Technische Perspektiven und gesellschaftliche Entwicklungen

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Ulrich Widmaier/ThomasKönig (Hrsg.)
Technische Perspektiven und
gesellschaftliche Entwicklungen
Trends und Schwerpunkte der Forschung in der
Bundesrepublik Deutschland
Studien zur
gesellschaftlichen Entwicklung (SGE)
Herausgegeben im Namen des
Vorstands des Vereins zur Erforschung
gesellschaftlicher Entwicklungen (VGE)
von Prof. Dr. Rudolf Wildenmann
und Prof. Dr. Manfred E. Streit
Band 1
Nomos Verlagsgesellschaft
Baden-Baden
Ulrich Widmaier und Thomas König
Engpaßdiagnosen und Handlungsoptionen im
Bereich sozialer Entwicklungen
Gliederung
1.
Demographische Trends: Ihre Ursachen und Folgen
11.
Wertewandel
1. Bezugspunkte des Wertewandels
2. Wertewandel und gesellschaftliche Entwicklung
111.
Stadtstrukturen, Verdichtungsräume,In!rastruktureinrichtungen
l. Wohn- und Arbeitswelt
2. Technische Infrastruktur
3. Soziale Infrastruktur
3.1. Altenhilfe
3.2. Freizeiteimichtungen
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Engpaßdiagnosen und. Handlungsoptionen im
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1.
Demographische Trends: Ihre Ursachen und Folgen
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14,8
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56,7
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Insgesamt
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unter 20
20 bis 59
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des Rentensystems (siehe Bericht "Arbeitsmarkt"). Bei den derzeitigen
Sterblichkeitsverhältnissen (1984) können rund 5% der Männer und fast 14%
der Frauen ein Alter von 90 Jahren erreichen. 1950 bestand diese Chance nur
für 3% bzw. 5%. Gerade die durch steigende Lebenserwartung
überproportionale Zunahme sogenannter Hochbetagter (Alt-Senioren) wird
aufgrund von notwendigen Pflegeleistungen zu beträchtlichen Belastungen des
Gesundheitssystems führen (Schmähl: "Anpassung der Alterssicherung an
veränderte Bedingungen". List-Forum, Bd.11, 1981/82; "Vierter Familienbericht
Die Situation älterer Menschen in· der Familie". Bericht der
Sachverständigenkommission des Dt. Bundestages, Bundestagsdrucksache
10/6145, Bonn 1986; OECD, 1987).
Während diese Trends aufgrund vergangener und gegenwärtiger
demographischer Entwicklungen gut abgesichert sind, müssen beim zukünftigen
generativen Verhalten relativ gesicherte demographisch-strukturelle
Komponenten von eher schwierig prognostizierbaren Verhaltensaspekten
unterschieden werden. Die oben erwähnte Tatsache, daß bis heute zu wenig
Mädchen geboren wurden, um einen Bevölkerungsrückgang in Zukunft zu
verhindern, gehört zu den strukturellen Gegebenheiten. Die in Vergangenheit
und Gegenwart beobachtbare geringere Neigung der Bevölkerung zu heiraten
und Kinder zu bekommen, muß dem Komplex der verhaltensbedingten
Ursachen eines zukünftigen Bevölkerungsrückganges zugeschrieben werden.
Inwieweit gegenwärtig beobachtbare Trends zu größerer Ehemüdigkeit und
geringerer Kinderzahl (Höhn, Ch., Ouo, J.: "Bericht über die demographische
Lage in der Bundesrepublik Deutschland und über Weltbevölkerungstrends",in:
Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft,l1, 1985, 4. S.46 ff.) in Zukunft
anhalten werden, hängt im wesentlichen von der sozialen Lage der Bevölkerung
und den ökonomischen Anreizstrukturen ab.
Katrin Zapf ("Lebensphasen, Lebensstile und Stadtstrukturen", Beitrag zum
Kongreß für Architektur und· Städtebau der Landesregierung BadenWürttemberg, Oktober 1987) spricht von der Pluralisierung der Lebensstile als
Versuch der individuellen Bewältigung ungelöster sozialer Konflikte in der
Gesellschaft, die fast alle auf eine Verkleinerung der Haushalte hinauslaufen.
