Zum des Heftes

Werbung
wissenschaft.de
plus
Aufbruch
zu neuen
Horizonten
Wie Pharmaforscher Medikamente entwickeln
Eine Sonderpublikation in Zusammenarbeit mit der Boehringer Ingelheim GmbH
Editorial | Inhalt
Vom Elfenbeinturm zum Forschungsbiotop
Text & Grafik: Daniela Leitner
Kooperation
Pharmafirmen
F ör
AK AD EM ISC HE
NE TZ WE RK E
• bilden aus
• betreiben Grundlagenforschung
• erforschen molekulare
Krankheitsprozesse
• entwickeln neue Methoden
und identifizieren
Ansätze zur Beeinflussung
von Krankheiten
INVE STO REN
ung
Fonds
• bringen die
besten Partner
zu einem Thema
zusammen
• investieren und forschen
• erforschen molekulare
Krankheitsprozesse
• entwickeln Wirkstoffe zu
Medikamenten weiter
• haben Erfahrung in klinischer
Forschung und Zulassung
sowie Produktion und Vertrieb
• führen erste klinische
Studien durch
Kooperation
ner geb
S tudie
finanzierung
B IO TE C H S TA R TU P S
För der ung und Studien
Förderung
Be teiligung
Kauf
nis s e
Ausgründungen
Kooperation
Universit äten
Forschungsinstitute
der
Forschungsbiotop
Pharmaforschung in einem
interdisziplinären Biotop
Niemals zuvor in der Geschichte wurden Menschen so alt.
Und: Die Lebenserwartung steigt weiter. Ein heute in Deutschland geborener Junge hat eine statistische Lebenserwartung von
fast 78 Jahren, ein neugeborenes Mädchen von fast 83 Jahren.
Für diese Entwicklung gibt es eine Reihe von Ursachen: Hoher Lebensstandard, ausgewogene Ernährung, Arbeitsschutz,
Sport – und der medizinische Fortschritt. Ärzte erhalten und
retten Menschenleben. Und Pharmazeutika helfen ihnen dabei
und sorgen nicht selten dafür, das Leben auch bei chronischen
Krankheiten wieder lebenswert zu gestalten.
Trotz dieser positiven Entwicklung stehen Pharmaunternehmen immer wieder in der Kritik, nichts anderes zu wollen, als
rasch möglichst viel Geld zu verdienen.
Klar ist, ohne finanzielle Erträge gäbe es keine neuen Medikamente. Denn nur ein Unternehmen, das wirtschaftlich erfolgreich ist, hat die Kraft, die oft mehr als ein Jahrzehnt dauernde
Entwicklung für ein Medikament durchzustehen.
In dieser Sonderausgabe dokumentiert bild der wissenschaft
beispielhaft die Herausforderungen, die bei der Medikamentenentwicklung zu meistern sind. Wie verwoben das ist, offenbart
die große Infografik auf der gegenüberliegenden Seite. Wir präsentieren Ihnen den „Aufbruch zu neuen Horizonten“ in Kooperation mit Boehringer Ingelheim: einem Global Player der
Pharma-Branche; einem Unternehmen, das am 1. August 2015
bereits 130 Jahre alt wurde; einer sich ausschließlich in Familienbesitz befindlichen Firma, die sich dezidiert zu ethischen Prinzipien bekennt.
Ich bin mir bewusst, dass viele unserer Leserinnen und Leser
dieses bild der wissenschaft plus kritisch in die Hand nehmen.
Doch Sie werden das nicht bereuen. Denn vieles von dem, was
Sie hier lesen, vermittelt Einblicke, die Sie sonst kaum bekommen.
INDU STR IE
AK ADE MIS CHE
INST ITUT IONE N
02 _ Vom Elfenbeinturm zum
Ein tiefer Einblick in moderne Pharmaforschung
Früher konnte es sehr lange dauern, bis neue wissenschaftliche Erkenntnisse in die Pharmaforschung einflossen. Der Grund dafür waren starke
Berührungsängste zwischen Universitäten und Industrie – Kooperationen waren selten. Der Weg von der Grundlagenforschung bis zur Entwicklung
neuer Therapien kam deshalb so nur sehr mühsam voran. Heute ist dies zum Glück anders: Pharmaindustrie und Universitäten arbeiten mittlerweile
Hand in Hand zusammen, um gemeinsam ein therapeutisches Problem zu lösen, mit dem Wohl des Patienten im Mittelpunkt. In dieses interdisziplinäre
Biotop gesellen sich außerdem fünf weitere Gruppen: Junge Biotechunternehmen, akademische Netzwerke, medizinische Forschungseinrichtungen,
staatliche Institutionen und die Patienten selbst. Sie alle sind beteiligt, wenn es um die Entwicklung neuer Medikamente geht. Jede Gruppe – unten
als Heilpflanze dargestellt – bringt dabei ihre Stärken und Erfahrungen ein, damit Erkrankten am Ende besser und schneller geholfen werden kann.
P A T IE N T E N
P A T IE N T E N
VER TRE TU
NGEN
• artikulieren
und vertreten
die Wünsche
der Patienten
04 _ Schatzsuche im Reich der Moleküle
Nintedanib ist ein Medikament,
das bei zwei Krankheiten hilft
13 _ Lichtschalter für Nervenzellen
Mit Optogenetik lassen sich erstmals
einzelne Nervenzellen untersuchen
14 _ „Die menschliche Komponente ist
wichtig für den Erfolg“
Andreas Barner über ethische Verantwortung
und Perspektiven in der Pharmaindustrie
18 _ Neue Wege im Kampf gegen Krebs
Immuntherapeutische Ansätze sind die größten Hoffnungsträger der Pharmaindustrie
21 _ Impressum
22 _ Der Mann für Sicherheit
Christopher Corsico ist verantwortlich für
die Medikamentensicherheit
26 _ Kraftakt für einen Lebensretter
Zwischen Entwicklung und Vermarktung
eines Arzneimittels steht die Zulassung
32 _ Im Zeichen des Wandels
Wie Wissenschaftler den Boden für Innovationen bereiten
er un
g
36 _ Meilensteine bei Boehringer Ingelheim
STA ATL ICH E
INS TIT UTI ONE N
Ko
op
ti
er a
on
Zentren / Kliniken,
die klinische For schung
betreiben
Klinische For schungsdienstleis ter
Zulassungsbehörden
Institute zur
Nut zenbewertung
Forschungs förderung
Wolfgang Hess
Chefredakteur
• wägen Sicherheit, Effektivität,
Kosten und Nutzen ab
• entscheiden über Zulassung und Erstattung
• tauschen sich mit Unternehmen und
Patientenvertretungen aus, um den
besten Weg zur Zulassung zu finden
2 bild der wissenschaft plus
• führen klinische Studien und
Zulassungsstudien durch
• führen Anwendungsstudien durch
Nachwuchsforscher im Porträt
Welche Perspektiven die
Pharmaforschung ihnen bietet.
07 _ Ulrike Groß
09 _ David Wyatt
11 _ Andre Broermann
25 _ David Keays
31 _ Alessandra Bartolozzi
Grafik: Daniela Leitner
• forschen und entwickeln
• liefern neue Konzepte
und Wirkstoffe, die
anschließend von
Pharmapartnern weiterentwickelt werden
Foto: W. Scheible, Cover: A. Brookes/Corbis
F ör d
ME DI ZIN ISC HE
FO RS CH UN G
bild der wissenschaft plus 3
Wirkstoffsuche
Schatzsuche
im Reich der
Moleküle
Früher war oft Zufall im Spiel, wenn Wissenschaftler Medikamente entdeckten. Doch moderne
Arzneimittelforschung erlaubt es, Wirkstoffe auf einer rationalen Basis zu entwickeln – und
manchmal lassen sich damit sogar zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen.
von Claudia Eberhard-Metzger
Alle Fotos: W. Scheible
E
s gibt Krankheiten, gegen die kein
Kraut gewachsen ist. Und das sind
noch immer erstaunlich viele: Ein
Drittel der mehr als 30 000 Leiden, von
denen die Menschheit geplagt wird, lässt
sich überhaupt nicht oder nur unzureichend behandeln. Die idiopathische Lungenfibrose zählte noch bis vor Kurzem
dazu. Was die Erkrankung verursacht,
ist unbekannt; wer sie erleidet, stirbt
meist drei bis vier Jahre nach der Diagnose. Damit hat die Lungenfibrose eine
schlechtere Prognose als viele Krebserkrankungen. Doch seit jüngster Zeit gibt
es zwei Medikamente, mit denen sich das
Fortschreiten des schweren Leidens erstmals hinauszögern lässt. Eines davon ist
Nintedanib, ein Wirkstoff von Boehringer Ingelheim. An seiner Entwicklung
lässt sich exemplarisch aufzeigen, wie
Arzneimittelforscher heute vorgehen, um
im Reich der Moleküle nach neuen Behandlungsweisen gegen schwere Leiden
des Menschen zu fahnden. „In der Vergangenheit war es oft der Zufall, der die
Geschicke leitete“, sagt Frank Hilberg
t Lutz Wollin war maßgeblich an der Entwicklung von Nintedanib als Arznei gegen idiopathische
Lungenfibrose beteiligt. Im Hintergrund Fibroblasten, Zellen des Bindegewebes, die eine zentrale
Rolle bei der Entstehung der Erkrankung spielen.
4 bild der wissenschaft plus
Die meisten Wirkstoff-Kandidaten scheitern und erlangen nie
den Ehrentitel „Medikament“. Nintedanib ist diese Ehre gleich
zweifach zuteil geworden: Es eignet sich als Arznei für Patienten
mit einem Adenokarzinom und bei idiopathischer Lungenfibrose.
Im Bild: Weichkapseln auf dem Sicherheitsdatenblatt.
bild der wissenschaft plus 5
Wirkstoffsuche
die Wachstumsbotschaft im Innern der
Zelle von zahlreichen Molekülen wie der
Stab bei einem Staffellauf weitergereicht
und dabei verstärkt. Die molekulare Signalkette endet im Zellkern. Dort werden Gene angeschaltet, die Zellen dazu
veranlassen, sich zu teilen; andere Gene
bestimmen, wie die neu gebildeten Zellen
mit anderen Zellen Kontakt aufnehmen
und auf welche Weise sie sich zu einem
funktionstüchtigen Blutgefäß zusammenschließen sollen.
Foto: M. Appelt
Zur Vermehrung animiert
Zu den einflussreichsten Mitspielern
bei der Angiogenese zählt der Vascular Endothelial Growth Factor, kurz VEGF. Der
Wachstumsfaktor animiert Zellspezialisten
– die Endothelzellen der Blutgefäße – dazu, sich zu vermehren. Endothelzellen sind
für Blutgefäße unverzichtbar. Sie kleiden
die Gefäße von innen wie eine dünne Tapete aus und sind für nichts weniger verantwortlich als den lebenswichtigen Gas-,
Flüssigkeits- und Stoffaustausch zwischen
Blut und umliegendem Gewebe. Das Ziel
von Frank Hilberg und Gerald Roth war
es Mitte der 1990er-Jahre, die Wirkung des
Proteins VEGF auszuschalten, die Angiogenese anzuhalten und so zu verhindern,
dass Blutgefäße entstehen, die Tumore am
Leben halten. Doch wie findet man Substanzen, die VEGF ausbremsen können?
„Wir stellten zunächst eine Bibliothek mit rund 100 000 Molekülen zusammen, die uns biologisch interessant
erschienen“, erläutert Frank Hilberg.
„Anschließend prüften wir, ob eines der
Moleküle die Funktion des Zielproteins
verändern kann.“ Die so identifizierten
Moleküle wurden systematisch modifiziert, um die erwünschte hemmende Wirkung zu verbessern. Bereits die tausendste
Prüfsubstanz zeigte einen Effekt und erklomm nach weiteren Analysen zügig die
nächste wichtige Untersuchungsstufe auf
der langen Treppe zum Medikament, die
präklinische Toxikologie. Dort ermitteln
die Arzneimittelforscher – weit vor jeder
denkbaren Anwendung am Menschen –,
wie sich der Wirkstoff verhält, wenn er
sich nicht mehr im Reagenzglas, sondern
in einem lebenden Organismus befindet.
„In der Toxikologie ist unser erstes vielversprechendes Molekül mit Pauken und
Trompeten durchgefallen“, erinnert sich
Frank Hilberg. Es zeigten sich schwere
Auf Kosten gesunder Zellen
Die Geschichte des neuen Medikaments beginnt Mitte der 1990er-Jahre.
Der Biologe Frank Hilberg vom Boehringer Ingelheim Research Center in Wien
sucht zusammen mit seinem Kollegen,
dem Chemiker Gerald Roth von der
Chemischen Forschung am Standort von
Boehringer Ingelheim in Biberach, nach
Substanzen, die in einen verhängnisvollen Prozess einzugreifen vermögen, der
sich Tumor-Angioneogenese nennt. So
bezeichnen Wissenschaftler die tückische
Eigenschaft von Tumoren, Blutgefäße an6 bild der wissenschaft plus
zulocken, um ihre Versorgung mit Nährstoffen und Sauerstoff sicherzustellen.
Ohne Anschluss an das Blutgefäßsystem
des Körpers kommen Tumore über die
Größe eines Senfkorns kaum hinaus.
Gelingt es ihnen aber, Blutgefäße zu akquirieren, verwandeln sie sich in das, was
Ärzte als „bösartig“ bezeichnen: Entartete Zellen wachsen ungehemmt auf Kosten gesunder Zellen, Gewebe und Organe
heran, verlassen den Ort ihres Entstehens
und siedeln in anderen Regionen des Körpers als Tochtergeschwülste.
Die Idee, Tumore daran zu hindern,
die Neubildung von Blutgefäßen zu veranlassen und Krebsgeschwülste auf diese
Weise gleichsam den Hungertod sterben
zu lassen, geht zurück auf Arbeiten des
amerikanischen Forschers Judah Folkman. Der Zellbiologe und Mediziner
untersuchte in den 1960er-Jahren, wie
Blutgefäße zu Tumoren hinwachsen und
stellte Anfang der 1970er-Jahre die Hypothese auf, dass alle Krebsarten von der
Angiogenese abhängig seien. Folkman
gab der Krebsforschung damit eine neue
Richtung und der Suche nach Wirkstoffen, die in das folgenschwere Geschehen
eingreifen, weltweiten Auftrieb.
Die Neubildung von Blutgefäßen ist
komplex und viele zelluläre und molekulare Mitspieler sind daran beteiligt. Unterschiedliche Zellspezialisten, etwa Muskel- und Bindegewebszellen, müssen sich
dazu kontrolliert vermehren, in geordneter Weise zusammenfinden und zielgerichtet wachsen. Animiert – und überwacht
– werden die Zellen von bestimmten Proteinen, sogenannten Wachstumsfaktoren.
Sie entfalten ihre Wirkung, indem sie
an Rezeptoren andocken, spezielle Aufnahmestationen auf der Oberfläche der
Zielzellen. Sobald ein Wachstumsfaktor
an seinen Rezeptor gebunden hat, wird
Ulrike Groß _ geboren 1982 in Lauffen am Neckar, ist Chemikerin und Laborleiterin in der
Medizinischen Chemie.
