der fünf Krankheitsbereiche erfolgte nach Kriterien der Aktualität innerhalb der Diskussion in der aktuellen Versorgung und ihrer aktuellen Therapieoptionen sowie in dem Bestreben, möglichst getreu die Vielfalt des Angebotes der
Selbsthilfe zu erfassen. Die Auswahl steht in keinem Zusammenhang mit einer etwaigen Aussage über einen besonders häufigen oder willfährigen Kontakt dieser
Selbsthilfegruppen/Selbsthilfeorganisationen zur Pharma-Industrie. Ein sechstes
Krankheitsbild, das ADHS, wurde hinzugenommen, da bereits Untersuchungsergebnisse aus Vorarbeiten des Zentrums für Sozialpolitik der Universität Bremen vorlagen, das auch dieses Projekt durchführt.
III. 2 So sind wir vorgegangen:
Es handelt sich bei der hier vorgelegten Studie / Recherche um eine qualitative Untersuchung, diese kann per definitionem nicht als repräsentativ gewertet werden. Die
Befragungen / Interviews sind ebenfalls qualitative Interviews mit narrativem Charakter, d.h. die jeweiligen Leitfragen, die sich an den Untersuchungszielen orientierten,
wurde den Interviewpartnerinnen und Interviewpartner die Gelegenheit gegeben, in
freier Darstellung zu beantworten. Folgende Informationen gingen in die Bewertung
der Zusammenarbeit von Selbsthilfegruppen und pharmazeutischen Herstellern ein:
•
Selbsthilfe-Zeitschriften , Selbsthilfe-Internetauftritte
•
Experten-Interviews mit Selbsthilfe – Gruppenmitgliedern, LeiterInnen von
Selbsthilfe-Regionalgruppen, GeschäftsführerInnen von Selbsthilfeorganisationen, Selbsthilfe-RepräsentantInnen , Ärzte und Ärztinnen, Mitglieder in den
wissenschaftlichen Beiräten, andere MultiplikatorInnen
35
•
Teilnehmende Beobachtung (z. B. auf Kongressen)
•
Statements, z.B. von pharmazeutischen Herstellern
Die untersuchten Krankheitsbereiche sind exemplarisch, ihre Auswahl erfolgte eher
zufällig. Von der Auswahl der Krankheitsbereiche kann daher nicht darauf geschlossen werden, dass in den genannten Indikationsbereichen der Grad der Anbieterbeeinflussung als auffällig hoch angenommen werden muss.
Durch die Interviews können Eindrücke vermittelt werden,
•
wie die Beteiligten, auf welcher Seite auch immer, Kooperationsangebote oder
–inhalte darstellten oder kritisieren,
•
wie Vertreterinnen oder Vertreter von Selbsthilfegruppen oder –organisation
solche Kooperationsangebote oder –inhalte selber bewerten und welche Probleme bzw. Gefahren sie damit verbinden
•
oder wie von Seiten der Wissenschafterinnen, Wissenschaftler, Ärztinnen oder
Ärzte solche Kooperationen z.B. mit pharmazeutischen Herstellern bewerten.
Die Journalistinnen wurden deshalb interviewt, weil sie vor der hier vorgelegten Untersuchung eigene Berichte über die Beeinflussung bestimmter Pharmahersteller auf
Selbsthilfegruppen recherchiert und die Ergebnisse publiziert haben (z.B. in der
ZEIT).
Insgesamt wurden 39 Personen interviewt. Zusätzlich wurden an 25 pharmazeutische Hersteller, die Arzneimittel in den untersuchten Indikationen anbieten, Fragenbögen mit Fragen verschickt, mit denen Art und Umfang der Kooperation der Firmen
mit den Selbsthilfegruppen erhoben werden sollten. In drei Fällen wurden mehr oder
weniger verwertbare Antworten zurückgeschickt, drei mal kam ein zu persönlichen
Gesprächen.
36
III. 3 Wer wurde interviewt?
VertreterInnen
SHG
10
SHO
5
SHDachverbände
3
Öffentl. Hand
(BMG)
Ärztl. Wissenschaftler
(z.T. Tätigkeiten
in wissenschaftl.
Beiräten der untersuchten Indikationen)
Von Institutionen
(IQWIG, G-BA,
TI, VZ- BV,
KISS)
Einrichtungen
(Theod. Springmann-Stiftung)
Journalistinnen
Pharmaindustrie
Psoriasis, Parkinson, Osteoporose
Alzheimer, Psoriasis,
Parkinson,
Neurodermitis
Osteoporose
NAKOS, Berlin;
Paritätischer Bundesverband,
Berlin;
Paritätischer Hamburg
2
6
11
2
3 x mdl. / 3 x
schriftl.
Mit Erfahrungen im Bereich
der Selbsthilfe
25 x Fragebögen verschickt,
siehe Kapitel IV
Die Inhalte Interviews und die Ergebnisse der Befragung wurden ausgewertet und
z.T. in den Bericht eingearbeitet. Einen zusammenfassenden Überblick vermittelt die
Tabelle 2 in Kapitel V.1.4
37
III. 4 Untersuchte Indikationsbereiche
III. 4. 1. Alzheimer (Deutsche Alzheimer Gesellschaft)
Die exemplarisch recherchierten Ausgaben der Verbandszeitschrift der Deutschen
Alzheimer Gesellschaft „Alzheimer Info“ enthalten weder direkte Produktwerbung
noch Arzneimittelpublikationen. Im Interview mit der Geschäftsführerin der Deutschen
Alzheimer Gesellschaft kam zum Ausdruck, dass bei Bedarf, z.B. beim Erscheinen
neuer Arzneimittel auf dem Markt, durchaus Besprechungen im „Alzheimer Info“ von
Mitgliedern des wissenschaftlichen Beirates oder externen Experten publiziert würden. Es würden jedoch weder in der Mitglieder-Zeitschrift noch im Internetauftritt Arzneimittelempfehlungen ausgesprochen. Der Internetauftritt enthält Links zu diversen
Pharmaherstellern und zu Beratungsforen, beides gegen finanzielle Zuwendung,
letztere mit Arzneimittelempfehlungen. Die eingestellte Beurteilung des „atypischen“
Neuroleptikums „Risperidon“ entspricht bezüglich der Indikation und Dosierung zwar
den Empfehlungen in den Leitlinien der deutschen Fachgesellschaften, diese Bewertung ist aber nicht unumstritten. Darauf sollte mit Blick auf eine unabhängige Informations über Arzneimittel hingewiesen werden. Schließlich weist das Arzneimittel
erhebliche unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAW) auf, die insbesondere ältere
Menschen sehr beeinträchtigen können. Des Weiteren fehlt ein Hinweis auf den wesentlich höheren Preis im Vergleich zu „typischen“ Neuroleptika. Mitglieder des wissenschaftlichen Beirates kommen aus den Bereichen Medizin und Ethik. Einige
unterhalten Beraterverträge zur Industrie, das ist kein Ausschlusskriterium für die
Gesellschaft. Die Deutsche Alzheimer Gesellschaft befindet sich in einer komfortablen Fördersituation, den Großteil ihres Fördervolumens erhält sie vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ). Zusätzlich unterhält die
Deutsche Alzheimer Gesellschaft Sponsoringverträge u.a. zu den Pharmafirmen
Lundbeck, Merck und Janssen-Cilag. Für den „großen Alzheimer Kongress“ zum
100-jährigen Jubiläum im Oktober 2006, zu dem Patienten und Experten eingeladen
wurden, wird es vier Satellitensymposien einzelner Pharma-Firmen geben. Der direkte Kontakt zwischen Pharma-Industrie und Betroffenen ist nach dem Heilmittelwerbegesetz nur gestattet, wenn keine Werbung für verschreibungspflichtige Arzneimittel
erfolgt. In der Regel ist dies aber das einzige Motiv für die Industrie, dort zu investieren. Die Deutsche Alzheimer Gesellschaft hat Leitsätze zu einer ethisch geregelten
Zusammenarbeit mit Wirtschaftsunternehmen erstellt. Diese erscheinen allerdings
38
eher vage formuliert und nicht bindend. Sie sind im Netz einsehbar und wurden denen der Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe (BAGS) angeglichen. Die Deutsche
Alzheimer Gesellschaft verfolgt durch die Darstellung der Sponsoringverträge und
das Erstellen von Leitlinien das Ziel, Transparenz in ihrer Kooperationen zu schaffen.
Kooperationen mit der Pharma-Industrie sind erkennbar. Eine Einflussnahme der
Pharma-Industrie kann aus unserer Sicht nicht ausgeschlossen werden..
III.4.2 Neurodermitis (SHO Deutscher Neurodermitis Bund (DNB) e.V.
bzw. Bundesverband Neurodermitiskranker in Deutschland e.V.
