Skriptum

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Ist Cannabis ein wirksames Heilmittel?
Karl-Ludwig Täschner
Meine Damen und Herren,
zunächst einmal danke ich Ihnen für die Gelegenheit, wieder
einmal über das Cannabis und die Probleme seines Konsums zu
sprechen, diesmal in einem sehr speziellen Sinne, der oft bei der
Betrachtung der Droge und ihrer Wirkungen zu kurz kommt. Dass
von
Cannabis
pharmakologisch-therapeutische
Wirkungen
ausgehen, ist nicht ganz überraschend.
Ich möchte dabei so vorgehen, dass ich Sie zunächst auf drei
aktuelle Aufhänger gewissermaßen aufmerksam machen möchte,
die der Tagespresse entnommen sind und die die Aktualität des
Themas zu unterstreichen scheinen. Danach will ich ein paar
kurze Worte zur Historie der Verwendung von Cannabinoiden in
der Pharmazie sagen und auch etwas dazu, wie sich der Umgang
mit dem Haschisch in den letzten 40 Jahren entwickelt hat. Im
Hauptteil werde ich dann die in erster Linie diskutierten
potenziellen pharmazeutischen Wirkungen von Cannabis anhand
der neuesten erreichbaren Literatur erörtern und dabei wird sich
zeigen, wie die Wirkungen im Einzelnen beschaffen sind und was
wir darüber wissen. Ein Wort zu den Nebenwirkungen schließt
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sich an, und am Schluss werde ich das Ganze noch einmal kurz
zusammenfassen.
In den letzten Monaten sind in der Frankfurter Allgemeinen
Zeitung drei Aufsätze erschienen, die sich damit befassen
(28.08., 02.11., 11.11.2010).
Die Bedeutung, die diesem Thema zugemessen werde, könne
man nicht mit der Sache selbst erklären, teilte die FAZ mit,
sondern nur mit den kulturellen Assoziationen, die damit
verknüpft seien. Die Sozialgerichte müssten sich immer häufiger
mit der Frage der Kostenübernahme bei Schmerzpatienten für
eine Behandlung mit Cannabisinhaltsstoffen befassen, allerdings
lehnten
sie
diese
meist
ab
und
verwiesen
auf
den
Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung. Es gibt
offenbar Bestrebungen, vor allem bei spastischen Beschwerden
im Rahmen einer MS gesetzliche Zugangsregeln zu schaffen.
Der zweite Artikel befasste sich mit der Initiative von Georg
Soros, eine Kampagne mit dem Ziel der Legalisierung des
Anbaus und Konsums von Cannabis in Kalifornien zu finanzieren.
Mit den Kongresswahlen hatten die Bürger dieses Bundesstaates
über eine Initiative abzustimmen, um Cannabis als reines
Genussmittel freizugeben, als Therapeutikum ist es in gewissem
Umfang dort schon erhältlich, ebenso wie in weiteren 15 Bundesstaaten der USA. Die Abgabe von Marihuana an jeden über 21
Jahren würde nach Ansicht der Befürworter vor allem erhebliche
zusätzliche Steuereinnahmen in die öffentlichen Kassen spülen,
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denn die Droge soll kräftig besteuert werden. Die Kalifornier
haben diese Initiative allerdings mittlerweile abgelehnt.
Der dritte Artikel zeigt die Verhältnisse im Bundesstaat Colorado
auf, wo man Marihuana in Mengen bis zu 56 g pro Tag mit einer
sog. „Medical Marihuana Card“ in speziellen Apotheken kaufen
kann, die Karte ist leicht zu erhalten. Die Unze Marihuana kostet
im Übrigen $ 450,00, also $ 15,00 pro Gramm. Zu beachten ist
aber weiterhin die Diskrepanz zwischen der Landes- und der
Bundesgesetzgebung. Nach letzterer ist jeder Umgang mit
Marihuana in den USA weiterhin verboten.
Nun zurück zu den möglichen therapeutischen Wirkungen – dem
Thema meines Vortrags.
Ein Blick in die Historie zeigt, dass solche Wirkungen schon
lange bekannt sind. Mit einem solchen Blick beginnen alle
Monografien
und
Einzeldarstellungen,
die
sich
mit
Cannabiswirkungen befassen. Es ist eben nicht so, dass man bis
ins
19.
