1 Lambert Wiesing Phänomenologische und experimentelle

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Lambert Wiesing
Phänomenologische und experimentelle Ästhetik
Meine Damen und Herren, es gibt Begriffe, die haben eine eigentümliche, aber doch
bemerkenswerte Eigenschaft: Auf der einen Seite lassen sich diese Begriffe – was ja nun
keineswegs bei allen Begriffen der Fall ist – ganz einfach und präzise definieren; ihr Sinn
ist leicht bestimmbar. Doch auf der anderen Seite ist die Anwendung dieser klar definierten
Begriffe alles andere als einfach, sondern oft sogar zweifelhaft und umstritten. Denken Sie
zum Beispiel an den Begriff des Mordes. Die Definition dieses Begriffs ist
unproblematisch: Ein Mord ist die vorsätzliche Tötung eines Menschen. Mir ist keine
philosophische Abhandlung bekannt, die sich fragt, was wir unter einem Mord verstehen
wollen. Doch bemerkenswert ist nun: Trotz dieser Klarheit des Sinns benötigen Richter oft
Monate, um zu sagen, ob eine bestimmte Tötung nun ein Mord war oder doch nur ein
Totschlag. Nicht selten bleibt die Entscheidung des Richters umstritten oder es kommt gar
nicht zu einer Entscheidung. In diesen Zweifelsfällen, ob eine Tötung ein Mord war oder
nicht, ist nun nicht etwa die Definition des Begriffs problematisch oder unklar, sondern
einzig die Frage, ob eine bestimmte Handlung wirklich die Merkmale aufweist, die einen
Mord ausmachen. Kurzum, mit Frege gesprochen: Es gibt Begriffe, bei denen ist der Sinn
klar und die Bedeutung unklar.
Meine Damen und Herren, der Begriff des Experiments scheint mir genau ein solcher
Begriff zu sein. Obwohl er leicht zu definieren ist, ist doch oft schwer zu sagen, was den
Merkmalen der Definition genügt: Diese leichte Definition könnte so lauten: Ein
Experiment ist der planmäßige Vollzug einer Beobachtung zwecks Begründung einer
These. Also: Immer dann, wenn eine Beobachtung vollzogen wird, um mit ihren
Ergebnissen, eine These zu begründen, hat man es mit einem Experiment zu tun. Jetzt
lässt sich eine Parallele ziehen: Wie schon beim Mordbegriff hat man auch beim Begriff
des Experiments in vielen, vielleicht sogar in den aller meisten Fällen, überhaupt kein
Problem ihn überzeugend anzuwenden. Dass Physiker und Chemiker in ihren Laboren
Experimente machen, ist zum Beispiel vollkommen unstrittig. Wer will das in Zweifel
ziehen? Doch genauso wie beim Mordbegriff gibt es eben darüber hinaus auch noch andere
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wissenschaftliche Tätigkeiten und Beobachtungen, bei denen es allerdings ausgesprochen
schwer und umstritten ist, ob sie über die definierenden Merkmale des Experiments
verfügen. Die philosophische Tätigkeit scheint mir genau eine solche zu sein. Sicherlich
nicht nur: Auch die künstlerische Praxis scheint mir etwas zu sein, bei dem sich nur schwer
sagen lässt, ob sie experimentell sein kann. Doch ich möchte mich auf die Philosophie
konzentrieren. Und da ist die Ausgangssituation folgendermaßen: Üblicherweise wird die
Philosophie nicht als eine Experimentalwissenschaft bezeichnet – und dies durchaus mit
guten Gründen. Zwei Gründe scheinen jedenfalls ziemlich offensichtlich dagegen zu
sprechen, dass Philosophen experimentieren, wenn sie philosophieren:
Da ist erstens ein äußerlicher, aber keineswegs unwichtiger Grund: Man sieht nicht, dass
Philosophen in ihrer Arbeit experimentieren. Philosophen haben kein Labor oder einen
ähnlichen Ort, an dem sie planmäßige Beobachtungen vollziehen. Bei den bekannten
Experimentalwissenschaften lässt sich eben auch von Außenstehenden beobachten, dass in
ihnen experimentiert wird. Das ist auch notwendig: Die Experimente sind, eben weil sie
etwas öffentlich beweisen sollen, selbst etwas Öffentliches, dass jedem anderen Menschen
im Prinzip zugänglich sein muss. Einem Physiker, der behauptet, er habe ein
Privatexperiment gemacht, dass unsichtbar ist und ausschließlich er als einziger sehen kann
– dem würde man nicht gerne Forschungsgelder geben.
Der zweite Grund ist theoretischer Art – er lautet: Wenn Experimente planmäßige
Handlungen sind, die zum Zweck der Begründung einer These ausgeführt werden, dann
kann es in der Philosophie keine Experimente geben, weil in der Philosophie Thesen und
Meinungen diskutiert werden, zu deren Begründung sich keine Handlung ausführen lassen.
Man kann sagen: Die Themen und Fragen der Philosophie erlauben keine experimentelle
Bearbeitung. Das vielleicht wichtigste Argument gegen die Existenz von Experimenten in
der Philosophie lautet: Wenn es um begriffliche und kategoriale Probleme geht, wie dies in
der Philosophie nun mal der Fall ist, dann kann man die Meinungen hierzu nicht mit
Experimenten begründen, denn es geht bei den kategorialen Fragen ja unter anderem
immer auch um die Voraussetzungen von Experimenten.