Selbsthilfeorganisation für Neurodermitis-, Asthma-Allergie-, Vitiligo- und
Psoriasiskranke
Der Deutsche Neurodermitis Bund veröffentlicht in seiner Vereinszeitschrift „Hautfreund“ Publikationen über Arzneimittelstudien, die zugunsten der Hersteller ausgerichtet sind. In derselben Ausgabe der Zeitschrift erhalten die Hersteller die Gelegenheit, in der deutschen und amerikanischen Presse erhobene Bedenken gegen
bestimmte Produkte auszuräumen. Publikationen ähnlichen Inhaltes erscheinen auch
im Internet-Auftritt des DNB. Im Interview mit dem Geschäftsführer des DNB, Herrn
Schwennesen, wird deutlich, dass der DNB Sponsoring-Verträge zu PharmaHerstellern unterhält und dass wissenschaftliche Beiratsmitglieder pharmagesponserte Vorträge halten. Der DNB hat sich inhaltlich von den Leitlinien der Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe (BAGS) abgesetzt und ist dort nicht mehr Mitglied. In
diesem Zusammenhang wird auch die Fördermittelvergabe durch die öffentliche
Hand kritisiert: Mal bekämen sie 60.000 €, mal 90.000 €, das sei rational nicht nachvollziehbar. Die Kassenvergabepolitik sei „aufwendig bürokratisch“. Die PharmaFirmen sponserten Vorträge; so z.B. die Firma Novartis für ihr Produkt „Elidel“ (Pimecrolimus) und die Firma Astella für das Präparat „Protopic“ (Tacrolimus). Beide
Präparate gehören zur Gruppe der Calcineurin-Inhibitoren. Es hätte sich gezeigt,
dass die Warnhinweise aus den USA durch die „Food and Drug Administration“ (die
FDA ist die amerikanische Arzneimittelzulassungsbehörde; Anmerkung der Verfasser), es gäbe keine Langzeitstudien zu den Calcineurin-Antagonisten, unnötig Angst
einflößend gewirkt hätten. Diese Arzneimittel stehen nach FDA-Ansicht unter dem
Verdacht, bei dauerhafter Anwendung kanzerogene Wirkungen, u. a. Lymphome, zu
entwickeln. Mit der FDA sind die Verfasser dieser Studie der Ansicht, dass sur Langzeitstudien diesen Verdacht ausräumen können, ein Hinweis, den eine Patienten39
gruppe ihren Mitglieder geben sollte. Namhafte deutsche Wissenschaftler hielten diese Einwände für übertrieben, so Herr Schwennesen, die Deutsche Dermatologische
Gesellschaft könne selbständig entscheiden. Sie sei schließlich kein Kartell.
Es gibt keine Leitsätze über Sponsoring-Vereinbarungen. Eine Einflussnahme der
Pharmahersteller ist daher aus unserer Sicht nahe liegend.
Prof. Niedner, Facharzt für Pharmakologie und Dermatologie in der Klinik für Dermatologie im Klinikum Ernst von Bergmann in Potsdam, war von 1998 bis 2003 im Wissenschaftlichen Beirat des Deutschen Psoriasis Bundes. Er kennt das Phänomen,
dass Wissenschaftler aus Selbsthilfe-Beiräten und Fachgesellschaften gleichzeitig
Beraterverträge zur Pharma-Industrie unterhalten. Er möchte keine Namen nennen.
Zu den Calcineurin-Inhibitoren, Pimecrolimus und Tacrolimus befragt, hält er die Äußerungen der Deutschen Dermatologischen Gesellschaft, das Auftreten von T-Zell
Lymphomen sei zu vernachlässigen, für gewagt. Er selber habe wenig Erfahrung mit
diesen Arzneimitteln, da die Therapie mit Cortison-Präparaten der 4. Generation weiterhin gute Erfolge erziele. Es gäbe Indikationen für Calcineurin-Inhibitoren, wenn die
Haut sehr stabil sei, sie seien aber nie Mittel der ersten Wahl, dafür hätten sie keine
Zulassung. Zudem seien sie sehr teuer, daher müsse der behandelnde Arzt die Indikation genau abwägen.
III.4 3 Osteoporose (SHO Bundesselbsthilfeverband für Osteoporose
e.V. (BfO) und Kuratorium Knochengesundheit e.V.)
Die Zeitschrift des Bundesverbandes für Osteoporose „Osteoporose Aktuell“ enthält
wertende Arzneimittelpublikationen zugunsten der Hersteller, unter anderem zu
Bisphosphonaten. Es werden ebenfalls indirekte Werbeauftritte veröffentlicht. Im Internet finden sich Links zur Pharma-Industrie. In den Interviews mit Frau Mertel und
Prof. Pfeilschifter gibt es klar positionierte Aussagen zugunsten der Nutzung von
Pharmageldern. Der Patientenkongress im Oktober 2005 in Hamburg wurde gemeinsam mit der pharmazeutischen Industrie ausgerichtet und ausschließlich durch diese
finanziert.
Aus einem Interview mit Regionalgruppenleiterinnen des BfO: „Ja, wir haben öfters
Anfragen von der Industrie erhalten, das wird aber alles über die Zentrale geregelt
(Bundes-Selbsthilfe-Verband in Düsseldorf). Wir empfinden die Arzneimittel40
Empfehlungen der Industrie in den Verbands-Zeitschriften und hier auf dem Kongress durch die Experten als hilfreich, weil sie informativ seien. Sie würden sich nicht
dadurch beeinflusst sehen. Endlich jemand, der sich um uns kümmert und uns ernst
nähme. Die Auswahl und Verschreibung der Präparate nimmt letztendlich doch der
behandelnde Arzt vor, darauf haben wir doch keinen Einfluss.“ Die Präsidentin des
Bundesverbandes für Osteoporose, Frau Karin Mertel, äußert sich zustimmend zum
Pharmasponsering: „Zeitschrift und Veranstaltungen werden durch die Industrie gesponsert. Namen möchte ich nicht nennen. Ich sehe aber in der finanziellen Förderung keine Gefahr der Beeinflussung, da wir selber frei entscheiden, wofür die Gelder
ausgegeben werden. Des Weiteren nehmen wir von diversen Pharma-Firmen Gelder, da besteht keine Gefahr, in die Abhängigkeit eines bestimmten Unternehmens
zu geraten. Nein, wir praktizieren keine gezielten Leitlinien gegenüber der Industrie.
Ebenso wenig halten wie aus unserer Sicht Transparenz bezüglich der PharmaGelder für notwendig. Da besteht keine Gefahr der Beeinflussung. Über mögliche
Gegenleistungen möchte ich nicht sprechen.“
Prof. Dr. med. Roland Pfeilschifter ist engster Berater in medizinischen Fragen des
Bundesverbandes für Osteoporose und regelmäßig als Referent auf Veranstaltungen
und an Publikationen in der Vereinszeitschrift „Osteoporose aktuell“ beteiligt, obwohl
er nicht zum Wissenschaftlichen Beirat gehöre.
Prof. Pfeilschifter redet offen über Beziehungen zur Industrie, die durch ihre Werbung
als Gegenleistung die Finanzierung der Verbands-Zeitschrift gewährleistet, ebenso
Kongresse wie den Osteoporose-Kongress in Hamburg komplett sponsere und viele
andere Aktionen auch. Er sieht keine Gefahr der Beeinflussung der Betroffenen. Da
seien die behandelnden Ärzte mit ihren Verschreibungspraktiken viel eher in der Verantwortung. Prof. Pfeilschifter ist als Mitglied der Fachgesellschaft Dachverband der
deutschsprachigen osteologischen Fachgesellschaften (DVO) federführend an der
Erstellung der Leitlinien beteiligt. Für die Erstellung der letzten Leitlinien, an der Prof.
Pfeilschifter beteiligt war, wurden zur Finanzierung von Personal-, Reise- und Sachkosten und der begleitenden Implementierungsprojekte Mittel in Höhe von 193.489
Euro von den folgenden Sponsoren zur Verfügung gestellt: GE Ultraschall Deutschland GmbH & CoKG / LUNAR, MSD Sharp & Dohme GmbH, Novartis Pharma
GmbH, Lilly Deutschland GmbH, Procter&Gamble Pharmaceuticals Germany GmbH,
Servier Deutschland GmbH und Südmedika Arzneimittel.
41
Der BfO hat sich keine Leitlinien über die Transparenz von wirtschaftlichen Beziehungen auferlegt, oder Bestrebungen, solche einzurichten. Eine Einflussnahme der
Pharmahersteller ist daher aus unserer Sicht nahe liegend.
III.4.4 Parkinson – Syndrom (SHO Deutsche Parkinson-Vereinigung
(dPV) – Bundesverband e.V. und SJG Schneckenhaus e.V.)