Jahrhundert
hinein
nur
gewusst
hat,
dass
die
Faserelemente der Pflanze sich zu festen Hanfseilen verarbeiten
lassen, die man in der Seefahrt braucht, auf dem Bau, aber an
denen man auch die Verbrecher aufknüpfen kann. Man wusste
schon lange vor Christi Geburt in China beispielsweise, dass es
gewisse
pharmakologisch
verwertbare
Eigenschaften
der
Hanfpflanze gibt. Naturgemäß hat man das dem Stand der
damaligen
Pflanzenheilkunde
entsprechend
nicht
genau
______________
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untersucht, aber den Weg über die Kräuterbücher in die
deutschen Pharmakopöen und in die amerikanische von 1941
haben Cannabiszubereitungen doch gefunden.
F1
Eulenburg
F2
US-Arzneibuch 1941
In den letzten 30 Jahren ist nun eine Diskussion entstanden, die
sicher von dem Ziel einer Verharmlosung des Cannabiskonsums
gelebt hat. Der Cannabiskonsum ist ja in den USA und im
Gefolge der sog. Drogenwelle etwa ab 1968 beginnend auch in
Westeuropa und Deutschland geradezu verteufelt worden. Mit
einer Verteufelungsstrategie erreicht man aber bekanntermaßen
nur das Gegenteil. Ein flexibles Vorgehen gegen einen Gegner
ist meistens viel wirksamer. Denken Sie an Österreich und das
Neutralitätsgebot, da hat sich ein weiches und flexibles Vorgehen
doch als wesentlich effizienter herausgestellt, als wenn man
konfrontativ vorgegangen wäre.
Während die Droge im Deutschen Arzneibuch 6 von 1926 bereits
nicht mehr enthalten ist, führt das Taschenbuch der Drogenkunde
von Hoppe in seiner 8. Auflage von 1981 Cannabis auf und
erwähnt auch pharmakologisch verwertbare Wirkungen.
F3
Hoppe 1981
In der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts hatte das Interesse
an der pharmakologischen Wirkung des Cannabis abgenommen.
______________
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Erst mit der Renaissance des Stoffs als rauscherzeugendes
Mittel geriet es in den 70er Jahren wieder in das Blickfeld einer
interessierten Öffentlichkeit. Cannabis wurde zur „Leitsubstanz“
einer ganzen Generation und eines der Schlagworte war damals
„Haschu Haschisch in der Tasche, haschu immer was zu
nasche“.
Cannabis galt in Konsumentenkreisen als ungefährlich und sein
Verbot durch Einordnung unter das Betäubungsmittelgesetz als
ideologisch motivierte Unterdrückungsaktion der konservativen
Regierenden gegenüber der revoltierenden Jugend. So wurde
Cannabis z. T. einer Protestbewegung junger Menschen, und das
konnte naturgemäß nur funktionieren, wenn es gelang, die
Ungefährlichkeit der Droge zu belegen.
Hier an dieser Stelle schlug nun die Geburtsstunde
des
Gedankens von der Verwendbarkeit der Droge bzw. ihrer
Inhaltsstoffe als Medikament gegen eine ganze Palette von
Krankheiten.
Auf
diesem
Wege
Rauschmittel
zum
Heilmittel
sollte
umdeklariert
die
Droge
werden.
vom
Deshalb
begann nun ein aufwändiger Feldzug für den Anbau von Hanf in
Mitteleuropa mit Hanfläden, Biobauern, Hanfverarbeitung zu
Textilien usw..
Dazu
wurde
sogar
das
Betäubungsmittelgesetz
geändert.
Hanfanbau wurde ermöglicht, um dem Biogedanken nicht im
Wege zu stehen. Und in diese Bewegung hinein wurde nun auch
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Vortrag Graz, 21.01.2011
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die Anwendung als Medikament gefordert, wobei man sich einer
Doppelstrategie bediente:
1.
Nachweis der Ungefährlichkeit der Rauschdroge Cannabis
2.
Nachweis der segensreichen Wirkung als Medikament beim
Einsatz gegen eine Reihe von Krankheiten
Was ist nun daraus geworden?
