02-06. August 2004

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Manuskript
über die
versuchstierkundliche Blockvorlesung
der
Johannes Gutenberg-Universität
(02-06. August 2004)
Inhaltsverzeichnis
1.1.
1.1.1
1.1.2
1.1.3
1.1.4
1.1.5
1.1.6
1.1.7
1.1.8
1.2
1.2.1
1.2.2
1.2.3
1.2.4
1.2.5
1.2.6
1.2.7
1.2.8
1.2.9
1.2.10
1.2.11
1.2.12
1.2.13
1.2.14
1.2.15
1.2.16
Ethik und Tierversuche
Historische Entwicklung der Mensch -Tier- Beziehungen und ihr abrupter
Wechsel in den letzten 100 Jahren
Empfinden und Verantwortungsbewusstsein des Menschen gegenüber Tieren
Tiernutzungsbeschränkungen aufgrund christlicher Weltanschauung und
philosophischer Ethik
Gesellschaftlicher Auftrag zur ärztlichen Forschung und medizinischen
Ausbildung
Antiscientistische Strömungen in der Gesellschaft und Mißtrauen gegen Forscher
Ethische Handlungsprinzipien der experimentellen Medizin und der biologischen
Forschung
Die gesetzlichen Vorgaben zur Regelung des Konfliktes zwischen biomedizinischen
Forschung und Tierschutz
Literatur
Rechtliche Grundlagen tierexperimentellen Arbeitens
Überblick der rechtlichen Grundlagen
Im Deutschen Tierschutzgesetz berücksichtigte Tiergruppen
Erlaubnis nach §11 TierSchG für die Haltung von Wirbeltieren für wissenschaftliche
Zwecke
Tierschutzrechtliche Kategorien von Eingriffen an Tieren zu wissenschaftlichen Zwecken
Tierschutzrechtliche Legalisierung von wissenschaftlichen Eingriffen an Tieren
Kardinalforderungen des Deutschen Tierschutzgesetzes
Kardinalforderung „Narkose“
Kardinalforderung „Sachkunde der durchführenden Personen“
Kardinalforderung „Beschränkung auf das unerlässliche Maß“
Kardinalforderung „Wissenschaftlicher Zweck“
Kardinalforderung „Durchführung der Versuche an phylogenetisch möglichst niedrig
stehenden Tieren“
Weitere Forderungen des TierSchG
Aufzeichnungspflicht
Versuchstiermeldung
Übersichtstabelle
Literatur
2.
2.1
2.2
2.2.1
2.2.1.1
2.2.1.2
2.2.2
2.2.3
2.3
2.4
2.5
2.6
2.7
2.7.1
2.7.2
2.7.3
2.7.4
2.7.5
Vergleichende Anatomie und Physiologie von Versuchstieren
Zentralnervensystem (ZNS)
Sinnesleistungen und Sinnesorgane
Physiologie des Riechens und Schmeckens - „chemische Sinn“
Geschmacksinn - Schmecken
Geruchssinn -Riechen
Mechanorezeption - Hören
Lichtrezeption - Sehen
Integument (Haut):
Atmung
Blutkreislaufsystem (BKS)
Verdauungstrakt
Biologie und Verhalten von Versuchstieren
Labormaus (Mus musculus domesticus)
Laborratte (Rattus novegicus)
Kaninchen (Oryctolagus cuniculus)
Südafrikanischer Krallenfrosch (Xenopus laevis)
Zebrafisch, Zebrabärbling (Danio rerio)
3.
3.1
3.2
3.3
3.4
3.5
3.6
3.7
3.8
3.9
3.9
3.10
3.11
3.12
3.13
Zucht und Genetik
Allgemeine Einführung in die Genetik
Nomenklatur zur Kreuzung von Versuchstieren
Ingezüchtete Stämme
Koisogene Stämme
Kongene Stämme
Sogenannte “Speed-kongene“ Stämme
Segregierende Inzuchtstämme
Hybriden
Rekombinante Inzuchtstämme
Rekombinante Inzuchtstämme
Ausgezüchtete Stocks (Auszuchtstämme)
Embryotransfer bei der Spezies Maus
Anwendungsgebiete des Embryotransfers bei der Spezies Maus
Literatur
4.