Die Zeitschrift des Bundesverbandes dPV „Parkinson Nachrichten“ enthält FirmenLogo- und Arzneimittel-Produkt-Werbung sowie gezielte Arzneimittel-Publikationen
zugunsten eines bestimmten Produktes, das neu auf dem Markt angeboten wird. Die
Herstellerfirma ist dieselbe, die mit ihrem Firmen-Logo auf dem Titel- und Rückblatt
jeder Ausgabe der dPV-Zeitschrift wirbt. In Interviews mit der Regionalgruppen-Leiterin des dPV für Bremen und dem Verantwortlichen der Marketingabteilung der Firma Orion-Pharma konnten für beide Seiten gewinnbringende Beziehungen des
Pharma-Sponsorings ausgemacht werden.
Im Internetauftritt des dPV werden die MAO-B Hemmer Rasagilin und Selegilin beworben. Die Einführungspressekonferenz der Firmen Teva und Lundbeck bestritt
Prof. Reichmann aus Dresden, Mitglied des wissenschaftlichen Beirates des dPV.
Nach kritischen Bewertungen gilt z.B. Selegilin als „Mittel der Reserve“ (ArzneimittelKursbuch, 2005. S. 1733). In der Besprechung des Mittels wurde nur eine bestimmte
Studie berücksichtigt, die einen uneingeschränkten Nutzen im Frühstadium der Parkinson-Krankheit belegt. In den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Neurologie
sind die Formulierungen behutsamer gewählt als in den zitierten Artikeln. So ist bei
dem MAO-B Hemmer von einem „milden symptomatischen Effekt“ die Rede und von
einem nicht ausreichenden Vorhandensein kontrollierter Studien. Zwei Mitglieder der
Expertengruppe zur Erstellung der Parkinson Leitlinien sind im dPV vertreten.
Die Deklaration zu den Zwecken des Vereins (dPV) im Internet ist vage formuliert:
„Der Verein verfolgt nicht in erster Linie eigenwirtschaftliche Zwecke“. Es fehlen Deklarationen zu Ethik, Wirtschaft oder Sponsoring.
Eine Einflussnahme durch die Pharma-Industrie ist aus unserer Sicht offensichtlich.
Es ist anzumerken, dass die Kontaktherstellung zum dPV schwierig war.
Schriftliche Anfragen in der Bundesgeschäftsstelle in Neuss blieben unbeantwortet.
42
Am Telefon wurde auf den Geschäftsführer, Herrn Mehrhoff verwiesen, der sich nicht
zurückmeldete. Nach einem Gespräch mit der Regionalgruppenleiterin des dPV für
Bremen wurde der vereinbarte Termin zu einem Folgetreffen ohne vorherige Absage
nicht eingehalten. Mehrere Nachfragen, im Folgenden auch bei der Landesgruppenleiterin, blieben unbeantwortet.
Presseberichte in der Folgezeit geben Aufschluss. Herr Mehrhoff wurde von dPV-Mitgliedern der „Klüngelwirtschaft und Verschwendung von Beitrags- und Spendenmitteln“ bezichtigt (Bunzenthal, Frankfurter Rundschau, 2006).
60% der Einnahmen verschlinge die Zentrale, Tendenz steigend. Von 330.000,- Euro
Personalkosten entfalle ein Drittel auf den Geschäftsführer. Auf die geäußerte Befürchtung, die Gemeinnützigkeit könne aufgrund des zu hohen GeschäftsführerGehaltes verloren gehen, drohte die dPV-Zentrale mit einer Verleumdungsklage
(Bunzenthal, Frankfurter Rundschau, 2006). Von einer Regionalgruppenleiterin in
Bremen wird darauf hingewiesen, dass regelmäßig eine Referentin der Firma OrionPharma, Hamburg, in die Gruppe kommt. Über die Firma erhalten sie finanzielle Unterstützung für Vorträge, gemeinsame Aktionen oder schlicht das Catering. Über Inhalte der Gegenleistungen ist die Regionalgruppe nicht informiert. Daüber informaiert
dann der Marketingverantwortliche der Firma Hamburger Pharamfirme Orion um so
klarer: Sie finanzieren die dPV-Zeitschrift „Parkinson Nachrichten“, im Gegenzug
können sie in der Zeitschrift Artikel platzieren und damit ihre Arzneimittel bewerben,
wie z.B. Stalevo, ein neues Parkinson Kombinations-Präparat. Für die Selbsthilfegruppen finanzieren sie auf ihren Veranstaltungen das Catering und Seminare. In
den Seminaren werden Referenten mit dem Auftrag eingesetzt, die Firmen-Produkte
zu bewerben.
Anders der Vorsitzende des Parkinson-Selbsthilfevereins „Schneckenhaus“, Herr
Terweiden. Er war dankbar, über das Thema der Selbsthilfe-Fördersituation sprechen zu können. Es sei sehr viel Arbeit, den Verein ehrenamtlich zu leiten, da inzwischen auch Betroffene mit ganz anderen Indikationen zu ihnen kämen, die vom
„Schneckenhaus“ (altes Fachwerkhaus, für die und von der Selbsthilfegruppe eigens
restauriert) gehört hätten. Sie hätten bis jetzt keine Gelder von der Industrie genommen, aber die öffentlichen Mittel würden knapper. Stattdessen betreiben sie aufwändige Spendenakquisition, wie den „Parkinson-Spenden-Marathon mit dem Velo-Taxi“.
Sie sind Mitglied beim Paritätischen Wohlfahrtsverband Hessen, nicht aber beim
dPV.
43
Prof. Dr. P. Berlit, Direktor der Neurologischen Klinik im Alfried-Krupp-Krankenhaus
in Essen, hat ist Mitglied der Kommission der Deutschen Gesellschaft für Neurologie
beratend in Selbsthilfegruppen tätig. Um die Gruppen nicht einzelnen pharmazeutischen Firmen auszuliefern, veranstaltet er einmal im Jahr eine Veranstaltung mit allen Pharmafirmen. „Die Betroffenen dürfen da von Stand zu Stand gehen und sich
informieren. […] und ich sage den Firmen von vorneherein, ihre Konkurrenten sind
auch alle da.“ Für die eigentliche Selbsthilfe-Arbeit in den Gruppen hält Prof. Berlit es
für wichtig, dass eine enge Zusammenarbeit mit den Angehörigen aufgebaut wird,
„nicht nur Frontalvorträge“. Parkinson sei ein Krankheitsbild, dass viel mit Pharmakologie zu tun habe, weil die Patienten viele Medikamente einnehmen müssten, ähnlich
wie bei der MS. „Da laufen einem die Pharmafirmen die Tür ein. […] und man muss
sich absolut vorsehen, dass man als Wissenschaftler nicht vereinnahmt wird.“
III.4.5 Psoriasis (SHG Deutscher Psoriasis Bund e.v., PSO AG e.V.
(Psoriasis Selbsthilfe AG e.v. und Panap Selbsthilfe e.V.)
In den ausgewerteten Ausgaben des „PSO Magazins“, der Verbandszeitschrift des
Deutschen Psoriasis Bundes, belegen sowohl direkte als auch indirekte Werbeauftritte Verbindungen zur Pharma-Industrie. Diese Tatsache bestätigt sich auf dem Patientenkongress im Oktober 2005 in Berlin. Dort findet eindeutige Produktwerbung für
verschreibungspflichtige Arzneimittel unter Umgehung des Heilmittelwerbegesetzes §
3 statt. Diese Tatsache lässt wird auch durch Interviews bestätigen. Im Internet finden sich Links zur Pharma-Industrie. Die Inhalte der Seminarvorträge und Publikationen in der Verbandszeitschrift „PSO Magazin“ über neue Arzneimittel, wie z. B. die
neuen Biologika sind inhaltlich deckungsgleich mit den Empfehlungen der Fachgesellschaften; die federführenden Mitglieder der Fachgesellschaften und des Wissenschaftlichen Beirates sind identisch.
In einem Interview stellt Herr Kunz, der Geschäftsführer des Deutschen Psotiasisbundes, heraus, dass sie sich nicht durch Pharma-Sponsoring beeinflussen ließen.
Auch der Verweis auf die komplett vertretene Industrie auf dem Psoriasis-Kongress
in Berlin wird eine Einflussnahme verneint, trotz der erkennbaren Empfehlung bestimmter Arzneimittel in verschiedenen Präsentationen. Man achte z.B. bei Referaten
über Fumarate oder Biologicals darauf, dass Referenten keine Themen vorstellten,
an denen sie selber im Rahmen von Studien mitgewirkt hätten. Der DPB sei sehr an
44
der Forschung interessiert. Er arbeite gerne mit der forschenden Industrie zusammen
und beteiligte sich mit seinen Mitgliedern an Studien. Es sei ja in ihrem Interesse,
dass neue, wirksame Arzneimittel auf den Markt kämen. Eine Beeinflussung würde
dadurch nicht entstehen. Im Übrigen würden auch die Krankenkassen auf ihrem Logo bei Veranstaltungen bestehen wie die Industrie. Die Anträge bei der Öffentlichen
Hand und den Krankenkassen seien immer mit einem hohen bürokratischen Aufwand verbunden, das laufe mit der Industrie unkomplizierter. Die Kosten für das Antragsverfahren überstiegen häufig den Betrag einer Fehlbetragsfinanzierung, oft sei
das beantragte Konzept zum Zeitpunkt einer Kostenbewilligung nicht mehr aktuell.