Der Nachweis der Ungefährlichkeit gelang nicht so recht. Im sog.
Cannabis-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts von 1994
stellte das oberste deutsche Gericht in Karlsruhe fest, dass vom
Cannabiskonsum
eine
Reihe
von
Gefahren
für
die
Volksgesundheit ausgehe, deshalb müsse die Droge weiter dem
Betäubungsmittelgesetz unterstellt bleiben.
F4
Gefährlichkeit von Cannabiswirkungen
Bundesverfassungsgericht 1994
Die zweite Strategielinie wurde aber beharrlich weiter verfolgt.
Über ihre Ergebnisse soll nachstehend berichtet werden.
Zunächst einmal: Um welche Wirkungen geht es überhaupt, bei
welchen Krankheiten sollen Cannabinoide überhaupt angewandt
werden?
F5
Propagierte Anwendungsgebiete heute
______________
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6
Traditionellerweise geht es um das Glaukom, aber auch um das
Asthma, die hustenstillende Wirkung, dann um die Cytostase und
die Antibiose, sodann um die Schlafstörungen, die sedierende
Wirkung bei Unruhezuständen und Erregung. Dann geht es aber
auch um Schmerzzustände, vor allem den sog. neuropathischen
Schmerz im Zusammenhang mit der Spastik und der Neuritis bei
MS. Ferner sollen Cannabinoide bei den Nebenwirkungen der
Chemotherapie vor allem von Krebserkrankungen eingesetzt
werden, also gegen Übelkeit, Schwindel und Brechreiz, und
schließlich
zur
Appetitsteigerung
bei
konsumierenden
Erkrankungen, vor allem bei AIDS.
Weitere Möglichkeiten wurden gesehen bei einer Vielzahl von
Krankheitszuständen,
z.
B.
Kopfschmerzen,
Durchfall,
Verstopfung, Impotenz, Anhedonie, Schwindel, Cholera, Diabetes
und vielen anderen Zustandsbildern.
Versucht man nun, diese zunächst genannte Indikationspalette
zu überprüfen, so stößt man vor allem auf Einzelfallkasuistiken
und
Beobachtungen
an
kleinen
Gruppen,
meist
ohne
Kontrollgruppe. Diese Art von Erkundungsstudien hat natürlich
wenig
Aussagekraft.
vorwissenschaftlicher
Gleichwohl
Stil
auf
wird
dem
ein
derartiger
angesprochenen
mehr
Gebiet
geradezu gepflegt. Es gibt aber auch auf einzelnen Gebieten
mittlerweile ernsthafte empirisch wissenschaftliche Studien, die
eine gewisse Beurteilung der Situation zulassen.
______________
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7
Die
wissenschaftliche
Cannabisinhaltsstoffen
Beurteilung
war
bis
zur
der
Wirkung
Jahrtausendwende
von
im
Wesentlichen von der Einschätzung geprägt, die das Institute of
Medicine (1999) und im Gefolge in Deutschland Rommelspacher
(2000, 2002) vorgenommen hatten. Dabei wurden von beiden
Instanzen jeweils nicht alle möglichen bzw. erhofften Wirkungen
des Cannabis beurteilt.
Beginnen wir mit dem Institute of Medicine
F6
Institute of Medicine
Die Beurteilung durch Rommelspacher (2000, 2002), der sich
intensiv mit dem Problem befasst hat, ist ebenfalls ernüchternd:
Die Datenlage ist einfach mager.
F7
Rommelspacher, 2000
Ich selbst habe eine Zusammenfassung auf dem Stand von 2005
verfasst, und auch hierbei bin ich nicht auf überzeugende
empirische
Belege
für
die
Wirksamkeit
von
Cannabisinhaltsstoffen bei einer der ursprünglich propagierten
Indikationen gestoßen.
F8
Täschner, 2005
Dabei sollte man es aber nicht belassen, denn wir schreiben
mittlerweile 2011, und es war geboten, den Stand der Dinge zu
______________
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aktualisieren. Darum habe ich mich bemüht, und es ist mir sicher
nicht gelungen, einen vollständigen Überblick über die aktuelle
Datenlage zu gewinnen. Das, was ich aktuell herausgefunden
habe, will ich aber kurz mitteilen.