„Ich war schon lange begeistert von der Idee, mein chemisches Wissen für die Entwicklung von neuen
Medikamenten einzusetzen. An der Universität Cambridge hatte ich Gelegenheit, mit zwei MedizinalChemikern von Boehringer Ingelheim zusammenzuarbeiten, die mir viel von ihrer Arbeit erzählt haben. Daraufhin habe ich mich als Laborleiterin bei BI beworben. Derzeit arbeite ich dort an zwei Projekten. Beide haben zum Ziel, neue Wirkstoffe gegen psychiatrische Erkrankungen wie Depression
und Schizophrenie zu finden. Meine Aufgabe ist es, neue chemische Moleküle zu entwerfen,
die verbesserte biologische Eigenschaften zeigen. Diese Moleküle werden dann von meinem
Laborteam zum ersten Mal synthetisiert und durchlaufen anschließend viele biologische Tests.
Als Medizinische Chemikerin fasziniert es mich, die biologischen Eigenschaften von Molekülen zu beeinflussen, indem ich gezielt ihre chemische Struktur verändere.
Foto: T. Klink
von Boehringer Ingelheim. Die moderne
Pharmaforschung könne aufgrund eines
besseren molekularen Verständnisses der
Krankheitsentstehung jedoch auf eine rationale Strategie setzen und „intelligent
und zielgerichtet“ vorgehen.
NACHWUCHSFORSCHERIN IM PORTRÄT
Frank Hilberg erklärt, wie Nintedanib die Teilung von verschiedenen
Zelltypen hemmt, die an der Blutgefäßbildung beteiligt sind.
Es begeistert mich, Teil eines interdisziplinären Teams von Forschern zu
sein, die mit großem Engagement und viel Kreativität an einem gemeinsamen Ziel arbeiten. Diese Art der Teamarbeit bedeutet für mich, dass ich nicht
nur für den medizinal-chemischen Fortschritt des Projekts verantwortlich bin,
sondern auch die Strategie des gesamten Projekts mitgestalten kann.“
bild der wissenschaft plus 7
Nebenwirkungen, „damit war die Substanz für uns erledigt“.
Weitere chemische Veränderungen
führten bereits 120 Substanzen später
zu einem Molekül mit dem Boehringer
Ingelheim internen Code BIBF 1120. Anders als seine Vorgänger meisterte es alle
nachfolgenden Hürden und erwies sich
zudem als dreifach wirkstark: BIBF 1120
– das heutige Nintedanib – hemmt nicht
nur VEGF, sondern zudem zwei weitere
Wachstumsfaktoren der Angiogenese,
die die Kürzel PDGF (Platelet Derived
Growth Factor) und FGF (Fibroblast
Growth Factor) tragen. Nintedanib verhindert, dass Wachstumsfaktoren ihre
biologische Wirkung entfalten, indem es
ihnen gleichsam ihren Platz am jeweiligen
Rezeptor streitig macht und die Informationsübermittlung vereitelt. Frank Hilberg fasst den Wirkmechanismus in präzise wissenschaftliche Worte: „Nintedanib
bindet an die sogenannte Kinasedomäne
der jeweiligen Rezeptoren im Innern der
Zellen und verhindert so die energieabhängige Aktivierung der Rezeptoren und
damit die Signalweitergabe.“
Seit November 2014 ist Nintedanib,
der erste dreifache Angiogenese-Hemmstoff, in Deutschland zugelassen, um eine
bestimmte Form von fortgeschrittenem
Lungenkrebs zu behandeln. Das neue
Medikament kommt für Patienten mit
einem sogenannten Adenokarzinom infrage. Der Tumor wird von den Ärzten
in der Regel mit einer herkömmlichen
Chemotherapie behandelt, also mit Zellgiften, die sich gegen alle sich rasch teilenden Zellen im Körper richten. Schreitet der Krebs trotz Therapie fort, ist mit
dem Angiogenese-Hemmer Nintedanib
nun ein weiteres Medikament verfügbar.
Eine wunderbare Erfahrung
Von den ersten Laboruntersuchungen
im Reagenzglas, über weitere Tests mit
Zellkulturen und Geweben, den Untersuchungen mit Tieren bis hin zu ersten
Anwendungen beim Menschen und den
Studien zur Zulassung des Wirkstoffs als
Medikament gegen Lungenkrebs vergingen 14 Jahre – eine für die Entwicklung
von Arzneimitteln übliche Zeit. Den
Werdegang eines interessant erscheinenden Moleküls bis zu seiner Markteinführung von Anfang an in all seinen
Schritten miterleben zu dürfen, sei in
einem Forscherleben eine „seltene und
wunderbare Erfahrung“, meint Frank
Hilberg. Es sei ein bisschen so, „als würde man sein Kind über die Jahre hinweg
bis zur Selbstständigkeit begleiten“.
Die meisten Wirkstoff-Kandidaten
scheitern auf dem langen und hürdenreichen Weg zum Ziel und erlangen nie den
Ehrentitel Medikament. Nintedanib ist
diese Ehre gleich zweifach zuteil geworden: Im Januar 2015 wurde es europaweit auch zur Behandlung der Lungenfibrose zugelassen. Doch wie kann ein
Medikament zwei derart unterschiedliche Krankheiten beeinflussen? Der Doppelerfolg begründe sich mit der molekularen Wirkweise von Nintedanib, erklärt
der Pharmakologe Lutz Wollin von der
Boehringer
Ingelheim-Forschungsdependance in Biberach. Denn auf molekularer Ebene sind Krebs und Fibrose
weit weniger verschieden als es auf den
ersten Blick den Anschein haben mag.
David Wyatt _ geboren 1978 in Exeter, Vereinigtes Königreich, ist Laborleiter in der Abteilung für Immunologie und Atemwegserkrankungen.
Ich habe das Glück, zusammen mit einem interdisziplinären Team von Wissenschaftlern aus der ganzen Welt in einem gemeinsamen Projekt von Boehringer
Ingelheim und BioMedX mitzuwirken. Dabei geht es um epigenetische Einflüsse bei chronisch obstruktiver Lungenerkrankung (COPD), einer fortschreitenden Erkrankung der Atemwege, die häufig durchs Rauchen verursacht wird.
Ich bin schon ganz gespannt und hoffe, dass wir zusammen einen Weg
finden, der zu neuen Therapien führt.“
Foto: T. Klink
„Als Kind habe ich alte Maschinen und Spielzeug auseinandergenommen, um zu sehen, wie sie funktionieren, oder um defekte Gegenstände zu reparieren. Heute mache ich im Prinzip nichts
anderes: Ich versuche, die Komponenten einer Erkrankung zu erfassen, um anschließend Medikamente zu entwickeln. Ich arbeite explorativ an Ideen, die zu Therapien
gegen Lungenfunktionsstörungen führen können. Es geht vor allem darum, Moleküle
zu identifizieren, die mit bestimmten Krankheitsprozessen in Verbindung stehen.
Mein Team und ich versuchen, diese Moleküle so zu verändern, dass sich das Krankheitsbild des Patienten verbessert. Kooperationen mit anderen wissenschaftlichen
Institutionen spielen dabei eine ganz wesentliche Rolle – man sollte nicht nur innerhalb der eigenen Mauern denken!
NACHWUCHSFORSCHER IM PORTRÄT
Foto: W. Scheible
Wirkstoffsuche
Eine Verdünnungsreihe mit Nintedanib wird mit einer Multikanalpipette in eine Mikrotiterplatte vorgelegt. In diesen Platten werden anschließend enzymatische Tests oder Zellkulturexperimente durchgeführt.
8 bild der wissenschaft plus
bild der wissenschaft plus 9
Wirkstoffsuche
Lutz Wollin und seine Biologielaborantin Jennifer Schütz in seinem Labor am Standort
Biberach. Auf dem Computerbildschirm zeigt ein Spektralphotometer die Ergebnisse eines
enzymatischen Assays an, der in einer Mikrotiterplatte durchgeführt wurde.
„Die Entstehung der Lungenfibrose“,
sagt Lutz Wollin, „zeigt auffällige Ähnlichkeiten zum Entstehen von Krebs.“
Aus dieser Analogie wurde 2005 von
den Wissenschaftlern Birgit Jung und
John Park, beide aus der Atemwegsforschung von Boehringer Ingelheim in Biberach, die Hypothese aufgestellt, dass
Nintedanib zur Behandlung von idiopathischer Lungenfibrose anwendbar sein
sollte.
Zu einer Fibrose kommt es, wenn
sich Bindegewebszellen, Fibroblasten
genannt, übermäßig vermehren und
ausbreiten. Grundsätzlich können al10 bild der wissenschaft plus
le Organe von einer Fibrose betroffen
sein. Ein Beispiel ist die alkoholbedingte
Leberzirrhose, bei der gesunde, schadstoffabbauende Leberzellen unter dem
ständigen Einfluss des Zellgiftes Alkohol nach und nach durch „wertlose“
Bindegewebszellen ersetzt werden. Warum die Bindegewebszellen der Lunge beginnen, sich unkontrolliert zu teilen und
zu verbreiten, ist nicht bekannt. Lange
Zeit gingen Wissenschaftler von einem
entzündlichen Geschehen aus. Heute
nehmen sie an, dass überschießende Reparatur- und Wundheilungsprozesse am
Anfang des Leidens stehen.
Danach schädigen äußere Einflüsse – etwa Zigarettenrauch, Schadstoffe
in der Luft, aber auch Viren, Bakterien
oder eingeatmete Magensäure – das Lungenepithel, eine zarte einschichtige Lage
von Zellen, die die Lungenbläschen auskleidet. Wird das Epithel verletzt, setzen
sofort Reparaturmaßnahmen ein: Jene
Wachstumsfaktoren, die auch bei der
Angiogenese eine Rolle spielen, werden
ausgeschüttet und regen Bindegewebszellen dazu an, sich zu vermehren, auszubreiten und extrazelluläre Matrix zu
produzieren. Dabei handelt es sich um
eine proteinreiche, von Fasern durchzo-
Bei Menschen, die an einer Lungenfibrose leiden, laufen die natürlichen Prozesse der Wundheilung unkontrolliert ab.
Bei ihnen werden Zellen des Lungenepithels wahrscheinlich durch sogenannte
Myofibroblasten ersetzt – sehr produktive Zellen, die weit mehr Matrixmaterial
erzeugen als erforderlich ist. Die Funktion der umgebenden gesunden Epithelzellen wird dadurch erheblich beeinträchtigt. Mehr und mehr überwuchert zähes
Narbengewebe die dünne, gut durchblutete Epithelschicht der Lungenbläschen
und lässt eine grobe bienenwabenartige
Struktur entstehen.
Die krankhaften Veränderungen machen die Lunge starr und unelastisch.
Ihre lebenswichtige Aufgabe, Sauerstoff
aufzunehmen und Kohlendioxid abzugeben, kann sie immer weniger erfüllen.
„An diesem fortschreitenden Prozess sind
NACHWUCHSFORSCHER IM PORTRÄT
Foto: W. Scheible
Unkontrollierte Abläufe
die Wachstumsfaktoren PDGF, FGF und
VEGF maßgeblich beteiligt“, erklärt Lutz
Wollin. Und hier kommt Nintedanib ins
Spiel. Es hemmt die übermäßig aktiven
Wachstumsfaktoren und kann das allmähliche Vernarben der Lunge hinauszögern.
„Mit Nintedanib gibt es jetzt für schwer
an Lungenfibrose erkrankte Patienten
erstmals eine wirksame Therapie, die die
jährliche Verschlechterung der Lungenfunktion halbieren kann“, sagt Wollin.
Die Entwicklung von Nintedanib zur
Arznei gegen Lungenfibrose begann in
den späten 1980er-Jahren. Parallel zu
den Arbeiten von Frank Hilberg in der
onkologischen Forschung in Wien arbeiteten Birgit Jung und John Park an neuen
Konzepten, um Lungenerkrankungen zu
behandeln, unter anderem auch an Ansätzen zur Therapie von Lungenfibrosen
– einem für Boehringer Ingelheim damals
neuen Krankheitsbild.
Dazu entwickelten die Wissenschaftler
eigene Lungenfibrose-Modelle und testeten an ihnen den in der Onkologie in
Wien entdeckten Wirkstoff BIBF 1120.
„Die Kollegen sahen damals eine herausragende Wirksamkeit“, sagt Wollin.
Zahlreiche wissenschaftliche Begutachtungen folgten. Mitte der 2000erJahre wurde die Entscheidung getroffen,
BIBF 1120 nicht allein als Medikament
gegen Lungenkrebs, sondern auch zur
Behandlung der idiopathischen Lungenfibrose weiterzuentwickeln. „Mit fünf bis
höchstens 24 Fällen unter 100 000 Menschen ist die idiopathische Lungenfibrose
eine sehr selten auftretende Erkrankung“,
erläutert Wollin.
Eine mutige Entscheidung
Es sei eine „mutige Entscheidung“ gewesen, sich auf dem Feld einer Orphan
Disease – einer seltenen Erkrankung – zu
engagieren. So wurde Nintedanib zur ersten Substanz von Boehringer Ingelheim
mit Orphan Drug-Status und außerdem
wegen der Innovation für die Therapie
der Lungenfibrose „FDA breakthrough
therapy designation“ mit beschleunigter
Zulassung.
Zwischenzeitlich ist es aufs Molekül
genau zu erklären, wie Nintedanib Zellen daran hindert, sich zu vermehren. Das
Wirkstoffmolekül – chemisch betrachtet
Andre Broermann _ geboren 1980 in Erwitte, ist Biotechnologe und Laborleiter in der
Abteilung für Kardiometabolische Forschung bei Boehringer Ingelheim.
„Während meiner Promotionszeit habe ich primär Grundlagenforschung betrieben. Anschließend wollte ich in einem Bereich arbeiten, in dem mein Wissen in die Entwicklung von Produkten fließt, die dem Patienten zugutekommen. Dafür bietet Boehringer Ingelheim optimale Rahmenbedingungen. Unsere Abteilung beschäftigt sich mit
Stoffwechselerkrankungen wie Diabetes. Meine Aufgabe ist es, neue Mechanismen
und Zielproteine zu identifizieren und zu prüfen, ob wir diese mittels Wirkstoffen so
beeinflussen können, dass sie das Krankheitsbild verbessern. In Experimenten testen mein Team und ich verschiedene Wirkstoffe, um deren Eigenschaften zu verstehen
und zu optimieren. Aktuell arbeiten wir an Wirkstoffen, die hoffentlich schon bald Patienten mit Nicht-alkoholischer Fettlebererkrankung helfen werden. Da es sich um
ein sehr komplexes Krankheitsbild handelt, entwickeln wir ständig neue experimentelle Modelle, um die unterschiedlichen Aspekte der Erkrankung abzubilden.
Mithilfe dieser Modelle können wir Daten erheben, die es uns ermöglichen, die
Substanzen mit der besten Wirksamkeit zu identifizieren.
Ich finde es extrem spannend, die Entwicklung eines Wirkstoffs von der Idee bis
hin zu den ersten Tests im Menschen zu begleiten und lerne praktisch jeden
Tag etwas Neues!“
Foto: T. Klink
gene Substanz, die der Körper benutzt,
um Strukturen zu verstärken, Lücken
zwischen den Zellen und Wunden zu
schließen.