Herr Kunz hält Transparenz für das Wichtigste. Alle pharmagesponserten Aktionen
seien als solche ausgezeichnet. Die Inhalte der Aktionen be- stimme der DPB, nicht
die Industrie. Sie bezögen von diversen Firmen Gelder und gewährleisteten so ihre
finanzielle und inhaltliche Unabhängigkeit. Die Industrie habe davon keinen Eigenprofit.
In Interviews mit Regionalgruppenleiterinnen und –leitern des DPB wird deutlich,
dass auf dieser Ebene Pharmasponsoring ganz entschieden abgelehnt wird, dass sie
aber über Aktionen der Bundesgeschäftsstelle nicht ausreichend informiert seien. Mit
abnehmender Organisationsstruktur der Selbsthilfe-Einrichtungen nehmen auch
Sponsoring- und Einflussnahmeaktivitäten durch die pharmazeutische Industrie ab,
gleichermaßen auch der Informationsstand der Betroffenen. Oftmals wissen die Regionalgruppen-Mitglieder gar nicht, „was da an der Spitze läuft“ (Herr Blaga in seinem
Interveiw). Mangelnde Transparenz innerhalb der Selbsthilfegruppen/Selbsthilfeorganisationen über kommerzielle Verbindungen birgt die Gefahr „der innerverbandlichen Demokratieaushöhlung“ (Dr. Schäffler in seinem Interveiw). Durch mangelnde
Transparenz nach „außen“ verliert die Selbsthilfe ihre Glaubwürdigkeit und gerät in
den Ruf der Käuflichkeit.
Bis 1993 gab es übrigens einen einheitlichen Psoriasis Selbsthilfe-Verband. Ab diesem Jahr habe sich aber, so Rolf Blaga, dem Sprecher der PSO-AG e.V (2000 Mitglieder bundweit gegenüber 8000 im DPB), die von ihm vertretene PSO AG e.V. vom
DPB abgespalten, weil sie sich nicht vor den Karren den Industrie spannen lassen
wollten. Von der Industrie beziehe der Verein bislang kein Geld. Es würde aber zunehmend schwieriger, den Verein ehrenamtlich mit knapper werdenden Ressourcen
adäquat „über Wasser halten zu können“.
45
An dem Psoriasis-Kongress des DPB im Jahre 2005 nehmen Mediziner aus Wissenschaft und Praxis (Krankenhausärzte und niedergelassene Ärzte) sowie Regionalgruppenleiter des Deutschen Psoriasisbundes (DPB) aus ganz Deutschland teil. In
den Vorträgen werben die wissenschaftlichen Referenten für den Einsatz von Fumaraten und den neuen und sehr teuren Biologika (jährliche Kosten zwischen 6.000 €
und 14.000 €). Die Referenten beziehen eindeutig Stellung gegen angekündigte
Sparmaßnahmen der Politik und Krankenkassen, indem sie z.B. die zahlreich erschienenen Selbsthilfe-Regionalgruppenleiter ermutigen, in ihren Gruppen zu propagieren, die Biologika bereits frühzeitig von ihren Ärzten einzufordern. Auch den
zuhörenden Ärzten werden Empfehlungen zur Umgehung der eingeschränkten Verschreibungsmöglichkeiten gegeben. Außerhalb des Vortragssaales erstreckt sich
über zwei Ebenen eine weitläufige Industrieausstellung. Vertreten sind sämtliche
Herstellerfirmen der verschreibungspflichtigen Biologika (Wyeth, Essex, Serono etc.),
auch Hersteller von Präparaten, die auf dem deutschen Markt zu jenem Zeitpunkt
noch nicht beziehungsweise nur mit eingeschränkter Indikation zugelassen waren.
Es findet Beratung und eine offene Produktwerbung inklusive der üblichen Geschenke an den Ständen statt.
Der DPB hat die Leitlinien über die Zusammenarbeit mit Wirtschaftsunternehmen im
Gesundheitswesen von der Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe (BAGS) übernommen und ist dort eingetragenes Mitglied. Die Formulierungen sind zum Großteil
wenig genau: „Jedwede Kooperation und Unterstützung durch Wirtschaftsunternehmen insbesondere aus der Pharmabranche, ist im Bestreben nach Transparenz zu
behandeln, um die Neutralität und Unabhängigkeit auch insoweit sicherzustellen“ und
nicht nachhaltig greifend formuliert. Eine Einflussnahme der Pharma-Industrie ist aus
unserer Sicht erkennbar.
46
IV. Statements der Industrie
Es wurden fünfundzwanzig Pharma-Firmen, die mit der Herstellung von Arzneimitteln
4
der fünf ausgewählten Krankheitsbereiche befasst sind, angeschrieben . Sie wurden
gebeten in Selbstauskünften darzulegen, ob sie Sponsoring-Verträge zu Selbsthilfegruppen, Selbsthilfeorganisationen, Referenten oder Mitgliedern der wissenschaftlichen Beiräte unterhalten und ob diese, im positiven Fall, projektbezogen,
personenbezogen oder pauschal seien und offen deklariert würden. Eine weitere
Frage zielte auf den Umfang geleisteter Sponsoring-Aktionen.
Von den fünfundzwanzig angeschriebenen Firmen haben drei schriftlich und drei telefonisch geantwortet. Die Antworten waren zum Teil sehr allgemein gehalten. Die
Firma Wyeth antwortete mit einem Dreizeiler, sie könnten pauschale Anfragen dieser
Art nicht beantworten, da es sich um einen „sehr sensiblen und differenzierten Benreich der Kooperation mit Patientenorganisationen“ handele. Die Firma Biogen Idec
verwies auf Richtlinien und freiwillige Selbstkontrolle und dürfe aus „genau diesem
Grunde keine Details übermitteln“. Auch die Firma Janssen-Cilag beantwortete keine
unserer konkreten Fragen. Allerdings erhielten wir detailliert ausgearbeitete Leitlinien
über „Grundsätze der Zusammenarbeit mit Patientenorganisationen und Selbsthilfegruppen“.
Auch die telefonischen Reaktionen der Firmen Janssen-Cilag und Merz vermittelten
keine konkreten Informationen. Anders bei der Firma Orion. Dort wurde umgehend
Auskunft über sämtliche Details: über Art, Ausmaß und Adressaten der Finanzierung
sowie erzielte und erbrachte Gegenleistungen gegeben („wir sind ja nicht die Caritas!“). Diese beinhalteten unter anderem Verträge zu Ärzten und Wissenschaftlern,
welche als Referenten Firmen-Produkte auf Seminaren und SelbsthilfegruppenTreffen bewerben. Die Firma Orion unterhält enge wirtschaftliche Kontakte zur Deutschen Parkinson Vereinigung (dPV).
4
Es wurden folgende Firmen angeschrieben:
Serono, Essex, Pfizer, Lilly, MSD, Shering, Wyeth, Orion, Janssen-Cilag, Roche, Lundbeck, Hexal, Astella,
Novartis, Procter, Fumedica, Asche, Fujisawa, Sanofi Aventis, Teva, Merz, Hermal.
47
V. Diskussion
In der vorliegenden Studie wurde das Phänomen des Pharmasponsorings und der
damit verbundenen Einflussnahme auf Selbsthilfegruppen, Selbsthilfeorganisationen,
die Selbsthilfe-Dachverbände und in mittelbarer Konsequenz auf Entscheidungsträger in der Politik untersucht. Worin besteht die gesellschaftspolitische Relevanz für
die Solidargemeinschaft und auf der Basis welcher Strukturen konnte sich dieses
Phänomen nahezu selbstverständlich und unbemerkt aufbauen und ausbreiten?
Anfang der 70er Jahre formierten sich Selbsthilfegruppen aus dem Verständnis einer
unzulänglichen Versorgung durch das etablierte Medizinsystem. Ehrenamtlich durch
Betroffene organisiert und geleitet, erfuhren und gewährten ihre Mitglieder gegenseitige Unterstützung und Hilfestellung, entscheidend auch bei der psycho-sozialen Bewältigung ihrer Erkrankungen. Mitte der 90er Jahre erlangte die SelbsthilfeBewegung eine Organisationsstruktur, einen Grad der Professionalisierung sowie die
Beteiligung im Gesundheitssystem zur Unterstützung der Behandlung von Patientinnen und Patienten (z.B. bezüglich der Information und Suche nach geeigneten Einrichtungen zur Behandlung), die eine verbesserte finanzielle Ausstattung erforderlich
machten. In den USA war das Zusammenwirken von Pharmaindustrie und Selbsthilfe
bereits seit zehn Jahren gängige Praxis (siehe z.B. auch international Angel, 2004).
