Grundlagen der Gemeinwesenarbeit

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Dieter Oelschlägel
Grundlagen der Gemeinwesenarbeit
Paradigmenwechsel
Noch zu meiner Studienzeit in den 60er Jahren bis weit in die 70er Jahre hinein galt die
Beziehung zwischen SozialarbeiterIn und KlientIn als eine lineare Beziehung.
Sie war pädagogisch oder therapeutisch. Die SozialarbeiterIn wirkte auf den Klienten ein und
rechnete mit dessen Veränderung. Wurde über seine Umwelt geredet, so ging es im
wesentlichen darum, ihn zu stärken, in dieser Umwelt zu bestehen. Im übrigen ging man
davon aus, daß er (der Klient) Probleme und sie (die Sozialarbeiterin) die Lösung hatte1.
Dieses Paradigma konnte in der Bundesrepublik großes Gewicht bekommen, da es sich am
Modell des ärztlichen Handelns orientierte.
Es wurde abgelöst von einer systemischen Sichtweise, die ich hier nur sehr verkürzt andeuten
kann2.
Ein System ist der spezifische Zusammenhang eines Ganzen mit seinen Teilen. Systeme
bestehen aus Teilen, die so miteinander verknüpft sind, daß kein Teil unabhängig ist von den
anderen Teilen und das Verhalten des Ganzen beeinflußt wird vom Zusammenwirken aller
Teile. Wenn ich also ein Teil verändern will, muß ich auf das Ganze, d.h. auf die anderen
Teile
(mit) einwirken, und wenn ich ein Teil verändere, verändere ich auch das Ganze.
Der Mensch stellt sich mir jetzt dar als ein System, aber auch - und das ist für die soziale
Arbeit entscheidend - als Teil eines Systems, z.B. der Familie. Sein verhalten ist abhängig,
mitbestimmt von den anderen Teilen des Systems und von dem System als Ganzem.
Gleichzeitig hat jedes System eine relevante Umwelt, mit der es sich austauscht. Diese
Umwelt existiert auf verschiedenen Ebenen:
Mikroebene: Familie, Nachbarschaft
Mesoebene: Stadtteil, Schule, Betrieb
Makroebene: die Gesellschaft und deren Teilsysteme
Wenn ich nun wirkungsvolle Veränderungen bei den KlientInnen erreichen will, muß ich
sowohl auf seinen unmittelbaren Systemzusammenhang als auch auf die Umwelt der Systeme
einwirken - so weit dies möglich ist.
Casemanagement und Gemeinwesenarbeit sind Konzepte sozialer Interventionen, die dieses
systemische Denken zur Grundlage haben.
Casemanegement ist - wie der Name schon sagt - ein von einer als ‘Fall’(case) identifizierten
Person ausgehendes Konzept, das darüber hinausgeht und außerhalb des ‘Falles’ liegende
Ressourcen mobilisiert. Dabei handelt es sich in der Regel um Netzwerke, in die der
betroffene Mensch eingebunden ist. Die Ressourcen werden methodisch erschlossen.3
1
2
Vgl. Michael Galuske: Methoden der Sozialen Arbeit. Eine Einführung. Weinheim und München², S. 67f.
dazu ausführlich: Tilly Miller: Systemtheorie und Soziale Arbeit. Ein Lehr- und Arbeitsbuch. Stuttgart 1999
Gemeinwesenarbeit (GWA) ist dagegen eine fallunspezifische Arbeit. Sie richtet sich auf
den sozialen Raum (man könnte sagen auf das Mesosystem des Menschen), ohne schon darauf
orientiert zu sein, dessen Ressourcen für einen bestimmten Fall abzurufen, sondern sie
aktiviert sie für viele (oft gleichgelagerte) Fälle. GWA entwickelt Strategien für ein Feld.