Wirkstoffsuche
Lichtschalter für Nervenzellen
Wenn verschiedene Disziplinen miteinander im Austausch stehen, kann dies zu herausragenden Ergebnissen führen. Die Optogenetik ist genau
solch ein Kandidat. Angefangen hat alles mit zwei Mikroorganismen: Biologen entdeckten bei der Grünalge Chlamydomonas Proteine, die
auf Licht reagieren. Sobald blaues Licht auf sie trifft, verändern die sogenannten Kanalrhodopsine ihre Durchlässigkeit. Positiv geladene Ionen
strömen ins Zellinnere, die Zelle wird aktiviert. Auch ein Bakterium namens Natronomonas pharaonis besitzt solch lichtempfindliche ProteinKanäle. Allerdings bewirken diese das Gegenteil: Trifft gelbes Licht auf die Zellmembran, strömen negativ geladene Ionen ins Zellinnere. Die Zelle
wird deaktiviert. Dank Gentechnik ist es gelungen, die DNA-Abschnitte für diese beiden Protein-Kanäle in Nervenzellen einzubauen. Diese lassen
sich daraufhin gezielt über ein Glasfaserkabel mit blauem Licht an- und mit gelbem Licht abschalten. Diese Vorgehensweise ist revolutionär und
birgt großes Potenzial für die Medizin: Denn anders als bei der Elektrostimulation, die wahllos alle Neuronen in der Umgebung anregt, lassen sich
dank Optogenetik erstmals einzelne Nervenzellen und der Einfluss auf Verhalten untersuchen. Komplexe neuronale Netzwerke können so präzise
erforscht und bestimmte Erkrankungen wirksamer bekämpft werden.
Text & Grafik: Daniela Leitner
1
Die Grünalge Chlamydomonas
besitzt lichtempfindliche
Protein-Kanäle: Trifft blaues Licht
auf sie, öffnen sie sich und lassen
positiv geladene Natrium- und
Kaliumionen ins Zellinnere strömen.
Dadurch wird die Zelle aktiviert.
Auch das Archaebakterium
Natronomonas pharaonis besitzt
lichtempfindliche Protein-Kanäle:
Trifft gelbes Licht auf sie, pumpen
sie negativ geladene Chloridionen
ins Zellinnere. Die Zelle wird
deaktiviert.
Foto: M. Appelt
Protein-Kanal
Kanalrhodopsin
Zellen verändern ihr Verhalten
Von solchen energieübertragenden
Enzymen – die Biochemiker sprechen
von Rezeptortyrosinkinasen – gibt es im
12 bild der wissenschaft plus
Körper rund 200 verschiedene Typen. Sie
arbeiten alle nach dem gleichen Prinzip:
Wo immer Rezeptortyrosinkinasen im
Spiel sind, werden Signale weitergeleitet,
verstärkt und Signalkaskaden bis hin
zum Zellkern in Gang gesetzt, worauf
sich das Verhalten der Zelle verändert.
Rezeptortyrosinkinasen, die aufgrund
molekularer Veränderungen aus ihrem
fein ausbalancierten Arbeitstakt geraten, können Zellen dazu veranlassen,
sich übermäßig zu teilen, ihren Platz zu
verlassen, im Körper zu wandern und
„Todesbefehle“, die der Zelle aufgrund
schwerer genetischer Fehler erteilt werden, zu ignorieren – oder Botenstoffe
auszuschütten, die Blutgefäße anlocken
und natürliche Wundheilungsprozesse
aus dem Ruder laufen zu lassen. Nintedanib, das kleine Molekül, ist von den
Chemikern von Boehringer Ingelheim so
optimiert worden, dass es exakt in die
ATP-Bindungstasche der Tyrosinkinase passt, sodass ATP darin keinen Platz
mehr findet. Doch das allein reicht noch
nicht aus. „Die Kunst besteht darin“,
erläutert Wollin, „dass der Wirkstoff genau die wenigen Kinasen hemmt, die für
die Erkrankung relevant sind – genau das
ist uns gelungen.“ Ohne die gültige Energiewährung können die Tyrosinkinasen
ihrer Arbeit nicht mehr nachgehen. Aufgrund dieses Wirkmechanismus, so hoffen die Forscher, lässt sich Nintedanib
vielleicht noch breiter einsetzen, etwa
gegen weitere Krebserkrankungen wie
Darm-, Nieren-, Eierstock- oder Leberkrebs und andere, häufigere Formen der
Fibrose. „Wir arbeiten mit Hochdruck
daran“, sagt Lutz Wollin.
●
Die Gene, die die beiden Kanäle
formen, werden aus den Mikroorganismen isoliert. Es wird ihnen
eine DNA-Sonde angehängt, damit
sie später nur spezielle Nervenzellen ansprechen.
Gen für
Halorhodopsin
mit DNA-Sonde
Archaebakterium
Natronomonas
pharaonis
harmloses Virus
OPTOGENETIK
4
GENETIK
Mit einem Glasfaserkabel wird Licht
ins Mäusehirn gesendet. Die beiden
Protein-Kanäle reagieren danach,
je nach Wellenlänge des Lichts,
unterschiedlich:
lichtempfindliche Nervenzelle
mit Kanalrhodopsin-Kanal
Bei blauem Licht öffnen
sich die KanalrhodopsinKanäle. Die Nervenzelle
sendet nun vermehrt
Nervenimpulse aus.
lichtempfindliche Nervenzelle
mit Halorhodopsin-Kanal
3
Die veränderten Gene werden in
ein harmloses Virus eingebaut
und in ein Mäusegehirn injiziert.
Die angesprochenen Nervenzellen
entwickeln daraufhin die lichtempfindlichen Protein-Kanäle auf
ihrer Oberfläche.
OPTOGENETIK
Grafik: Daniela Leitner
ein Salz der Ethansulfonsäure – besetzt
die Rezeptoren für Wachstumsfaktoren
stets an einem bestimmten, entscheidend
wichtigen Ort im Innern der Zellen: Nintedanib gelangt durch die Membran in
das Innere der Zelle und trifft dort an
der Innenseite der Wachstumsfaktoren,
die die Membran durchspannen, auf ein
Protein, das als Enzym arbeitet und die
wichtige Aufgabe hat, Phosphatgruppen
an andere Proteine weiterzureichen. Die
Phosphatgruppen entstammen Adenosintriphosphat (ATP), der allgegenwärtigen
Energiewährung der Zellen.
Gen für
Kanalrhodopsin
mit DNA-Sonde
GENETIK
Protein-Kanal
Halorhodopsin
Grünalge
Chlamydomonas
reinhardtii
Frank Hilberg bewertet die Ergebnisse eines molekularbiologischen Verfahrens
(Western Blot) zur Untersuchung der Hemmwirkung von Nintedanib.
2
BIOLOGIE
Gelbes Licht aktiviert die
Halorhodopsin-Kanäle.
Die Nervenzelle sendet nun
keine Nervenimpulse mehr aus.
5
Nervenzelle für Nervenzelle lässt sich dadurch
gezielt an- oder ausschalten. Die Forscher
beobachten dabei das Verhalten der Mäuse und
können so Neuronen identifizieren, die eine
Rolle bei bestimmten Krankheiten spielen,
beispielsweise Parkinson oder Epilepsie.
Zukünftig könnten dadurch wirksamere und
schonendere Therapien und Medikamente
entwickelt
bild der wissenschaft
pluswerden.
13
Interview
„Die menschliche
Komponente ist wichtig
für den Erfolg“
Welche Perspektiven Boehringer Ingelheim hat,
erläutert Andreas Barner, der Sprecher der Unternehmensleitung.
Das Gespräch führten Wolfgang Hess und Claudia Christine Wolf
Was sind aktuelle Ansprüche an die
Pharmaindustrie, Herr Barner?
ist Vorsitzender der Unternehmensleitung von
Boehringer Ingelheim. Barner (*1953) studierte
Medizin an der Universität Freiburg und Mathematik an der Eidgenössischen Technischen
Hochschule Zürich und schloss beide Studiengänge mit Promotion ab. Seine Karriere in der
Pharmaindustrie begann bei der Ciba-Geigy
AG in Basel. 1992 wechselte er zu Boehringer
Ingelheim, wo er die Leitung des Bereichs
Medizin übernahm. Seit 1999 ist er Mitglied
der Unternehmensleitung und für die Bereiche
Pharmaforschung, Entwicklung und Medizin
zuständig. 2009 übernahm er darüber hinaus
die Rolle des Sprechers der Unternehmensleitung. Barner ist Präsident des Stifterverbandes
für die Deutsche Wissenschaft, Mitglied des
Senats der Max-Planck-Gesellschaft und der
Helmholtz-Gemeinschaft sowie Präsidiumsmitglied des Bundesverbandes der Deutschen
Industrie und der Chemischen Industrie. Außerdem ist er Mitglied im Präsidium des Deutschen
Evangelischen Kirchentags und seit Anfang
2015 Mitvorsitzender des High-Tech Forums,
des innovationspolitischen Beratungsgremiums
für die deutsche High-Tech Strategie 2020.
14 bild der wissenschaft plus
Alle Fotos: T. Wegner
Andreas Barner
Ganz wichtig ist es, Medikamente zu finden, die sich an den medizinischen Notwendigkeiten orientieren. Beispiel Aids:
Die pharmazeutische Industrie konnte
die HIV-Problematik so entschärfen, dass
diese zunächst meist rasch tödlich verlaufende Infektion inzwischen mehr zu einer häufig chronischen, wenn auch nach
wie vor sehr ernsten Erkrankung umgewandelt werden konnte. Oder denken
Sie daran, wie sich die Herz-KreislaufSterblichkeit dank der Cholesterinsenker
verringert hat. Gegenwärtig erleben wir
eine ähnliche Situation in der Onkologie, der Krebsforschung. Dort nähern
wir uns in vielen kleinen Schritten den
Herausforderungen. Beispielsweise wird
mit unserem Wirkstoff Nintedanib die
Blutversorgung von Krebsgeschwülsten
unterdrückt. Gerade wurde Nintedanib
auch als Wirkstoff gegen die idiopathische Lungenfibrose zugelassen. Hier haben wir bisher eine Sterblichkeitsrate von
50 Prozent innerhalb der ersten drei Jahre nach Diagnose-Stellung. Oder denken
Sie an Diabetes und insbesondere an den
SGLT2-Hemmer Empagliflozin, die erste
antidiabetische Substanz, die sowohl die
Gesamtsterblichkeit wie auch die kardiovaskuläre Sterblichkeit bei Patienten mit
Diabetes und kardialen Vorerkrankungen senken konnte.
An der idiopathischen Lungenfibrose
leiden nur wenige Menschen. Der
Pharmamarkt und die damit verbundene Einnahmequelle sind überschaubar.
Warum wurde Ihr Unternehmen aktiv?
Zwei Mitarbeiter machten uns darauf
aufmerksam, dass Nintedanib in einem
präklinischen Modell der Lungenfibrose gute Wirksamkeit zeigt. Es gehört
zu unserer Verantwortung, Krankheiten
zu lindern, auch wenn wir dabei nicht
viel verdienen. Ein gutes Beispiel dafür
ist auch die Substanz Nevirapine gegen
HIV/Aids. Wir entschieden uns für die
Weiterentwicklung – obwohl wir ursprünglich vermutet hatten, so wenig
Umsatz zu machen, dass wir nicht einmal unsere Registrierungs-, geschweige
denn Entwicklungskosten decken würden. Das hat sich letztlich dann doch
anders entwickelt. Der Punkt zeigt, dass
wir aus prinzipiellen Überlegungen auch
Entscheidungen treffen, bei denen die
wirtschaftlichen Interessen von sekundärer Bedeutung sind.
Wie oft treffen Sie
solche Entscheidungen im Jahr?
Ob und wie wir ein Medikament aufgrund der Datenlage weiterentwickeln
wollen, prüfen wir ständig. Ob wir in eine
Indikation gehen, die sich kaum rechnen
wird, darüber entscheiden wir vielleicht
drei, vier Mal pro Jahr.
Was fordert den Unternehmens-Chef
Andreas Barner am stärksten?
Das sind immer wieder Situationen, bei
denen man spät in der Medikamentenentwicklung auf Schwierigkeiten stößt,
die man nicht erwartet hatte – etwa bei
der Stabilität eines Wirkstoffs. Für mich
am wichtigsten zu lernen war es aber, dass
man trotz vieler Daten immer wieder intuitiv entscheiden muss. Da denke ich beispielsweise an das Medikament Pradaxa
zur Vermeidung von Schlaganfällen bei
Patienten mit Vorhofflimmern. Wir haben uns für eine Studie an 16 000 Patienten entschieden – wohl wissend, dass das
Risiko zu scheitern da war. Eine solche
Entscheidung zu treffen, ist eine gewaltige
Herausforderung.
Bei Pradaxa gab es aufgrund unerwünschter Nebenwirkungen in
den USA an die 4000 Klagen gegen
Boehringer Ingelheim.
Das Medikament hatte von Anfang an
substanzielle Vorteile gegenüber herkömmlichen Vitamin-K-Antagonisten.
Natürlich trifft es einen, wenn jemand
ganz unabhängig von der wissenschaftlichen Datenlage über einen Schadensersatzprozess nach amerikanischem Recht
versucht, finanzielle Vorteile zu erstreiten. Und natürlich haben wir uns mit
den vorgebrachten Argumenten in dem
Gerichtsverfahren auseinandergesetzt. Im
bild der wissenschaft plus 15
Interview
Ergebnis hat sich keines dieser Argumente als stichhaltig erwiesen, weshalb wir
den Klagen in der Sache sehr zuversichtlich gegenüberstanden. Mittlerweile hat
erfreulicherweise eine Studie der US-Gesundheitsbehörde FDA, an der 130 000
Patienten beteiligt waren, unsere Ergebnisse bestätigt: Die Zahl der Schlaganfälle und das Todesfallrisiko kann durch
Pradaxa im Vergleich zu den herkömmlichen Wirkstoffen wirklich substanziell
reduziert werden. Im Übrigen sind inzwischen praktisch alle Klagen durch einen
umfassenden Vergleich vom Tisch. Die
Alternative dazu wäre gewesen, jede einzelne der Klagen juristisch bis zum Ende
durchzufechten. Das hätte unser Unternehmen auf Jahre hinaus stark beschäftigt.
Was in der Pharmaforschung ist heute
anders als vor zwei Jahrzehnten?
Einmal sind die einfacheren Forschungsfragen gelöst. Zweitens ist insbesondere
die Zahl der Patienten, die in das Registrierungsprogramm einzuschließen sind,
substanziell gestiegen. Drittens konnte
die pharmazeutische Industrie damals
vier, fünf, sechs Medikamente einer
Klasse erfolgreich auf den Markt bringen. Inzwischen sind die Aufwendungen
für Forschung und Entwicklung sowie
der Preisdruck auf das Medikament so
gestiegen, dass höchstens noch drei Medikamente einer Klasse wirtschaftlich erfolgreich sind.
Welche Forschungsansätze
sind es, durch die Sie sich neue
Durchbrüche erhoffen?
Bei Boehringer Ingelheim haben wir traditionell enge Kooperationen mit externer Forschung: Obwohl bei uns mehr als
8000 Menschen in Forschung und Entwicklung arbeiten – und dies sehr erfolgreich tun –, sind wir auf Ideen von außen
angewiesen und wollen mit Externen, die
gute Ideen und Ansätze haben, ins Gespräch kommen. Das war vor 20, 30 Jahren im aktuellen Umfang nicht der Fall.
Wie finden Sie die externen Wissenschaftler, die Ihrem Unternehmen
weiterhelfen können?
Ganz wichtig ist das wissenschaftliche
Interesse der Boehringer Ingelheim-Forscher, mit bestimmten externen Wissenschaftlern zusammenarbeiten zu wollen.
Neben Themenfeld und Kompetenz ist
auch die menschliche Komponente für
den Erfolg einer solchen Zusammenarbeit
sehr wichtig. Wenn wir eine Vereinbarung
unterzeichnen, dann im Bewusstsein, die
Kooperation längerfristig aufrechtzuerhalten. Überdies unterstützen wir gut 150
Doktoranden durch den Boehringer Ingelheim Fonds – eine Stiftung. Auch dadurch
ergeben sich weltweit viele Anknüpfungspunkte für neue Zusammenarbeit.