Ähnlich erschloss die pharmazeutische Industrie auch den deutschen „SelbsthilfeMarkt“ für ihre Interessen. Hierzulande wird die Arzneimittel-Forschung weitestgehend von der Pharmaindustrie finanziert. Die Produkte dieser Forschung sind keineswegs immer hoch innovativ und therapeutisch fortschrittlich. Im Gegenteil
kommen immer häufiger auch Mittel auf den Markt, die zwar neu und teuer sind, nicht
aber zu einer besseren Behandlung beitragen. Aber auch diese Mittel suchen und
finden ihren Markt, die Werbung und das Marketing tragen dazu bei. In diesem Zusammenhang werden auch mehr und mehr Patientinnen und Patienten als quasi betroffene „Pharmareferenten“ genutzt, die in der Praxis aus gut nachvollziehbaren
Gründen auf die Verordnung neuer und angeblich besser wirksamer Mittel drängen.
Der Weg der Informationen von Selbsthilfe- und Patientengruppen ist daher eine
Umgehung des Verbots, für rezeptpflichtige Arzneimittel in der Öffentlichkeit zu werben. Hier werden gezielt Patientinnen und Patienten in Veranstaltungen mit neuen
Therapieoptionen bekannt gemacht, die sie dann beim nächsten Praxisbesuch nachfragen können. Leider werden oft genug auch Hinweise gegeben, die einem „offlabel-use“ Vorschub leisten und damit Arzneimittel auch für solche Therapiefelder
48
propagieren, die noch nicht durch eine Zulassung abgedeckt sind. Der Konkurrenzdruck ist stark. Arzneimittel-Hersteller unterliegen einem steten Wettbewerb um die
schnellste Zulassung, den ersten Platz auf dem Absatzmarkt, die erste Veröffentlichung in renommierten Fachzeitschriften. Im Kampf um den Endverbraucher investieren pharmazeutische Unternehmen hierzulande etwa 4 Milliarden Euro in das
Marketing für Arzneimittel, das sind 30% des entsprechenden Umsatzes in diesem
Bereich, geschätzt doppelt so viel wie in die Forschung. „Die Industrie möchte nach
dem Vorbild der USA PatientInnen gerne direkt beeinflussen. Dort ist seit einigen
Jahren derartige Direktwerbung für rezeptpflichtige Arzneimittel bei Laien erlaubt –
mit drastischen Folgen für die Gesundheitsversorgung: die Ausgaben explodieren,
denn es gibt zahlreiche Wunschverschreibungen“ (BUKO Pharma-Kampagne, Pharma-Brief 3/2002.1). Bis dato war die Ärzteschaft erster Adressat ausgefeilter Marketingstrategien der Pharmafirmen. Durch gezieltes Sponsoring (Reisen, Geschenke,
Soft-Ware) konnten und können Ärzte zu einem wohlwollenden ArzneimittelVerordnungsverhalten veranlasst werden. Rund 35.000 € pro niedergelassenem Arzt
und Jahr investiert die Industrie in diesen Zweck. Der direkte Zugang zum Endverbraucher über die Selbsthilfe ist kosteneffektiver und mit dem unbezahlbaren Potenzial der Glaubwürdigkeit versehen.
V.1 Welches sind die Nutzenkalküle auf Seiten der Selbsthilfe und
der Pharma-Industrie? Welche Strategien der Einflussnahme verfolgt die Pharma-Industrie?
V.1.1 Nutzenkalküle
Selbsthilfe
• Geld. Geldwerte Leistungen
• Aufwertung und gesellschaftliche Anerkennung ihrer selbst und
ihrer Erkrankung
• Einfluss auf Arzneimittel-Produktentwicklung, -gestaltung, vermarktung
• Politische Unterstützung
49
Pharma-Industrie
• Imagegewinn nach außen
• Identitätsstiftung nach innen (corporate identity)
• Zugang zu spezifischen Marktsegmenten auf EndverbraucherEbene (unter Umgehung des Arzneimittel-Werbeverbotes, HWG
§3)
• Politische Unterstützung über Beteiligungsrecht der Selbsthilfe
im G-BA (Positivliste, Festbetragsregelung, Erstattungspflicht
(Etgeton, 2003)
Gemeinsam sind beiden Akteuren die Erwartungen an eine gegenseitige politische
Unterstützung. Im G-BA beteiligen sich Vertreter der Selbsthilfe bei der Entwicklung
bezüglich der Agenda Arzneimittelversorgung sowie der Behandlungsprogramme für
chronisch Kranke. Dieses Beteiligungsrecht auf hoher politischer Ebene bedeutet für
die Industrie einen wertvollen Zugang zu relevanten Entscheidungsträgern. Die Industrie profitiert mit ihrem Sponsoring durch Imagegewinn nach außen und innen
(corporate identity) und verschafft sich Zugang zu spezifischen Marktsegmenten auf
Verbraucherebene: Ziel ist das direkte Patienten-Marketing mit geringem Streuverlust
oder Prä-Marketing für Arzneimittel, die noch nicht auf dem Markt sind. Firmenprodukte können in Vereinszeitungen und auf Patientenkongressen unter Umgehung
des Werbeverbotes für verschreibungspflichtige Medikamente angepriesen werden,
über den wissenschaftlichen Beirat werden Studien kommentiert und Präparate empfohlen.
V.1.2 Strategien der Einflussnahme
Nachstehend werden typische Beeinflussungsstrategien und Angebote von pharmazeutischen Herstellern im Überblick dargestellt. Ob all diese Strategien für die hier
vorgestellten Indikationsbereiche zutreffen, muss allerdings untersucht werden, einzelne Beispiele von gefundenen Beeinflussungsstrategien sind im Abschnitt V.1.2
beschrieben.
50
Arzneimittel-Produktwerbung - auf Vorträgen und Kongressen,
unter Umgehung des Heilmittelwerbegesetzes,
auch im „off-label-use“.
-Methylphenidat bei Kindern unter sechs Jahren, ADHS
(Keller, 2005);
-Herceptin bei an Brustkrebs erkrankten Frauen ohne Metastasen.
Arzneimittel-Publikationen – in Verbandszeitschriften, im Internet, auf Vorträgen,
auch über den wissenschaftlichen Beirat,
z.B. bei Calcineurin-Antagonisten, Biologika, Bisphosphonate, Interferone.
Prä-Marketing von Arzneimittel - Bedürfnisse nach neuen Arzneimitteln werden
geweckt:
Die Firma Lilly hat z.B. einen Wissenschaftler aus den
USA eingeladen, der eigens für ein Firmenpräparat gegen
ADHS zwei Jahre vor seiner Marktzulassung hierzulande
auf einem Symposium mit betroffenen Eltern werben soll
(Keller, 2005).
In der Verbandszeitschrift der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft (DMGS) wird regelmäßig für das PräMarketing für Stammzell-Therapie geworben (Feyerabend,
2005).
Rekrutierung von Selbsthilfe-Mitgliedern für wissenschaftliche Studien
In den Mitglieder-Zeitschriften der Deutschen Parkinson
Vereinigung (dPV) erscheinen Aufrufe zur Studienteilnahme.
mamazone, eine Organisation von Frauen mit Brustkrebs
betreibt als „joint-venture“ mit dem Konzern Bayer Healthcare und den Tumorzentren Augsburg und Kassel eine
Tumorbank der Hoffnung (P.A.T.H.). Auf Wunsch werden
51
Gewebeproben für die Patientinnen und für Forschungszwecke eingefroren (Feyerabend, 2005;
www.mamazone.de).
Über Adresslisten erhofft sich die Pharmaindustrie Zugriff auf große Mitgliederdateien
Gründung von Förderkreisen zwischen Selbsthilfeorganisationen und PharmaIndustrie
Gründung, Beratung, Leitung von Selbsthilfegruppen durch die PharmaIndustrie –
Die Firma Roche gründete
im Jahre 2000 die „Koaltion
Brustkrebs“.
Pharma-Mitarbeiter gründen, beraten, leiten Selbsthilfe
gruppen. (Ginsberg, 2006).
Einrichtung von Web-Sites - www.selbsthilfe.de (BPI). (Franke, 2004)
www.leben-mit-MS.de (Serono)
www.ms-life.de (Biogen Idec GmbH)
www.selbsthilfegruppen.de (initiiert durch die BASF AG
und bis Mai 2005 in ihrem Besitz). (Feyerabend, 2005)
Einfluss auf veränderte Ergebnisdarstellung von wissenschaftlichen Studien
„Pharmagesponserte Wissenschaftler erstellen und
veröffentlichen ihre Studienergebnisse industriefreunlich.“ (Smith, 2005). Bsp.: MSD (Vioxx); Pfizer (Sortis).