Meine Damen und Herren, in der Tat scheinen mir dies zwei sehr ernst zu nehmende
Gründe zu sein, die dagegen sprechen, dass Philosophen in ihrer wissenschaftlichen
Tätigkeit Experimente vollziehen. Und dennoch halte ich diese Meinung für falsch. Ja, im
Gegenteil: Ich möchte – zwar nicht mit einem Experiment, aber doch mit Argumenten –
die These verteidigen, dass in der philosophischen Tätigkeit das Experiment sehr wohl –
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und zwar seit langem – einen festen Ort hat. Mir geht es also nicht darum zu zeigen, dass
man – wie dies vielleicht Nietzsche wollte – eine besondere Form der ExperimentalPhilosophie entwerfen kann. Sondern der Gedanke ist: Auch in der Philosophie finden
nicht nur, aber doch regelmäßig Experimente zum Beweis von Thesen statt. Ich möchte
sogar noch einen Schritt weitergehen und sagen, dass die großen, entscheidenden
kategorialen Einsichten der Philosophie immer und ausschließlich experimentell begründet
wurden. Und zwar ganz im Sinne der oben genannten Definition eines Experiments, die da
lautet: Ein Experiment ist der planmäßige Vollzug einer Beobachtung zwecks Begründung
einer These. Konkret geht es mir um die Begründung folgenden Gedankens: Es gibt eine
für die Philosophie spezifische Form des Experimentierens – und das ist die Eidetische
Variation. Die Experimente, welche Philosophen schon immer in ihrer Arbeit machten und
welche sie auch weiterhin machen müssen, um überhaupt Philosophen zu sein, sind
Eidetische Variationen. Nun werden Sie vielleicht einwenden wollen, dass der Begriff der
Eidetischen Variation doch nur eine sehr spezifische und ausschließlich in der
Phänomenologie Edmund Husserls vorkommende Methode bezeichnet, und daher
keineswegs eine Tätigkeit bezeichnet, die bei allen Philosophen zu beobachten ist. Doch
genau dem möchte ich eben widersprechen: Es ist sicherlich richtig: Der Begriff der
Eidetischen Variation geht auf Edmund Husserl zurück. Husserl hat diesen Begriff
eingeführt und die damit bezeichnete Methode in seinem philosophischen Werk erstmals in
ihrer Funktionsweise eingehend expliziert und auch programmatisch verteidigt. Und es ist
sicherlich auch richtig, dass Husserl die Eidetische Variation als die wesentliche und
typische Beweismethode der Phänomenologie ansieht. Keine Frage: Phänomenologen
beweisen ihre Behauptungen mittels Eidetischen Variationen. Aber – und das ist der
wichtige Punkt – Husserl würde eben auch umgekehrt sagen: Wer immer mittels
Eidetischen Variationen etwas beweist, der ist – zumindest in diesem Beweis – ein
Phänomenologe. Husserl ist keineswegs – wie viele seiner Gralshüter – der Meinung, man
würde Phänomenologe, in dem man möglichst oft Husserl zitiert. Husserl selbst geht
vielmehr davon aus, dass er mit dem Begriff der Eidetischen Variation einer oft
unthematisiert, implizit ständig praktizierten experimentellen Methode nur nachträglich
einen
Namen
gibt,
und
er
durch
seine
Beschreibungen
nur
das
explizite
Methodenbewusstsein ausbildet. Deshalb würde Husserl sagen: Wer immer mittels einer
Eidetischen Variation etwas zu beweisen versucht, praktiziert phänomenologische
Philosophie – ob dies nun vor Husserl oder nach Husserl, mit Berufung oder ohne
Berufung auf Husserl geschieht, das ist vollkommen unerheblich. Aus diesem Grund, da
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die Eidetische Variation also eine klassische experimentelle Beweismethode der
Philosophie sein soll, möchte ich diese Art des Experimentierens in der Philosophie auch
an einem Beispiel vorführen, das bewusst nicht von Husserl selbst kommt, sondern von
einem Philosophen, der – das kann man so deutlich sagen – garantiert kein HusserlAnhänger gewesen ist. Schauen wir uns einmal die Transzendentale Ästhetik von Kant an.
Die Transzendentale Ästhetik von Kant – und deshalb möchte ich sie heute hier
eingehender vorstellen – ist für mich das überzeugende Musterbeispiel einer
Experimentellen Ästhetik in der Philosophie schlechthin.
Meine Damen und Herren, bekanntlich stellt Kant in der Transzendentalen Ästhetik die
These auf, dass Raum und Zeit Anschauungsformen sind. Damit ist gemeint: Alles, was
wahrgenommen wird, wird in räumlichen und zeitlichen Relationen wahrgenommen. Denn
– so seine These – weder der Raum noch die Zeit sind eine empirische Eigenschaft einer
Sache in der Welt, sondern als Anschauungsformen gehören Raum und Zeit zum
subjektiven Erkenntnisapparat. Das heißt: Die Anschauungsformen Raum und Zeit sind
eine vorgelagerte kognitive Voraussetzung des Subjekts, welche die Wahrnehmung von
etwas erst ermöglicht. Und weil sie eine Wahrnehmung erst ermöglichen, kann a priori
sicher sein, dass diese Anschauungsformen für jede empirische Wahrnehmung Geltung
beanspruchen können. Schon bevor man etwas gesehen hat, weiß man, dass dieses etwas
raum-zeitlich strukturiert ist. Und nun kommt der alles entscheidende Punkt, der
komischerweise einigen Kommentatoren zu Kant wohl zu banal ist, weshalb er nicht selten
übergangen wird. Doch man kann in der Philosophie nicht zu skeptisch genug sein. Es gilt
immer zu fragen: Woher weiß Kant eigentlich, dass es mit den Anschauungsformen
wirklich so ist, wie er behauptet? Wie begründet oder beweist er seine doch sehr
prinzipielle
Behauptung,
dass
Raum
und
Zeit
notwendige
und
allgemeine
Anschauungsformen sind? Denn es ist offensichtlich: Kants Behauptung soll ja nicht nur
eine bloße, persönliche Meinung sein, der Art: Ich, Kant in Königsberg, verfüge über
Anschauungsformen. Genau an dieser Stelle kommt nun die Methode ins Spiel, mit der
Kant seine These zu beweisen versucht. Die Situation in Kants Text – eben der Kritik der
reinen Vernunft – ist diesbezüglich sehr unbefriedigend: Denn Kant selbst thematisiert in
der Transzendentalen Ästhetik im Gegensatz zur Transzendentalen Logik, die von ihm
verwendete Beweismethode nicht explizit, sondern wendet sie einfach nur an. Will man
nun diese dort von Kant verwendete implizite Methode nachträglich rekonstruieren oder
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explizieren, dann ist es hilfreich, erst einmal die Methoden zu nennen, die er ganz sicher
nicht zum Beweis der Existenz von Anschauungsformen verwendet.
Erstens: Kant beweist seine These von der Existenz von Anschauungsformen nicht
empirisch oder irgendwie naturwissenschaftlich-experimentell. Man hat es mit einer
Behauptung zu tun, die sich gar nicht empirisch durch Induktionen beweisen lässt. Ihre
Themen lassen dies nicht zu: Die Transzendentale Ästhetik arbeitet nicht mit
psychologischen Verallgemeinerungen, Statistiken oder gar, man stelle sich das mal vor –
mit Umfragen – ogottogott, das wäre ja schrecklich. Kants Transzendentale Ästhetik ist
natürlich auch keine neurowissenschaftliche Untersuchung, er guckt nicht im Gehirn nach,
ob dort Anschauungsformen zu finden sind. Kurzum: Die Transzendentale Ästhetik ist
keine empirische Ästhetik und somit auch keine experimentelle Ästhetik im Sinne
Fechners.
Aber die Frage, um die es mir ja heute letztlich geht, ist: Kann man, nur weil man weiß,
dass hier bei Kant nicht naturwissenschaftlich gearbeitet wird, deshalb auch schon
ausschließen, dass hier experimentell gearbeitet wird? Üblicherweise wird nach einer Art
tertium non datur so geschlossen: Weil hier nicht empirisch-experimentell bewiesen wird,
wird hier argumentativ mit Deduktionen gearbeitet. Doch das bemerkenswerte ist, dass
kann man eben für Kant auch ausschließen:
Zweitens: Genauso sicher, wie Kant die Existenz der Anschauungsformen nicht durch
empirische Experimente beweist, beweist er sie auch nicht durch Deduktionen aus sicheren
Prämissen. Die transzendentale Ästhetik Kants enthält gerade nicht – wie etwas später die
Transzendentale Logik – eine transzendentale Deduktion. Dass Raum und Zeit
Anschauungsformen sind, wird von Kant nicht aus anderen sicheren Prämissen – zum
Beispiel dem „Das: Ich denke, muß alle meine Vorstellungen begleiten können“
(Immanuel Kant: KrV B131, AA III, Berlin 1968, S. 108) – per Deduktion erschlossen.