So kann die Zunahme der Singles und der Alleinerziehenden mit nur einem
Kind insbesondere bei Frauen auf dem Hintergrund des ungelösten Konflikts
zwischen Erwerbstätigkeit und Familienrolle erklärt werden (für eine
erwerbstätige Frau ist ein "Pflegefall" genug (das Kind), einen weiteren (den
Ehemann) ist sie nicht bereit, auch noch zu bewältigen). Auch
Wohngemeinschaften sind inzwischen zumindest in den Städten längst keine
Kommunen mehr, sondern zu Zweckgemeinschaften für billigen Wohnraum
31
30
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von im Prinzip Alleinlebenden geworden. Hausbesitzer, die ihre großen
Wohnungen nicht mehr an Familien mit vielen Kindern vermieten können, sind
zunehmend bereit, an Wohngemeinschaften zu vermieten, da letztere ihren Ruf
als Orte sexueller Exzesse und politischer Subversivität völlig verloren haben
(ökologisch orientierte Konununen auf dem Lande könnten unter Umständen
als eine Fortsetzung der Konununenidee der sechziger Jahre mit anderen
Mitteln und Inhalten betrachtet werden). Mit der Verringerung der Kinderzahl
verkürzt sich automatisch auch die Zeit, die im Lebenszyklus für die Aufzucht
von Kindern bestimmt ist. Entsprechend weiten sich andere Lebensphasen aus:
die Postadoleszenz, die voreheliche und die nachelterliche Gefährtenschaft und
nicht zuletzt die Ausweitung der Altersphase (unterteilt in Jung- und AltSenioren). Gleichzeitig erhöht sich die Zahl der Abweichungen vom
"Normallebenslauf': Geschiedene, dauerhaft Unverheiratete, kinderlose Ehen
("Dinki " = double income, no kids) und Alleinerziehende. Hinzu treten
es
andere Entwicklungen, die einer Pluralisierung der Lebensstile Vorschub
leisten: Öffnung des Bildungswesens, Anstieg des Zugangs zu
Erwerbseinkommen bei Frauen und Vergrößerung des Einkommensanteils der
Haushalte, der nicht für den unmittelbaren Lebensunterhalt benötigt wird.
Lebensstile als Ausdruck sozialer Ansprüche und Interessen verlaufen dabei
tendenziell quer zu den traditionellen Linien sozialer Schichtung (tendenziell
deswegen, weil bestimmte (exklusive!) Stile mehr Einkommen oder Bildung
erfordern und deshalb nicht frei als Lebensform gewählt werden können), In
kleinen Haushalten und mit differenzierten Lebensstilen lassen sich inhaltliche
Z~ele wie Emanzipation, Mobilität und sozialer Aufstieg leichter erreichen, Die
Differenzierung der Lebensstile führt deshalb zu einer Schwächung des
familialen Elements in der· Gesellschaft und ist damit ursächlich für den
Rückgang der Geburten.
Aber nicht nur die Soziologie liefert plausible "Erklärungen" für den zu
beobachtenden Rückgang der Geburten, sondern auch die Ökonomie und dabei
insbesondere die Familienökonomie. Die These vom "qualitativ" hochwertigen
Kind besagt, daß bei steigendem Einkommen weniger die· Zahl der Kinder als
die "Qualität" der Kinder erhöht wird (Ausbildung, Gesundheit, Zuneigung,
Umgebung etc.). Dies hat seine Ursachen in der zunehmenden Bedeutung von
nicht-monetären Nutzenfaktoren, die in die Kalküle der Eltern bei der
Festlegung ihres generativen Verhaltens Eingang finden. Eine Verbesserung
der materiellen Bedingungen führt nicht, wie z.B.· Malthus noch annahm,
notwendigerweise zu einer steigenden Zahl von Kindern, sondern manifestiert
sich in steigender Nachfrage nach mehr "Kinderqualität" (siehe Zimmermann,
K..:"Familienökonomie. Theoretische und empirische Untersuchungen zur
Frauenerwerbstätigkeit
' 1985; ders. (Hrsg.):
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Wertewandel
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1. Bezugspunkte des Wertewandels
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auch bei ein und derselben Bevolkerung~gruPP~rundsätzlich betrifft dieser
derselben Person, ausgemacht wer en.
Wertewandel zwei Bereiche:
a)
Das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft;
b) Das Verhältnis zwischen materiellen,· an der Verbesserung des
wirtschaftlichen Wohlstands ausgerichteten Werten, und nicht-materiellen
Werten, wobei diese ebenso auf geistigseelische, politische und ästhetische
Ziele wie auf die Erhaltung der Natur ausgerichtet sein können.
ad a) Individuum und Gesellschaft
Den zahlreichen begrifflichen Umschreibungen des Verhältniswandels
zwischen Individuum und Gesellschaft ist die Zunahme individualisierender
sowie die Abnahme gemeinschafts- oder gesellschaftsorientierter Orientierungsund Handlungsweisen gemeinsam, die sich z.B. in Form einer Zunahme von
Selbstentfaltungswerten wie Freiheit, Selbstbestimmung, Gleichheit und
Selbstverwirklichung gegenüber einer Abnahme . von Pflicht- und
Akzeptanzwerten
wie
Gehorsam,
Pflichterfüllung,
Unterordnung,
Anpassungsfähigkeit und -bereitschaft ausdrückt (vgl. Klages: "Wertorientierung
im Wandel. Rückblick, Gegenwartsanalyse, Prognosen", Frankfurt 1985). Diese
Verschiebung zu mehr personen- oder persönlichkeitsbezogenen Werten steht
jedoch nicht notwendigerweise unter Vorzeichen wie Ichbezogenheit,
Selbstsucht oder Bindungslosigkeit, sondern ist vielmehr in Zusammenhang mit
der freien Entfaltung der Persönlichkeit zu sehen. Bindungen werden nach wie
vor· sowohl rational als auch emotional als notwendig erachtet, deren
institutionelle Vorgabe allerdings abgelehnt. Für überkommene Institutionen,
ob Ehe oder Familie, Staat oder Gemeinde, ob Kirchen oder Gewerkschaften
bedeutet ein solcher Wandel den Abbau vorgegebener Loyalitäten, der zu
einem ständigen Legitimations- und Bewährungsdruck führt. Divergierende
Ziele, Interessengegensätze und Konflikte müssen mittels neuer Zielvorgaben
und Verfahrensweisen zum Ausgleich oder zumindest zu einem tragfähigen
Kompromiß gebracht werden (vgl. Spiegel: "Der Wertwandel: Sozialkulturelle
Voraussetzungen - baulich-räumliche Folge", in: Bericht der Kommission
"Architektur und Städtebau" der Landesregierung von Baden-Württenberg,
Stuttgart 1987).