Einflussnahme auf Leitlinienerstellung der medizinischen Fachgesellschaften
„Die Fachgesellschaften beziehen Pharma-Gelder bei der
Erstellung der Wissenschaftlichen Leitlinien.“ (Koch, 2002;
Meyer, 2005).
52
Serviceleistungen über PR-Agenturen (Medienentwicklung und Öffentlichkeitsarbeit)
Die Firma Roche tritt über PR-Agenturen mit Selbsthilfe
gruppen in Kontakt, um Pressearbeit für diese zu organisieren, wie z.B. das Erstellen von Pressetexten und Flyern
etc. (Stötzner, 2006).
Pathologisierung physiologischer Vorgänge ( Disease Awareness Campaigns/
Disease Mongering– Krankheits Bewusstmachungs Kampagnen) – Gründung
von Selbsthilfegruppen der entstehenden „Krankheitsbilder“
Physiologische Vorgänge wie Potenzminderung beim
Mann, Darmkollern bei der Frau, Einsamkeitsgefühl und
Liebeskummer bei amerikanischen College Studenten
werden pathologisiert und durch entsprechende Arzneimittel- und Selbsthilfegruppen-Angebote vermarktet.
Bsp.: Erektile Dysfunktion – Pfizer – Viagra
(www.Pfizer.com. 2006).
Reizdarm-Syndrom – Novartis – Tegaserol (Keller, 2005).
Depression – Wyeth – Trevilor/Effexor (Angel, 2004).
Arzneimittel-Werbung über Leitfiguren aus Sport und Unterhaltungsbranche
Prominente werben für Firmen-Logos:
z.B. Rosi Mittermeier – MSD – Osteoporose,
oder direkt für das Arzneimittel : Cara Kahn (von MTV) –
Effexor von Wyeth (Angel, 2004).
So wird über die Identifikation mit prominenten Leitfiguren
und deren Erkrankung der Weg zur Arzneimittel-Wahl gebahnt.
Verdeckte Arzneimittel-Werbung über Prominente („Trojanisches Pferd“)
Eine besonders subtile Form der Pharma-Werbung mit
Prominenten ist das so genannte „Advertorial“ oder
„Trojanische Pferd“ – Werbebotschaften werden in
journalistische Berichterstattung verpackt. So erscheint
53
z. B. das Firmen-Logo „Astra Zeneca“ auf dem Paddel der
asthmakranken Kanutin B. Fischer. In einem nebenstehend gedrucktem Interviewausschnitt fällt dann der Name
des Präparates (Gute Pillen – Schlechte Pillen, 2006).
Kommunikations– und Strukturanalyse von Selbsthilfegruppen /Selbsthilfeorganisationen über Meinungsforschungsinstitute – Ein Pharma-Unternehmen
beauftragt ein Institut für Marktforschung, ohne Nennung
des Auftraggebers Analysen über Strukturen und Kommunikationsformen diverser Selbsthilfegruppen vorzunehmen. Die Ergebnisse sollen der optimalen Rekrutierung potentieller „Partner der Zusammenarbeit“ dienen. Im
Folgenden wurde der Auftraggeber entlarvt: die Firma
Glaxo Smith Kline (Stötzner, 2006).
Marketing als Gesundheitsaufklärung getarnt
In amerikanischen Krankenhäusern lief im Fernsehen ein
so genannter „Patient Channel“. Über diesen PatientenSender wurden Informationen über Erkrankungen und
gleichzeitig Pharmawerbung ausgestrahlt. Der Sender finanzierte sich ausschließlich über die Werbung und kostet
die Krankenhäuser nichts. Den Krankenhausbetreibern
wurde erklärt, dass sie so ihrer Anforderung der Patientenaufklärung genüge leisten würden (Angel, 2004).
Der Verband forschender Arzneimittelhersteller (VFA) versucht mit einer als Patienteninformation über Arzneimittel
angekündigten Diskussionsrunde Patientenverbände als
Lobby gegen das Werbeverbot für rezeptpflichtige Arzneimittel einzusetzen (BUKO - Pharma Kampagne, 2002).
Internet-Foren -
Pharma-Mitarbeiter fungieren als Strohmänner, beteiligen
sich an den Diskussionen in Internet-Foren und können so
Tipps pro eigener Firmenprodukte lancieren (z. B. Diabetes-Forum).
54
Patientenschulungen -
Auf dem Psoriasis-Welt-Kongress in Kopenhagen (Mai
2006) fand ein Lobby -Training für SelbsthilfegruppenMitglieder durch britische Experten, gesponsert von der
Firma Wyeth, statt.
Corporate Citizenship – Profit mit Non-Profit
Die Hexal-Tochter „Oncocare gGmbH“ betreibt in Berlin
eine Krebsberatungsstelle (Franke, 2004).
55
V. 1.3 Bewertung der durchgeführten Recherche
In dieser Studie konnten unterschiedliche „Spielformen“ der Einflussnahme durch die
pharmazeutische Industrie auf die verschiedenen Organisationsebenen der Selbsthilfe sichtbar gemacht werden.
Direkte Arzneimittel-Produktwerbung
Psoriasis-Kongress (DPB)
SHO
Vorträge dPV, DNB
SHO/SHG
Beeinflussende Arzneimittel-Publikationen
in Verbandszeitschriften, Web-Sites, auf Vorträgen
über pharma-gesponserte Referenten
DALG, DNB, BfO, dPV, DPB
SHO
Rekrutierung von Mitgliedern zur Studienteilnahme – dPV
SHO
Förderkreis-Gründung mit der Pharma-Industrie – DPB
SHO
Verschlüsselte Arzneimittel-Werbung über Logo-Werbung – dPV
SHO
Logo-Werbung über prominente Leitfiguren aus dem Sport – BfO
SHO
Einflussnahme auf Leitlinienerstellung der medizinischen Fachgesellschaften –
alle untersuchten Indikationsbereiche
SHO
Gleichzeitige inhaltliche Einbindung pharma-gesponserter, wissenschaftlicher
Meinungsführer in medizinische Fachgesellschaften sowie in wissenschaftliche Beiratstätigkeit von Selbsthilfeorganisationen
alle untersuchten Indikationsbereiche
SHO
Oft vollziehen sich Einflussnahme und Sponsoring subtil, ohne dass die Betroffenen
ihrer gewahr werden. So entsteht die Gläubigkeit an Produkte, ohne dass der dahinter stehende Pharma-Absender sichtbar wird. Nur durch eigene Beobachtung, Interviews aus unterschiedlichen Betrachterperspektiven und den Statements der zu Rate
gezogenen unabhängigen Experten konnten diese Phänomene aufgedeckt werden.
Es gibt allerdings auch Konstellationen, in denen sich Betroffene bewusst dem Sponsoring entzogen haben. So die „Deutsche Ilco“, eine Selbsthilfeorganisation für Stomaträger, die seit 1972 pharma-unabhängig tätig ist und immer wieder heftig von der
56
Industrie umworben wird, sowie die „Stiftung Koalition Brustkrebs“, die, der PharmaEinmischungen überdrüssig, sich 2002 von der Koalition Brustkrebs abspaltete: „Da
waren zu viele Dinge, die wir nicht mittragen konnten“ (Interview Spelsberg, 2005).
„Selbsthilfefunktionäre wie Renate Demski vom Alzheimer-Ethik e.V. (Hamm) lehnen
jegliche Industriekontakte ab. Gerade die zumeist älteren pflegenden Angehörigen
seien besonders empfänglich für die Botschaften der Pharmahersteller. Aufgabe der
Selbsthilfe sei es aber, die Betroffenen bei der Alltagsbewältigung zu unterstützen
und nicht falsche Hoffnungen in Therapien zu wecken“ (Franke, 2004).
V. 1.4 Tabellarische Übersicht über die Ergebnisse der Untersuchung
Die folgende Tabelle 2 gibt einen Überblick über die Ergebnisse aus den Interviews
der angesprochenen Expertinnen und Experten. Damit kann auch erkannt werden,
wo derzeit bereits – auf unterschiedlichen Ebenen - Verbindungen zu pharmazeutischen Herstellern bestehen und wie sich diese auswirken. Die Tabelle ist nicht als
Bewertung dieser Kooperationen gedacht, sondern lediglich als Beschreibung. Es
kann auch nicht unbedingt auf den Grad der Zusammenarbeit geschlossen werden,
es geht vielmehr um Hinweise, ob überhaupt Verbindungen zu Anbietern erkennbar
sind. Diese Verbindungen in Art und Umfang transparent zu machen, wäre aus unserer Sicht der nächste Schritt, den die Selbsthilfe-Organisationen und –Gruppen gehen sollten.