Das heißt also – wir haben folgende bemerkenswerte Situation: Der Beweis von Kant ist
weder eine empirische Induktion noch eine logische Deduktion – und genau deshalb ist die
Transzendentale Ästhetik ein so gutes Beispiel für meine Überlegungen. Denn wenn weder
empirische Induktionen noch logische Deduktionen in der Transzendentalen Ästhetik
vollzogen werden, dann stellt sich die Frage, wie Kant seine Behauptung denn dann
überhaupt begründet. Meine These ist nun: Kant begründet die These von den
Anschauungsformen mittels eines Experiments und zwar mittels eines Experiments, das
ein Beispiel für eine Eidetische Variation im Sinne Husserls ist. Damit wird schon
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deutlich: Die Eidetische Variation ist ein dritter Weg neben Induktion und Deduktion,
welcher spezifisch für phänomenologische Beweise ist, aber keineswegs ausschließlich –
wie man eben an Kant sehen kann – nur von ausgesprochenen Phänomenologen praktiziert
wird. Dieses Experiment von Kant geht nun folgendermaßen:
Kant geht von seiner individuellen und konkreten Wahrnehmung aus. Er versetzt sich
selbst als historisches und empirisches Subjekt in den Zustand, einen Gegenstand
wahrzunehmen – was man allerdings meistens tut. Und dies gilt generell: Der
Ausgangspunkt einer Eidetischen Variation ist stets die bewusste Reflexion auf eigene
Vorstellungen, auf den eigenen mentalen Zustand; man wendet sich selbstreflexiv der
Situation zu, in der man sich phänomenal weiß, weil man weiß, wie es ist, der zu sein, der
man ist:
Ich sehe zum Beispiel eine Tomate, und bin mir gewiss, dass diese für mich rot ist. Die
Phänomenalität eines mentalen Zustandes ist unanzweifelbar gewiss. Das heißt: Ich erfahre
mich in der Situation, in der Gegenwart einer für mich roten Tomate zu sein. Der
entscheidende nächste, eben dezidiert experimentelle Schritt besteht nun darin, von dieser
selbst erfahrenen Situation in der Phantasie Variationen herzustellen. Von Husserl wird
dieser Schritt in die Phantasie an unzähligen Stellen immer wieder hervorgehoben: Die
Variationen erzeugen wir in der freien Phantasie. Das heißt konkret: Ich kann mir die
Tomate, die ich sehe, in Grün, in Blau, in Rosa, mit und ohne Punkten einbilden. Was ich
in
diesem
Moment
selbst
mache,
ist:
Ich
experimentiere
mit
vorstellbaren
Veränderungsmöglichkeiten meines eigenen mentalen Zustandes. Dass dies für mich
möglich ist, ist eine gewisse Selbsterfahrung meiner eigenen mentalen Möglichkeiten –
und genau darum geht es in der Eidetischen Variation. Es geht also darum, die eigenen
mentalen Möglichkeiten selbst auszuprobieren, um selbst zu erfahren, wie es ist, das
Subjekt zu sein, das man zu sein gezwungen ist, weil man diese mentalen Möglichkeiten
hat. Das ist ja die große Schweinerei meiner mentalen Zustände, die conditio humana: Ich
muss das Subjekt meiner mentalen Zustände sein. Ich weiß nicht, ob es ein Ich gibt, aber
ich weiß, weil ich es selbst erfahre, dass es mich als Subjekt in intentionalen Relationen
gibt. Genau das nutzt die Eidetische Variation aus: Sie ist immer eine experimentelle
Selbsterkundung meines Seins als Relata eines intentionalen Zustandes. Anders gesagt:
Eidetische Variationen sind Selbstexperimente zur Erforschung der eigenen mentalen
Dispositionen. Genau das unterscheidet die Eidetische Variation aber auch so grundlegend
von einem Gedankenexperiment. Denn Gedankenexperimente sind – wie Husserl in den
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„Ideen“ von 1913 treffend schreibt – „Experimente in der Einbildung“ – also, wie er auch
sagt: „eingebildete Experimente“ (Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie
und phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch. Hua III, Den Haag 1950, § 25, S. 54).
Und in diesem Sinne ist ein Gedankenexperiment kein richtiges Experiment, wie ein
eingebildeter Hund auch kein Hund ist. Doch die Eidetische Variation ist kein
eingebildetes Experiment, sondern ein wirkliches Experiment mit der eigenen
Einbildungskraft des Experimentators: Es ist kein Gedankenexperiment, sondern ein
Selbstexperiment. Und genau deshalb kann man eben sagen, dass die Eidetische Variation
die oben genannten Merkmale des Experiments besitzt: Sie ist eine planmäßige
Beobachtung mit einer bestimmten Erkenntnisabsicht: Durch das freie Variieren sollen die
Grenzen der Variierbarkeit vom variierenden Subjekt selbst erfahren werden; Ich muss
selbst erfahren, was ich selbst nicht kann. Anders gesagt: In der Eidetischen Variation
variiert man, um zu scheitern. So kommt es im selbstvollzogenen Prozess der willkürlichen
und beliebigen Variantenbildung zu der selbstgemachten Erfahrung, dass es Grenzen der
Veränderbarkeit gibt, dass es Merkmale gibt, die selbst in der Einbildung nicht abstrahiert
werden können – und genau so eine, in einem Experiment erkannte Grenze beschreibt Kant
in der Transzendentalen Ästhetik überaus präzise: Kants Argumentation ist ein
protreptischer Bericht. Er berichtet in der Transzendentalen Ästhetik, dass er scheitert, eine
Variation des wahrgenommenen Objektes in der Phantasie zu bilden, deren Ergebnis etwas
nicht-räumliches wäre.
Der entscheidende, und eben genuin phänomenologische Satz bei Kant lautet so: „Man
kann sich niemals eine Vorstellung davon machen, daß kein Raum sei, ob man sich gleich
ganz wohl denken kann, daß keine Gegenstände darin angetroffen werden“ (Kant, KrV
B38). Man hat es hier mit einem ausgesprochen dichten Satz zu tun: „Man kann sich
niemals eine Vorstellung davon machen“. In diesem kleinen und leicht überlesbaren, völlig
unscheinbaren Satz sind die beiden entscheidenden philosophischen Verallgemeinerungen,
die es zu begründen gilt, mit jeweils nur einem Wort implizit vorgenommen: Der Satz
lautet: „Man kann sich niemals eine Vorstellung davon machen“. Das heißt erstens: der
Satz von Kant lautet nicht: ich kann gerade keine Vorstellung davon machen, sondern Kant
sagt, man kann niemals eine Vorstellung davon machen. Es wird so mit einem Wort vom
Ich auf Alle geschlossen. Und vier Worte weiter gleich das ganze noch mal, denn zweitens
wird wiederum mit einem Wort vom Moment der Gegenwart auf die Zukunft geschlossen.