Und diese frisch gebackenen Doktoren
stellen Sie dann bevorzugt ein?
Nein, Boehringer Ingelheim unterstützt
traditionell stark die Grundlagenforschung, und es ist wichtig, diesen guten
Ruf in der akademischen Welt zu erhalten. Man weiß dort, auf Boehringer Ingelheim kann man sich verlassen!
Wie erklären Sie es sich dann, dass es
um das öffentliche Image der Pharmaindustrie nicht gut bestellt ist?
Ich bin der festen Meinung, dass der Ruf
der pharmazeutischen Industrie schlechter ist als sie es verdient. Ich bekomme
so viele Briefe von Patientinnen und Patienten, die sich bei uns bedanken. Das
ist ausgesprochen befriedigend und freut
mich sehr. Dass wir mit unseren Wirkstoffen Geld verdienen möchten, liegt auf der
Hand. Ich habe noch kein Pharmasystem
gesehen, das besser funktioniert als privat finanzierte Initiativen und die damit
verbundene Risikobereitschaft. Nur zur
Erinnerung: Im gesamten ehemaligen
Ostblock wurde kein einziges neues Medikament entwickelt. Was das Image angeht, muss man im Übrigen differenzieren. Für Deutschland trifft Ihre Aussage
wohl zu – für England, die USA und viele
weitere Länder aber nicht. Dort hat die
Bevölkerung erkannt, welchen enormen
Anteil moderne Medikamente und die
dahinter stehende Industrie an der Gesundheit haben. In Deutschland erlauben
wir uns den Luxus zu sagen: Ein Medikament, das mir hilft, ist gut, aber die pharmazeutische Industrie, die das herstellt,
ist schlecht. Hierzulande möchte man die
besten Arzneimittel zu den tiefsten Preisen in Europa. Aber anders als in den USA
sind viele Politiker hier nicht bereit, die
Pharmaforschung zu unterstützen.
Wird die Pharmaindustrie also mittelfristig aus Deutschland abwandern?
„Ich habe noch kein Pharmasystem gesehen, das besser
funktioniert als privat finanzierte Initiativen.“ Andreas
Barner im Gespräch mit bdwRedakteur Wolfgang Hess.
16 bild der wissenschaft plus
Die Gefahr ist immer, dass die Industrie
dort verschwindet, wo der Markt nicht
mehr funktioniert. Doch das sind sehr
langfristige Prozesse. Erfreulich ist, wie
viele Biotech-Unternehmen es inzwischen in Deutschland gibt und dass einige sehr erfolgreich sind. Ich bin immer
noch optimistisch, dass sich die Antihaltung vieler Deutscher zur Pharmaindustrie verändert.
Welche Sichtweise haben Sie beim
Thema Tierversuche?
„Ganz wichtig ist es,
mit externen
Wissenschaftlern
zusammenzuarbeiten“
Wir versuchen, mit möglichst wenigen
Tieren auszukommen. Ich würde es aber
nicht verantworten können, eine medikamentöse Krebsbehandlung oder ein
Atemwegspräparat direkt am Menschen
zu erproben. Gleichzeitig ergreifen wir
viele Maßnahmen, um Versuchstiere
möglichst artgerecht zu halten.
Die Perspektive, auf Tierversuche
völlig zu verzichten, sehen Sie nicht?
Wir machen inzwischen viel auf der Basis
von Zellen. Doch der lebende Gesamtorganismus ist durch nichts ersetzbar. Auch
die behördlichen Auflagen zu Verträglichkeitsuntersuchungen erfordern die Untersuchung am Gesamtorganismus.
Welchen Vorteil zieht Boehringer
Ingelheim aus der Struktur
eines Familienunternehmens?
Die klare Zielsetzung, über Forschung
erfolgreich zu sein, ist für mich ganz
wesentlich – verbunden mit der Zielsetzung, aus eigener Kraft zu wachsen. Das
haben wir in den vergangenen Jahren gut
geschafft. Als ich 1992 bei Boehringer
Ingelheim angefangen habe, entsprach
unser Umsatz etwa zwei Dritteln vom
Mitbewerber Schering und etwa der
Hälfte von Bayer. Heute sind wir so groß
wie Bayer und Schering zusammen. Dass
wir das geschafft haben, liegt zu einem
guten Teil auch daran, dass wir als Familienunternehmen konsequent an der
Entwicklung des Unternehmens arbeiten
können und in der Lage waren, für Patienten wichtige Medikamente bereitzustellen …
… vorausgesetzt, die Familien wollen
das Tafelsilber nicht verscherbeln.
Da herrscht bei Boehringer natürlich ein
ideales Umfeld. Die Eigentümerfamilien
haben ein klares Interesse, das Unternehmen zu erhalten – und das schon in
der vierten Generation. Und es ist ihnen
wichtig, das Unternehmen – möglichst
noch gestärkt – in die Hände der fünften
Generation zu übergeben.
Boehringer ist als Arbeitgeber sehr
attraktiv. Ihre Begründung?
Ich glaube, dass die Leute bei uns gerne
arbeiten, weil ihre Tätigkeit eine unglaubliche Wirkung erzielt. In ganz wenigen
Unternehmen können Sie so viel Positives
für Menschen tun.
Wie sieht die Pharmabranche
in zehn Jahren aus?
Wir alle hoffen, dass die individualisierte Medizin dann einen Schritt weitergekommen ist. In der Onkologie ist der
Blick auf individuell ausgeprägte Tumore schon Gegenstand der Forschung. Was
ich mir zudem erhoffe, dass wir auch bei
Erkrankungen, bei denen wir bisher nur
symptomatisch vorgehen können, wie
etwa Bluthochdruck, kausale Therapie-
ansätze entwickeln können, die es zum
Beispiel ermöglichen, den Herzmuskel
nach einem Infarkt zu regenerieren.
In den zurückliegenden Jahren stieg
unsere Lebenserwartung deutlich.
Kennen Sie Untersuchungen, wie viel
davon auf den erfolgreichen Einsatz von
Pharmawirkstoffen zurückzuführen ist?
Nach Schätzungen gewinnen wir derzeit
pro Jahr zwei bis drei Monate an Lebenserwartung hinzu. Es gibt Experten, die
sagen, dass die Hälfte bis zwei Drittel
davon auf die Ergebnisse der pharmazeutischen Industrie zurückgehen. Mit
anderen Worten: Wenn bei uns die Lebenserwartung seit 1950 grob gerechnet um 15 Jahre gestiegen ist, wäre die
pharmazeutische Industrie daran mit siebeneinhalb Jahren oder sogar noch mehr
beteiligt.
Dennoch dürfte die Lebenserwartung
künftig bei uns nicht mehr so zunehmen, wie in den vergangenen Jahren.
Warten wir dies einmal ab! Ich baue darauf, dass Patienten künftig noch länger
leben, weil sie gute Medikamente haben
und gezielter auf Prävention geachtet
wird. Weiterhin arbeitet die Forschung
an Gewebs-Regenerationen mit dem
Ziel, die Lebensqualität bei schwer erkrankten Patienten deutlich zu steigern.
Dafür lohnt es sich zu auch, viel zu arbeiten. ●
bild der wissenschaft plus 17
Immuntherapie
Neue Wege
A
im Kampf gegen
Krebs
Neue immuntherapeutische Ansätze zählen derzeit zu
den größten Hoffnungsträgern der Krebsmedizin.
Das Pipettieren an der Sterilbank
erfordert Geduld und Präzision.
18 bild der wissenschaft plus
Foto: A. Körner/CureVac
von Claudia Eberhard-Metzger
ller Anfang ist schwer. Ein Jahr
lang kochte Friedrich Miescher
in der ehemaligen Küche des Tübinger Schlosses eitrige Wundverbände
aus und experimentierte mit Laugen und
Säuren, bis es ihm gelang, aus den Kernen
der Eiterzellen ein weißliches Material zu
isolieren. Er nannte es „Nuklein“ – nach
seiner Herkunft, dem Zellkern, der im
Fachjargon Nukleus heißt. Das war im
Jahr 1869, und was der junge Mediziner
damals unwissentlich entdeckt hatte, war
die Nukleinsäure, der Stoff, aus dem die
Gene sind.
Nahezu 150 Jahre später arbeiten
andere junge Wissenschaftler in den Laborräumen des biopharmazeutischen Unternehmens „CureVac“ im Technologiepark vor den Toren Tübingens an einer
neuen Therapie gegen Krebs. Sie nutzen
dazu das Lebensmolekül, das Friedrich
Miescher einst in der Schlossküche fand
– einem der weltweit ersten biochemischen Laboratorien. „Unser Ziel ist es,
ein Medikament zu entwickeln, das dem
Immunsystem dabei hilft, Krebszellen zu
erkennen und zu zerstören“, erklärt Ingmar Hoerr, Biologe und Geschäftsführer
von CureVac.
Die Tübinger Forscher nutzen für ihre
neuartige Therapie eine besondere Nukleinsäure, die Boten-Ribonukleinsäure,
kurz mRNA (englisch: messenger RNA),
ein Schwestermolekül des berühmten
Erbmoleküls DNA. Sie dient der Zelle als
Bote, der Abschriften der Gene zu den Ribosomen bringt, Proteinfertigungsstätten
im Zellsaft. In den Ribosomen werden die
lebenswichtigen Proteine nach den Konstruktionsplänen der Gene aus kleineren
Bausteinen, den Aminosäuren, zusammengesetzt.
Weil die Boten-Ribonukleinsäuren von
der Zelle rasch abgebaut werden, nachdem sie ihre Dienste als Übermittler erfüllt haben, galten sie lange Zeit als wenig
geeignet für therapeutische Anwendungen. Den Wissenschaftlern von CureVac
ist es jedoch gelungen, die Lebenszeit der
Boten-Moleküle zu verlängern und sie
so zu präparieren, dass sie für eine zukunftsweisende, gegen Krebs gerichtete
Behandlungsform eingesetzt werden können: die Immuntherapie.
bild der wissenschaft plus 19
Foto: M. Storz/Graffiti
„Immuntherapie“ meint den Versuch,
die körpereigene Abwehr, das Immunsystem, so zu aktivieren, dass es Krebszellen
anhand subtiler Zeichen erkennt, seine
Zurückhaltung ihnen gegenüber aufgibt
und sie ebenso kompromisslos angreift
wie körperfremde Eindringlinge. Mit
dem Immunsystem, glauben viele Forscher, kann dem Krebs der wohl einzige
Gegner gegenübergestellt werden, der der
komplexen Erkrankung an Plastizität und
Flexibilität ebenbürtig ist.
Anstrengungen, das Immunsystem in
den Kampf gegen Krebs einzubeziehen,
gibt es schon lange. Doch die Erfahrungen waren ernüchternd. Mittlerweile hat
sich das Blatt gewendet: Immuntherapien
gelten als die größten Hoffnungsträger
der Krebsmedizin. Die Zeitschrift „Science“ feierte sie als „Breakthrough of the
Year“ – als Durchbruch des Jahres –, und
Nobelpreisträger wie Harald zur Hausen,
vormals Chef des Deutschen Krebsforschungszentrums in Heidelberg, bewerten die Immuntherapie als „Ansatz, der
uns in die Zukunft führt“. Auch Boehringer Ingelheim setzt auf die Immuntherapie gegen Krebs. Ein Beispiel für das
Engagement der Pharmafirma auf dem
Forschungsfeld ist die Kooperation mit
dem Tübinger Unternehmen CureVac.
Das Einzige, was das Immunsystem
braucht, um aktiv zu werden, ist ein
„Antigen“ – ein Molekül aus der Klasse der Proteine, das unmissverständlich
anzeigt: Hier ist etwas im Körper, das
ihm gefährlich werden kann. Die Eindeu-
Unter UV-Licht wird menschliche
Erbinformation sichtbar gemacht.
20 bild der wissenschaft plus
tigkeit dieses Zeichens ist unerlässlich –
genau daran aber lassen es Tumorzellen
missen. Aufgrund ihres unkontrollierten
Teilungsverhaltens sind sie für den Organismus eine lebensbedrohliche Gefahr
– nichtsdestotrotz handelt es sich um
körpereigene Zellen. Und das oberste Gebot, das Immunzellen zwingend einhalten
müssen, lautet, Körpereigenes niemals
anzugreifen. Eine Immunzelle, die sich
nicht daran hält, wird gnadenlos aussortiert. Geschieht das nicht, kommt es zu
schweren Erkrankungen, den sogenannten Autoimmunkrankheiten.
Dennoch verraten sich Tumorzellen –
allerdings mit subtilen Zeichen. Wie die
Krebsforscher heute wissen, erfährt eine
gesunde Zelle auf dem Weg zu einer sich
krankhaft teilenden Krebszelle viele genetische Veränderungen (Mutationen).
Infolgedessen produziert sie veränderte
Proteine, die auf der Oberfläche der mutierten Zellen auftauchen. Die Wissenschaftler sprechen von Tumorantigenen
oder Tumormarkern. Hunderte solcher
verdächtigen molekularen Flaggen sind
den Wissenschaftlern mittlerweile bekannt. Lungenkrebszellen etwa verraten sich häufig mit Tumorantigenen, die
„MAGE“, „NY“, „ESO“, „5T4“ oder
„Survivin“ heißen.
Dem Lungenkrebs, einer der weltweit
häufigsten Krebsarten, gilt die besondere
Aufmerksamkeit der CureVac-Forscher.
Gemeinsam mit Boehringer Ingelheim
entwickeln die Tübinger Wissenschaftler
in einem klinischen Entwicklungsprojekt
seit dem Jahr 2014 ihren Lungenkrebswirkstoff „BI1361849“ zu einem therapeutischen Impfstoff, einer Vakzine,
gegen das nicht-kleinzellige Lungenkarzinom weiter. „Mit diesem innovativen
Ansatz wollen wir unser Portfolio im
Bereich Lungenkrebs stärken, welches
aus zwei zugelassenen Substanzen (Giotrif und Vargatef) besteht, die beide für
bestimmte Patientengruppen in Studien
lebensverlängernde Daten gezeigt haben.
BI1361849 ist eine von mehreren neuen Substanzen in klinischer Forschung
im Bereich Lungenkrebs von Boehringer
Ingelheim“, erklärt Jörg Barth, der bei
Boehringer Ingelheim den Bereich Onkologie leitet. Die Innovation der Wissenschaftler aus Tübingen ist, die von Natur
aus kurzlebige Boten-Ribonukleinsäure
haltbarer und so für therapeutische Anwendungen nutzbar zu machen. Dazu
bestücken die CureVac-Forscher das Botenmolekül mit Informationen für Tumorantigene. „Auf der mRNA werden – ähnlich wie bei einer Software – bestimmte
Informationen gespeichert“, veranschaulicht Ingmar Hoerr. „Der Körper – also
die Hardware – liest diese Informationen
ab, und das körpereigene Immunsystem
reagiert darauf mit den ihm zur Verfügung stehenden Abwehrstrategien.“
Das mit dem Bauplan für Tumorantigene aufgerüstete Boten-Molekül wird
den Patienten in die Haut injiziert und
von Körperzellen aufgenommen. Die
zelleigene Proteinfabrikation beginnt daraufhin, die Konstruktionspläne abzulesen und Tumorantigene herzustellen. Anschließend stellt die Zelle ihre Produkte
auf ihrer Oberfläche, der Zellmembran,
zur Schau und macht Zellen der körpereigenen Abwehr auf die Tumorantigene
aufmerksam. Der Körper produziert den
Impfstoff, auf den seine Abwehrtruppen
reagieren sollen, also selbst.