57
Tabelle 2
58
59
VI. Kurzfassung und Ausblick
VI.1 Stärkung der Ressourcen
In eine kontinuierlich, verlässlich und einheitlich geregelte Förderpraxis durch den
Staat und die Krankenkassen sollten sukzessive auch die anderen Sozialversicherungsträger einbezogen werden. Auf diese Weise wird die Selbsthilfegemeinschaft im
Rahmen gesetzlich geregelter unterstützender Maßnahmen (§ 20 c SGB V) finanziell, personell, strukturell und inhaltlich in ihrer Unabhängigkeit gestärkt (mit der Gesundheitsreform 2007 müssen obligatorisch von Seiten der GKV 0,55 Euro pro
Versichertem zur Verfügung gestellt werden.). Diese erkennbare Aufwertung wird zu
einer existenziellen Sicherheit führen, die eine geringe Empfänglichkeit oder Begehrlichkeit für zusätzliche Finanzierungsquellen aus der Industrie nach sich zieht, selbst
wenn ein höherer Finanzbedarf auftritt.
VI.2 Transparenz auf Nutzer- und Anbieterseite
Es sollte Transparenz sowohl auf der Nutzer- als auch Anbieterseite etabliert werden:
•
Auf Seiten der Selbsthilfe: Selbstverpflichtungserklärung über Mittelverwendung
•
Auf Seiten des Staates und der Krankenkassen: Verbindlichkeit und Transparenz bei der Mittelvergabe
•
Auf Seiten der Industrie: Deklaration über Sponsoringverträge mit Selbsthilfeund Patientengruppen sowie Vertretern der Wissenschaft
•
Auf Seiten der Wissenschaftlichen Beiräte: Im Zusammenhang mit Leitlinienerstellung und Vorträgen müssen Erklärungen über Beraterverträge mit der
Pharma-Industrie vorgelegt werden.
VI.3 Verantwortlichkeit auf beiden Seiten
Politik und Sozialversicherungsträger sollten sich in der Verantwortung sehen, den
Selbsthilfegruppen eine Basis-Finanzierung in einer Höhe zukommen zu lassen,
die den Bedarf nach Fremdfinanzierung niedrig hält, um so zur Unabhängigkeit der
Selbsthilfe beizutragen. Die Selbsthilfe ihrerseits trägt die Verantwortung für eine
nachweisbare Unabhängigkeit – für die Transparenz über Sponsoring-Gelder muss
60
nach „innen“ und „außen“ gesorgt werden. Die GKV und die Spitzenverbände der
Selbsthilfe (BAGS, DPWV e.V., DAG SHG, DSH) sollten gemeinsam eine Selbstverpflichtungserklärung erstellen, die auch von beiden Seiten akzeptiert werden kann.
Eckpunkte zu einer solchen Erklärung liegen bereits auf beiden Seiten vor. Die Ergebnisse einer solcher Diskussion sollen vor dem Inkrafttreten auch den pharmazeutischen Herstellern erläutert werden. Die pharmazeutischen Hersteller sollten ihren
Kodex zum Umgang mit Ärztinnen und Ärzten um den Umgang mit Patienten- und
Selbsthilfegruppen erweitern und Sanktionen bei Verstößen vorsehen
VI.4 Task Force „Good Sponsoring Practice (GSP)“
Zusätzlich sollte eine unabhängige und neutrale Monitoringstelle (Task-Force) installiert werden, die beauftrag tist, sowohl Kontroll- wie auch Beratungskompetenz auszuüben. Ihre Mitarbeiter sollten sich aus unabhängigen Experten zusammensetzen,
die über Vorfälle intransparenter Sponsoring- oder Informationsaktionen beraten sollten, wenn eine mögliche Beeinflussung der Selbsthilfe durch Interessenvertreter aus
der Industrie (Pharma-Hersteller, Medizintechnik) oder der Ärzteschaft befürchtet
werden muss. Diese Vorfälle könnten durch Anzeigen „von außen“ oder durch die
Meldung von Selbsthilfe- oder Gremienmitarbeitern öffentlich gemacht werden.
Gleichzeitig könnte diese Instanz auch Beraterfunktion im Hinblick auf das Abwickeln
von Sponsoringverträgen übernehmen. Die Finanzierung dieses unabhängigen Gremiums sollte durch das BMG und/oder die GKV erfolgen. Die Transparenz der Arbeiten in diesem Gremium wird durch einen Internetauftritt sichergestellt, auf dem alle
Selbsthilfe- oder Patientengruppen genannt sind, die sich an einen noch auszuhandelnden Kodex zum Umgang mit Sponsoring halten wollen. Sollte einer Selbsthilfeoder Patientengruppe ein unlauterer Umgang mit diesem Kodex nachgewiesen werden, soll die Nennung dieser Gruppe gestrichen werden. Insofern kann sich dieser
Internetauftritt als Referenzliste für ein „Good Sponsoring Practice (GSP)“ entwickeln.
61
VII. Kriterienkatalog für eine Selbstverpflichtungserklärung
Unabhängig von der Einrichtung einer Monitoringstelle für den Bereich Selbsthilfe,
die mit unabhängigen Experten besetzt sein soll, muss es verbindliche Regeln geben, die von allen Selbsthilfe- und Patientengruppen beachtet werden, wenn sie eine
Förderung durch die gesetzliche Krankenversicherung anstreben („Good Sponsoring
Practice (GSP)“). Hierzu kann eine Selbstverpflichtungserklärung dienen, die von
allen Selbsthilfe- oder Patientengruppen beachtet und im Alltag als Leitlinie berücksichtigt wird. In eine solche Selbstverpflichtungserklärung könnten folgende Aspekte
eingehen:
ƒ
Es müssen ethische Grundregeln vereinbart und schriftlich verankert werden.
ƒ
Die Anonymität der Mitglieder muss gewahrt bleiben. Adressen dürfen nicht an
Dritte weitergegeben werden.
ƒ
Ziele über Angebote und Tätigkeiten in der Selbsthilfegruppe und –organisation
müssen klar definiert werden.
ƒ
Patientenschulungen müssen neutral, unabhängig von der Pharma-Industrie
erfolgen.
ƒ
Es dürfen keine Arzneimittelproduktwerbung oder Arzneimittelempfehlungen in
Zeitschriften, in den Internetauftritten der Selbsthilfegruppe oder bei Vorträgen
oder Kongressen vorkommen.
ƒ
Jeglicher Werbekontakt auf Patientenkongressen zwischen Herstellern verschreibungspflichtiger Arzneimittel und Betroffenen sollte unterbleiben.
ƒ
Arzneimittelpublikationen in Zeitschriften und Internet sollten nicht ausschließlich mit den Leitlinien deutscher Fachgesellschaften übereinstimmen, es
sollte vielmehr ein Abgleich mit anderen Publikationen oder Stellungnahmen
von industrieunabhängigen Institutionen vorgenommen werden (z.B. BfArM,
NICE, IQWIG u. a.).
ƒ
Der Wissenschaftliche Beirat sollte seine Unabhängigkeit von der Industrie darlegen können oder bestehende Beraterverträge allgemein zugänglich offen legen.
ƒ
Der Wissenschaftliche Beirat sollte präzise formulierte Zielvorstellungen seiner
Tätigkeit in der Selbsthilfeorganisation definieren.
ƒ
Pharmagesponserte Referenten sollten für Vorträge nur dann akzeptiert werden, wenn vor der Zuhörerschaft eine Erklärung erfolgt.
62
ƒ
Es sollte keine verdeckte, pauschale oder personenbezogene Förderung erfolgen, ebenso wenig Sachleistungen durch die Pharma-Industrie.
ƒ
Bei einer projektbezogenen Förderung durch die Pharma-Industrie sollten die
Inhalte und die Finanzierung offen gelegt werden, nach innen und außen, z.B.
auf der Homepage (zugänglich für Mitglieder und Andere).
ƒ
Die Kontrolle über die Inhalte eines pharma-geförderten Projektes sollte stets
der Selbsthilfe obliegen.
ƒ
Es sollte das Fortbestehen eines gesponserten patientenrelevanten Projektes
auch beim Wegfall der Förderleistung gesichert sein.
ƒ
Es sollten keine Serviceleistungen zur Medienentwicklung und Öffentlichkeitsarbeit (z. B. Erstellen von Web-Sites, Broschüren und Flyern etc.) über PRAgenturen, von der Pharma-Industrie finanziert, erfolgen.
63
VIII Verzeichnis der interviewten Experten
Dr. Bettina Berger, Universität Hamburg
Prof. Dr. med. Peter Berlit, Facharzt für Neurologie, Friedrich-Krupp-Krankenhaus
Peter Biel, Psoriasis-Selbsthilfe-Gruppe Panap e. V.