ad b) Materielle und nicht-materielle Werte
Aufbauend auf einer Hierarchie der Bedürfnisse, innerhalb derer vitale
Grundbedürfnisse wie physische oder ökonomische Sicherheit Priorität
genießen, und emotionale, intellektuelle oder ästhetische Bedürfnisse, die über
die Existenzsicherung hinausgehen, erst nach der Befriedigung der
35
34
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Grundbedürfnisse zum Tragen kommen, ist der Wandel des Verhältnisses
zwischen materiellen und nicht-materiellen Werten zunächst eine Folge der
Zunahme der verfügbaren Einkommen und der sozialen Sicherheit. Ein Beweis
hierfür ist sicherlich das Aufkommen und die zunehmend extensive Ausl~gung
des Begriffs "Lebensqualität", der eine Vielzahl von landschaftlichen,
kulturellen, wirtschaftlichen und sozialen Faktoren umfaßt.
2. Wertewandel und gesellschaftliche Entwicklung
Der Wandel der Lebensstile und des generativen Verhaltens bildet mit dem
Wandel der Werteinstellungen einen sich selbst verstärkenden Regelkreis. Wir
gehen deshalb, wie schon ausgeführt, nicht davon aus, daß sich der
Wertewandel etwa im. Sinne von Inglehart (1979) homogen von
materialistischen bzw. akquisitiven hin zu postmaterialistischen bzw.
partizipativen Werten verlagert. Allerdings zeigt die empirische Forschung über
Wertewandel
deutlich,
daß
Selbstentfaltungs-und
Selbstverwirklichungsvorstellungen in den grundlegenden Wertorientierungen
an Gewicht zugenommen haben. Trotzdem gilt: der Pluralisierung der
Lebensstile entspricht die Differenzierung der Werthaltungen in der
Bevölkerung. Damit lassen sich Entwicklungen in diesem Bereich ebenfalls auf
die demographischen Gegebenheiten und den Ausbau des Wohlfahrtsstaates
beziehen.
Die Bundesrepublik hat eine sehr unterschiedliche Altersstruktur, was zu
r~lativ häufigen demographischen Wellen führt, die sich als "Problemberge"
durch die Alterskohorten wälzen (dem Kindergartenengpaß folgt der
Lehrermangel, der Studentenberg wird zur "Akademikerschwemrne" und
mündet schließlich im. Ansturm der Rentner auf die Pensionskassen).
Demographische Wellen sind auch "Konjunkturzyklen der Sozialstruktur" (vgl.
Bericht
der
Kommission
des
Landes
Baden-Württemberg:
"Zukunftsperspektiven gesellschaftlicher Entwicklungen", Stuttgart 1983), die
Differenzierungen der Lebenschancen von Alterskohorten bewirken. Während
die Generation der 68-er über reichlich Optionen bei der Verfolgung einer
Berufskarriere verfügte, sind die heutigen Absolventen der höheren
Bildungsinstitutionen (und nicht nur diese!) in ihren diesbezüglichen Chancen
weit eingeschränkter. Sozial und materiell hoch abgesicherten sogenannten
Versorgungsklassen stehen eher unsichere Perspektiven der Erwerbstätigkeit
bei Jugendlichen gegenüber. Der Hinweis auf die Notwendigkeit von Flexibilität
wird angesichts des sehr geringen Arbeitsplatzrisikos bei denjenigen, die
Flexibilität propagieren, gelegentlich als zynisch empfunden. Mit anderen
Worten, Pluralisierung der Lebensstile und Differenzierung der Werthaltungen
ist nicht nur eine Folge der durch wohlfahrtsstaatliehe Grundsicherung
geschaffenen freien Wahlm.öglichkeiten, sondern auch ein Verhalten das
sozusagen aus der Not geboren wird. Das bedeutet, daß neue bzw. verä;derte
Werthaltungen .sowohl positiv als Ergebnis wohlfahrtsstaatlicher Entwicklungen,
als auch qUasI negativ durch die Einschränkung von Lebenschancen bei
best~~e~ Alters~ohorten und sozialen Gruppen entstehen. Dazwischen gibt
.es. .~a~rlic~ Mischformen: die Bildungsförderung bei vorgezogener
VollJahrigkelt und Wohngeldanspruch schafft die Phase der Postadoleszenz und
arbeitsmarktpolitische Maßnahmen der ,Frühpensionierung führen zu
Jungsenioren, die sich dann doch nicht völlig vom Arbeitsmarkt abmelden. Der
Umfan.g der alternativen Szene ist deshalb einerseits durch freigewähltes
Aussteigertum bestimmt, andererseits aber auch ein Resultat blockierter
''bürgerlicher'' Karrierepfade.