Zunächst:
Um welche Mittel geht es dabei? Was ist legalerweise auf dem
Markt?
F9
Cannabis als Arzneimittel
Um welche Wirkungen bei welchen Krankheiten geht es?
F10
Derzeitige Datenlage
Beginnen wir mit der Anwendung beim Glaukom. Hier sind immer
wieder zeitlich begrenzte Wirkungen in Richtung Absenkung des
Augeninnendrucks beobachtet worden. Allerdings bildet sich
gegen diese Wirkung relativ schnell Toleranz heraus. Es müssen
auch ziemlich hohe Dosen der Substanz eingesetzt werden.
Im Jahre 1999 kam das Institute of Medicine – wie erwähnt – zu
dem Schluss, es liege keine verlässliche Indikation vor. Die
Anwendung sei nicht evidenzbasiert. Die Datenlage ist schmal,
die Ergebnisse sind uneinheitlich, die Nebenwirkungen sind
gravierend,
die
Toleranzbildung
spricht
eher
gegen
eine
Anwendung in diesem Bereich, zumal es eine ganze Reihe
eingeführter Stoffe zur Behandlung des Glaukoms bereits gibt,
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die zuverlässig wirken und die beschriebenen Nachteile nicht
aufweisen.
In der großen Übersichtsarbeit von Galal, Slade und Mitarbeitern
(2009) wird dieser Status bestätigt. Man prüft derzeit in
Tierversuchen die Anwendung von Cannabisinhaltsstoffen zur
Behandlung
des
erhöhten
Augeninnendrucks,
es
gebe
kurzdauernde Wirkungen, man könne die Substanz einsetzen,
aber möglichst in Kombination mit bereits bewährten Mitteln.
Was die Anwendung beim Asthma betrifft, so wird in den
neuesten Studien (Galal und Slade, 2009, Greineisen, 2010)
zwar von vielfältigen Wirkungen insoweit gesprochen, aber
zugleich betont, dass eine sichere Beurteilung nicht möglich sei,
weil man erst noch weitere Grundlagenerkenntnisse abwarten
müsse. Bei beginnenden Atemwegsinfekten sei – vor allem im
Tierversuch
–
eine
Wirkung
zu
registrieren.
Viele
Einzelbeobachtungen sprächen zudem dafür, dass auch bei
chronischem
Asthma
mit
einer
immunologisch
verankerten
Entstehungskomponente therapeutische Wirkungen zu erwarten
seien, aber eine sichere Beurteilung sei eben noch nicht möglich.
Auch hier ist also die Hoffnung groß, dass eines Tages eine
therapeutische
Verwertbarkeit
der
Cannabisinhaltsstoffe
nachweisbar sein wird. Es heißt also abwarten.
Des Weiteren wird der Einsatz von Cannabisinhaltsstoffen als
Cytostatica diskutiert. Seit 1976 wurde immer wieder von dieser
______________
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Option gesprochen (Harris, 1976), ohne dass es greifbare
empirische Belege gab, dies gilt auch für den Einsatz bei
bestimmten
Leukämieformen
(Petersen,
1979).
Schon
bei
Grotenhermen (2001) indessen taucht diese mögliche Indikation
nicht mehr auf, und man wird auf diesem Gebiet wohl die
Hoffnung
aufgeben
müssen,
hier
noch
auf
verwertbare
Wirkungen zu stoßen.
Dies gilt in ähnlicher Weise auch für die in den 70er Jahren
erhoffte antibiotische Wirkung der Substanz. Auch hier ist es still
geworden, und in der neuesten Literatur taucht diese Option nicht
mehr auf. Die Ergebnisse von Cohen (1979) wurden nicht weiter
verfolgt, so dass wir auch diese Indikation ad acta legen müssen.
Wir kommen zur schlafanstoßenden Wirkung von Inhaltsstoffen
der
Cannabispflanze.
Hier
könnte
ja
bei
der
bekannten
sedierenden Wirkung ein gewisses Potenzial schlummern. Tut es
aber nicht, weil die Nebenwirkungen der Substanz, auf die ich
noch
zu
sprechen
gegenstehen
und
kommen
weil
die
werde,
Fülle
dem
bereits
weitgehend
auf
dem
entMarkt
befindlicher Hypnotika so erdrückend überlegen ist, dass sie
Cannabisinhaltsstoffen keinen Raum lässt. Deshalb gibt es aus
den letzten Jahren keine Untersuchungsergebnisse zu diesem
Thema, so dass wir auch diese Indikation ad acta legen müssen.