Denn Kant sagt ja eben nicht: Ich kann gerade, jetzt im Augenblick nicht, sondern es wird
gesagt: man kann niemals. Man und niemals, das sind die Worte in denen sich die
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Verallgemeinerung prägnant zeigt – und die Frage lautet: Mit welchem Recht kann Kant
das sagen, dass erstens man und zweitens niemals das kann? Woher weiß er, dass nicht nur
er das nicht kann, sondern dass das keiner kann? Er selbst stellt bei sich fest, wenn er als
Individuum etwas Räumliches sieht, dann kann er als Subjekt der Wahrnehmung die
Räumlichkeit in der Phantasie nicht abstrahieren. Wie beweist er nun den Schritt vom ich
kann das nicht hin zum man kann das niemals?
Man ist wieder bei der Frage von oben: Hat er hier vielleicht doch eine nur nicht genannte
psychologische Induktion vollzogen? Hat er seinen Diener Lampe gefragt, ob er sich nichträumliche Tomaten vorstellen kann – und dann noch seinen Nachbarn und dann noch dreivier Studenten und ist so induktiv zum Schluss gekommen: Das kann keiner. Dann wäre
der entscheidende Satz: „Man kann sich niemals eine Vorstellung davon machen“ das
Ergebnis einer Induktion – doch das will Kant nicht.
Die Transzendentale Ästhetik ist keine psychologische Ästhetik, aber doch eine
experimentelle Ästhetik, nämlich der Beweis wird von Kant protreptisch erbracht, in dem
zum Beweis vom Leser verlangt wird, selbst das auszuprobieren, was er selbst auch
ausprobiert hat. Durch seine eigene experimentelle Selbsterfahrung hat Kant erfahren, dass
er sich keine Vorstellung davon machen kann. Er schafft es nicht, sich nicht-räumliche
Dinge vorzustellen. Und jeder, der Kants These bewiesen haben möchte, muss selbst
dieses Experiment an sich selbst performativ nachvollziehen. Der Beweis der
Anschauungsformen wird nicht durch Argumente erbracht, sondern durch die von jedem
selbst vollzogene eigene Eidetische Variation: Man stellt selbst fest, dass man selbst sich
rote und blaue Tomaten vorstellen kann, aber bei dem Versuch scheitert, sich räumliche
und nicht-räumliche Tomaten einzubilden – und jeder muss dies selbst performativ in
einem Selbstexperiment für sich selbst feststellen. Ganz wie Kant sagt: „Man kann sich
niemals eine Vorstellung davon machen.“ Der Beweis ist also nur und ausschließlich für
denjenigen erbracht, der selbst diese Erfahrung des Scheiterns und Nicht-Könnens in
einem Selbstexperiment macht. Doch diese Erfahrung oder „Phantasieanschauung“ ist
keine empirische Wahrnehmung; sie ist auch keine normale sinnliche Anschauung mit den
Ohren oder Augen, obwohl man sie oft als eine Anschauung anspricht. Die
Selbsterkenntnis, dass man sich bestimmte Vorstellungen nicht bilden kann, ist eine
phänomenale Einsicht.
Husserl hat dies in seinem Nachlasstext Erfahrung und Urteil. Untersuchungen zur
Genealogie der Logik von 1939 beschrieben: „Wir sprechen von einer Wesens8
‚erschauung‘ und überhaupt von der Erschauung der Allgemeinheiten. Die Rede bedarf
noch der Rechtfertigung. Wir gebrauchen den Ausdruck Erschauen hier in dem ganz
weiten Sinn, der nichts anderes besagt als Selbsterfahren. […] Es handelt sich dabei
natürlich nicht um ein sinnliches Sehen“ (Edmund Husserl: Erfahrung und Urteil.
Untersuchungen zur Genealogie der Logik. Hamburg 1985, § 88, S. 421). Kurzum: Die
kantische Formulierung „Man kann sich niemals eine Vorstellung davon machen“ ist der
Ausdruck eines selbsterfahrenen Scheiterns bei experimentellen Variationen, welches in
einer bestimmten Weise erfahren wird und zu dessen Nachvollzug durch das „man“ von
Kant protreptisch aufgefordert wird. Die kategoriale Erfahrung, zu der aufgefordert wird,
kann man nicht erklären, darum sollte man es auch lassen; man kann sie aber so
beschreiben, dass andere sie in eigenen Experimenten auch selbst erfahren können – das
scheint mir übrigens das Programm der Phänomenologie zu sein. Man hat eine ganz
ähnliche Situation wie in allen Experimentalwissenschaften: Die Texte, welche
Phänomenologen verfassen, die Bücher und Aufsätze, sind kein Beweis, sondern ein
Hinweis, wo und wie man den Beweis erlangen kann; Phänomenologische Texte – wie
zum Beispiel die transzendentale Ästhetik – sind von ihrem literarischen Status her das,
was man in der Antike einen Protreptikós, nannte: eine Einladung oder Aufforderung, eine
Wissenschaft selbst mitzumachen. In phänomenologischen Texten hat die Sprache keinen
propositionalen Status. Im Protreptikós dient die Sprache dazu, ein Auditorium zu
überreden, sich selbst zu überzeugen. Die Protreptik versucht – und hier zitiere ich einen
Buch-Titel von Niehues-Pröbsting –, zur eigenen Einsicht zu überreden. Man kennt diesen
Unterschied zwischen bloßer Rhetorik und rhetorischer Protreptik auch aus alltäglichen
Kontexten:
Man stelle sich vor, man möchte ein Auto kaufen: So können einerseits die besonderen
Fahrqualitäten eines Autos ausschließlich in einem Werbetext mit allen rhetorischen
Mitteln vergegenwärtigt werden, aber es lässt sich andererseits auch in einem sicherlich
rhetorisch verfassten Werbetext beschreiben, worauf man bei einer Probefahrt achten
muss, um die besonderen Qualitäten selbst zu erfahren. Im letzteren Fall wird die Qualität
durch ein Selbstexperiment bewiesen. Das heißt: Der Protreptikós wirbt nicht für eine
Überzeugung, sondern lenkt die Aufmerksamkeit auf Wege, wie sich der Leser selbst
durch ein Experiment die Gewissheit verschaffen kann. Und genau dies ist auch das
Prinzip der phänomenologischen Beschreibung: Die Beschreibung in der Phänomenologie
ist nicht eine ästhetische Beschreibung, um der Beschreibung willen, sondern eine
Beschreibung um der Anleitung und Aufforderung willen, dass der Leser zu einem
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erstrebenswerten Selbstsexperiment mit seinen eigenen mentalen Möglichkeiten gelangt,
bei dem der Leser die gleichen Erfahrungen machen kann wie der Philosoph. Und genau
diese protreptische Funktion hat das man kann niemals bei Kant in dem Satz „Man kann
sich niemals eine Vorstellung davon machen.“ Bleibt die Frage, wann ich weiß, dass ich
etwas nicht nur jetzt, sondern niemals kann? Denn zu den entscheidenden Merkmalen
eines Experiments gehört, dass man sagen kann, wann ein Experiment zu Ende ist.