In der Zukunft scheinen uns vor allem vier soziale "Szenarien" die weitere
Differe~ierung
von
Lebensstilen
und
Werthaltungen
in
den
Industnegesellschaften des Westens zu bestimmen: die sozial hoch
abgesicherten "Versorgungsklassen" mit geringem materiellen Lebensrisiko die
leistungsorientierten, risikobereiten Spezialisten und "Manager" mit h~her
Qualifikation (~cht gleichzusetzen mit hohem formalen Bildungsgrad), die
a~fgrund des wlr~schaftlichen Strukturwandels mit Qualifikationsproblemen
~am.pfe~de~ Arbe~tnehmer und die Kategorie der freiwilligen und erzwungenen
AussteIger . DIe vor allem aus politischen Gründen, freilich
gezwungenermaßen mit reduziertem Tempo, weiter fortschreitende
Entwi~klung
des
Wohlfahrtsstaates
und
die
Verschärfung
des
Vert~l1un~skampfes um prinzipiell knappe positionale Güter (z.B. attraktive
ArbeItsplatze), werden den Trend zur Pluralisierung der Lebensstile mit sich
differenzierenden Wert- und Überzeugungssystemen auch in Zukunft anhalten
lass~n... ?ie demograp~ische Dynamik und die dringend notwendige
~eXlbihsierung des ArbeItsmarktes und der Beschäftigungsverhältnisse werden
ihren zusätzlichen Beitrag dazu leisten (siehe dazu Mackensen, R., E. Umbach
~d R. Jun~ (~sg.): ~'Leben im. Jahr 2000 und danach", Berlin 1984 (Ergebnisse
em~.r S~dIe uber dIe Auswirkungen der Bevölkerungs-Entwicklung auf die
~Igen Lebensbedingungen in der Bundesrepublik Deutschland (ABELPrOJekt».
Die.se Entwicklung stellt erhebliche Anforderungen an die Politik, aber auch
an dIe Anpassungsfähigkeit der sie tragenden Basisinstitutionen der
parlam.~ntarischen Demokratie (Konkurrenzdemokratie) und der sozialen
Marktwirtschaft. Je größer die Pluralität von Lebensstilen und Werthaltungen,
37
36
desto größer ist tendenziell die Zahl der unterschiedlichen Interessen .mit
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ch auf Vermittlung und Berücksichtigung im politischen Prozess. Diese
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(".
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Pluralisierung macht sich in einer Veränderung sowohl er
emen issues,
die Gegenstand·der Diskussionen und Entscheidungen. werd.en, a~s. auch der
Strukturen und Verfahren, in deren Rahmen die DiskussiOnen. und
Entscheidungen ablaufen, bemerkbar. Zum Beispiel hat ein großer Tell der
aktuellen Konflikte, die sich aus der unterschiedlichen Bewertung von Natur
und Techcik (Wissenschaft) ergeben, seinen Ursprung in unterschiedl~chen
objektiven Stadien und subjektiven Standards der Befriedigung matenel~er
Bedürfnisse. Damit erhöht sich das Aggregationsproblem von Interessen beim
politischen Unternehmer. Politik im klassischen Links-Rechts-Schema wird
dabei den differenzierten Problemlagen kaum mehr gerecht. Dennoch führt die
Logik des politischen Wettbewerbs zu Versuchen, ~estimrnte, auch sehr
spezifische Interessen politisch zu vereinnahmen und ihre Forderungen zum
Zwecke der Maximierung von Wählerstimrnen durch entsprechende
Allokationsentscheidungen zu befriedigen. Dies birgt die bekannte Gefahr der
finanziellen und regulativen Überforderung des Staates und beschleunigt das
Problem der Verkrustung der Institutionen durch Gewährung von
Sonderrechten und Privilegien (siehe dazu MancUf Olsons These von der
"institutionellen Sklerose" moderner Gesellschaften). Die im evolutionären
Aufbrechen von homogenen sozialen Klassenstrukturen liegende Chance zur
produktiven Entfaltung und Differenzierung der Gesellschaft der Zu~unft, d~
nicht dadurch vertan werden, daß dem "Klassendenken" wIeder em
"Standesdenken" folgt, welches die Verteidigung von Besitzständen aller Art
zum ausschließlichen Interesse von sozialen Gruppen mit ähnlichen
Lebenslagen und Lebenschancen macht. Schon gar nicht sollte die Politik d~zu
Hilfestellungen im oben erwähnten Stile leisten. Die Konsequenz wäre, daß sIch
hinter der Pluralisierung der Lebensstile und dem dazu gehörenden
Wertewandel in Richtung auf fortschreitende Differenzierung nichts anderes
verbergen würde als die Entstehung neuer Ungleichheiten, die zuminde~t al~
latente Konfliktfelder die Zukunftsentwicklung belasten würden. Wenn WIr bel
der Verhinderung solcher Entwicklungstendenzen aber weder auf die
umfassende staatliche Innovationspolitik noch auf die großen, weitsichtigen
Unternehmer im Sinne von Schumpeter rechnen können, dann bleibt als der
einzige vernünftige Weg die "Innovation von unten" (vgl. Wolfgang Zapf:
"Gesellschaftliche
Entwicklungstrends
- Engpässe
und
Innovationsmöglichkeiten", Beitrag zum Kongress der Landesregierung von
Baden-Württemberg
"Stadt,
Kultur,
Natur Chancen
zukünftiger
Lebensgestaltung", Oktober 1987). Nur eine Kombination von Deregulierung,
aktiver staatlicher und privater Gestaltung und Initiative "von unten" auf
Gebieten wie neue Technologien und Selbsthilfe, oder der Arbeitsteilung
zwischen Geschlechtern und Generationen kann verhindern, daß sich die
abzeichnenden Engpässe zu Krisen ausweiten.