4.1
4.2
4.3
4.4
4.5
4.6
4.7
4.8
4.9
4.10
4.11
4.12
4.13
4.14
4.15
Pflege und Haltung der wichtigsten Versuchstierarten
Möglichkeiten der Standardisierung von Tierversuchen
Haltungssysteme
Richtlinien für Maushaltung
Richtlinien für Rattenhaltung
Richtlinien für Meerschweinchenhaltung
Richtlinien für Kaninchenhaltung
Fütterung
Tränkung
Klima
Beleuchtung
Geräusche, Lärm
Angereicherte Tierhaltungsumgebung („Environmental Enrichment“)
Gesundheitskontrolle
Transport von Tieren
Weiterführende Literatur
5.
5.1
5.2
5.3
5.4
5.5
5.6
5.7
Hygiene in Versuchstierhaltungen
Bedeutung des mikrobiologischen Status von Versuchstieren
Mikroflora von Versuchstieren
Versuchstierkundliche Hygieneniveaus
Gnotobiotische Tierhaltung
Spezifisch bzw. spezifiziert Pathogen-freie (SPF) Tierhaltung
Konventionelle Tierhaltung
Literatur
7.1
7.1.1
7.1.2
7.1.3
7.1.4
7.1.5
7.1.6
Schmerzen, Leiden, Schäden
Wohlbefinden
Schmerzen
Leiden
Schäden
Erkennen tierischer Schmerzen, Leiden oder Schäden
Literatur
7.2
7.2.1
7.2.2
7.2.3
7.2.4
7.2.5
7.2.6
7.2.7
7.2.8
7.2.9
7.2.10
7.2.11
7.2.12
7.2.13
Anästhesie bei Versuchstieren
Definitionen
Narkosevorbereitung
Applikationsmöglichkeiten einer Narkose
Injektionsnarkose
Beispiele häufig eingesetzter Substanzen zur Injektionsnarkose
Inhalationsnarkose
Beispiele für Inhalationsanästhetika
Komplikationen während der Narkose
Aufwachphase
Narkoseüberwachung
Einteilung der Narkosestadien nach Guedel
Beispiele für mögliche Injektionsnarkosen bei kleinen Versuchstieren
Literatur
8.
8.1.
8.1.1.
8.1.2.
8.1.3.
8.1.4.
8.1.5.
8.1.6.
8.2
8.3
8.3.1
8.3.2
8.3.3
8.3.4
8.3.5
8.3.6
Applikationen und Probenentnahmen
Blutentnahmen bei Versuchstieren
Allgemeine Informationen
Bestimmung der maximal zu entnehmenden Blutmenge
Gebräuchliche Techniken der Blutentnahme bei Maus und Ratte
Gebräuchliche Techniken der Blutentnahme beim Kaninchen
Belastungen durch Blutentnahmen
Literatur
Gewinnung von Kot und Urin
Injektionstechniken
Allgemeine Informationen
Orale Applikationen bei Maus, Ratte und Kaninchen
Intravenöse Applikationen bei Maus, Ratte und Kaninchen
Intraperitoneale Applikationen bei Maus, Ratte und Kaninchen
Intramuskuläre Applikationen Ratte und Kaninchen
Subcutane Applikationen bei Maus, Ratte und Kaninchen
9.
9.1.
9.2.
9.3.
9.4.
9.5.
9.6.
9.7
Grundlagen chirurgischen Arbeitens
Definition
Anforderungen bei operativen Eingriffen bei Versuchstieren
Räumliche Voraussetzungen für die Durchführung von Operationen bei Versuchstieren
Antisepsis und Asepsis
Voraussetzungen bei operativen Eingriffen
Beispiele operativer Eingriffe bei Labornagern
Literatur
10.
10.1
10.2
10.3
10.4
10.5
10.6
10.7
10.8
10.9
10.10
10.11
10.12
10.13
10.14
10.15
10.16
Töten von Versuchstieren
Maus
Ratte
Hamster
Meerschweinchen
Kaninchen
Katze
Hund
Frettchen, Nerz
Schwein, Schaf, Ziege
Tupaias u. höhere Primaten
Vögel/Geflügel
Frösche und Molche
Schildkröten
Schlangen
Fische
Abzulehnende Tötungsmethoden
Ethik und Tierversuche
Prof. Dr. med. vet. Klaus Gärtner
1.1. Ethik und Tierversuche
(geringfügig modifiziert nach:
K. Gärtner (1991) Mensch-Tier-Verantwortung, Komponenten einer Entscheidungsethik bei der Nutzung von
Tieren im wissenschaftlichen Versuch; in: Qualitätskriterien der Versuchstierforschung, K. Gärtner (ed), VCH,
Weinheim)
1.1.1 Historische Entwicklung der Mensch -Tier- Beziehungen und ihr abrupter Wechsel in
den letzten 100 Jahren
Illies (1977) hat in seiner Anthropologie des Tieres eine übersichtliche Zusammenstellung über
den Wandel der Mensch-Tier-Beziehungen in europäisch mediterranen Kulturkreisen in den
letzten 10.000 Jahren gegeben. Erst mit der Entwicklung von primitiven Waffen, wie Schleudern
und Speeren, gelingt es dem sonst benachteiligten steinzeitlichen Homo sapiens, sich
einigermaßen gegenüber Raubtieren zu wehren und auch größere Tiere als Jagdbeute zur
Ernährung zu erlegen. Das ist die Situation seit der Menschwerdung bis etwa vor 10.000 Jahren.