Nun zur sedierenden Wirkung. Auch hier sind die bisherigen
Erfahrungen bei der medizinischen Anwendung nicht ermutigend.
______________
Vortrag Graz, 21.01.2011
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Es bildet sich schnell Toleranz aus, die Dosis muss gesteigert
werden,
die
vorliegenden
Untersuchungsergebnisse
sind
teilweise widersprüchlich, die Vielzahl eingeführter Sedativa
bildet eine deutliche Barriere, eine überlegene Wirkung des
Cannabis ist nicht erkennbar, so ist auch dieses Indikationsgebiet
inzwischen seitens der klinisch-pharmakologischen Forschung
verlassen worden.
Wie sieht es nun mit der Analgesie aus? Hier war bis in die Zeit
vor 10 Jahren eine ausgeprägte Skepsis verbreitet. Man ging
davon aus, dass Cannabisinhaltsstoffe nicht stärker analgetisch
wirken als
Phenothiazinderivate,
ASS
oder Codein,
deren
schmerzstillende Wirkung bekanntermaßen relativ gering ist.
Noch Grotenhermen (2001) sagt in seinem Buch, es gebe kaum
Arbeiten, die verwertbare Erkenntnisse auf diesem Gebiet
enthielten.
Inzwischen gibt es aus den letzten Jahren Studien, die sich mit
der Behandlung neuropathischer Schmerzen vor allem bei der
MS befassen. Pöllmann und Feneberg (2008) referieren die
wesentliche
Literatur
zu
diesem
Thema
in
einer
großen
Übersichtsarbeit. Die Schwerpunkte der Behandlung liegen bei
den klassischen Schmerzmitteln wie Gabapentin, Lamotrigin,
Topiramat und Morphin. Es wurden aber auch einige Arbeiten
zitiert, die die Wirkung oral verabreichter Cannabisextrakte
untersuchen.
Die
Effekte
sind
nicht
einheitlich
und
verhältnismäßig schwach, die Evidenz der Ergebnisse gering. In
______________
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12
einer großen Studie an 667 Patienten kam es in 57 % der Fälle
zu einer Schmerzreduktion, insgesamt wurde bislang kein Vorteil
gegenüber
herkömmlichen
Substanzen
gesehen,
hier
liegt
weiterer Forschungsbedarf vor.
Fontelles und Garcia (2008) sprechen in diesem Zusammenhang
ebenfalls mehr von der Zukunft als von der Gegenwart. Es gibt
Hoffnung,
dass
Cannabisinhaltsstoffe
hilfreiche
Wirkungen
entfalten könnten, sie tun es bisher aber nur in Ansätzen. Es
bedarf
offenbar
weiterer
empirischer
Studien
zu
dieser
Fragestellung. Ähnlich äußern sich auch Hosking und Zajicek
(2008) und Rahn und Hohmann (2009). Aus der Übersichtsarbeit
von
Karst
und
Bernateck
(2008)
geht
hervor,
dass
bei
Schmerzpatienten mit Spastik bei MS vor allem eine subjektive
Wirkungskomponente Beachtung finden sollte, 15 mg THC bzw.
Nabilon entsprechen der Wirkung von ca. 90 mg Codein, es gab
schmerz-
und
spastikreduzierende
Effekte,
allerdings
auch
Nebenwirkungen in Form von Schwindel, Benommenheit und
Mundtrockenheit. Der Einsatz von Sativex als Mund-Nasen-Spray
wurde
von
der
kanadischen
Gesundheitsbehörde
für
die
Linderung chronischer Spastik und neuropathischer Schmerzen
bei MS zugelassen.
Bei der zweiten Forschungswerkstatt MS, die vom 19. bis
20.02.2010 in Leverkusen abgehalten wurde, findet sich im
Abstract-Band vom Oktober 2010 des Nervenarztes (NA 81
(2010) Suppl. 1, 1-49) kein Hinweis auf die Wirkung und den
______________
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13
Einsatz von Cannabisinhaltsstoffen, wobei die dort gehaltenen
Vorträge
gerade
innovative
Ansätze
in
besonderer
Weise
berücksichtigt haben.