Gefährlich für Tumorzellen
Fast alle Körperzellen sind imstande,
Antigene zu präsentieren – die Profis aber
sind die Antigen präsentierenden Zellen
(APC) des Immunsystems. Dazu zählen
die dendritischen Zellen, die Monozyten,
Makrophagen und die B-Lymphozyten.
Was die Profis gegenüber den Laien auszeichnet, sind ihre Beziehungen zu weiteren einflussreichen Immunzellen, den
T-Lymphozyten. Zu ihnen zählen die
T-Killerzellen – sie können Tumorzellen
unmittelbar am gefährlichsten werden.
Zudem sind nur die Antigen präsentierenden Zellen des Immunsystems in der
Lage, T-Zellen zu weiteren Aktionen zu
motivieren. Dazu wandern die Antigen
präsentierenden Zellen in den nächstgelegenen Lymphknoten und zeigen den
dort anwesenden T-Zellen ihr „Ausstellungsstück“. Sobald eine T-Zelle das
präsentierte Antigen wahrgenommen
hat, kommt es zu einem vielfältigen Signalaustausch. Infolgedessen wird die
gesamte Streitmacht des Immunsystems
alarmiert und rückt aus, um überall im
Körper nach Zellen zu suchen, die das
verräterische Antigen tragen und sie zu
Bei CureVac arbeiten Wissenschaftler daran,
die optimale mRNA für den gewünschten
medizinischen Zweck zu erhalten. Die Arbeit
am Mikroskop ist bis heute einer der Arbeitsschritte, die maßgeblich für den Erfolg der
Forschung und Entwicklung sind.
eliminieren. Soweit die Idealvorstellung
dessen, was die mRNA-basierte Immuntherapie leisten soll. Ob das gelingt, muss
die Zukunft zeigen. Zurzeit absolviert das
neue Verfahren erste Prüfungen in der
Klinik. „Bislang wissen wir, dass unser
Impfstoff gut verträglich ist und dass wir
mit seiner Hilfe bei den meisten Patienten
eine ausgeglichene Immunantwort auslösen können, an der sowohl T-Killerzellen
als auch T-Helfer- und Gedächtniszellen
sowie B-Lymphoyzten beteiligt sind“, erklärt Ingmar Hoerr von CureVac.
Die Zusammenarbeit mit CureVac
wurde durch den „Boehringer Ingelheim
Venture Fund“ gestartet und ist inzwischen ein fortgeschrittenes Entwicklungsprojekt, das in der Klinik angekommen
und von Boehringer Ingelheim bislang
mit 150 Millionen Euro unterstützt worden ist.
Das ist ein typisches Beispiel für die Arbeit von Frank Kalkbrenner. Der Mediziner leitet den „Boehringer Ingelheim Venture Fund“, kurz BIVF. Gemeinsam mit
seinen Mitarbeitern sucht er überall auf
der Welt nach völlig neuen Forschungsansätzen, die es lohnt zu unterstützen, weil
Foto: A. Körner/CureVac
Immuntherapie
sie versprechen, eines Tages therapeutisch
nutzbar und zu neuen Medikamenten zu
werden. Dazu geht das Pharmaunternehmen außerhalb seiner bereits bestehenden Therapiegebiete Kooperationen mit
externen Forschergruppen ein. „Wir investieren mit diesen Kooperationen in die
Zukunft“, sagt Frank Kalkbrenner.
Aus 200 Projekten werden 3
Derzeit sind es 15 Projekte, die
Boehringer Ingelheim gemeinsam mit externen Partnern verfolgt – sieben davon
gelten dem Themenfeld Immuntherapie
gegen Krebs. Dass selbst auf den ersten
Blick noch so vielversprechende Forschungsansätze auf dem langen und hürdenreichen Weg zum Medikament scheitern, sei eher die Regel als die Ausnahme,
betont Kalkbrenner. „Das ist unser Risiko
– aber anders geht es nicht.“ Von rund
200 Projekten, die Kalkbrenner und sein
Team alljährlich aus der wissenschaftlichen Welt der Publikationen, Meetings
und Kongresse herausfiltern, kommen 50
bis 60 in die nähere Wahl, 20 von ihnen
werden vertieft angegangen – drei Pro-
jekte pro Jahr werden von Boehringer
Ingelheim längerfristig finanziell gefördert. „Von insgesamt zehn Unternehmungen, die wir fördern, sollten ein bis zwei
schlussendlich ein großer Erfolg werden“,
erläutert Kalkbrenner. Die Übrigen – das
zeige die Erfahrung – verliefen erfolglos
im Sand. Von der Immuntherapie erwartet Kalkbrenner einen großen Erfolg:
„Das ist ein sehr spannendes Feld in der
onkologischen Forschung – da tut sich
etwas!“
Ein großes Potenzial sieht er vor allem in der Kombination herkömmlicher
mit neuen Behandlungsansätzen gegen
Krebs. Immuntherapeutische Ansätze
wie die Impfung mittels Boten-Ribonukleinsäure oder der Einsatz der zurzeit
vielversprechenden „Checkpoint Inhibitoren“, die imstande sind, Bremsen des
Immunsystems zu lösen, könnten zusammen mit bereits verfügbaren zielgerichtet ansetzenden Medikamenten und
verbesserten konventionellen Verfahren
Krebs womöglich schon bald von einer
lebensbedrohlichen zu einer chronischen
Erkrankung werden lassen. Die Patienten
werden es den Forschern danken.
●
_ Impressum
Aufbruch zu neuen Horizonten
Eine Sonderpublikation von bild der wissenschaft in
Zusammenarbeit mit Boehringer Ingelheim
ERSCHEINUNGSTERMIN: 12 . 2015
HERAUSGEBERIN: Katja Kohlhammer
VERLAG: Konradin Medien GmbH
Ernst-Mey-Straße 8,
70771 Leinfelden-Echterdingen
CHEFREDAKTEUR: Wolfgang Hess
PROJEKTLEITUNG: Claudia Christine Wolf
REDAKTIONELLE MITARBEIT:
Claudia Eberhard-Metzger, Stefanie Reinberger,
Michael Simm
GRAFISCHE GESTALTUNG: commbox8.de
BILDREDAKTION: Susanne Söhling-Lohnert
REDAKTION BOEHRINGER INGELHEIM:
Dr. Reinhard Malin
VERTRIEB: Kosta Poulios
DRUCK: Konradin Druck GmbH
Kohlhammerstr. 1–15, 70771 Leinfelden-Echterdingen
Weitere Exemplare können Sie
kostenlos anfordern bei:
Leserservice bild der wissenschaft
Tel. 01805-260155
[email protected]
bild der wissenschaft plus 21
Porträt
I
Der Mann für
Sicherheit
Christopher Corsico ist verantwortlich für die Medikamentensicherheit bei Boehringer Ingelheim.
Ein Job, dem er eine zentrale Bedeutung in der Pharmabranche zumisst – im Hinblick auf die
Produktentwicklung, aber vor allem auf das Wohl jedes einzelnen Anwenders.
Alle Fotos: T. Wegner
von Stefanie Reinberger
m Büro von Christopher Corsico
steht eine Streichholzschachtel. Darin befindet sich ein ganz besonderes
Krankenzimmer, ein Tierarzt behandelt
einen Elefanten. Der US-Amerikaner sieht
in Veterinär und Dickhäuter vor allem
eins: Einen Mediziner, der sich mit aller
Hingabe und Sorgfalt einem Kranken
und dessen Genesung widmet. Genauso
sah Corsico als junger Mann seine eigene
Zukunft. Er studierte Medizin und praktizierte einige Jahre als Arzt. Doch bald
stellte er fest, dass ihm das nicht reichte.
„Ich wollte mehr Einfluss nehmen auf die
Gesundheit der Menschen“, sagt Corsico.
„Einzelnen Patienten zu helfen ist wichtig, aber meine Vision war, das Wohl und
die Gesundheit vieler zu verbessern.“ Der
Arzt ging zurück an die Uni und absolvierte einen Master-Studiengang in Epidemiologie chronischer Krankheiten. „Ich
wollte die großen Zusammenhänge verstehen. Was braucht es, damit Menschen
insgesamt gesünder und besser leben?“
Für Corsico lautet eine zentrale Antwort auf diese Frage: bessere Medikamente. Daher entschied er sich mit 34
Jahren, den Arztkittel gegen einen Job in
der Pharmaindustrie einzutauschen. Seit
19 Jahren arbeitet er nun schon im Bereich der Arzneimittelsicherheit, 17 davon bei Boehringer Ingelheim. Heute ist
der 52-Jährige weltweiter medizinischer
Leiter und damit verantwortlich für klinische Entwicklung, Medizin und Zulassung. „Meine Arbeit wirkt sich auf so viele Menschen aus“, sagt er. „Das empfinde
ich als ungeheuer befriedigend.“ Heute
fühlt sich Corsico für beide Akteure seiner Streichholzschachtelszenerie verantwortlich: den Arzt und den Patienten.
Ein Stück weit wurde dieser Weg
wohl vorgezeichnet. Der Großvater war
Pharmazeut mit eigener Apotheke. Später überwachte er im Auftrag des USBundesstaats New York die Abgabe von
Substanzen, die unter das Betäubungsmittelgesetz fallen – auch das eine Aufgabe
im Dienste der Arzneimittelsicherheit.
Der Großvater war es auch, der in Corsico das Interesse für die Medizin weckte.
„Ich erinnere mich, wie er einmal ein Stethoskop nach Hause brachte, mit dem ich
mein eigenes Herz hören konnte. Das hat
mich unglaublich fasziniert.“
Die Folgen von Contergan
Arzneimittelsicherheit klingt nicht
nach dem aufregendsten Aspekt der Pharmaforschung. Aber es ist möglicherweise
der wichtigste: „Ich habe als Arzt den
Hippokratischen Eid geleistet“, sagt Corsico. „Keinem Patienten Schaden zuzufügen, das ist für mich nach wie vor verbindlich.“ Das gelinge aber nur, wenn die
Wirkungsweise einer Substanz rundum
verstanden ist – mit all ihren Risiken, Nebenwirkungen und Gegenanzeigen. „Wir
brauchen möglichst viel Wissen, um die
richtige Balance zu finden zwischen Wirkung und möglichen Gefahren.“
Ein Fall, in dem die Waagschalen von
Nutzen und Risiko in dramatischer Weise
aus dem Gleichgewicht geraten sind, war
Ende der 1950er-Jahre bis Anfang der
1960er-Jahre der Arzneimittelskandal
um das Beruhigungsmittel Thalidomid,
besser bekannt unter dem Markennamen
Contergan. Das Medikament galt als besonders sicher. Es wurde als Schlaf- und
Beruhigungsmittel für Schwangere empfohlen und sollte auch gegen die typische
Morgenübelkeit helfen. Die Folgen waren
dramatisch: Weltweit wurden aufgrund
der Einnahme mehr als 10 000 Kinder
mit massiven Fehlbildungen geboren.
Rund 40 Prozent der Kinder verstarben
im Säuglingsalter. Dazu kam eine ungeklärte Zahl von Totgeburten.
„Das ist vielleicht das Schlimmste,
was in der Geschichte der Pharmaindustrie passiert ist“, sagt Corsico. „So etwas
darf sich niemals wiederholen.“ Doch er
verrät auch, dass dieser Fall die Medikamentensicherheit revolutioniert habe.
„Die Food and Drug Administration, also die Arzneimittelzulassungsbehörde in
den USA, hat daraufhin scharfe Richtlinien für die Sicherheit vor der Zulassung
von Medikamenten formuliert.“ Andere
Behörden weltweit reagierten ebenfalls.
In Deutschland etwa trat 1975 ein neues
Arzneimittelgesetz in Kraft – mit einem
Zulassungssystem, das strenge Anforderungen an den Nachweis von Qualität,
Wirksamkeit und Unbedenklichkeit von
Arzneimitteln stellt.
Außerdem gab der Contergan-Skandal den entscheidenden Anschub für das
Fachgebiet der Pharmakovigilanz, die
Arzneimittelsicherheit an erster Stelle:
Christopher Corsico ist weltweiter Leiter
des Bereichs klinische Entwicklung,
Medizin und Zulassung bei Boehringer
Ingelheim.
22 bild der wissenschaft plus
bild der wissenschaft plus 23
Porträt
Wissenschaft, die sich der Überwachung
bereits zugelassener Medikamente widmet. Meldesysteme wurden eingeführt,
bei denen Ärzte und Apotheker ebenso
wie Patienten Bericht erstatten über unerwartete und unerwünschte Reaktionen
auf Medikamente.
Rund 5000 Meldungen über Nebenwirkungen gehen jeden Monat bei
Boehringer Ingelheim ein. „Das sind extrem wertvolle Informationen für uns,
denn dadurch lernen wir, unsere Produkte besser zu verstehen“, sagt Corsico.
Zulassungsverfahren und die zugehörigen Tierversuche und klinischen Studien
sind eben nur ein Teil der Geschichte.
Der kniffligste Teil der Arzneimittelsicherheit beginne eigentlich erst danach,
wenn das Produkt auf dem Markt sei
und sich im „echten Leben“ bewähren
muss, so Corsico.
Der Grund: Selbst in ausgeklügelten
klinischen Studien sind die Patientengruppen meist zu klein, um sehr seltene
Nebenwirkungen zuverlässig zu erfassen. „Wenn eine bestimmte Reaktion nur
bei einem von 10 000 Patienten auftritt,
24 bild der wissenschaft plus
oder sogar noch seltener, ist nicht sehr
wahrscheinlich, dass wir sie in den Studien bemerken“, erklärt Corsico. Sehr
seltene Nebenwirkungen kommen daher
oft erst ans Tageslicht, wenn Ärzte das
Medikament verschreiben und die Zahl
der Anwender steigt.
Die Wissenschaft der Feinjustierung
„Außerdem müssen die Probanden in
den klinischen Studien strenge Kriterien
erfüllen. Sie dürfen zum Beispiel kein
Herzleiden haben, wenn wir im Rahmen
eines Zulassungsverfahrens ein Diabetes-Medikament prüfen“, argumentiert
Corsico weiter. Die klinischen Studien
klopfen die Wirkung des Arzneimittels
im Zusammenhang mit Diabetes ab –
da müssen weitere Faktoren so weit wie
möglich ausgeschlossen werden. Erkrankungen des Herzkreislaufsystems sind
jedoch häufig bei Diabetikern, so dass
sich Diabetes-Medikamente im realen
Einsatz auch vor diesem medizinischen
Hintergrund bewähren müssen. Pharmakovigilanz dient also der Feinjustierung
der Waage, könnte man sagen. Es ist ein
Prozess, bei dem zunehmend deutlich
wird, für welche Anwendung und Patientengruppen ein Medikament geeignet ist
– und für welche nicht. Das hilft, die Anwendung, aber auch die Gegenanzeigen,
immer präziser zu definieren und so die
Sicherheit zu erhöhen.
„Wussten Sie, dass Thalidomid heute
wieder auf dem Markt ist?“, sagt Corsico.
Das einstige Skandal-Medikament dient
heute der Behandlung von Menschen mit
Lepra und mit Multiplen Myelomen, eine Krebserkrankung des Knochenmarks.