Experimente dauern eine bestimmte Zeit, sie haben einen Anfang und ein Ende. Deshalb
spielt bei Husserl die Frage eine so zentrale Rolle: Wie lange muss ich variieren? Husserls
Antwort hierauf ist eindeutig: Das Ende der Variation ist durch nichts anders als durch eine
bestimmte Art der sich im Experiment einstellenden Selbsterfahrung festgelegt, welche
Husserl so beschrieben hat: „Zu jeder Variationsmannigfaltigkeit gehört wesentlich dieses
merkwürdige und so überaus wichtige Bewußtsein des ‚und so weiter nach Belieben‘“
(Husserl, Erfahrung und Urteil, § 87, S. 413). Die Variation kommt an ihr Ende, wenn
erfahren wird, dass jeder Gegenstand in der Variation „zum beliebigen Exempel“ (Husserl,
Erfahrung und Urteil, §87, S. 410) wird. Das Merkmal, welches sich in den Variationen
nicht verändern lässt, wird dann als eine notwendige Eigenschaft nicht nur des konkreten
Gegenstands, sondern des Dinges überhaupt erfahren: „Es stellt sich heraus als das, ohne
was ein Gegenstand dieser Art nicht gedacht werden kann, d.h. ohne was er nicht
anschaulich als ein solcher phantasiert werden kann“ (Husserl, Erfahrung und Urteil, § 87,
S. 411). Die hier entscheidende Formulierung Husserls lautet: „ohne was ein Gegenstand
dieser Art nicht gedacht werden kann“.
Meine Damen und Herren, ich möchte Ihnen ein anderes Beispiel für ein klassisches
Experiment in der Philosophie geben – eins, das keineswegs weniger viel Beachtung
gefunden hat. Man denke an den berühmten Satz cogito, ergo sum von Descartes. Wir
haben hier die gleiche Situation wie bei Kant: Auch hier lautet doch die alles
entscheidende Frage: Wie wird denn die Wahrheit dieses berühmten Satzes eigentlich von
Descartes bewiesen? Woher weiß Descartes eigentlich, dass diese Behauptung ich denke,
also bin ich nicht nur für mich und nicht nur jetzt gerade im Augenblick ist? Die Merkmale
wiederholen sich: Auch das ich denke, also bin ich wird keineswegs empirisch oder
psychologisch bewiesen. Descartes ist nicht von einer Person zur anderen gegangen und
hat diese gefragt, ob sie denken und ob sie sind. Der Satz ist aber auch keine Deduktion,
obwohl dieses „ergo“ dies suggeriert – wobei man sagen muss, dass das „ergo“ in den
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Meditationes auch gar nicht fällt, sondern nur spät in den Principia Philosophia. Die späte
Formulierung ist schlechter als die frühe: Denn der Satz soll ja gerade als Prämisse für
Deduktionen dienen und soll gerade nicht durch Deduktionen bewiesen sein, weil
Descartes dann die Beweiskraft der Deduktion für die Geltung seiner Philosophie
vorausgesetzt hätte. Aber wenn man es eben weder mit Induktionen noch mit Deduktionen
zu tun hat, dann bleibt das Problem, warum der Satz in seiner Allgemeinheit für uns
überhaupt überzeugend und bewiesen sein soll: Der Satz wird durch eine Variation
bewiesen, die Descartes in seinen Meditationen vorführt, wenn er beschreibt, dass er sich
viel vorstellen kann, eben dass er sich vorstellen kann, dass er sich über alles täuscht, aber
er schafft es nicht, in der Phantasie eine Vorstellung zu bilden, in der er selbst als
Vorstellender nicht vorkommt. Denn selbst als jemand, der an der Existenz von allem
zweifelt, ist er jemand, der eben ein Zweifelnder ist. Descartes behandelt in seinen
Meditationen eben nicht nur Wachs, sondern er behandelt überhaupt einen Gedanken in
der Phantasie wie Wachs, als wäre er wie Wachs form- und veränderbar, um zu erkennen,
was sich nicht wegdenken lässt. Das heißt: Der Beweis des Satzes wird performativ
erbracht oder eben experimentell – und der Satz ist nur für denjenigen bewiesen, der selbst
dieses Experiment mit sich selbst anstellt. Bemerkenswert ist, dass Descartes im Gegensatz
zum Beispiel zu Kant die experimentellen Prinzipien seiner Philosophie recht genau
beschreibt: In seinen Erwiderungen auf die Zweiten Einwände gegen die Meditationen
stellt er ganz klar heraus, dass er selbst in seinen Analysen weder deduktiv argumentiert
noch rhetorisch überredet, sondern dass er den Leser nur zu einem eigenen experimentellen
Nachvollzug – also zu einem eigenen Ausprobieren – seiner Analysen auffordert: So heißt
es bei Descartes: „Die Analysis zeigt den wahren Weg, auf dem eine Sache methodisch
und gleichsam a priori gefunden worden ist, so daß, wenn der Leser ihr folgen und sein
Augenmerk darauf richten will, er die Sache genau so vollkommen einsehen und sie
ebenso sich zu eigen machen wird, wie wenn er selbst sie gefunden hätte“ (René
Descartes: Meditationen über die Grundlagen der Philosophie mit sämtlichen Einwänden
und Erwiderungen. Hamburg 1972, S. 140). Wenn der Leser nicht dazu bewegt werden
kann, sich selbst die Möglichkeiten seines Denkens und seines Selbstbewusstseins in
einem Selbstexperiment mit seinen mentalen Möglichkeiten auszuprobieren, dann besteht,
auch das beschreibt schon Descartes, keine weitere Möglichkeit, ihn anderweitig zu
überzeugen; dann ist der Protreptikós in seinem Anliegen gescheitert: „Aber etwas, das nur
von dem Denken eines anderen abhängt, kann ich teilnahmslosen Leuten, die meine
Meditationen bloß wie einen Roman lesen, um sich die Zeit zu verkürzen und ohne große
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Aufmerksamkeit, nicht mit Gewalt aufdrängen“ (Descartes, II. Erwiderung, S. 123).