Es kann nun nicht darum gehen, die beiden Zugriffsformen (oder Tätigkeitssegmente , wie es
Wolfgang Hinte formuliert) der sozialen Arbeit gegeneinander auszuspielen, wie es uns seit
den 70er Jahren immer wieder nachhängt. Damals plädierten die fortschrittlichen
SozialarbeiterInnen und WissenschaftlerInnen für eine Abkehr vom Fallbezug zugunsten der
politischeren Orientierung am Feld bzw. am Gemeinwesen. Es kommt vielmehr darauf an,
beide Orientierungen - Fall und Feld - effektiv miteinander zu verknüpfen.
Ich möchte Ihnen im folgenden - sehr verkürzt - drei Leitkonzepte vortragen, die für
Gemeinwesenarbeit grundlegend sind.
Gemeinwesenarbeit und Casemanagement
Ausgangspunkt: Der Wandel vom linearen zum systemischen Denken in der sozialen Arbeit.
Theoretische Konzepte:
Lebenswelt
Sozialraum
Ressourcenorientierung
gemeinsame Prinzipien
Casemanagement
Methode/Fall
Gemeinwesenarbeit
Strategie/Feld
Das Lebensweltkonzept
Das Lebensweltkonzept (oder Konzept der alltäglichen Lebenswelt) ist seit paar Jahren in
vielen Bereichen der sozialen Arbeit Leitkonzept. Es ist theoretische und konzeptionelle
Grundlage des 8. Jugendberichtes der Bundesregierung und damit in viele Formulierungen des
KJHG eingegangen. Der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge, der großen
Einfluß auf die Träger sozialer Arbeit hat, hat ein Grundsatzpapier zur Struktur sozialer
Dienste veröffentlicht, das die Orientierung an der Lebenswelt als leitendes Prinzip für soziale
Dienste vorsieht.
3
Eine ursprünglich vorgesehene ausführlichere Beschäftigung mit Casemanagement mußte aus Zeitmangel
entfallen
Alltagssprachlich verbindet sich mit Lebenswelt einfach der Nahraum, die unmittelbare
Umwelt. So wird der Begriff auch landauf, landab in der sozialen Arbeit verwendet, ist aber in
dieser Verwendung nicht präzise genug.
Wissenschaftlich hat das Konzept der Lebenswelt eine mehr als 60jährige Tradition und
mancherlei Entwicklungslinien, die ich hier nicht nachvollziehen kann4. Ich kann und will
lediglich einige wesentlichen Punkte vereinfacht vortragen:
Jeder Mensch baut sich in seiner Biografie ein Erklärungssystem von Wirklichkeit auf ("so ist
das"). Zwischen unterschiedlichen Personen kommt es im Alltag zu einer Überschneidung
dieser Erklärungssysteme, die Verständigung möglich macht. Wir stellen fest, daß der
handelnde Mensch einen bestimmten Ausschnitt aus der sozialen Wirklichkeit in seiner
Vorstellungswelt konstruiert hat und diesen Ausschnitt bis zu einem gewissen Maße mit
seinen Mitmenschen teilt. Diesen Ausschnitt von Wirklichkeit erlebt er nicht als frei
verfügbar, sondern einerseits durch die Umwelt und die soziale Mitwelt vorgegeben (Gesetze,
Nachbarn...) und andererseits als Produkt seiner Biografie (Normen, Kenntnisse etc.).Aber er
erfährt diesen Ausschnitt von Wirklichkeit auch als einen Bereich, in den er eingreifen, den er
verändern und mitgestalten kann.
Diesen Ausschnitt von Wirklichkeit nennen SCHÜTZ; LUCKMANN5 u.a.
"alltägliche Lebenswelt".
Ich gebe noch weitere Definitionen:
Lebenswelt ist "der 'immer schon' vom Menschen gegliederte und interpretierte Ausschnitt
von 'Welt', in dem die Menschen ihre Mitmenschen in einer unmittelbaren räumlichen und
zeitlichen Gemeinsamkeit erleben"6.
und
"Menschen halten sich in ihrer privaten und gruppenspezifischen Umwelt auf, in der sie einen
bestimmten Standpunkt einnehmen, sich in einer 'Lage' befinden, mehr oder minder Chancen
wahrzunehmen - und sie haben ihre Zeit, in der sie 'Zeitgenossen' sind. Objektiv bildet diese
Lebenswelt einen Bereich erzählbarer Vorkommnisse"7.