III.
Stadtstrukturen, Verdichtungsräume, Infrastruktureinrichtungen
Städte und Dörfer, ihre strukturelle Ordnung, funktionale Gliederung und
architektonische Qualität sind häufig ein Abbild der Lebensverhältnisse und
gesellschaftlichen Entwicklungen, indem sie das Verhältnis des Bürgers zum
Gemeinwesen, zur Wohn- und Arbeitswelt, und den Stand der Zivilisation und
des kulturellen Niveaus zum Ausdruck bringen. Die gegenwärtigen
Veränderungen der Beschäftigtenstruktur, der demographischen Struktur, sowie
technologische Veränderungen haben alle Siedlungsformen stark, aber in
unterschiedlichem Ausmaß getroffen. Arbeitslosigkeit, Umweltschutz, neue
Haushaltsformen, hohe Ausländeranteile, sinkende Finanzkraft und
Konkurrenz um die Ansiedlung von "neuen" Industrien sind Beispiele dafür.
Der technische Fortschritt ist auch zur Herausforderung für Architektur und
Städtebau geworden. Neue Basistechnologien wie Informations- und
Kommunikationssysteme, Bio-, Energie- und Werkstofftechnik bedeuten
zugleich einen Veränderungsdruck für die gewachsenen Stadt- und
Siedlungsstrukturen. Zudem werden Siedlungsstrukturen vor dem Hintergrund
sich wandelnder Wertvorstellungen und demographischer Faktoren verändert.
Als Bezugsrahmen für die Analyse der räumlichen Auswirkungen dienen vier
Dimensionen, deren Trends kurz dargestellt werden:
a)
Bevölkerung
-
die Bevölkerung der Bundesrepublik wird insgesamt abnehmen;
ein steigender Teil der Bevölkerung wird Ausländer sein;
die Integration und Assimilation der Ausländer (z.B. in Form von
Einbürgerungen) wird verschwindend gering bleiben;
-
die Bevölkerung wird älter werden;
-
die Zahl der Haushalte wird zunehmen, folglich werden die Haushalte
kleiner werden;
-
die Zahl der alleinerziehenden Mütter und Väter wird zunehmen.
39
38
b)
Wirtschaft
der Anteil der in tertiären Berufen Beschäftigten wird steigen;
langfristig bedeutsam werden hier Entwicklungen im. Bereich der
"sonstigen Dienstleistungen" (Gaststätten, GesundheItswesen und
andere Dienstleistungen);
die
veränderten
Qualifikationsanforderungen
werden
auch
Rückkoppelungseffekte vor allem auf die jetzige ~ittels~hicht haben
(Wandel der Mittelschicht durch Einkommens~Ifferenz.lerung) und
zugleich wird sich die Zahl der Arbeitslosen zummdest bIS 1990, aber
vielleicht auch bis zum Jahre 2000, kaum verringern (strukturelle
Arbeitslosigkeit);
ein erhöhtes Freizeitbudget
Arbeitszeitverkürzungen ab;
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zeiC
. h
SIC
durch
zunehmende
eine weitere Veränderung wird die stärkere Erwerbsbeteiligung der
Frauen sein.
c)
Technologien
die Standortflexibilität von Unternehmen und Haushalten wird sich
erhöhen;
die "neuen" Technologien werden aufgrund eines sich verschärfen~en
internationalen Konkurrenzdrucks schneller eingeführt und verbreItet
werden müssen.
d)
Wertewandel
eine individualisiertere Gesellschaft zeichnet sich ab;
eine stärkere soziale Segregation infolge der Pluralisierung der
Lebensstile und der unterschiedlicheren Einkommen ist anzunehmen;
die divergierenden Vorstellungen über Problemlösungskonzepte
(bezogen auf Arbeitslosigkeit, neue Technologien, Integration von
Gastarbeitern) werden die Konflikte zwischen den gesellschaftlichen
Gruppen verschärfen.
Präzise kausale und quantitative Aussagen über die Auswirkungen der o.g.
Trends. sind schwer möglich, da sich z.B. einer Erhöhung der Arbeitslosigkeit
um zwei Prozentpunkte keine räumliche Folge eindeutig zuordnen läßt. Daher
sollen im folgenden nicht die räumlichen Effekte jedes einzelnen Trends,
sondern nur für ausgewählte Probleme ausgeführt werden:
- die Nachfrage nach Wohnraum wird sich bis in die frühen neunziger Jahre
nicht verringern, den größten Anteil an dieser Nachfrage werden die "neu~n
Haushalte" (zwei Erwerbstätige, nicht verheiratet, keine Kinder) haben (vgl.