Das heißt: Da der Protreptikós seinen alleinigen Zweck eben nur dann erreicht hat, wenn
der Leser selbst experimentiert und mitmacht, kann man diese Art des philosophischen
Textes auch nur schwer als einen literarischen Text im Sinne eines Kunstwerks
ansprechen. Obwohl diese Vermutung auf der Hand liegt. Schließlich berichtet der
Phänomenologe in seinen Texten von privaten Meditationen und Episoden, und verfasst
insofern Texte, welche auch in der Literatur als Erzählungen, Berichte und Romane zu
finden sind. Doch im Gegensatz zum literarischen Werk ist der phänomenologische Text
nur ein Hilfsmittel; nicht der Text selbst soll – wie vielleicht ein Roman – ästhetisch
möglichst gut vergegenwärtigen, sondern er soll möglichst gut zur eigenen performativen
und experimentellen Gegenwärtigung auffordern und anleiten, wobei dem nicht
widerspricht, dass er selbst auch ästhetisch das vergegenwärtigt, was selbst gegenwärtig
werden soll. Doch ein entscheidender Unterschied zur Literatur bleibt: Der
Phänomenologe versucht die argumentative Überzeugungskraft seiner Texte nicht durch
eine ästhetische Prägnanz zu komplettieren oder gar zu ersetzen. Es geht nicht um
literarische
Erkenntnisformen,
welche
komplementär
die
propositionalen
Erkenntnisformen ergänzen, es geht nicht darum, das Sagen durch ein gleichzeitiges
Zeigen zu ergänzen, sondern es soll möglichst klar und deutlich gesagt werden, welche
Gewissheiten ein Leser in sich selbst experimentell entdeckt und selbst eingesehen werden
können. In dieser Hinsicht sind alle Texte der Phänomenologie nichts anderes als
regelrechte ästhetische Experimentalanleitungen. Man kann sagen die Transzendentale
Ästhetik ist nicht nur ein Beispiel für eine Eidetische Variation, sondern die
Phänomenologie ist insgesamt nichts anderes als eine weiterentwickelte Form der
Transzendentalen Ästhetik. So schreibt Husserl in einer der vielen „Textkritischen
Anmerkungen“ zur „Formalen und Transzendentalen Logik“ von 1927 explizit, „dass alles,
was wir bisher in der Phänomenologie der Anschauungen [...] behandelt haben,
'transzendentale Ästhetik' ist. […] Wir entwerfen hier nicht eine Reproduktion Kantischer
Gedanken, sondern zeigen, wie das, was Kant in wenigen Punkten geschaut und getan hat,
seinen systematischen Ort findet in einer großen Disziplin, welche in der reinen Methode
phänomenologischer Reduktion das Wesen der Erfahrung studiert:
notwendigen
Strukturen
der
in
ihr
vollzogenen
Sinnesleistungen,
nach all den
nach
jenen
Notwendigkeiten, die den Sinn selbst, seine Erscheinungsweisen [...] beherrschen.“
(Edmund Husserl: Analysen zur passiven Synthesis, 1918 – 1926. Hua XI, Den Haag 1966,
S. 498)
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Meine Damen und Herren, an dieser Stelle wird nun deutlich: Die Beziehung zwischen der
Phänomenologie einerseits und der Ästhetik andererseits kann in zwei grundlegend
verschiedenen Weisen interpretiert werden – und beide Weisen haben in der Geschichte
der Phänomenologie gleichermaßen Verteidiger gefunden. Die ist erstens die Interpretation
der Relation zwischen Phänomenologie und Ästhetik, wie sie im letzten Zitat von Husserl
selbst gegeben ist, und die man darüber hinaus insbesondere bei den berühmten Klassikern
der Phänomenologie finden kann – etwa bei Husserl, Heidegger, Merleau-Ponty oder auch
Sartre. Bei diesen Philosophen ist nämlich der Umstand auffällig, dass sie, obwohl sie in
ihren Werken ja eingehend Fragen der Ästhetik behandeln, doch nicht von
phänomenologischer Ästhetik sprechen; der Begriff kommt nicht vor – jedenfalls sind mir
keine einschlägigen Stellen bekannt, wo Husserl, Heidegger, Merleau-Ponty oder Sartre
diesen Terminus verwenden würden. Ich bin mir nicht sicher, ob einer dieser Klassiker die
Frage, ob er eine philosophische Ästhetik geschrieben habe, mit „Ja“ beantworten würde.
Der Grund dafür ist eindeutig: Für diese Philosophen ist Phänomenologie immer schon
eine Form von Ästhetik: nämlich – wie Husserl gerade sagte – eine Weiterentwicklung der
transzendentalen
Ästhetik.
Das
bedeutet
wiederum:
Es
kann
keine
explizite
phänomenologische Ästhetik geben, weil Phänomenologie per se schon praktizierte
experimentelle Ästhetik ist. Typisch hierfür ist zum Beispiel Heidegger: In seiner
Vorlesung „Einführung in die Phänomenologische Forschung“ von 1923 stellt Heidegger
gleich auf der zweiten Seite heraus, dass der Begriff aisthesis in der Phänomenologie so
weit verstanden wird, dass er „die Weise des Daseins eines Lebenden in seiner Welt
definiert“ (Martin Heidegger: Einführung in die phänomenologische Forschung.
Gesamtausgabe II. Abteilung: Vorlesungen 1919-1944 Band 17, Frankfurt am Main 1994,
S. 8). Das heißt aber: Ästhetik wird noch weiter als bei Kant verstanden, nicht nur als
Wissenschaft von der Wahrnehmung, sondern als Beschreibung der Weise des Daseins
eines Lebewesens – was eben bedeutet, dass Heideggers eigene Phänomenologie des
Daseins für ihn praktizierte Ästhetik ist.