MIEBACH stellt fest, "daß der Handelnde zu jedem Zeitpunkt einen bestimmten Ausschnitt
der sozialen Wirklichkeit in seiner Vorstellungswelt konstruiert hat und diesen Ausschnitt bis
zu einem gewissen Maß mit seinen Mitmenschen teilt. Diese Konstruktion der Wirklichkeit
erlebt der Handelnde nicht als frei verfügbar, sondern einerseits durch die Umwelt und soziale
4
informativ dazu: Klaus Grunwald/Hans Thiersch: Lebensweltorientierung, in: Hans-Uwe Otto/Hans Thiersch
(Hrsg): Handbuch Sozialarbeit/Sozialpädagogik. Neuwied u.a. 2001², S. 1136 - 1148
5
Alfred Schütz & Thomas Luckmann: Strukturen der Lebenswelt. Neuwied: Luchterhand: 1975
6
Achim Hahn: Die Konstitution sozialer Lebensformen. Der Beitrag einer "interpretativen" Soziologie zum
Verständnis "regionaler" Sozialgebilde. Frankfurt u.a. 1988, S.28
7
Wolf Rainer Wendt: Die ökologische Aufgabe: Haushalten im Lebenszusammenhang, in:
Mühlum/Olschowy/Oppl/Wendt: Umwelt, Lebenswelt. Beiträge zu Theorie und Praxis ökosozialer Arbeit.
Frankfurt 1986, 7-84, hier S. 19
Mitwelt vorgegeben und andererseits als Produkt seiner Biographie"8. Die als Wirklichkeit
erfahrene Zone des Alltagshandelns definieren Schütz und Luckmann als "alltägliche
Lebenswelt" oder Lebenswelt des Alltags.
Sie schreiben: "Die alltägliche Lebenswelt ist der Wirklichkeitsbereich, an der der Mensch in
unausweichlicher, regelmäßiger Wiederkehr teilnimmt. Die alltägliche Lebenswelt ist die
Wirklichkeitsregion, in die der Mensch eingreifen und die er verändern kann, indem er in ihr
durch die Vermittlung seines Leibes wirkt. Zugleich beschränken die in diesem Bereich
vorfindlichen Gegenstädnlichkeiten und Ereignisse, einschließlich des Handelns und der
Handlungsergebnisse anderer Menschen, seine freien Handlungsmöglichkeiten. Sie setzen
ihm zu überwindende Widerstände wie auch unüberwindliche Schranken entgegen... Unter
alltäglicher Lebenswelt soll jener Wirklichkeitsbereich verstanden werden, den der wache und
normale Erwachsene in der Einstellung des gesunden Menschenverstandens als schlicht
gegeben vorfindet..." 9.
Was ist an diesen Definitionen gemeinsam?
Lebenswelt
- ist räumlich begrenzt:der Handelnde hat eine bestimmte
alltägliche Reichweite, die z.B. durch Reisen (symbolisch)
überschritten wird
- hat eine zeitliche Dimension, d.h. eine Gegenwart, in der man
durchaus unterschiedlich objektiv fortschreitende Zeit und
subjektiv erlebte Zeitdimensionen erfährt
- hat eine soziale Dimension; sie überschneidet sich mit der
Lebenswelt anderer Menschen. Wie sie ein Teil meiner Lebenswelt
sind, bin ich ein Teil ihrer Lebenswelt. (Das ist für den
Sozialarbeiter eine wichtige Erkenntnis.) Und wir haben
gemeinsame Aspekte der Lebenswelt. Vielleicht könnte man die
Summe dieser gemeinsamen Aspekte der Lebenswelt der Menschen
einer sozialräumlichen Einheit Gemeinwesen nennen??