Danach finden wir erste Hinweise für das Entstehen von Haustieren. Absichtlich nimmt der
Mensch nun Tiere in seinen allernächsten Lebenskreis auf und nutzt sie bei der Jagd oder für
Nahrung, Bekleidung und Fortbewegung. Es findet eine gegenseitige Adaptation für das
Umgehen miteinander statt. Durch eine vom Menschen gesteuerte Zuchtwahl wurden in über 5
000 bis 7 000 Jahren aus einigen Säugerspezies, die vornehmlich sozial lebend sind, Sublinien
auf Zahmheit und besonderen Nutzwert entwickelt. Das sind die Haustiere. Diese Tiere lernen
leicht, die Informationssignale des Menschen zu verstehen. Sie reduzieren die Ausstattung ihres
zentralen Nervensystems, insbesondere solche für das Aggressionsverhalten und für die Angst
gegenüber dem Menschen. Auch die Menschen werden sich adaptieren; unter ihnen findet sicher
eine Selektion statt. Bevorzugt sind solche, die besondere Gesundheitsdisposition und Verstand
für den Umgang mit Tieren haben. Diesem Selektionsprozess unterliegen in unseren Breiten
unsere Vorfahren über 300 bis 400 Generationen lang. Anfang des 19. Jahrhunderts beginnt eine
vorsichtige Auflösung der so erfolgreichen Lebens-, Wohn- und Arbeitsgemeinschaft des
Menschen mit Haus- und Nutztieren. Die wachsende Industrialisierung bedingt Abwanderung
von Bevölkerungsgruppen in Ballungszentren. Jedoch bleibt in größeren Städten bis in das Ende
des 19. Jahrdunderts hinein der tägliche Kontakt mit Nutztieren zunächst erhalten. In der ersten
Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden die Zugtiere verdrängt, in den späten 50er Jahren bedingt die
Verbilligung von Nahrungsmitteln sowie die weitere Stadtentwicklung eine völlige Entleerung
der Städte auch von der Haltung von Kühen in Melkbetrieben, Hausschweinen und Legehühnern
in Stadtrandsiedlungen. Innerhalb der letzten 100 Jahre findet eine deutliche Abwanderung der
deutschen Bevölkerung aus Gemeinden, die weniger als 5 000 Einwohner haben, in größere statt.
1
Ethik und Tierversuche
Prof. Dr. med. vet. Klaus Gärtner
Während 1870 noch mehr als 70 % der Bevölkerung in kleinen ländlichen Gemeinden
Alltagskontakt mit Nutz- und Haustieren hatten, sind es 1983 weniger als 7 % der
Gesamtbevölkerung.
Eine Analyse der Beziehungen von Mensch und Tier im Jahre 1988 musste diese enormen
Änderungen der Wohn- und Lebensbedingungen berücksichtigen, die innerhalb von drei
Generationen zu einem völligen Verlust des direkten und intensiven Kontaktes fast aller
Menschen mit Nutztieren geführt haben, an die sich der Homo sapiens gewollt oder nicht gewollt
in fast 300 Generationen in täglicher Arbeits- und Wohngemeinschaft adaptiert hatte, wenn er
überleben wollte. Unter den neuen großstädtischen Lebensbedingungen bleibt das Bedürfnis, mit
Tieren zusammenzuleben, bei einem Teil der Bevölkerung erhalten und findet sich dort
rudimentär und modifiziert in Form individueller Heimtierhaltung. In 50 % aller Haushalte der
meisten europäischen oder nordamerikanischen Länder findet sich irgendein Heimtier, wobei
Hunde, Katzen und Vögel besondere Zuneigung genießen. Es kommt zum nahezu völligen
Verlust des Kontakts zwischen Menschen und Nutztier. Besondere Verhaltensformen des
Menschen, die er für die für ihn lebensnotwendige Nutzung der Tiere entwickelt hat, wurden
nicht mehr benötigt und gingen verloren. Das wird im nächsten Kapitel erörtert.