Dr. Wolfgang Busse, Paritätischer Wohlfahrtsverband
Rolf Blaga, Psoriasis-Selbsthilfe-Gruppe PSO-AG Berlin
Monika Bobzien, KISS
Dr. Stefan Etgeton, Verbraucherzentrale Bundesverband
Dr. Erika Feyerabend, Journalistin und Mitherausgeberin der Zeitschrift Bioskop
Karsten Fricke, Marketingabteilung, Orion-Pharma
Klaus Heß, Der Paritätische Gesamtverband e. V.
Evelyne Hohmann, Patientenberatung der Theodor Springmann Stiftung
Dr. Dipl.-Psych. Jutta Hundertmark-Mayser, NAKOS
Anja Isorinne, Deutscher Psoriasis Bund
Sabine Jansen, Deutsche Alzheimer Gesellschaft
Martina Keller, Journalistin
PD Dr. med. Jörg Kleine-Tebbe, Facharzt für Dermatologie und Allergologie
Christoph Kranich, Verbraucherzentrale e. V.
Michael Kröger, Deutscher Psoriasis Bund
Hans-Detlev Kunz, Deutschen Psoriasis Bundes
Gabriele Linde, Deutsche Parkinson Vereinigung
Heidemarie Marona, Janssen-Cilag
Karin Mertel, Dachverband für Osteoporose Selbsthilfegruppen
Dr. med. Beatrice Moreno, MPH, ehemals IQWiG
Prof. Dr. med. Ingrid Mühlhauser, Universität Hamburg
64
Prof. Dr. med. Roland Niedner, Facharzt für Pharmakologie und Dermatologie, Ernst
von Bergmann Klinikum
Prof. Dr. med Johannes Pfeilschifter, Facharzt für Endokrinologie und Osteologie
Frau Rose, Deutscher Psoriasis Bund
Prof. Dr. med. Peter Sawicki , Facharzt für Innere Medizin und Diabetologie, IQWIG
Dr. med. Arne Schäffler, Arzt, Transparency International
Prof. Dr. med. Norbert Schmacke, Facharzt für Innere Medizin und Sozialmedizin,
Universität Bremen
Thomas Schwennesen, Deutscher Neurodermitis Bund
Dr. med. Angela Spelsberg, M.S., Transparency International
Hermann Terweiden, Parkinson-Selbsthilfe „Schneckenhaus“
Günter Wehrse, Deutscher Psoriasis Bund
65
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X. Anhang:
Exkurs: Aufmerksamkeitsdefizit- / Hyperkinetisches Syndrom
(ADHS). Ergebnisse aus dem April 2005
Im einem ersten Projektbericht (Fegert et al., 2002), der im Auftrag des BMGS zur
Anwendung von Psychostimulanzien vorgelegt wurde, konnten nach der Analyse der
Verordnungsdaten der Gmünder Ersatzkasse GEK Auffälligkeiten identifiziert werden, die für eine hohe Varianz und Asymmetrie der Verordnungsprävalenz sprachen:
Die durchschnittliche Behandlungsprävalenz schwankte nach Regionen zwischen 0,4
und 2,8% der Kinder zwischen 6 und 14 Jahren, in einzelnen Regionen betrug sie bis
zu 12% bei den Jungen zwischen 9 und 12 Jahren. Es gab immer wieder off-labeluse-Verordnungen für Kinder unter 6 Jahren (die Anwendung des Wirkstoffs Methylphenidat (vor allem in Concerta, Medikinet und Ritalin) ist erst ab dem 6. Lebensjahr zugelassen) und ca. 20% aller Verordnungen entfielen auf Amphetamin-haltige
Rezepturen. Die Geschlechtsverteilung der behandelten Kinder war 85% Jungen und
15% Mädchen.
Die Mehrzahl der Psychostimulanzien (52% der Packungen) wurde durch Kinderärzte verordnet, an zweiter Stelle standen mit je 19% der Packungen Allgemeinärzte/praktische Ärzte und Nervenärzte. Die restlichen 10% der Packungen wurden
durch Kliniken und Institute sowie 21 verschiedene Facharztgruppen verordnet, darunter beispielsweise Pathologen, Laborärzte, Radiologen und Urologen.
In einer weiterführenden Untersuchung nun wurde der Frage nachgegangen, ob es
einen Zusammenhang zwischen der regionalen Verteilung von Elterngruppen und
ihrer Haltung zur medikamentösen Therapie einerseits und der Behandlungsprävalenz andererseits in der Region geben könnte. Dazu wurde nach bestimmten Kriterien eine Recherche im Internet vorgenommen. Diese Untersuchung ist davon
ausgegangen, dass bundesweit zahlreiche Elterninitiativen gegründet wurden, die
unter anderem Eltern hyperkinetischer Kinder über Therapieformen und Therapieeinrichtungen informieren und von ihren Erfahrungen berichten wollen. Vorauszusetzen
ist auch, dass die einzelnen Elterngruppen die medikamentöse Behandlung unterschiedlich bewerten und dementsprechend auch Empfehlungen herausgeben. Elterngruppen könnten dadurch indirekt über die Therapieempfehlung, oftmals aber
auch direkt über die von ihnen informierten Eltern Einfluss auf die Therapie und das
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Verordnungsverhalten des Arztes und schließlich auf die Behandlungsprävalenz
nehmen.
Zusammenfassung der Ergebnisse:
•
Die verschiedenen Elterngruppen nehmen unterschiedliche Haltungen zur medikamentösen Therapie des hyperkinetischen Syndroms ein.
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Insgesamt wurden 138 Elterngruppen identifiziert, von denen 122 eine positive
Grundhaltung, oftmals zur alleinigen medikamentösen Therapie einnahmen.
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Die regionale Verteilung dieser Elterngruppen, die eine medikamentöse Therapie
deutlich befürworten, ist ebenfalls unterschiedlich.
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Für Jungen ist in den Postleitzahl - Regionen 9 und 6 die höchste „Betreuungsund Informationsdichte“ durch Elterngruppen und gleichzeitig auch die höchste
Neuverordnungsrate festzustellen.
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Für Mädchen ist in den Postleitzahl - Regionen 9 und 6 die höchste „Betreuungsund Informationsdichte“ und in den Postleitzahl - Regionen 9 und 2 die höchste
Neuverordnungsrate festzustellen.
•
Die Auswertungen zeigen, dass in Regionen mit einer hohen „Betreuungs- und
Informationsdichte“ durch Elterngruppen, die eine Arzneimitteltherapie befürworten gegenüber anderen Regionen auffällig hohe Neuverordnungsraten auftreten.
Dies lässt zumindest die Annahme als denkbar erscheinen, dass die Arbeit und
die Informationspolitik dieser Elterngruppen das Verordnungsverhalten und Behandlungsverhalten zumindest mit beeinflussen und dass bei den erkennbaren
regionalen Unterschieden in der Verordnungsprävalenz der Einfluss und die Einstellung von Elterngruppen nicht außer Acht gelassen werden dürfen.
Diese Ergebnisse lassen es zumindest als wahrscheinlich erscheinen, dass in einigen Regionen ein Zusammenhang zwischen der Anzahl der Arzneimitteltherapie befürwortenden Elterngruppen und der Neuverordnungshäufigkeit bestehen kann. Die
Symmetrie ist in den Regionen mit hoher Betreuungsdichte ausgeprägter als in Regionen mit niedriger „Elterngruppendichte“. Eine geringe Betreuungsdichte tritt seltener
mit einer geringen Neuverordnungsrate in der Region auf. Eine geringere Anzahl
Arzneimittel befürwortender Elterngruppen ist also nicht in gleichartig ausgeprägter
Weise mit einer geringeren Neuverordnungsrate verbunden.
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Aus diesen Beobachtungen lässt sich die Vermutung ableiten, dass der Einfluss von
Elterngruppen, die die Arzneitherapie positiv bewerten, und ihre aktive Interaktion mit
den verordnenden Ärzten bzw. die gezielte Empfehlung für bestimmte Ärztinnen und
Ärzte, die eher bereit sind, einschlägige ADHS-Arzneimittel zu verordnen, an einer
Steigerung der Anzahl der medikamentös behandelten Kinder beteiligt sein könnten.
Die regionalen Unterschiede in der Verordnungsprävalenz, zumindest die in einigen
Regionen recht hohen Verordnungsraten, könnten durch die Einflussnahme dieser
Elterngruppen mitbedingt sein.
Elterngruppen werden auch häufiger von pharmagesponserten Referenten informiert.
Es ist daher davon auszugehen, dass viele Elterngruppen ihre Entscheidung für eine
medikamentöse Therapie durch gezielte Informationen der Hersteller treffen und
dass auf diesem Weg den sicherlich häufig extrem belasteten Eltern ein Weg zur
Bewältigung der Probleme ihrer ADHS- Kinder gezeigt wird.
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