- Die Menschen definieren durch ihr Handeln oder ihr Erzählen
selbst ihre Lebenswelt und deren Grenzen. Lebenswelt erschließt
sich also nicht (nur) von außen, sondern auch und wesentlich
durch die Binnensicht der Menschen, durch deren Interpretation
und Deutung. das hat z.B. Folgen für die Wahl der Methoden bei
lebensweltlichen Untersuchungen
- Die Lebenswelt wird von der Gesellschaft (System) mitbestimmt.
Die Lebenswelt stellt den Horizont dar, innerhalb dessen die
Menschen handeln; sie aber wird durch gesellschaftliche
Strukturen und deren Wandel begrenzt und beeinflußt. Die
Lebenswelt ist also kein Schonraum. Habermas faßt diese
Beeinflussung unter dem Begriff "Kolonialisierung von
Lebenswelt" zusammen, eine Formel, die die sozialpädagogische
Diskussion stark beeinflußt hat. Sehr vergröbert dargestellt
meint die Kolonialisierung von Lebenswelten einerseits das
8
Bernhard Miebach: Soziologische Handlungstheorie. Eine Einführung
Opladen: Westdt. Verlag 1991 (WV Studium 142), S. 132
9
Schütz & Luckmann 1975, 23f. vgl. Fußnote 5
Eindringen von Experten in die Lebenswelt, die die
professionelle Bearbeitung kultureller
Überlieferungen und alltagsweltlichen Wissens übernehmen, den
Betroffenen gewissermaßen ihre eigenen Deutungen wegnehmen Gemeinwesenarbeiter können solche Experten sein -, andererseits
meint Kolonialisierung die Steuerung der Lebenswelt durch Geld
(z.B. Sozialhilfe) und Recht (z.B. Mietrecht) statt
kommunikativer Verständigungsprozesse.
Eine eigene Position ergibt sich für mich aus der Konfrontation des Lebensweltkonzeptes mit
Ergebnissen der Kritischen Psychologie 10(vgl. Holzkamp 1983). Danach sehen wir
Lebenswelt als den Ort, wo der Mensch als Individuum oder in der Gruppe alltäglich handelt.
In ihr berühren sich Individuum und Gesellschaft. Sie ist ein Möglichkeitsraum, in dem das
Individuum immer Handlungsalternativen hat. Menschen in der gleichen Situation können
unterschiedlich handeln. Nicht alle Arbeitslosen in Bruckhausen verfallen dem Alkohol,
einige entwickeln Strategien, über Schwarzarbeit etc. ihr Leben zu erhalten und zu gestalten,
andere - wenige - organisieren sich in einer Selbsthilfegruppe.
Die Lebenswelt als Möglichkeitsraum stellt immer ein Verhältnis von Behinderungen und
Möglichkeiten menschlichen Handelns dar.
Dadurch gewinnen wir eine Analyseebene für Gemeinwesenarbeit. Stadtteilanalysen sind
dann nicht mehr die Datenfriedhöfe statistischen Materials, sondern es kommt darauf an, die
Lebenswelt daraufhin zu untersuchen, welche Möglichkeiten sie für die Menschen bereithält diese sind zu stützen, zu erweitern und gegebenenfalls neu zu schaffen -, und welche
Behinderungen sie beinhaltet - diese sind zu beseitigen oder wenigstens zurückzudrängen. Je
mehr Möglichkeiten politischen, kulturellen und sozialen Handelns die Lebenswelt bietet, um
so mehr Handlungsalternativen im Sinne einer produktiven Auseinandersetzung stellt sie für
die Menschen zur Verfügung.
Allerdings bleibt die Analyse blind, wenn sie die Lebenswelt ohne deren gesellschaftliche
Bedingtheit (System) untersucht. Diese manifestiert sich
- in der Logik der kapitalistischen Wirtschaft: Tausch, Konkurrenz
und Warendenken bis hinein in die unmittelbaren Beziehungen
zwischen den Menschen
- in den Steuerungsstrategien des Staates: Geld, Recht, Planung.