1.1.2 Empfinden und Verantwortungsbewusstsein des Menschen gegenüber Tieren
Die Empfindungen des Menschen gegenüber Tieren lassen sich auf einer Skala auftragen, deren
einer Pol durch das Extrem “kollektive, anonyme Beziehung“ und deren anderer Pol durch den
Begriff der „Du-Evidenz“ beschrieben wird. Ist der erste Pol durch Anonymität, Vermeidung
von Spontankontakt und Reduzierung der Fürsorge auf technisch-nützliche Bedingungen
gekennzeichnet, so ist der andere Pol durch persönliches, individuelles Kennen, Namensgebung,
das Bedürfnis zur spontanen körperlichen Kontaktaufnahme, durch starkes Fürsorgeempfinden
und Opferbereitschaft des Menschen für das Wohlergehen eines Tieres charakterisiert.
Hat sich an diesem Verhältnis durch den beschriebenen Wandel des Kontakterlebnisses zu
Tieren – vom Nutztier zum Heimtier – etwas verändert? Gehrke und Wiezorrek (1982) fanden,
dass Personen, die mit Nutztieren aufgewachsen waren, unbewusst eine raffinierte
Abschirmungsstrategie gegenüber Gewissensbelastungen ausgebildet hatten, die bei der Tötung
oder anderer Belastung von Tieren entsteht und die andere Personen, die nur mit Liebhabertieren
aufgewachsen waren, nicht besaßen. Sie beruht darauf, die Beziehung zu solchen Tieren auf
einem anonymen, kollektiven, unpersönlichen Stand zu halten. Solche Personen unterlassen zum
Beispiel Namensgebung der Tiere und Äußerungen des gegenseitigen engen Vertrautseins wie
Streicheln und Anfassen aus reiner Kontaktfreude. Das heißt, sie bauen keine „ Du-Evidenz“ zu
solchen Tieren auf. Aus anderen Untersuchungen ist bekannt, dass solche Du-Beziehungen eine
2
Ethik und Tierversuche
Prof. Dr. med. vet. Klaus Gärtner
viel größere Gewissensbelastung für den Menschen bringen, wenn er später solche Tiere
schlachten soll oder ihnen anderweitige Belastungen oder Schäden zufügen muß. Dem Aufbau
von engen Du-Beziehungen gegenüber Nutztieren entziehen sich solche Personen unbewußt, die
im Umgang mit Nutztieren aufgewachsen sind. Bei ihnen ist noch eine Strategie zur Dämpfung
von Schuldempfinden Nutztieren gegenüber erhalten, die die Generationen vor uns sicher in sehr
viel größerem Maße besaßen.
Die heutigen Großstadtmenschen können diese Abschirmstrategie offenbar kaum noch
entwickeln. Sie bauen zu fast jedem Tier nur noch individuelle soziale Beziehungen auf, die den
Charakter von Du-Evidenzen besitzen. Die Schwelle der Schuldempfindung Tieren gegenüber ist
damit viel sensibler geworden.
Leider liegen dazu bisher nur wenige Untersuchungen vor. Befragungen hannoverscher Bürger
in
einer
größeren
sozialempirischen
Studie
lassen
etwa
folgende
Verteilung
des
unterschiedlichen Fürsorge- und Verantwortungsempfindens von Großstadtbürgern vermuten
(Die Ergebnisse resultieren aus Fragen, in denen die Probanden verbal mit Situationen im
Umgang mit Tieren konfrontiert wurden und dazu ihre Lösungsvorschläge zu unterbreiten
hatten.) Eine Großstadtbevölkerung besitzt zu etwa 10% Personen, die Tieren gegenüber ganz
besonders Schuldempfinden haben und bereit sind, durch persönlichen Einsatz und eigene Opfer
an Zeit und Geld Tieren zu helfen. Ein Großteil dieser Bevölkerungsgruppe waren Heim- und
Nutztierbesitzer. Einem solchen Personenkreis mit aktivem Engagement Tieren gegenüber
stehen etwa 12 % bis 15 % gegenüber, für die das Zusammenleben mit Tieren, auch in lockerer
Gesellschaft, eher lästig ist; 18% sind Tieren gegenüber sehr indifferent, bei ihnen konnte weder
Ablehnung noch Zuneigung festgestellt werden. Für eine große Gruppe von ca. 70% gilt, dass sie
ein waches Verantwortungsbewußtsein für Tiere haben und eine Novellierung des
Tierschutzgesetzes für wichtig halten.