Kreibich: "Wohnversorgung und Wohnstandortverhalten", in: Friedrichs
(Hrsg.), Die Städte in den 80er Jahren, Darrnstadt 1985);
- von einer Rückwanderung in die Städte ist nur bei bestimmten sozialen
Gruppen auszugehen;
- eine räumliche Segregation wird unterstützt durch die wachsende
Wohnnraunmachfrage der Ausländer. Integrationsprobleme verlagern sich
hier hauptsächlich auf die zweite Generation (vgl. Esser: "Ausländische
Bevölkerung und großstädtische Entwicklungen", in: Friedrichs (Hrsg.), Die
Städte in den 80ger Jahren, Darmstadt 1985);
- die Heimarbeit wird keine großen räumlichen Veränderungen, schon
aufgrund ihrer wahrscheinlich geringen Verbreitung, verursachen;
- in der Branchenstruktur werden "ältere" Städte infolge der Persistenz
räumlicher Strukuren (Gebäude, Bodennutzung) weitaus größere
Anpassungsprobleme als jüngere Städte haben;
- diese Unterschiede (auch in der Höhe der Arbeitslosenquote und der
vorhandenen Branchen) und die ohnehin bestehende größere Attraktivität
des Südens (Klima, Nähe der Reiseziele etc.) werden das Nord-Süd Gefälle
verstärken.
Effekte einer funktionalen Arbeitsteilung der deutschen Großstädte können
nur vermutet werden. Dennoch ist davon auszugehen, daß die Konkurrenz um
neue Betriebe nur wenige der großen deutschen Städte stärken und die
Arbeitsteilung unter ihnen vergrößern wird: Düsseldorf als Handelszentrum,
Hamburg als Medienstadt, Frankfurt ~s Finanzkapitale und München und
Stuttgart als Zentrum neuer Technologien. Die Konkurrenz impliziert
Vorleistungen bzw. Hilfen an neue Betriebe und hängt wesentlich von der
Verschuldungsfähigkeit einer Stadt und damit von Entscheidungen der
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Landesregierung ab. Eine Krise der Stadt ist hieraus jedoch ni~ht abzul~it~n.
Vielmehr handelt sich es um einen Strukturwandel, der dIe langfnstlge
Ablösung
einer
Gesellschaft
von
der
Industrie
zu
ein~r
Dienstleistungsgesellschaft vorsieht (vgl. Friedrich: "Die Zukunft der Städte 1D
der Bundesrepublik", Darmstadt 1985). Die neuen Technologien werden hier
als eine der Hauptursachen für diese Veränderung verantwortlich gemacht.
Gleichzeitig wird in deren verstärkten Nutzung ein Ausweg gesehen,
international konkurrenzfähig zu bleiben und somit den hohen Lebensstandard
zu erhalten. Inwieweit diese neuen Technologien Veränderungen und
Möglichkeiten der räumlichfunktionalen Zuordnung von Arbeitswelt und
Wohnen mit sich bringen und damit zu neuen, 'vielleicht individualisierteren
Arbeits- und Wohnformen beitragen können, soll im folgenden Kapitel
nachgegangen werden.
1. Wohn- und Arbeitswelt
Die bestehende unterschiedliche räumlich-funktionale Zuordnung von
Wohn- und Arbeitswelt wird mit dem verstärkten Einsatz neuer Technologien
in Frage gestellt. Für einige Branchen erscheint die Vorstellung einer Trennung
von der Produktion infolge einer zunehmenden Roboterisierung, von den
Teilfunktionen der Produktionssteuerung und -überwachung, der Planung,
Verwaltung und Forschung langfristig realisierbar zu werden. Mit der
Einführung neuer Informations- und Kommunikationssysteme können
zumindest' aus
technischer
Sicht
diese
Teilfunktionen
auch
produktionsstättenfern ausgeübt werden und zu einem neuen Nutzungsgemisch
von Arbeit und Wohnen führen. Eine extreme Form einer räumlich dezentralen
Standortwahl ist die Heimarbeit am Bildschirm ('Teleheimarbeit"). Abgesehen
von den rechtlichen und sozialen Problemen wie Datenschutz, Kontrolle oder
Isolation würde eine Verbreitung der Teleheimarbeit zu einer Neuformulierung
der Anforderungen an Wohnungen führen. Dem geringeren Flächenverbrauch
durch traditionelle Bürogebäude steht hier eine erhöhte Flächennachfrage pro
Kopf der Wohnbevölkerung gegenüber. Eine Potentialabschätzung für
Teleheimarbeit
nehmen
HenckeljNopper
("Einflüsse
der
Informationstechnologie auf die Stadtentwicklung", in: Friedrichs (Hrsg.), Die
Städte in den 80er Jahren, Darmstadt 1985) vor. Durch Teleheimarbeit könnten
danach 60% aller Tätigkeiten mit Wiederholungscharakter (Schreib- und
Übersetzungsarbeiten, Auskunftsdienste und Beratungen, Bestellwesen,
Versand etc.) und 30 bis 40% der Beschäftigungen in den Bereichen
Organisation und Datenverarbeitung (Gutachter, Planung, Softwareentwicklung
etc.) ausgeübt werden. Dennoch wird auch hier angemerkt, daß die
Teleheimarbeit voraussichtlich nicht in Reinkultur auftreten wird und eher von
~iner M~~chform 'Heimarbeit/traditioneller Arbeitsplatz" auszugehen ist, die
Je~oc~ e1D~n erhöhten Flächenverbrauchzur Folge hat. Begünstigt wird diese
M~gh~hkelt.durch veränderte Arbeitsformen wie freie Mitarbeit, Halbtags- und
Tel1zeltarbelt, aber auch durch steigende Kleinbetriebsgründungen gerade in
Branchen, die bisher großen Einheiten vorbehalten schienen (Elektronik
Forschu~g und Entwicklung). Diese Neugründungen zeichnen sich weitgehend
d~rc~ e~ne hohe .Arbeitsintensität und Kapitalschwäche aus und liegen daher
haufig 1D oder 1D der Nähe der Wohnungen. Ein Aspekt zugunsten der
Nutzungsmischung ist auch in der verbreiteten Selbsthilfe, Nachbarschaftshilfe
u~d Hobb~bewegung zu sehen, deren ganzheitliche Eigenproduktion häufig zu
eI~er quas~-g:wer?lichen ,unterwanderung mancher Wohngebiete führt (vgl.