Auch GWA gehört in dieses Arsenal staatlicher bzw. kommunaler
Steuerungspolitik und greift so in Lebenswelten ein
- in Ideologien, öffentlicher Meinung, Potentialen alltäglichen
Wissens, die in sich widersprüchlich sind (z.B. die Erfahrung
von 'oben' und 'unten', Leistungsideologie, Politikverdrossenheit, Ausländerfeindlichkeit etc.).
Das Konzept des sozialen Raumes
10
vgl. Klaus Holzkamp: Grundlegung der Psychologie. Frankfurt: Campus: 1983
Sozialraum - Sozialraumorientierung - Sozialraumbudgetierung - mit diesen Begriffen werden
wir zur Zeit insbesondere in der Jugendhilfe zugeschüttet. Auch hier sollte jeder, der diese
Begriffe verwendet, gefragt werden, was denn genau damit meint. Eine gültige Definition für
Sozialraum gibt es nicht, wahrscheinlich kann es sie auch nicht geben.
Wenn man versucht zu differenzieren, dann findet man:
! Sozialraum als Berechnungsraum für Leistungserbringungen. Oder vornehmer: Die
Sozialraumorientierung wird als ein praxisorientiertes Gestaltungsprinzip - meistens der
ambulanten Hilfen zur Erziehung - verstanden, welches die Leistungserbringung durch
öffentliche oder freie Träger wesentlich in die Lebensfelder der Adressaten verlagern will.
Also Sozialraum als Bezugsgröße für raumbezogene Organisationsformen und
Budgetierungen. Solchen Sozialräume haben in der Regel eine Größe von 30 000 - 70 000
Einwohnern und sind -auch deshalb - für Gemeinwesenarbeit untauglich.
! Unseren Vorstellungen in der GWA näher kommt schon eine Presseerklärung der Stadt
Aachen, die als Sozialraum Stadtteile bezeichnet, die sich durch gewachsene Strukturen
und gleichartige Lebensbedingungen auszeichnen und sich von anderen Stadtteilen klar
abgrenzen lassen11.
! Eine interessante Unterscheidung macht Jan Schröder im Nachrichtendienst des Deutschen
Vereins12: Lebenswelt definiert jeder Mensch für sich - diese Definition kann eine enge
räumliche Begrenzung haben, sie kann aber auch über Räume hinweggehen, z.B. mobile
Jugendliche oder Internetfreaks. Die Sichtweise ist hier eine vom Individuum, seiner
alltäglichen Lebensführung aus. Sozialraum dagegen beschreibe die mehrheitliche
Einschätzung der ortsansässigen und ortsverbundenen BewohnerInnen hinsichtlich des
Ausmaßes ihres Viertels. Das muß sich nicht mit Verwaltungsgrenzen decken.
Auch das Konzept des sozialen Raumes hat eine Geschichte, die zurückgeführt werden kann
auf die sog. „Chicagoer Schule“ der Soziologie, die um die Jahrhundertwende u.a.
untersuchte, welche Auswirkungen städtische Räume auf das Verhalten von Menschen haben.
Auch hier wieder nur einige verkürzte Hinweise:
Es wird davon ausgegangen: „Soziale Strukturen sind ortsgebunden und soziales Handeln
findet im Raum statt“13 Soziale Struktur bildet sich im Raum jedoch nicht nur passiv ab,
sondern wirk auf räumliche Gegebenheiten zurück. Das Konzept des sozialen Raums befaßt
sich also mit den Wechselwirkungen zwischen sozialer Struktur/sozialen Verhältnissen und
sozialem Verhalten und der räumlichen Organisation von Gesellschaft. Es wird davon
ausgegangen, daß ein Verhältnis zwischen Raum und sozialen Verhältnissen besteht:
! Zum einen ist Raum ein Ergebnis sozialer Organisation: Städtebau, Stadtplanung (z.B.