Die
Durchsicht
der
pharmakologischen
großen
und
Übersichtsarbeit
therapeutischen
über
Inhalte
die
der
Cannabispflanze von Hanus (2008) lässt deutlich werden, dass
wir auch in den letzten Jahren noch immer von Erwartungen und
Hoffnungen leben, was die Anwendbarkeit von Cannabinoiden
als Heilmittel betrifft. Die Fülle der zitierten Arbeiten ist
erdrückend, aber ihr Inhalt zeigt, dass wir noch lange nicht dort
angekommen sind, wo wir eigentlich hinwollen: nämlich zur
Praxis und zur therapeutischen Anwendung.
Von
„therapeutischen
Zielen“
und
von
Chancen
und
Herausforderungen ist die Rede, vom „therapeutischen Potenzial“
und
immer
wieder
von
potenziellen
therapeutischen
Möglichkeiten, aber nur sehr selten von konkreten Ergebnissen.
Allerdings weist Hanus (2008) zugleich darauf hin, dass die
Anwendung von THC (etwa in Gestalt von Nabilon) schon mit den
70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts bekannt sei und
dass eine beachtliche antiemetische Wirkung bei der Behandlung
der
Nebenwirkungen
der
Chemotherapie
von
Krebs-
und
Immunerkrankungen existiere.
______________
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Dabei macht man sich die allgemein euphorisierende Wirkung
des Cannabis zunutze, die ja auch eine vorübergehende
antidepressive, sanft analgetische und leicht appetitsteigernde
Komponente enthält. Es erwies sich in der Tat, dass bei kritischer
Betrachtung und bei Zugrundelegung der empirischen Datenlage
der
Einsatz
gegen
Erbrechen
und
Übelkeit
bei
chemotherapeutischer Krebsbehandlung die praktisch einzige
Anwendung von Cannabinoiden ist, die ernsthaft für weitere
Untersuchungen überhaupt in Betracht kommt. Allerdings muss
hier die fatale Tendenz zur Toleranzbildung noch ausgeschaltet
werden. Die Wirkung der entsprechenden Medikamente lässt
nämlich sukzessive nach und muss durch Dosissteigerung
ausgeglichen
werden,
und
auch
Nebenwirkungen
wie
Schläfrigkeit und Schwindel sollten noch stärker zurückgedrängt
werden. Die Datenlage ist nach wie vor widersprüchlich, dies
geht vor allem aus den Arbeiten von Kienzle und Pfeilsticker
(2002) und von Stevens (2002) hervor. Es gibt also auch hier
weiteren Forschungsbedarf, aber durchaus Grund zu einer
optimistischen Betrachtung der Dinge.
In einer großen Meta-Analyse kommen indessen Machado Rocha
und Mitarbeiter (2008) zu dem Ergebnis, bei der Behandlung von
Nebenwirkungen der Chemotherapie des Krebses gebe es
durchaus eine Verbesserung des Befindens, aber der Umfang
der entstehenden Nebenwirkungen des Dronabinols, das hier
eingesetzt wurde, sei ebenfalls zu beachten. Es gebe auch keine
sichere Dosis-Wirkungsrelation. Bei manchen Patienten erwies
______________
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15
sich
Dronabinol
als
toxisch.
Wahn,
Halluzinationen
und
Depressionen traten in 5 bzw. 6 bzw. 13 % der Fälle auf. Die
Patienten
freilich
bevorzugten
Dronabinol
gegenüber
trizyklischen Neuroleptika und Haldol. Eine überlegene Wirkung
gegenüber herkömmlichen Psychopharmaka war indessen nicht
festzustellen.
Die
Anwendung
Appetitsteigerung
von
bei
Cannabinoiden
kachektischen
schließlich
und
zur
anorektischen
Patienten, vornehmlich aus der Gruppe der HIV-Infizierten bzw.
AIDS-Kranken muss sorgfältig abgewogen werden. Es steht
nämlich zu befürchten, dass die ohnehin schon derangierte
Immunsituation
dieser
Patientengruppe
auf
Kosten
einer
gewissen Appetitsteigerung noch weiter negativ beeinflusst
werden könnte (Greineisen und Turner, 2010).