Das ist für den Amerikaner ein Beispiel
für erfolgreiche Pharmakovigilanz. „Thalidomid darf niemals wieder bei Schwangeren angewendet werden, aber bei einer
streng definierten Patientengruppe überwiegt der Nutzen über mögliche Risiken,
und diese Menschen profitieren von dem
Wirkstoff.“
Arzneimittelsicherheit geht aber noch
weiter: Da gilt es Beipackzettel zu formulieren, mit denen Ärzte und Patienten
etwas anfangen können. Packungsgrößen müssen so gewählt werden, dass das
trifft, nachhaltige Konsequenzen hat –
für die pharmazeutischen Produkte, die
sein Arbeitgeber entwickelt und vertreibt, aber auch für die Patienten, die
das Medikament einnehmen. Dass die
meisten Menschen nicht erkennen, wie
viel Zeit, Geld und Arbeit in die Sicherheit von Medikamenten investiert wird,
bedauert er. „Viele sehen nur, was Medikamente kosten und den Profit, den die
Konzerne mit ihren Produkten natürlich
machen wollen.“
Spaß am Rätselknacken
Nein, ein Sicherheitsfreak sei er nicht,
sagt Corsico. Er ist keiner, der dreimal
nachschaut, ob der Herd wirklich aus ist,
bevor er das Haus verlässt. Ihm geht es
darum, Informationen zusammenzutragen und gegeneinander abzuwägen, um
dann die bestmögliche Entscheidung zu
treffen. „Aber das ist doch im Leben immer so“, findet er. „Wenn es etwa um die
Familie geht, wenn man ein Haus kaufen
will oder Freizeitaktivitäten plant. Da
sammelt man doch auch alle möglichen
Informationen, um dann das Beste auszuwählen.“
Und dann fällt ihm doch noch etwas ein, was man unbedingt mitbringen
muss, um im Bereich der Medikamentensicherheit zu arbeiten. „Um diesen
Job zu machen, muss man Spaß daran
haben, Rätsel zu knacken“, sagt er. „Wir
müssen tagtäglich Unmengen von Daten
interpretieren und wie winzige Puzzlesteine zu Gesamtbildern zusammenfügen – wer das nicht mag, wird in diesem
Arbeitsfeld nicht glücklich.“ Knobeln
liebte Corsico schon als Kind, und auch
heute noch verbringt er seine Feierabende gerne mit Kreuzworträtseln und Anagrammen. Davon abgesehen verlangt der
52-Jährige von seinen Mitarbeitern vor
allem eines: „Jeder, der in der Pharmaindustrie arbeitet, muss sich seiner großen
Verantwortung bewusst sein, denn alles,
was wir machen, hat Konsequenzen für
jeden einzelnen Anwender.“
●
David Keays _ geboren 1976 in Johannesburg und australischer Staatsbürger, ist Neurobiologe und
Arbeitsgruppenleiter am Forschungsinstitut für Molekulare Pathologie (IMP) in Wien, an dem biomedizinische Grundlagenforschung betrieben wird. Hauptsponsor des IMP ist Boehringer Ingelheim.
„Nach meiner Promotion an der Universität Oxford hatte ich einen ehrgeizigen Plan: zu verstehen, welche Zellen und Moleküle die Wahrnehmung des Erdmagnetfelds bei Tauben vermitteln. Daher nahm
ich eine Stelle am IMP an, dem Boehringer Ingelheim Grundlagenforschungsinstitut. Das war eine der
besten Entscheidungen, die ich je getroffen habe. Zusammen mit meinem Team untersuche ich, welche Rolle das Innenohr bei der Wahrnehmung des Erdmagnetfelds spielt. 2013 entdeckte mein Doktorand Mattias Lauwers eine eisenhaltige Struktur in den Sinneszellen des
Innenohrs von Tauben. Wir wollen nun herausfinden, ob es sich dabei
um den mysteriösen Magnetrezeptor handelt. In einem anderen Projekt, das gerade angelaufen ist, versuchen wir, einen künstlichen Magnetrezeptor zu entwickeln. Dabei verwenden wir Moleküle aus ganz
unterschiedlichen Tierarten und entwickeln eine neue Methode für die
Neurowissenschaften. Mit der Technik werden wir Nervenzellen mithilfe
eines Magnetfelds gezielt und mit hoher zeitlicher Präzision aktivieren
können. Es wird nicht einfach werden – aber unglaublich spannend!
Es ist wahnsinnig aufregend, wenn wir etwas wirklich Neues entdecken.
Das Gefühl, dass noch niemand das jemals zuvor gesehen oder verstanden hat, ist elektrisierend. Das ist ein ganz besonderer Augenblick.“
Foto: T. Klink
„Wir brauchen
möglichst viel
Wissen, um die
richtige Balance
zu finden zwischen
Wirkung und möglichen Gefahren“
NACHWUCHSFORSCHER IM PORTRÄT
Risiko für gefährliche Überdosierungen
und Medikamentenmissbrauch auf ein
Minimum reduziert wird. Verpackungen
müssen kindersicher sein und gleichzeitig
der Zielgruppe die korrekte Einnahme so
einfach wie möglich machen. „Stellen Sie
sich vor, sie haben ein Arthrose-Medikament in einer kindersicheren Dose und der
Patient kann diese dann nicht öffnen.“
Was muss man für Fähigkeiten mitbringen, um bei all diesen verschiedenen
Aspekten den Überblick zu behalten und
die richtigen Entscheidungen zu treffen?
„Das mach ich ja nicht alles alleine, wir
haben weltweit mehr als 300 Mitarbeiter, die sich mit diesen Fragen beschäftigen“, lacht Corsico. Der Mediziner
klingt sehr bescheiden, wenn er das so
sagt. Überhaupt tritt Corsico eher zurückhaltend auf. Er spricht ruhig und
mit Bedacht, aber mit einer einnehmenden Präsenz. Und man hat den Eindruck,
dass er nichts Unüberlegtes von sich gibt.
Das mag damit zu tun haben, dass jede
seiner Entscheidungen, die er tagtäglich
Zulassung
E
Kraftakt für einen
Lebensretter
Zwischen der Entwicklung eines Arzneimittels und dessen
Vermarktung steht die Zulassung. Die Geschichte des Antikörpers
Idarucizumab illustriert die Herausforderungen des Verfahrens.
Joanne van Ryn mit dem Präparat
Pradaxa zur Vorbeugung von Schlaganfällen bei Patienten mit Vorhofflimmern und dem dazu entwickelten
Gegenmittel Idarucizumab.
26 bild der wissenschaft plus
Alle Fotos: T. Klink
von Michael Simm
s war eine Sternstunde für Boehringer Ingelheim: Hunderte von Mitarbeitern hatten daran gearbeitet,
und nun, am 19. Oktober 2010, war sie
da: die Zulassung für den Gerinnungshemmer Dabigatran (Handelsname:
Pradaxa®), das erste Präparat zur Vorbeugung von Schlaganfällen bei Patienten mit
Vorhofflimmern, mit dem die Wirkung
der bisherigen Standards übertroffen
werden konnte. Vorausgegangen waren
jahrelange Forschung und Studien mit
mehr als 18 000 Patienten. Wohl niemals
zuvor hatte das 1885 gegründete Familienunternehmen solch einen Aufwand für
ein einziges Produkt betrieben.
„Das war ein Grund zum Feiern“, erinnert sich Joanne van Ryn, wissenschaftliche Expertin für Gerinnungshemmung
und eine der Geburtshelferinnen von Idarucizumab. „Und nun wollten wir noch
das Tüpfelchen auf dem i.“ Zusätzlich zu
dem Gerinnungshemmer sollte neben den
bestehenden Verfahren ein spezifisches
Gegenmittel bereitstehen. Denn wer Präparate wie Dabigatran oder auch das ältere Marcumar einnimmt, erhöht damit das
Risiko, eine Blutung zu erleiden.
Diese Nebenwirkung ist mit allen Medikamenten aus dieser Klasse ebenso untrennbar verbunden wie die Vorder- und
die Rückseite einer Medaille. Blutungen
etwa im Gehirn oder auch im Magen
können in sehr seltenen Fällen auch beim
vorschriftsmäßigen Gebrauch eintreten.
Auch wenn Patienten unter einem Blutgerinnungshemmer einen schweren Unfall
haben, oder plötzlich operiert werden
müssen, sind die Ärzte besonders gefordert.
Zwar verliert Dabigatran nach dem
Absetzen seine Wirkung sogar schneller,
als dies bei den Vitamin-K-Antagonisten
durch die Verabreichung von Vitamin-K
möglich ist, dennoch hatten sich viele
Ärzte ein maßgeschneidertes und noch
schnelleres Gegenmittel gewünscht.
Hans-Christoph Diener, Direktor der
Klinik für Neurologie am Universitätsklinikum Essen und einer der weltweit
führenden Experten zur Vorbeugung des
Schlaganfalls, berichtet: „Bei jedem Vortrag über Dabigatran werde ich nach einem Gegenmittel gefragt.“
Kaum jemand schien besser vorbereitet, diesen Wunsch zu erfüllen, als Joanne
van Ryn. Vor rund 20 Jahren war sie aus
ihrer Heimat Kanada nach Biberach gezogen, wollte nach ihrer Doktorarbeit über
Blutgerinnsel weiter auf diesem Gebiet
forschen – und fand hier das ideale Umfeld. Gerade war man dabei, mit Hilfe der
Gentechnik ein besonderes Medikament
herzustellen, den gewebespezifischen
Plasminogenaktivator Alteplase. Er kann
Gerinnsel auflösen und hat als Actilyse®
ungezählten Patienten mit Herzinfarkten,
Schlaganfällen und Lungenembolien das
Leben gerettet.
Gleichzeitig wurden neue Wege zur
Blutgerinnungshemmung erforscht. Zwei
Jahre wollte die Biologin zunächst nur
bleiben, doch dann traf sie nicht nur ihren
heutigen Ehemann, sondern bekam auch
noch ein Jobangebot, das sie nicht ablehnen konnte: Nun wollte man als nächstes
eine ganz neue Art von Blutgerinnungshemmern entwickeln und man holte dafür van Ryn mit ins Boot. Bis heute hat
die Wissenschaftlerin 78 Fachpublikationen vorzuweisen; die meisten davon auf
diesem Gebiet. Seit dem Jahr 2006 ist sie
mit dabei im „Product and Pipeline Scientific Support“ für Dabigatran, schrieb
unter anderem den Pharmakologie-Teil
für dessen Zulassungsanträge bei den
beiden größten Behörden FDA und EMA.
Parallel dazu – und noch vor der Zulassung von Dabigatran in den USA – begann van Ryn sich Gedanken zu machen,
wie ein mögliches Gegenmittel aussehen
könnte. Zusammen mit dem Chemiker,
der Dabigatran synthetisiert hatte, und
den Antikörper-Experten, beschloss sie
schließlich, dieses Molekül direkt ins
Visier zu nehmen – und zwar mit einem
maßgeschneiderten Antikörper.
Auf Erfahrungen zurückgreifen
Die gesamte Infrastruktur für die
anfänglichen Untersuchungen war am
Standort Biberach bereits vorhanden. Ein
„Riesenvorteil“ war es außerdem, auf die
Dabigatran-Erfahrungen zurückgreifen
zu können. Im ersten Schritt verabreichte
man Dabigatran an Mäuse, und zwar in
einer Form, die eine Immunreaktion auf
das Mittel besonders stimuliert. Tatsächlich bildeten sich zahlreiche verschiedene
Antikörper, unter denen man die aussichtsreichsten Kandidaten isolierte und
bild der wissenschaft plus 27
Zulassung
nach Ridgefield in den USA schickte. Dort
„vermenschlichten“ eine Handvoll Spezialisten den Maus-Antikörper. Bei dieser
Methode werden Teile des Antikörpers,
die von der Maus stammen, durch Fragmente ersetzt, wie sie für menschliche Antikörper typisch sind. So kann man verhindern, dass die Antikörper später vom
Immunsystem des Patienten als fremd
erkannt und angegriffen werden. Schließlich haben van Ryns Kollegen auch noch
gezielte Veränderungen an der Bindungsstelle ihres Antikörpers vorgenommen,
und damit die Haftung an Dabigatran
auf das 20-fache gesteigert. Der Name des
neuen Moleküls: Idarucizumab.
Die Biologin schwärmt von Bindungskonstanten, von schneller On- und langsamer Off-Rate. Dies bedeutet, dass der
neue Antikörper sein Ziel sehr schnell erfasst und dann nicht mehr loslässt „wie ein
Superkleber“. Ein wenig Glück sei auch
Claudia Niestroj
lagert Plasmaproben
in einem Eisbad. Die
Proben stammen aus
Studien an Schweinen, die mit Pradaxa
und Idarucizumab
behandelt wurden.
28 bild der wissenschaft plus
dabei gewesen, und so war es gelungen,
diesen Entwicklungsschritt in rund einem
Jahr zu bewältigen. Ein Kernteam von gerade einmal zehn Mitarbeitern hatte die
Grundlage gelegt, und nun besaß man mit
Idarucizumab einen maßgeschneiderten
Wirkstoff, mit dem sich die blutverdünnende Wirkung von Dabigatran wieder
aufheben ließ. Im Reagenzglas.
Zwar würde ein Teil des Kernteams
die weitere Entwicklung begleiten, jetzt
aber waren andere Spezialisten gefragt:
Sicherheits-Pharmakologen, Präklinische
Pharmakokinetiker, Mediziner, Biotechnologen – und Experten für den Zulassungsprozess.
Teil der Aufgabe war es, das neue Biomolekül in ausreichender Menge bereitzustellen. Reichten für die Forschungsphase noch kleine Fermenter von 800
Liter Volumen, galt es nun, bei konstant
hoher Qualität wesentlich größere Mengen für die anstehenden klinischen Studien zu liefern. Schließlich musste dieser
Prozess des „Upscaling“ auch sicherstellen, dass im Falle einer Zulassung der
weltweite Bedarf an Idarucizumab ohne
Lieferengpässe gestillt werden könnte.
„Glücklicherweise verfügt Boehringer Ingelheim als einer der weltweit führenden
Hersteller von Biopharmazeutika über
langjährige Erfahrungen und große Entwicklerteams an mehreren Standorten,
sodass wir auch diese Herausforderung
bestanden haben“, so van Ryn.
Eine weitere Herausforderung, die es
zu bestehen galt, war der Umstand, dass
Idarucizumab zu einer Klasse von Wirkstoffen gehört, mit denen selbst die Zulassungsbehörden bislang kaum Erfahrung
hatten.
Auf einer eigens einberufenen Konferenz trafen sich deshalb im April 2014
Fachleute des „Cardiac Safety Research
Consortiums“ und Experten der US-amerikanischen Zulassungsbehörde FDA. In
einem „White Paper“, das die wichtigsten Ergebnisse zusammenfasst, bekräftigen sie die Wichtigkeit von Idarucizumab,
weil es spezifisch die Blutverdünnung nach
Dabigatrangabe normalisieren kann.
„Spezifische Gegenmittel sind wichtig,
weil die Blutgerinnungshemmung immer
noch zu wenig genutzt wird, um Schlaganfälle bei Patienten mit Vorhofflimmern
zu verhindern.“ Die Vorteile der neuen
Produktion von Idarucizumab in Fermentern. Hermann Hutzel (vorn) arbeitet an der Prozessdokumentation, im Hintergrund bedienen Andreas Angele, Sarah Lotter und Franz Gerstenlauer das
Steuerungssystem der Fermentationsanlage. Der obere Bildschirm zeigt den Prozessablauf, am
unteren Bildschirm verfolgen die Mitarbeiter die einzelnen Arbeitsschritte und Anweisungen.
oralen Antikoagulantien (NOACs), zu
denen Dabigatran gehört, würden nicht
ausreichend genutzt, solange es keine Gegenmittel gebe, so das White Paper.