Siedlungsstrukturen, Industriebrachen), Aktivitäten der Bürger bei der Gestaltung oder
Erhaltung des Raumes (z.B. Zechensiedlungsinititiativen, frühe Baugenossenschaften,
wilde Gärten etc.).
11
zit. nach Jan Schröder sh. Fußnote 12
vgl Jan Schröder: Mit dem richtigen Ziel auf falschem Weg? Ein Wegweiser zu Lebenswelt, Sozialraum,
Region und geeigneten Finanzierungsformen, in: Nachrichtendienst des Deutschen Vereins für öffentliche und
private Fürsorge 81/2001/5/150 - 154
13
Peter Bartelheimer: Sozialberichterstattung für die „Soziale Stadt“. Methodische Probleme und politische
Möglichkeiten. Frankfurt am Main 2001, S. 182
12
! Zum anderen hat die räumliche Organisation Folgen für die soziale Struktur, für
Handlungsmöglichkeiten der Bürger: z.B. Aktionsräume ermöglichen/behindern Mobilität
(Kinder, Senioren), Infrastrukturausstattung bedingt Lebensqualität, unterschiedliche
Kommunikationsmöglichkeiten in Großsiedlungen oder Zechensiedlungen (Öffentliche
und halböffentliche Räume)
Dabei werden bei der Chrakterisierung sozialer Räume vier Dimensionen unterschieden:
! Raum als materiell-physisches Substrat gesellschaftlicher Verhältnisse, d.h. Raum als
physische Umwelt, die sich geographisch beschreiben läßt, Grenzen, Bebauung, zentrale
Orte, ökologische Gegebenheiten, materielle Nutzungsstrukturen
! Raum, der sich durch Interaktions- und Handlungsstrukturen kennzeichenen läßt, in denen
sich soziale Akteure Raum aneignen und ihn nutzen (soziale Kontakte, soziale Konflikte)
Dadurch entsteht
! Raum als ein institutionalisiertes und normatives Regelsystem für soziales Handeln:
Eigentumsformen, Macht- und Kontrollbeziehungen, rechtliche und soziale Normen,
Milieus...
! die dem Raum anhaftende Symbolik bzw. gemeinsame Deutungsmuster: Baudenkmäler,
gemeinsame Geschichte, Traditionen, Image.
Der Sozialraum ist also eine gewachsene, gelebte Struktur innerhalb bestimmbarer materieller
und sozialer Grenzen. Es hängt von der Fragestellung einer Untersuchung, der Zielsetzung
eines Projekts ab, was wir als Sozialraum ansehen: Wohnung, Nachbarschaft, Quartier,
Gemeinde, Region oder nationaler Siedlungsraum.
Für die soziale Arbeit/Gemeinwesenarbeit ist die sozialräumliche Orientierung auch deshalb
von großer Wichtigkeit, weil auch soziale Probleme einen Raumbezug haben:
! Soziale Probleme haben räumliche Verteilungsmuster
! Alter, Armut und ethnische Minderheiten - solche Verteilungsmuster entstehen durch
Segregation14
! Jugendräume (Subkulturen, Gewalt, Vandalismus)
! Räume können bei der Entstehung und Entwicklung sozialer Probleme eine Rolle spielen:
hohe Wohndichte und anreizarmes Milieu erschweren ein gelingendes Heranwachsen von
Kindern und fördern soziale Konflikte; ökologische Bedingungen beeinflussen
gesundheitliche Probleme der Menschen usw.
! Räume können Möglichkeiten und Behinderungen bei der Bewältigung sozialer Probleme
darstellen, z.B. soziale Infrastruktur, öffentliche Räume, die die Kommunikation und das
Entstehen sozialer Netze fördern, Intergartion oder Ausgrenzung innerhalb eines sozialen
Raumes, Image eines Stadtteils....