EInseie:
RaumhchfunktlOnale Veränderungen zwischen Wohn- und
Arbeitswelt", Stuttgart 1987) Die räumlich-funktionale Zuordnung von Wohnen
und Arbeiten ist jedoch heute und wohl auch zukünftig von folgenden Faktoren
abhängig:
- der funktionalen Verträglichkeit der beteiligten
Nutzungen, z.B.
Emissionen/Immissionen,
Erschließungsanlagen
und
.-belastungen
(Straßenausbau, Schwerverkehr etc.);
-
b~sonders t:ennungs- oder ~ber mischungsfreundlichen Standortbedingungen
Wie ~.B. .~ahe von EnergIeträgern oder Verfügbarkeit von qualifizierten
Arbeltskraften, aber auch der Kundenbasis;
- allgemeinen gesellschaftlichen Vorstellungen und Erwartungen zu den
Voraussetzungen für Trennung bzw. Mischung von Funktionen wie z.B. die
Verträgli~.hk~it oder Erträglichkeit gegenseitiger Beeinträchtigungen, die
Verseibständigung und Loslösung des Arbeitsprozesses aus den übrigen
Engagements und Beziehungen (derzeit wird die Distanz zum Arbeitsort
häufig mit erhöhter Lebensqualität verbunden);
~en o.g..Faktoren spielt der Bezugsraum,
innerhalb dessen getrennt oder
ge~scht WIrd, eine entscheidende Rolle. Danach bemißt sich, ob ein
bestImmter Durchdringungsgrad noch als Mischung oder bereits als Trennung
empfunden wird.
- bei
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2. Technische Infrastruktur
Die Entwicklung von Siedlungsstrukturen, die Verteilung von Wohn- und
Versorgungseinric.htunge~. un~
Arbeitsstätten,
von
zentralen
. 't' 'chtungen die Ent- und Versorgung sind ohne dIe Zuganghchkelt
,
.
.
F reIZei emn
. t
PKW kaum denkbar. Die Verfügbarkelt emes
durch den pnva en
d
leistungsfähigen Straßenverkehrssystems förderte bis~er die Trennung ~r
Funktionen Wohnen, Arbeiten, Einkaufen, BIlden, ~rhol~n. ~Ie
.h
I'ch dadurch aus daß sie ZugänghchkeitsvorteIle
Flächennutzungen zeiC nen s
.
,
.' .
..
für den PKW und damit eine erhöhte Mobilität durch mdIVlduelle motonslerte
Verkehrsmittel schaffen. Die Integration von Siedlungsstrukturplanung und
Verkehrsinfrastrukturplanung wurde hierbei selten vollzogen und daher tr~ten
Konflikte immer mehr in den Gebieten auf, wo Wohn- und ?ewerbegeblete
ohne Berücksichtigung der Folgewirkungen durch Ver~~hr reallSlert wurden. In
der Regel wird erst nach der Feststellung der völligen Uberlastung beste~ender
Verkehrsstraßen nach Verkehrslösungen gesucht, die je~och .Fehle~ m d~r
Standortwahl nicht beheben können. Hier wäre sicherhch ~me dIe
Gemeindegrenzen überschreitende Verkehrsplanung erford.erhch. I~
wesentlichen stellt sich in diesem Bereich die Frage, welche AusWIrkungen die
nach dem Jahr 2000 absehbaren sozio-demographischen oder auch
technologischen Veränderungen auf die Verkehrssysteme hab.en wer~en.
Derzeit verzeichnen schon viele öffentliche Verkehrsmlttel._ emen
Kundenstammruckgang, der im wesentlichen auf eine abnehmende S.chul~r~ahl
zurückzuführen ist (dieser Trend ist jedoch nicht bundesemh~~thch).
Gleichzeitig ist ein Trend einer ansteigenden privaten Mo~orlSle~ng
auszumachen, der dem öffentlichen Personennahverkehr TeIle S~I~er
Existenzgrundlage entzieht und vor allem im länd~ichen Raum elm~e
öffentliche Verkehrsmittel verschwinden läßt. TechnologIsche Verbesserung m
Form von
_ Reduktion
der
Schadstoffemissionen
durch
die
Einführung
der
Katalysatortechnik,
_ Verringerung der Lännentwicklung z.B. durch Flüsterasphalt,
_ Einführung von Zielführungssystemen (Routenwahl),
_ Einsatz künstlicher Intelligenz zur umfassenden Erhöhung der
Verkehrssicherheit kommen dem Straßenverkehrssystem umnittelbar zugute
und
unterstreichen
die
Wettbewerbsfähigkeit
des
individuellen
Verkehrsmittels. Integrierte Lösungen der Stadt-, Landschafts- und
Verkehrsplanung werden daher zukünftig an Bedeutung gewinnen (vgl.