Meine
Damen
und
Herren,
wenn
man
sich
der
Geschichte
des
Begriffs
„Phänomenologische Ästhetik“ zuwendet, hat man die eigenwillige Situation, dass sich die
explizite Rede von der „Phänomenologischen Ästhetik“ fast nur bei recht unbekannten
Phänomenologen aus der zweiten Reihe findet lässt. Ich kann das auch nicht richtig
erklären. Jedenfalls gilt: Wenn man heute nach den Autoren sucht, die explizit das
Programm für eine phänomenologische Ästhetik entwickelt haben, dann treten
insbesondere die Arbeiten von Moritz Geiger, Werner Ziegenfuss und Donald Brinkmann
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in den Mittelpunkt – also Philosophen, die keineswegs als Klassiker gelten. Werner
Ziegenfuß publiziert 1928 seine Dissertation unter dem Titel „Phänomenologische
Ästhetik“ und Moritz Geiger spricht auf dem zweiten Kongress der Gesellschaft für
Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 1924 in Halle über „Phänomenologische
Ästhetik“. Und der von Adorno noch so gehasste und heute vollkommen vergessene
Phänomenologe Donald Brinkmann entwirft in seinem Buch „Natur und Kunst“ von 1938
explizit eine phänomenologische Ästhetik. In diesen Werken findet sich nun eine zweite
Meinung darüber, wie das Verhältnis zwischen Phänomenologie und Ästhetik gedeutet
werden muss – und zwar ganz anders als die der berühmten Klassiker: Hier lautet die
These:
Phänomenologische Ästhetik bedeutet schlicht die Anwendung der phänomenologischen
Methode der Eidetischen Variation zur Beantwortung der typischen Fragen der Ästhetik –
wie etwa: Was ist Kunst? Was ist Schönheit? Was ist ein Bild? Was ist Literatur? Was ist
Wahrnehmung? Moritz Geiger eröffnet seinen Vortrag mit dem Satz: „Phänomenologische
Ästhetik – das ist Ästhetik, die nach einer bestimmten Methode betrieben wird – nämlich
nach der phänomenologischen“ (Moritz Geiger: Phänomenologische Ästhetik. In:
Zeitschrift für Ästhetik und Kunstwissenschaft, 1925, S. 29). Geiger argumentiert letztlich
ganz ähnlich, wie ich dies heute getan habe, nämlich auch er weist explizit darauf hin, dass
die phänomenologische Methode nicht erst mit Husserl in die Ästhetik Einzug hält,
sondern nur durch Husserl eine systematische Beschreibung bekommen hat. So nennt er
auch konkrete Beispiele für phänomenologische Ästhetik, welche lange vor Husserl zu
finden sind: „Was an Lessings Trennung von Dichtung und bildender Kunst haltbar ist, das
hat er durch die unbewusste Anwendung der phänomenologischen Methode gefunden.“
(Geiger, Phänomenologische Ästhetik, S. 38) Auch Geiger stellt die Methode der
Phänomenologie als einen dritten Weg des Beweisens neben die bekannten Wege
Induktion und Deduktion: „Das ist eine Eigenart der phänomenologischen Methode: Daß
sie weder aus einem obersten Prinzip heraus ihre Gesetzmäßigkeiten gewinnt, noch auch
durch die induktive Häufung einzelner Beispiele, sondern dadurch, dass sie am einzelnen
Beispiel das allgemeine Wesen, die allgemeine Gesetzmäßigkeit erschaut.“ (Geiger,
Phänomenologische Ästhetik, S. 34) – doch, und dass ist nun ein für mich wichtiger Punkt:
Geiger stellt klar heraus, dass die Eidetische Variation weder induktiv noch deduktiv
arbeitet, doch er lässt auch keinen Zweifel daran, dass es ihm eigentlich nur um die
Abgrenzung der phänomenologischen Methode von dem induktiven Weg geht. Denn die
deduktive Methode scheint ihm nach dem – wie er sagt – „Zusammenbruch des
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Hegelschen Systems“ (Geiger, Phänomenologische Ästhetik, S. 30) keine bemerkenswerte
Rolle innerhalb der Ästhetik mehr zu spielen.
Anders gesagt: Schaut man sich die ersten programmatischen Texte für eine dezidiert
phänomenologische Ästhetik an, so wird deutlich, dass diese Ästhetik, welche die
Eidetische Variation als experimentelle Methode verteidigt, als ein expliziter Gegenspieler
zur sogenannten experimentellen Ästhetik von Gustav Theodor Fechner auftritt, welche
das psychologische Experiment als Methode verteidigt. Fechner hat aus Sicht der frühen
Phänomenologen – so Geiger – die „Führerrolle im Gebiet der Ästhetik“ (Geiger, 1925, S.
30) übernommen. Wegen ihrer besonderen Aktualität wird diese Experimentelle Ästhetik
der Psychologie einer besonderen Kritik unterzogen – und das scheint mir auch heute
weiterhin sinnvoll zu sein, denn auch heute erleben wir vielerorts ein Wiederaufleben
dieses alten Gedankens, das naturwissenschaftliche Experimente eine Methode der
Ästhetik sein können und auch heute ist die Meinung verbreitet, nur Naturwissenschaftler
experimentieren. In der Tat möchte ich mich der Sicht von Geiger anschließen und mit ihm
auch die These verteidigen:
Eine Phänomenologische Ästhetik muss sich – gerade weil sie selbst auch experimentell
arbeitet – als eine explizite Gegenposition zu allen naturwissenschaftlich-experimentellen
Ästhetiken verstehen. Dass manchmal von Seiten der Phänomenologie polemisch und
spöttisch auf Bemühungen einer naturwissenschaftlich-experimentellen Ästhetik reagiert
wird, mag vielleicht daran liegen, dass beide Strömungen historisch und systematisch
gesehen, viel gemeinsam haben, so dass deshalb manchmal die verbleibenden
Unterschiede überdeutlich herausgestellt werden: Die Wege der phänomenologischen und
experimentellen Ästhetik laufen eben recht lange gemeinsam, um dann auseinander zu
gehen: Denn natürlich kann man sagen: Sowohl die Phänomenologie wie auch die
Experimentelle Ästhetik von Fechner verfolgen das Ziel, die Ästhetik in eine
wissenschaftliche Disziplin zu überführen. Nicht umsonst heißt einer der Buchtitel, der
wenigen von Husserl zu Lebzeiten veröffentlichten Bücher: „Philosophie als strenge
Wissenschaft“. Und man darf sich sicher sein, dass dieser Titel eine Vorstellung von
Philosophie ausdrückt, die Fechner ganz geteilt hätte. Die programmatischen
Vorstellungen von Fechner und Husserl teilen die grundsätzliche Ausrichtung auf die
Empirie. Dies signalisieren schon die jeweiligen Schlagworte, die sich beide Philosophen
gut zu eigen hätten machen können: Fechner bezeichnet die Experimentelle Ästhetik
immer wieder auch als eine „Ästhetik von unten“; und Husserl prägt für die
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Phänomenologie den berühmten Aufruf „Zu den Sachen selbst“. Mit diesen beiden
Formulierungen ist sicherlich nicht dasselbe gemeint, aber doch dasselbe abgelehnt.
Sowohl die Experimentelle Ästhetik als auch die Phänomenologie wenden sich mit
Nachdruck gegen eine spekulative oder rationalistische Philosophie, die versucht, die
Beschreibung der Wirklichkeit aus Allgemeinen Prinzipien zu deduzieren; beide wenden
sich gegen hermeneutische Philosophien. So schreibt Geiger explizit: „Mit der Ästhetik
von unten verbindet sie [die phänomenologische Methode] das Wertlegen auf die
eingehendste
Beobachtung,
der
Wille
zur
unkonstruktiven
Beschreibung
des
Tatsächlichen“ (Geiger, Phänomenologische Ästhetik, S. 39). Es ist daher nur konsequent,
dass beide Philosophen ihre jeweiligen Werke selbst als eine Weiterentwicklung des
Empirismus verstehen – und man kann sagen: Beide Philosophien wenden sich letztlich
aus denselben Gründen einer experimentellen Methode zu: Das Experiment soll der
Philosophie endlich den Anschluss an die Erfolge der Einzelwissenschaften geben – doch
es sind allerdings ausgesprochen unterschiedliche experimentelle Methoden, die jeweils
verteidigt werden. An dieser Stelle gehen erst die Wege auseinander: Es sind grundlegend
andere Arten des Experiments, denen jeweils zugetraut wird, philosophische Fragen
beantworten zu können: Einmal ist dies das psychologische Experiment und einmal die
Eidetische Variation.