14
Segregation (lat: segregation = Absonderung) ist sowohl Prozeß als auch Ergebnis. Als Ergebnis (Merkmal) ist
S. eine bezogen auf den Raum ungleichmäßige Verteilung von Bevölkerungsgruppen, z.B. die Zusammenballung
ethnischer und sozial schwacher Minderheiten in bestimmten Stadtquartieren. Als Prozeß ist S. der Vorgang der
Entmischung von Bevölkerungsgruppen und die Entstehung mehr oder weniger homogener Nachbarschaften, d.h.
die Ausbildung charakteristischer Stadtviertel mit typischem (positiven oder negativen) Image, vgl. Jens
Dangschat: Segregation, in: Hartmut Häußermann (Hrsg.):Großstadt. Soziologische Stichworte. Opladen: Leske
+ Budrich: 2000², S.209 - 221
! Räume erleichtern oder erschweren die Politisierung sozialer Probleme: der
Zusammenschluß von Menschen wird durch räumliche Gegebenheiten ermöglicht (z.B.
Bürgerhaus), Existenz einer Stadtteilöffentlichkeit etc....
Wir sehen also, wenn wir die Handlungsfähigkeit der Menschen im Stadtteil erweitern wollen,
dann ist eine sozialräumliche Perspektive unverzichtbar. Systemisches Denken ist immer auch
sozialräumliches Denken.
Ressourcenorientierung
Auch der Begriff der Ressource ist mittlerweile zu einem Schlüsselbegriff der sozialen Arbeit
geworden. Er ist aus der systemischen Therapie in die Sozialarbeit gekommen. Strategien
ressourcenorientierter Arbeit werden auch seit einige Jahren unter dem Etikett
Empowerment15 diskutiert und praktiziert.
Ressourcen - damit sind alle Hilfsmöglichkeiten gemeint, die zur Lebensbewältigung eines
Einzelnen, einer Gruppe/Familie, eines Gemeinwesens mobilisiert werden und die
Handlungsmöglichkeiten der Menschen erweitern können.
In den unterschiedlichen Theoriekonzepte wird von vier Ressourcenkategorien ausgegangen:
!
!
!
!
körperliche Ressourcen (Gesundheit, Kraft, Arbeitsfähigkeit....)
psychische Ressourcen (psychische Stabilität, Erfahrungen, Kompetenzen...)
materielle Ressourcen (Geld, Hilfmittel z.B. Auto, im Stadtteil: Infrastruktur...)
psychosoziale Ressourcen (Netzwerke, gemeinsame Geschichte, soziale Dienste...)
Im Mittelpunkt der ressourcenorientierten Konzepte steht die Frage, welche Ressourcen eine
Person benötigt, um mit belastenden Situationen umzugehen. Gefragt ist also beispielsweise
nicht, was krank macht, sondern was hilft, gesund zu bleinen und eine stabile Lebensführung
zu praktizieren. Diese Gedankengänge sind mühelos auf das Gemeinwesen zu übertragen.
Das spezielle Hilfeverständnis einer Ressourcenorientierung versperrt sich einer den sozialen
Berufen oft zugrunde liegenden Reparaturmentalität. Es versperrt sich einer verbreiteten
Defizitorientierung.
Defizitorientierung ist kein Ansatz sozialer Arbeit, sondern eine sich vom Ressourcenansatz
abgrenzende Beschreibung von Herangehensweisen innerhalb der sozialen Arbeit. So eine
Herangehensweise ist z.B. die Problemdiagnose, die zum Teil von soziologischen Theorien
her, zum Teil aus beruflichem Alltagswissen erfolgt.
Diese Sichtweise verdankt sich beruflicher Fürsorglichkeit, sie sieht auf das, was fehlt, sie
erwartet, daß mit dem Klienten, der Klientin etwas nicht in Ordnung ist und übersieht dabei
bereits vorhandene Problemlösungskapazitäten.
Ressourcenorientierung lenkt den Blick auf Stärken, auf vielleicht verschüttete Fähigkeiten,
auf Ressourcen im Stadtteil. Ziel ist es, Personen und Systeme zu stabilisieren und
Möglichkeitsräume zu öffnen und zu erweitern.