Schönharting: "Veränderte Voraussetzungen der technischen Infrastruktur Verkehr", Stuttgart 1987).
3. Soziale Infrastruktur
Die soziale Infrastruktur weist ein weites Spannungsfeld auf, das von der
Sicherung elementarer Existenzgrundlagen bis zur Vermittlung anspruchsvollen
Bildungsguts reicht. Einer der entscheidenden Bestimmungsfaktoren der
sozialen Infrastruktur ist die demographische Entwicklung, die den Bedarf und
die Wirtschaftlichkeit der Einrichtungen bemißt. Geringere Auslastung der
Kindergärten, die Ausweitung der Einzugsbereiche und die damit verbundenen
Beförderungsprobleme sind nur einige Beispiele, die sich aus den rückläufigen
Bevölkerungszahlen ergeben. Andere Faktoren wie z.B. Werturteile über die
sinnvolle Größe solcher Einrichtungen oder die Veränderung der
Familienstruktur spielen bei der Bewertung und der Planung eine maßgebliche
Rolle. Exemplarisch sollen im folgenden kurz zwei Teilbereiche behandelt
werden, die von den zu erwartenden Trends der demographischen Entwicklung,
aber auch von der voraussichtlich weitergehenden Arbeitszeitverkürzung und
des vorzeitigen Altersruhestandes, besonders betroffen sein werden:
- die Altenhilfe,
- die Freizeiteinrichtungen.
3.1 Altenhilfe
Die Bedeutung der Altenhilfe ergibt sich aus dem steigenden Anteil der
Altersgruppe "über 60", der im Jahr 2030 voraussichtlich 38 % betragen wird
(1985: 21 %). Bei der Bevölkerung "über 60" steigt dazu noch infolge der
höheren Lebenserwartung die Zahl der Hochbetagten ("über 85") auf fast das
Doppelte. Die Versorgung alter Menschen konzentrierte sich bisher auf die
Unterbringung in Heimen. Altengerechte Wohnungen und Altenwohnheime
stellen hier sinnvolle Alternativen dar, die auch einen Beitrag zur notwendigen
Kostendämpfung leisten könnten. Bei der Planung von altengerechten
Wohnungen kommt der Lage die entscheidende Bedeutung zu, Schwierigkeiten
auch bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel sind hier zu berücksichtigen
und räumen einem guten Fußwegenetz mit der Erreichbarkeit aller zentralen
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Einrichtungen Priorität ein. Zudem setzt dieses Modell ein funktionierendes
System offener Hilfen voraus, das sich auf häusliche Dienste,
Mahlzeitendienste, Hausnotruf-Systeme, aber auch· Begegnungsstätten oder
Erholungseinrichtungen erstreckt. Neben dieser Form werden Altenheime und
Altenpflegeheime nicht an Bedeutung verlieren. Als Eckwert für den
Pflegesatzbedarf werden derzeit nicht unumstrittene 2% der über 65jährigen
angenommen. Kapazitätserweiterungen müssen hier sicherlich mit der zu
erwartenden steigenden Zahl von Hochbetagten vorgenommen werden.
3.2 Freizeiteinrichtungen
Generell kann infolge von voraussichtlich steigender Verbreitung der
Arbeitszeitverkürzungen und der vorzeitigen Altersruhestandsregelungen von
einem wachsenden Bedarf an Freizeiteinrichtungen ausgegangen werden.
Gegenläufige Tendenzen stellen hier die steigende Frauenerwerbsbeteiligung
und Teilzeitbeschäftigung von Schülern und Studenten dar, die jedoch mehr die
Art und Weise der Freizeitnutzung verändern werden. Mit eher fortschreitender
Arbeitszeitflexibilisierung wird eine Familienfreizeit, die sich zudem fast
ausschließlich am Wochenende orientierte, unwahrscheinlicher. Die
Individualisierung der Arbeitszeit bewirkt auch eine Individualisierung der
Freizeit und damit sicherlich eine Veränderung der Nutzung von
Freizeiteinrichtungen. Dazu kommt noch, daß die Freizeitinteressen einem
laufenden Wandel und auch modischen Trends unterliegen, die eine
längerfristige Phmung erschweren und auch hier nur einige Aussagen über
generelle Aspekte erlauben. Allgemein sollte bei der Planung von
Freizeiteinrichtungen der Umweltschutz (verringertes Verkehrsaufkommen)
und der stadtnahen Erholung besonderes Augenmerk geschenkt werden.
Generationsspezifische Freizeiteinrichtungen dürfen nicht übersehen und· die
Trennung der Aktionsbereiche der jüngeren und älteren Generation müssen
zumindest teilweise berücksichtigt werden. Weiterhin ist anzunehmen, daß die
Verzahnung von Alltag und Freizeit zunehmen wird, und damit eine
Multifunktionalität von Gebäuden eingeplant werden sollte (vgl. Gerhardt:
"Veränderte Voraussetzungen der sozialen Infrastruktur", Stuttgart 1987).
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