Um diese Gegenmittel zu testen, müssten jedoch besondere Regeln gelten. Abgesehen von dem 20 Jahre alten Präparat
Digibind® gegen eine Überdosis mit dem
Herzmittel Digitalis und ein paar Antiseren gegen Schlangengifte kennt die Medizin fast keine spezifischen Gegenmittel.
Schließlich sind diese Arzneien für seltene
Notfälle gedacht. Eine der üblichen großen Vergleichsstudien, bei denen die eine
Gruppe das Antidot erhält und die andere
nicht, wäre schon aus ethischen Gründen
sehr problematisch. Wegen ihrer Bedeutung neige man dazu, die NOAC-Gegenmittel für den Gebrauch in lebensbedrohlichen Situationen zuzulassen, wenn diese
Moleküle in präklinischen Untersuchungen gut charakterisiert würden, etwa auf
Wirkstärke und Dauer, schreiben die Experten in ihrem White Paper. Und schließlich dürften sie in den ersten Tests beim
Menschen keine schädlichen Nebenwirkungen zeigen. Zusätzlich wollte man die
Auflage machen, dass nach der Zulassung
die verfügbaren Informationen aus der
Anwendung ständig ergänzt würden, bis
es genug Daten gebe, um die Ergebnisse
unter Praxisbedingungen zuverlässig zu
bewerten.
Die Untersuchung war eine enorme
Herausforderung, auf die man jedoch
vorbereitet war. „Bei allem, was wir hier
erforschen, haben wir natürlich auch das
Ziel einer späteren Zulassung im Blick“,
erklärt van Ryn. Alle Daten werden dokumentiert, alle Erkenntnisse strukturiert
und archiviert.
Vorgeschrieben sind auch Tierversuche, um nicht nur die Wirksamkeit, sondern auch die Sicherheit neuer Präparate
besser abschätzen zu können. Ein Beitrag
bild der wissenschaft plus 29
zulassung
30 bild der wissenschaft plus
Rund um die Uhr – und den Globus
24 Stunden am Tag, sieben Tage in
der Woche standen darum „Aufpasser“
bereit. 300 Patienten wollte man in die
Studie einschließen und spannte dazu ein
Netz von mehr als 400 Zentren in 38 Ländern – von Neuseeland über Hongkong
und Europa bis Kanada und den USA.
Jeder teilnehmende Studienarzt, jedes
Zentrum musste informiert und geschult
werden, um die geeigneten Patienten zu
erkennen, sie in die Studie einzuschließen
und Idarucizumab zu verabreichen. „Es
war eine fantastische Leistung“, lobt van
Ryn ihren Kollegen Paul A. Reilly, der
zusammen mit seinem Team die Studie
koordiniert hat.
Ein unverzichtbarer Bestandteil war
es, dass die Ärzte sich dazu verpflichteten,
in engen zeitlichen Abständen Blutproben abzunehmen: unmittelbar vor und
nach der ersten Infusion, nach 10 bis 30
Minuten, sowie nach 1, 2, 4, 12 und 24
Stunden nach der zweiten Infusion. Nun
konnte man anhand der Gerinnungsfaktoren im Blut und der Konzentrationen
von Dabigatran und Idarucizumab die
Wirkung des Gegenmittels exakt nachverfolgen.
Stolz zeigt van Ryn die Grafiken für die
ersten 90 Patienten, die die Veröffentlichung der Ergebnisse in der renommierten
Fachzeitschrift „New England Journal of
Medicine“ begleiteten. Sie dokumentieren den Erfolg unter realen Bedingungen:
Innerhalb von Minuten konnte Idarucizumab die Wirkung von Dabigatran bei
nahezu allen Patienten aufheben. Dies
war das Ergebnis, auf das sie alle gehofft hatten. Noch dazu hatte man diesen Erfolg unter besonders schwierigen
Bedingungen erzielt: 76,5 Jahre war das
Durchschnittsalter der Studienteilnehmer,
und viele unter ihnen hatten eine gestörte
Nierenfunktion.
Bei 36 Patienten, die wegen einer
Notfalloperation behandelt wurden,
verzeichneten die Ärzte in 33 Fällen eine
ganz normale intraoperative Blutgerinnung, lediglich bei zwei Probanden war
die Blutgerinnung leicht und bei einem
mäßig gestört. Dies sei „ein extrem wichtiger Schritt“, lobte Schlaganfall-Experte
Professor Hans-Christoph Diener. Er
hofft, dass Idarucizumab bald schon in
jeder Notfallaufnahme verfügbar sein
wird. Die Chancen dafür stehen gut, denn
gerade erst haben die Experten der EMA
die Zulassung empfohlen.
„Ist die Arbeit jetzt erledigt, Dr. van
Ryn?“ Wohl kaum, schmunzelt die Forscherin. Auch nach der Zulassung werden
weiter Daten gesammelt, um zu untersuchen, wie das Antidot in der Praxis eingesetzt wird. Diese Ergebnisse werden
Ärzten bei ihren alltäglichen Therapieentscheidungen helfen, die Patienten optimal zu versorgen. ●
Alessandra Bartolozzi, _ geboren 1973 in Prato, Italien, ist Chemikerin und Teamleiterin in der
Medizinal-Chemie bei Boehringer-Ingelheim in Ridgefield, USA.
„Es gibt viele Aspekte, die meinen Job einzigartig machen. Aber zwei Dinge ragen besonders heraus:
die Patienten und die Herausforderung. Wir stehen in einer Art „Bündnis“ mit den Patienten –
den Menschen, die an einer Krankheit leiden und deshalb auf den nächsten Durchbruch in
der medizinischen Forschung warten. Jedes neue Experiment oder Projekt hat zum Ziel, den
Menschen dort draußen zu helfen. Dem zweiten Aspekt – der Herausforderung – begegnen
wir jeden Tag. Es gibt immer ungelöste Fragen und Probleme, die mit immensen technischen
Herausforderungen verbunden sind. Wir arbeiten im festen Glauben daran, dass es für alles
eine Lösung gibt. Doch die Arzneimittelentwicklung ist mühsam. Es gibt viele Misserfolge
und nur gelegentliche Durchbrüche. Doch eben diese Durchbrüche sind es, die uns unserem Ziel näher bringen: einen Unterschied im Leben der Patienten zu machen.
Gerade hat eine Serie neuer Projekte begonnen, in denen es um Autoimmunerkrankungen
geht. Meine Arbeitsgruppe und ich werden an einigen dieser Projekte arbeiten. Momentan befinden wir uns noch in der „Entdeckungsphase“: Wir müssen herausfinden, wie wir
die Zielstrukturen –sogenannte „targets“ – modulieren können, um den gewünschten
pharmakologischen Effekt zu erzielen. Ich freue mich sehr auf die Herausforderungen,
die vor mir liegen.“
NACHWUCHSFORSCHERIN IM PORTRÄT
tran erhielten und wegen eines Notfalls
eine schnelle Aufhebung der Wirkung des
Blutverdünners benötigten.
Es war eine enorme Herausforderung.
Per Definition geschehen Notfälle unerwartet, auch mitten in der Nacht oder am
Wochenende, man kann sie nicht einplanen, und sie sind sehr selten, erklärt van
Ryn. Auch musste sichergestellt werden,
dass die Patienten überhaupt Dabigatran
eingenommen hatten.
Foto: Boehringer Ingelheim
Das Zulassungsverfahren für Idarucizumab startete Mitte 2014.
Am 25. September 2015 haben die Experten der Europäischen
Arzneimittelagentur (EMA) die Zulassung empfohlen.
dazu waren Versuche mit Ratten, denen
man eine hohe Dosis Dabigatran verabreicht hatte, und deren Blutung mit Idarucizumab schnell und sicher gestoppt werden konnte. Genauere und zuverlässigere
Aussagen erhoffte man sich von einem
Tiermodell, das dem Menschen sehr viel
ähnlicher ist als die Ratte: das Schwein.
Tatsächlich gelang es in Zusammenarbeit
mit einer Forschergruppe an der RWTH
Aachen, Blutungen bei Schweinen mit Idarucizumab binnen 15 Minuten zu stillen.
Noch immer waren die Daten nicht
ausreichend, um einen Zulassungsantrag
zu stellen. Gleich drei Studien mit Freiwilligen sollten folgen. Zunächst wurde
der Antikörper alleine verabreicht, um zu
messen, wie schnell er abgebaut wird und
ob er gut verträglich ist. Dann wurde den
Freiwilligen zunächst Dabigatran und
anschließend der Antikörper verabreicht,
um zu prüfen, ob er auch beim Menschen
die gerinnungshemmende Wirkung von
Dabigatran aufheben kann.
„Diese Studien haben bestätigt, dass
Idarucizumab wirkt wie erwartet und
dass es keine überraschenden Nebenwirkungen gibt“, so van Ryn. Inzwischen
war Idarucizumab bereits geadelt mit dem
sogenannten Breakthrough-Status bei der
US-Behörde FDA. Dieser Status wird für
besondere therapeutische Innovationen
verliehen und ist eine Art Überholspur,
mit der die oft jahrelangen Verfahren abgekürzt werden sollen für jene Arzneien,
die auf ernsthafte und lebensbedrohliche
Erkrankungen zielen. Voraussetzung ist
aber, dass der Antragsteller zumindest
vorläufige Belege erbringt, wonach das
Arzneimittel eine erhebliche Verbesserung darstellt.
Sind alle Voraussetzungen gegeben,
so wird die Durchsicht der Dokumente
beschleunigt, für Besprechungen mit der
Behörde gibt es schneller Termine oder
man setzt besonders erfahrene Prüfer ein,
was die Marktzulassung ebenfalls beschleunigt.
Parallel zum Zulassungsverfahren
startete Mitte 2014 dann der alles entscheidende Praxistest, der die „erhebliche Verbesserung“ beweisen sollte. In
RE-VERSE AD™ – so der Name dieser
weltweiten Patientenstudie – wurde das
Gegenmittel erstmals in der klinischen
Praxis bei Patienten getestet, die Dabiga-
bild der wissenschaft plus 31
Perspektiven
I
Im Zeichen des
Wandels
Mit Teamwork, Kreativität und Offenheit bereiten Boehringer-Forscher
den Boden für Innovationen in einem schwierigen Markt.
Ein internationales Team ist der
Regelfall bei Boehringer Ingelheim.
32 bild der wissenschaft plus
Foto: T. Wegner
von Michael Simm
st das der Mann, der für Boehringer
Ingelheim in die Zukunft schaut? Michel Pairet lächelt bescheiden. Nur einer von vielen sei er hier, sagt der globale
Leiter der nicht-klinischen Forschung und
Entwicklung beim zweitgrößten deutschen Pharmakonzern. 1992 ist der Franzose zur Firma gekommen. In fließendem
Deutsch erklärt er, wie die Branche damals funktioniert hat: „Wenn man eine
wirksame Substanz hatte, brachte man sie
auf den Markt.“
Es war also etwas einfacher als heute,
denn für häufige Leiden gab es oft nur unzureichende Behandlungsmöglichkeiten.
Gleichzeitig war dies auch eine Chance,
denn man kannte bereits für viele Krankheiten den zugrunde liegenden Mechanismus. Was fehlte, waren „nur noch“
Wirkstoffe, die an diesen Stellen ansetzen
würden. Natürlich war das auch schon
früher leichter gesagt als getan – dennoch
war das die Basis für die Entdeckungen
neuer Moleküle und neuer Produkte. „Es
gab noch nicht diesen Kampf um den Zugang zu den Märkten“, so Pairet.
30 Jahre später steht die Pharmaindustrie vor einer großen Herausforderung,
diagnostiziert Professor Florian Gantner, Globaler Leiter der Translationalen
Medizin & Klinischen Pharmakologie.
„Zwar haben wir die Leiden unzähliger
Patienten gelindert, und darauf können
wir stolz sein. Damit haben wir aber zugleich die Messlatte für weitere Erfolge
höher gelegt.“
Leider gibt es aber noch immer Patienten und Krankheiten ohne zufriedenstellende Behandlungsmöglichkeiten. Hier
bestehe die Herausforderung darin, vollständig neue und klinisch relevante Mechanismen zu identifizieren, sagt Pairet.
Die müssten dann mit Arzneien angegangen werden, deren Wirksamkeit und Sicherheit außer Frage steht. Dass man sich
dabei an dem jeweiligen Goldstandard
messen muss, und die Qualitätsansprüche
somit immer weiter steigen, sieht Pairet
positiv: „Dem stellen wir uns mit aller
Leidenschaft.“
„Heute ist eine zusätzliche Hürde die
Wirtschaftlichkeit“, sagt Gantner. Das
bedeutet: Neben Neuheit, Wirksamkeit,
Sicherheit und Qualität muss nachgewiesen werden, ob eine neue Arznei gegenüber der Konkurrenz einen Zusatznutzen
bietet. Und darüber gibt es oft Streit. „Es
werden teilweise Medikamente nicht
mehr angemessen honoriert, deren Nutzen für die Gesellschaft und die Patienten
wir für erwiesen halten“, beklagt Gantner.
Das Problem der Kosten
Der Vorreiter dieser Bewegung war
eine britische Behörde, das National
Institute for Health and Clinical Excellence, kurz NICE. Sie errechnet, wie viel
ein gewonnenes Lebensjahr bei guter Lebensqualität kostet. Liegt der Preis unter
30 000 Pfund (etwa 42 000 Euro), wird
das Medikament erstattet. Mehr Geld
stellt der aus Steuern finanzierte britische
Gesundheitsdienst nicht zur Verfügung.
Schon mit einer der ersten Entscheidungen machte NICE sich unbeliebt, weil sie
eine Reihe von Alzheimer-Arzneien als
Geldverschwendung einstufte.
Zwar musste NICE ihr Urteil später
teilweise revidieren. Das Beispiel der Kostenrechnung aber machte weltweit Schule.
Seit 2007 empfiehlt etwa in Deutschland
das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG)
den gesetzlichen Krankenkassen, welche
Medikamente erstattet werden sollten.
Den Rest müssen die Versicherten entweder aus eigener Tasche bezahlen, oder
schlimmer noch, die Medikamente kommen erst gar nicht in den Verkehr, weil die
Hersteller befürchten müssen, damit ein
Verlustgeschäft zu machen.
Trotz dieser schwierigen Umstände
erwirtschaftete Boehringer Ingelheim mit
seinen rund 48 000 Mitarbeitern zuletzt
einen Umsatz von 13,3 Milliarden Euro
und liegt damit auf Platz 17 weltweit.
Besonders stolz ist man auf Dabigatran, einen Blutgerinnungshemmer, der
50 Jahre nach der Einführung von Warfarin als erstes neues orales Antikoagulans weltweit zugelassen wurde. Mit dem
ebenfalls als Tablette verabreichten Antidiabetikum Empaglifozin verfügt man
über den einzigen Wirkstoff zur Senkung
des Blutzuckerspiegels, der eine Reduktion des Herzkreislauf-Risikos in einer
dafür ausgelegten Studie demonstrieren
konnte. Neu auf den Markt kommen Afatinib zur Behandlung von fortgeschrittenem Lungenadenokarzinom, Nintedanib zur Behandlung der idiopathischen
Lungenfibrose, und Olodaterol in einer
neuen Kombinationstherapie mit Tiotropium gegen die chronisch-obstruktive
Lungenerkrankung (COPD).