Anders gesagt und dies meine ich historisch wie auch systematisch: Die Rivalität zwischen
der Phänomenologischen Ästhetik und der Experimentellen Ästhetik ist ein Streit um die
richtige
experimentelle
Methode.
Schon
in
den
Gründungsschriften
der
phänomenologischen Ästhetik wird die experimentelle Ästhetik in der Form, wie sie in der
Psychologie oder einer anderen Einzelwissenschaft betrieben wird, mit einem Argument
zurückgewiesen, das bis heute in nichts an Geltung verloren hat. Bei Geiger heißt es:
„Allein dieser induktive Weg – so oft man ihn auch propagiert hat, ist ein Fehlschlag“
(Geiger, Phänomenologische Ästhetik, S. 33). Das ist die Kritik und dann der Grund, den
Geiger mit einem Beispiel formuliert: „Denn um das Tragische auch nur bei einem
einzigen Dichter aufzeigen zu können, muß man schon implizite mit dem Wesen des
Tragischen vertraut sein. Weshalb suchte man es sonst im Hamlet und Macbeth und nicht
im Sommernachtstraum?“ (Geiger, Phänomenologische Ästhetik, S. 33)
Meine Damen und Herren, so unscheinbar dieser Satz auch sein mag, ich glaube, Geiger
hat damit das entscheidende Argument einer phänomenologischen Ästhetik gegen die
naturwissenschaftliche experimentelle Ästhetik formuliert. Das Argument besagt letztlich:
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Man kann ästhetische Eigenschaften nicht naturwissenschaftlich-experimentell erforschen,
weil man naturwissenschaftlich nicht bestimmen kann, welche Dinge die ästhetischen
Eigenschaften haben, die man erforschen möchte. Und genau das ist das unlösbare und
bleibende
Problem
einer
empirisch-experimentellen
Ästhetik,
welches
die
phänomenologische Ästhetik mit der Eidetischen Variation löst:
Nehmen Sie zum Beispiel die bis heute in der psychologischen Ästhetik verfolgte Idee,
dass sich mittels psychologischen oder auch neurowissenschaftlichen Experimenten
erforschen lässt, was invariante Eigenschaften von Kunstwerken, der Kunstrezeption, von
Bildern oder auch von schönen Dingen sind. Was immer diese Forschungen bringen, sie
leisten keinen kategorialen Beitrag, weil sich das kategoriale Problem schon früher stellt,
nämlich dann, wenn man sich ernsthaft auf die Frage einlässt, welche Objekte sollen in
diesen Experimenten den Probanden gezeigt werden. Wenn jemand meint, empirisch
erforschen oder gar beweisen zu können, was Kunst ist, dann steht er vor dem Problem,
dass er schon wissen muss, welche Objekte er als Kunst untersuchen kann. Wer zum
Beispiel psychologisch oder neurowissenschaftlich Kunst erforschen will, muss schon
wissen, was Kunst ist, da er sonst nicht die Objekte bestimmen kann, dessen Rezeption
Kunstrezeption sein soll. Das zeigt sich ganz konkret: Wer die Rezeption von Kunst
empirisch erforscht, setzt einen Probanden vor ein Kunstwerk – doch ein Kunstwerk kann
er nur vor den Probanden stellen, wenn er schon weiß, was ein Kunstwerk ist.
Bemerkenswerterweise scheint dies – aus einer Art Selbstschutz – in der gängigen
psychologischen Kunstforschung kaum als Problem gesehen zu werden. So ist zum
Beispiel festzustellen, dass ein Großteil der psychologischen und neurowissenschaftlichen
Erforschung der Kunst sich gar nicht ernsthaft die Frage stellt, ob sie einem Probanden,
dessen Kunsterfahrung erforscht werden soll, auch wirklich ein Kunstwerk zeigen – denn
nicht selten werden die psychologischen Experimente zur Kunstrezeption mit Probanden
gemacht, denen man ein Bild eines Kunstwerkes zeigt, sogar oft nicht mal ein Bild in der
Originalgröße, sondern ein kleines Bildchen auf einem Monitor. Der einfache kategoriale
Unterschied, dass ein Bild eines Kunstwerks selbst kein Kunstwerk ist, so wie ein Bild
eines Hundes kein Hund ist, wird so übergangen.
Nehmen wir die Frage: Was ist ein Bild? Sollte man versuchen, diese Frage mit
empirischen Experimenten zu entscheiden zu wollen, dann muss man sich vorher schon
entscheiden, ob man auch Schattenbilder und Sternbilder, Diagramme und Metaphern,
abstrakte Kunst und Spiegelbilder mit untersucht. Anders gesagt: Natürlich kann man mit
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psychologischen oder neurowissenschaftlichen Experimenten erforschen, wie Probanden
auf bestimmte Dinge reagieren, die sie wahrnehmen – aber man kann nicht aus diesen
Ergebnissen ableiten, was der Grund ist, warum diese Dinge Kunst sind, warum diese
Dinge schön sind, oder warum sie ein Bild sind. Wer zum Beispiel psychologisch die
Schönheit von menschlichen Gesichtern erforscht, hat schon vorausgesetzt, dass er hier
Schönheit und nicht etwa Attraktivität, Sinnlichkeit oder sexuelle Stimuli erforscht – oder
er hat alle diese begrifflich unterscheidbaren Phänomene in einen Topf geworfen. Das
heißt anders gesagt: Wenn es um kategoriales Wissen geht, dann helfen keine empirischen
Experimente, sondern ausschließlich Eidetische Variationen – welche aber auch
Experimente sind.
Und genau hier scheint mir die Stelle zu liegen, an der sich die künstlerische Tätigkeit in
ihrem experimentellen Charakter mit der phänomenologischen Tätigkeit trifft. Denn es ist
die Kunst, in der wir nicht selten eine ungeahnte freie Variation eines Bekannten gezeigt
bekommen. In der Tat wurde schon des Öfteren darauf hingewiesen, dass die
Phänomenologie etwas künstlerisches, etwas literarisches hat – doch das scheint mir nicht
überzeugend zu sein. Schaut man sich die experimentelle Beweismethode der
Phänomenologie an, dann scheint mir die Situation eher umgekehrt zu sein: Die Kunst ist
insofern immer schon selbst phänomenologisch, als dass die Kunst in ihrer Entwicklung
als eine freie Variation aufgefasst werden kann. Denn zumindest in der Summe ihrer
Geschichte erscheint die Kunst wie eine eidetische Variation, eben als der
phänomenologische Selbstversuch, was in einem Medium gedacht werden kann: Es ist die
Eidetische Variation, die das Verhältnis der Phänomenologie zu den Objekten der Ästhetik
bestimmt: die Varianz der Werke der Kunst, die Differenz der Objekte der Schönheit, die
Vielzahl der Medien der Wahrnehmung sind nie nur Objekte einer phänomenologischen
Untersuchung, sondern immer auch ein Teil der eigenen eidetischen Arbeit mit anderen,
eben mit sichtbaren Mitteln.
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