15
vgl. Wolfgang Stark: Empowerment. Neue Handlungskompetenzen in der psychosozialen Praxis. Freiburg
1996
Wolfgang Stark16 nennt dafür zwei Fragebereiche:
! Wie können die Stärken und Fähigkeiten von Menschen, Gruppen und Organisationen
entdeckt werden und für sie selbst und für soziale Zusammenhänge nutzbar gemacht
werden?
! Auf welche Weise hängen individuelle und soziale Probleme und Fähigkeiten mit
strukturellen, gesellschaftlichen Bedingungen zusammen, auf welche Weise behindern oder
fördern sie diese Fähigkeiten.
Diese Fragerichtung geht dabei nicht nur in Richtung der KlientInnen, sondern der Blick
wendet sich auch auf die eigene Arbeit. Wie können etwa die Ressourcen der eigenen
Institution neu entdeckt und besser genutzt werden für die Arbeit im Gemeinwesen?
Angehörige sozialer Berufe neigen auch im Blick auf den eigenen Arbeitsplatz leicht dazu,
eher die Defizite zu sehen.
Gemeinsame Prinzipen
Wenn es darum geht, aus diesen drei Leitkonzepten, die sich überschneiden,
Gemeinsamkeiten für das berufliche Handeln heraus zu destillieren, dann komme ich auf die
folgenden Prinzipien:
!
!
!
!
!
Ganzheitlich an die Probleme herangehen
Handeln in Möglichkeitsräumen
Deutungsmuster der Menschen beachten
Selbstorganisationsprozesse unterstützen
Ressourcen mobilisieren und Netzwerke knüpfen
Diese Prinzipien gehen in unterschiedliche Konzepte ein17.
Abgrenzungen
Casemanagement - geht vom Fall aus - auch in den sozialen Raum, um dessen Ressourcen
zu nutzen.
Gemeinwesenorientierung ist das, was sehr häufig schon als Gemeinwesenarbeit etikettiert
wird:
! eine Institution öffnet sich dem Gemeinwesen, um seine Zielgruppe besser zu erreichen
(Jugendheime, VHS, Erziehungsberatungstellen, Ansätze des streetwork)
! eine Institution öffnet sich dem Gemeinwesen, um dessen Ressourcen für die eigene Arbeit
und die eigenen Klienten besser zu nutzen(Schule, Kita, oft auch ASD)
16
vgl. Fußnote 15
Sie entsprechend weitgehend den „Leitstandards der Gemeinwesenarbeit“, die Maria Lüttringhaus aus einer
Aufsatzsammlung von Wolfgang Hinte und Dieter Oelschlägel herausgefiltert hat: Wolfgang Hinte, Maria
Lüttringhaus, Dieter Oelschlägel: Grundlagen und Standards der Gemeinwesenarbeit. Ein Reader für Studium,
Lehre und Praxis. Münster 2001, S. 264 - 266
17
Gemeinwesenarbeit ist eine sozialräumliche Strategie, die sich ganzheitlich auf den Stadtteil
und nicht pädagogisch auf einzelne Individuen richtet. Sie arbeitet mit den Ressourcen des
Stadtteils und seiner BewohnerInnen, um seine Defizite aufzuheben. Damit verändert sie
allerdings auch die Lebensverhältnisse und Handlungsspielräume der
Bewohnerinnen.
Gemeinwesenarbeit begegnet uns zum einen als Handlungsfeld, zum anderen als
Arbeitsprinzip sozialer Interventionen.
Als Handlungsfeld sozialer Arbeit sehen wir GWA repräsentiert durch zahlreiche Projekte
unterschiedlicher Träger. Gemeinwesenarbeit als Arbeitsprinzip ist ein Denken und Handeln
entsprechend der oben formulierten Definition, das in allen Bereichen der sozialen Arbeit und
darüber hinaus (!) handlungsleitend sein kann.
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