Dass der Erfolg so bleibt, ist auch die
Aufgabe Pairets. Der Forschungsleiter bewertet die neuen Trends, er schmiedet Kooperationen und trifft strategische Entscheidungen. Vor allem aber kultiviert er
ein Klima der Kreativität und lockt kluge
Köpfe nach Ingelheim und nach Biberach,
Wien und Ridgefield, USA.
Am Anfang steht die Strategie der Therapiegebiete. Wo besteht medizinischer
Bedarf, den man mit der Entwicklung
spezifischer Medikamente und Therapien
befriedigen könnte? Auf einer „Krankheitskarte 2025“ stehen die Indikationen
mit dem größten unbefriedigten Bedarf.
Es sind gleichzeitig die lohnendsten Ziele: Klar spezifizierte Erkrankungen in den
Therapiegebieten Atemwege, Herz-Kreislauf und Krebs, Stoffwechsel, Immunologie und Neurologie.
Der zweite Filter fragt danach, ob es
wissenschaftliche Ansätze gibt, diesen Bedarf zu adressieren. Gibt es beispielsweise genetische Veränderungen, bestimmte
Proteine oder Bestandteile von Signalketten, die als Angriffspunkte dienen könnten? „Schließlich fragen wir uns, ob wir
mit unseren Möglichkeiten auf diesem Gebiet im Wettbewerb bestehen können, ob
wir also die entsprechenden Kapazitäten
für Forschung und Entwicklung in einem
bestimmten Bereich haben und das notwendige Know-how“, erklärt Pairet.
Heute gelingt es den Chemikern bei
Boehringer Ingelheim, kleine Moleküle
mit beeindruckenden Eigenschaften zu
synthetisieren, die die genannten Ziele ins
Visier nehmen. Dazu kommen biologische
Ansätze. Biotechnologisch hergestellte
Proteine, die Gentherapie oder zellbasierte Behandlungen haben enorm an Bedeutung gewonnen. „Manchmal verfolgt man
bei Boehringer auch zwei oder drei Ansätze parallel“, so Chefstratege Pairet.
An die 100 Forschungsprojekte verfolgt der Konzern gleichzeitig und investierte dafür im letzten Berichtsjahr knapp
2,7 Milliarden Euro in Forschung, nichtklinische und klinische Entwicklung.
Als Brückentechnik dient zunehmend
die Bioinformatik. Sie hilft, die Daten
aus den verschiedenen Bereichen des Unbild der wissenschaft plus 33
Perspektiven
Foto: Boehringer Ingelheim
den dabei beschritten, auf denen man im
Bereich der Forschung schon lange dabei
ist, die aber nicht zum aktuellen Portfolio
gehören. Noch nicht.
Das nötige Know-how holen sich die
Forscher nicht nur auf traditionelle Art
über die Fachliteratur und den Besuch von
Kongressen. Boehringer Ingelheim leistet
sich auch spezielle Pfadfinder, die „Innovation Seekers“. Sie sind unterwegs in den
wissenschaftlichen Zentren der Welt und
helfen, Kontakte anzubahnen.
Mit Research Beyond Borders wagt
Boehringer Ingelheim sich jenseits der
Firmengrenzen. So ist längst ein breites
Netzwerk entstanden, mit führenden universitären und außeruniversitären Forschungszentren, aber auch mit offenen Allianzen zur Entwicklung neuer Wirkstoffe
unter Beteiligung anderer Pharma- oder
Biotechunternehmen. Schließlich gibt es
einen Strauß von Kooperationen mit derzeit 15 jungen und kreativen Start-Ups,
die von dem firmeneigenen Venture Fund
unterstützt wurden, der mit einem Kapital
von 100 Millionen Euro ausgestattet ist.
Die Förderung – darauf legt Pairet Wert –
verzichtet auf unnötige Einschränkungen
der Partner und ist viel mehr als nur eine
Finanzspritze: „Transferiert wird nicht nur
Geld, sondern auch die Expertise unserer
Experten“, berichtet Pairet. „Im Gegenzug
lernen wir eine Menge von der Kreativität
und der Agilität dieser Wissenschafts-Unternehmer.“
ternehmens zugänglich zu machen und
zu interpretieren. Und Daten gibt es jede Menge: Insbesondere die Bildgebung
und die Sequenzierung des Erbguts von
Patienten können schon mal die Hochgeschwindigkeitsleitungen überfordern,
sodass man sich teilweise mit dem Versand von Festplatten behelfen muss. „Wir
sitzen auf einem Berg von Daten, aus dem
wir noch nicht genug Kapital schlagen“,
sagt Gantner selbstkritisch.
Mehr als 8000 Menschen waren im
Jahr 2014 bei Boehringer in der Forschung und Entwicklung tätig. Natürlich
kennt Pairet diese Zahl. Er weiß aber
auch, dass Man-Power und Milliardeninvestitionen alleine nicht ausreichen, um
im internationalen Wettbewerb zu bestehen. Pairets Beitrag zum Erfolg ist subtiler. „Kreativität und Innovation kommen
von Laborwissenschaftlern, nicht vom
Management. Alles dreht sich um Menschen, die voller Neugier, mit harter Arbeit und Experimentierfreude sich mit anderen Kreativen austauschen“, so Pairet.
34 bild der wissenschaft plus
Bestseller wie das Atemwegspräparat
Tiotropium (Handelsname: Spiriva®),
der Blutgerinnungshemmer Dabigatran
(Pradaxa®) und Linagliptin (Trajenta®)
zur Behandlung von Diabetes finanzieren
auch ein Programm, das Pairet besonders
am Herzen liegt.
Forschung ohne Grenzen
„Research Beyond Borders“ heißt es,
also Forschung ohne Grenzen. „Wir dürfen
nicht zu Sklaven unseres eigenen Erfolges
werden und uns mit den bisherigen Errungenschaften zufrieden geben“, erklärt
Pairet. „Die neuen wissenschaftlichen
Erkenntnisse müssen ja nicht unbedingt
aus einem unserer angestammten Indikationsgebiete kommen. Daher müssen wir
sehr wachsam sein und versuchen, jene
Erkenntnisse zu identifizieren, die neue
therapeutische Durchbrüche ermöglichen
könnten.“ Um Biotech-Experten aus aller
Welt anzulocken, bietet man Forschern
die Möglichkeit, quer zu denken und neue
Wege einzuschlagen. „Wir geben unseren
kreativen Köpfen die Freiheit, ihre Ideen zu
überprüfen und zu entwickeln. Das ist Teil
der Firmenstrategie.“
„Die wahre Entdeckungsreise in der Arzneimittelentwicklung besteht nicht darin,
neue Landschaften zu sehen, sondern darin, neue Augen zu haben“, zitiert Pairet den
französischen Schriftsteller Marcel Proust
frei. So gelang es auch den „Querdenkern“
am Rhein, die Kehrseite des Krebsmittels
Nintedanib zu entdecken und erfolgreich
gegen die idiopathische Lungenfibrose einzusetzen. „Viele unserer Wissenschaftler
machen Vorschläge. Es sind mehr Ideen da,
als wir verfolgen können“, sagt Pairet. „Es
herrscht also ein Wettbewerb, und die Gewinner bekommen die Möglichkeiten, ihre
Ideen zu verfolgen – in einem eigenen Labor und durch Kooperationen mit akademischen Zentren oder mit Wissenschaftlern
bei Biotech-Firmen oder Start-Ups.“
Dabei geht man eine ganze Reihe kleiner
Wetten ein. Auch Gebiete wie die Gentherapie und die Regenerative Medizin wer-
Foto: T. Wegner
Wenn Moleküle gesucht werden, die auf neu entwickelte therapeutische Angriffspunkte wirken, kann Boehringer Ingelheim auf eine
riesige Bibliothek von Substanzen zurückgreifen.
Auch das Crowd-Sourcing hat man
für Boehringer Ingelheim entdeckt: Probleme werden dabei in regelrechten Ausschreibungen dargestellt, sei es in Fachzeitschriften oder auf einer Webseite. Die
Kandidaten mit den besten Lösungsvorschlägen erhalten die Chance, die eigene
Idee in einem gut ausgestatteten Labor zu
prüfen und zu entwickeln. So vielfältig
die verschiedenen Kooperationen auch
sein mögen, es überwiegen doch die Gemeinsamkeiten bei der Suche nach neuen
Wirkstoffen und bei deren Entwicklung.
Schon bei der Zielvorgabe steht der Patient im Mittelpunkt. Im Labor geht es
dann mit Zellkulturen und in Tierversuchen darum, ein Abbild der Krankheit
dieses imaginären Patienten zu schaffen.
Möglichst nah dran am Original soll es
sein, dieses Krankheitsmodell, sodass
die Ergebnisse auch übertragbar sind
und nicht nur Wirkungen, sondern auch
mögliche Nebenwirkungen abschätzbar
werden.
Biomarker sind ein Schlüssel
Eine Schlüsselrolle spielen dabei die
Biomarker – messbare Werte im Blut
oder Gewebe, die biologische Prozesse
widerspiegeln, und an denen sich die
Wirksamkeit einer Substanz abschätzen
lässt. Biomarker gibt es auch für die Sicherheit. Und in jüngster Zeit kommt ein
weiterer Faktor hinzu: Biomarker, die
erkennen helfen, welche Patienten am
ehesten von einem Wirkstoff profitieren
– und welche eher nicht.
Hier könnte auch einer der Schlüssel
zur Lösung der Kostenfrage liegen, sagt
Gantner. Eine der jüngsten Entwicklungen, Afatinib (Giotrif®), wirkt gegen
den metastasierenden nicht-kleinzelligen
Lungenkrebs unterschiedlich gut, je
nachdem, ob das Zielmolekül auf den
Zellen der Patienten eine bestimmte
Mutation aufweist oder nicht. Die Zulassung der Arznei ist deshalb auf genau
jene Patienten beschränkt.
In ähnlicher Weise werden Patienten künftig immer häufiger „stratifiziert“, glaubt Gantner. Ob Diabetes
oder die Lungenerkrankung COPD:
Viele Krankheitsbilder, die heute noch
aufgrund ähnlicher Symptome zusammengefasst werden, könnten als eigenständige Leiden anhand genetischer und
anderer Biomarker klassifiziert werden.
Je mehr es gelingt, solche Subpopulationen von Patienten zu identifizieren,
umso präziser würde die Behandlung,
erwartet Gantner. Natürlich würden
auch weniger Menschen Arzneien bekommen, von denen sie keinen Nutzen
haben. Damit würde sein Unternehmen
gleichzeitig die Versorgung verbessern
und zur Kostensenkung im Gesundheitswesen beitragen. „Und das ist eine
Bilanz, auf die wir alle stolz sein können“, so Gantner. ●
Der Franzose Michel Pairet
ist seit 1992 bei Boehringer
Ingelheim.
bild der wissenschaft plus 35
Meilensteine bei Boehringer Ingelheim
1885 Albert Boehringer erwirbt eine kleine
1986 Das Biotechnikum in Biberach nimmt
2015 Einführung von Glyxambi® auf dem
Weinsteinfabrik in Ingelheim. Anfangs sind
dort 28 Mitarbeiter beschäftigt, die Salze der
Weinsäure für Apotheken und Färbereien herstellen. Die Nachfrage nach diesem Produkt
steigt in den ersten Jahren rasant an.
den Betrieb auf. Es ist nach einer Investition
von rund 77 Millionen Euro die größte Produktionsanlage für Biopharmazeutika aus
Zellkulturen in Europa.
US-amerikanischen Markt zur Behandlung
von Typ-2-Diabetes. Abasaglar®, eine
Gemeinschaftsentwicklung von Boehringer
Ingelheim und Eli Lilly & Co., ist das weltweit
erste zugelassene Insulin Biosimilar, das den
Wirkstoff Insulin glargin enthält. Einführung
des Kombinationspräparats Synjardy® zur Behandlung von Typ-2-Diabetes. Einführung von
Spiolto® Respimat® (in USA Stiolto™ Respimat™) zur langwirksamen Dauertherapie für
Patienten mit COPD (chronisch-obstruktiver
Lungenerkrankung).
1895 Die Firma meldet ihr erstes Patent
1987 Actilyse®, das erste bei Thomae/
für ein neues Verfahren zur Herstellung von
Backpulver auf Milchsäurebasis an.
Boehringer Ingelheim biotechnisch hergestellte Präparat zur Therapie des akuten
Herzinfarkts, erhält die Zulassung.
1917 Gründung der Wissenschaftlichen
1995 Erstmals in der Geschichte des
Abteilung auf Anregung des Chemikers und
späteren Nobelpreisträgers für Chemie Prof.
Dr. Heinrich Wieland (1877 – 1957), einem
Vetter von Albert Boehringer.
Unternehmens werden für Forschung und
Entwicklung weltweit mehr als eine Milliarde
Mark aufgewendet.
1920 Einführung des Herz-Kreislauf-Präparats Cadechol®, das am Anfang der Reihe
erfolgreicher Herz-Kreislauf-Präparate von
Boehringer Ingelheim steht.
1927 Heinrich Wieland erhält den Nobelpreis für Chemie für seine „Untersuchungen
über die Zusammensetzung der Gallensäure
und verwandter Verbindungen“.
1941 Einführung des Atemwegspräparats
Aludrin®. Dieses erste Asthmamittel eröffnete
später auch den Weg zu den sogenannten
Betablockern.
1951 Einführung von Buscopan®, einem
schmerz- und krampflösenden Mittel auf
pflanzlicher Basis zur Behandlung von Magen- und Darmerkrankungen.Einführung des
ersten Präparates aus der Thomae-Forschung:
Finalgon®-Salbe zur perkutanen Wärme-ReizTherapie.
1975 Einführung von Atrovent® zur Be-
2002 Das COPD-Präparat Spiriva® wird
eingeführt.
2010 Pradaxa® wird zur Vorbeugung von
Schlaganfällen bei Patienten mit Vorhofflimmern zugelassen.
2011 Boehringer Ingelheim erhält die
Zulassung für Trajenta® zur Behandlung von
Erwachsenen mit Typ-2-Diabetes.
Im weltweit agierenden Unternehmensverband Boehringer Ingelheim sind aktuell
47 700 Menschen beschäftigt (Umsatz 2014:
13,317 Milliarden Euro). Allein 8100 Mitarbeiter arbeiten in Forschung und Entwicklung,
für die das Unternehmen 2,7 Milliarden Euro
jährlich bereitstellt.
®Registered Trademark: englischer Fachbegriff für
registrierte Warenmarke
2013 Zulassung von Giotrif® für die Behandlung einer bestimmten Form des Lungenkarzinoms und Pradaxa® für die Behandlung und
Vorbeugung von tiefer Venenthrombose und
massiver Lungenembolie. Marktzulassung
des COPD-Produkts Striverdi®.
2014 Zulassung von Ofev® zur Behandlung
von idiopathischer pulmonaler Fibrose,
Jardiance® bei Typ-2-Diabetes, Spiriva® Respimat® bei Bronchialasthma und Vargatef®zur
Behandlung einer bestimmten Form von
fortgeschrittenem Lungenkrebs.
handlung von COPD (chronisch-obstruktive
Atemwegserkrankung).
1985 Das Institut für Molekulare Pathologie
(IMP) in Wien wird gegründet.
36 bild der wissenschaft plus
Foto: Boehringer Ingelheim
Eines der drei großen Forschungszentren von Boehringer Ingelheim
befindet sich im oberschwäbischen
Biberach an der Riß.
Herunterladen