Die Erfahrungen mit Dronabinol haben zu „wenig überzeugenden
Belegen“
geführt
(Rommelspacher,
2000).
Auch
bei
unterschiedlichen Dosierungsschemata profitieren nur einzelne
Patienten von der Gabe der Substanz und reagieren mit einer
Gewichtszunahme. Unter höheren Dosen treten unangenehme
Nebenwirkungen
auf,
Stimmungsverbesserung.
aber
Dieser
Effekt
oft
ist
auch
bei
eine
chronischen
Krankheiten durchaus zu beachten. Man darf freilich nicht
vergessen, dass es auch herkömmliche Medikationen auf diesem
Gebiet gibt, die eine überzeugende Wirkung entfalten.
______________
Vortrag Graz, 21.01.2011
16
Meine Damen und Herren,
die Durchsicht der wissenschaftlichen Literatur zum Thema zeigt,
dass wir bei heutigem Stand der Dinge nicht berechtigt sind,
Cannabinoide zum festen Bestand unseres Arzneimittelschatzes
zu rechnen, mit dem wir täglich umgehen. Schon die zahlreichen
immer wieder erwähnten positiven Wirkungen sind nicht wirklich
exakt nachweisbar, obwohl die Pflanze seit uralten Menschheitszeiten pharmazeutische Verwendung findet. Aber der Blick
auf
die
Nebenwirkungen
ist
noch
ernüchternder.
Die
Zusammenstellung von Rommelspacher (2000) gibt hier schon
deutliche Hinweise.
F11
Nebenwirkungen von THC als Arzneimittel (20 mg)
Aber auch neueste Arbeiten wie die von Galal (2009) und
Greineisen (2010) schlagen in die gleiche Kerbe
F12
Nebenwirkungen von Cannabis-Medikation
Hier sind vor allem Abhängigkeit und Entzugserscheinungen von
besonderer Bedeutung.
______________
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17
Der Überblick von Bonnet und Mitarbeitern (2010) in den
Fortschritten Neurol. Psychiat. bestätigt diese Feststellungen.
F13
Cannabisbezogene Störungen
F14
Cannabisbezogene Störungen
F15
Cannabisbezogene Störungen
Bei chronischem Konsum von Cannabinoiden wird es dann
vollends desolat, denn hier kommt die Cannabis-induzierten
Psychose ins Spiel, über die es mittlerweile eine ganze Reihe
von Arbeiten gibt, ich selbst habe mich lange Jahre mit diesem
Thema
beschäftigt
(Rausch
und
Psychose,
Kohlhammer,
Stuttgart 1980).
F16
Folgeschäden bei chronischem Konsum
Es tun sich aber auch Hindernisse auf, was die Verwendbarkeit
von Cannabinoiden ganz allgemein als pharmazeutische Mittel
betrifft.
F17
Mangelnde Eignung als Arzneimittel
Hier ließe sich zwar gewiss Einiges durch moderierende Eingriffe
in die Galenik, in die Darreichungsform oder vielleicht sogar am
Molekül verbessern, aber eine einfach zu handhabende Substanz
ist es eben nicht, und so stehen neben der schwachen Wirkung
und
den
starken
Nebenwirkungen
die
aufgeführten
______________
Vortrag Graz, 21.01.2011
18
pharmakologischen Grundeigenschaften der Substanz als dritter
Gegner einer breiten Anwendbarkeit derzeit im Wege.
Ich fasse zusammen:
Die Cannabispflanze und ihre Inhaltsstoffe gehören zum uralten
Arzneischatz der Menschheit. Die Wirkungen sind vielfältig,
liegen auf verschiedenen Gebieten der Medizin, aber sie sind bei
den
heute
geltenden
Ansprüchen
an
Arzneimittel
schwer
verwertbar. Die Nebenwirkungen sind bedeutsam und lassen
eine breite Anwendung zum heutigen Zeitpunkt nicht zu. Es
bestehen gleichwohl Hoffnungen und Erwartungen, Cannabinoide
vielleicht eines Tages als Arzneimittel einzusetzen, denn es gibt
ja durchaus auch ermutigende Ansätze.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit
______________
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19
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22
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