Das untersuchte Schuld- und Verantwortungsgefühl der Bevölkerung gegenüber Tieren zeigt
eine auffällige Speziesabhängigkeit (Gehrke und Wiezorrek 1982, Tamir und Hamo, 1980).
Affen, Hunde und Katzen als Spezies mit ausgeprägten Kommunikationstalenten gegenüber dem
Menschen werden als besonders schutzwürdig empfunden. Bei landwirtschaftlichen Nutztieren,
wie Schaf und Schwein, bestehen geringere Neigungen des Menschen, zu ihnen individuelle
Sozialkontakte in Form von Du-Bindungen, Namensgebungen usw. aufzubauen. Diese Tierarten
sind in unserer Vorstellung offenbart eher dazu bestimmt, ihr Leben für uns lassen zu müssen.
Ratte und Maus haben die geringsten Schutzerwartung bei den Säugetieren. Auch die
Körpergröße der Tiere hat einen gewissen Einfluss auf die Schutzerwartung insofern als kleine
Tiere am Ende der Skala rangieren. Die nicht-säugenden Wirbeltiere (Fische, Amphibien,
3
Ethik und Tierversuche
Prof. Dr. med. vet. Klaus Gärtner
Reptilien und Vögel) haben eine deutlich geringere Schutzerwartung im Vergleich zu den
Säugern. Die Invertebraten haben die geringste menschliche Protektion zu erwarten.
1.1.3
Tiernutzungsbeschränkungen
aufgrund
christlicher
Weltanschauung
und
philosophischer Ethik
Hierzu existiert ein breites Spektrum von Standpunkten, das in jüngster Zeit wiederholt
ausführlich beschrieben wurden (Teutsch, 1975, Patzig 1986). Es reicht von der Einordnung der
Tiere als seelenlose Reflexmaschinen (Descartes) bis zum Zugestehen der Qualität eines
Bruders. Patzig (Patzig 1986) ordnet sie in zwei Klassen von Begründungsansätzen:
-die religiös oder metaphysisch fundierten Begründungsansätze,
-die rational argumentierenden Begründungsansätze.
In der ersten Gruppe ist der für unsere europäische Tradition kennzeichnende christliche, jedoch
weitgehend auf alttestamentarischen Vorstellungen beruhende Ansatz von Bedeutung. Durch
Gottes Gebot wird die Statthalterschaft des Menschen über die Natur begründet. Die
menschliche Überlegenheit -vom göttlichen Auftrag gesichert– gibt Macht, aber diese Macht
legitimiert nicht ein unbeschränktes Recht über das Tierreich. Sie verpflichtet den Menschen zur
„königlichen Fürsorglichkeit“, wie es der exakte sprachliche Hintergrund im Hebräischen für die
übliche kurze deutsche Übersetzung „herrsche“ (1, Moses 1.28 ) sein soll (Krapp, 1986).
In der zweiten Gruppe mit rein rationalen Begründungsansätzen muss unterschieden werden
zwischen
anthropozentrischen
Begründungsansätzen
und
solchen,
die
auf
dem
Gleichheitsprinzip beruhen. Beide sollen im folgenden nur kurz skizziert werden.
Von Bedeutung für den anthropozentrischen Ansatz ist insbesondere die Argumentation Kants.
Aus Gründen der Vernunft ist es gleichzeitig, was der Mensch mit den Tieren tut, denn alle sind
von Gott, seiner Herrschaft unterworfen. Es liegt jedoch nahe, dass derjenige, der mit den Tieren
Mitgefühl zeigt, dadurch empfänglicher wird für Gefühle des Erbarmens den Menschen
gegenüber. Die Pflicht zur Vermeidung grausamer Behandlung von Tieren ergibt sich, weil sonst
auch das Mitgefühl gegenüber dem Menschen abstumpft und diese natürliche Anlage gegenüber
Menschen geschwächt und ausgetilgt werden könnte. Schopenhauer lehnt schon bald diesen
Ansatz ab und zielt auf einen Gleichheitsgrundsatz.
Der Gleichheitsgrundsatz wird mit metaphysischer Begründung durch Albert Schweitzers
Prinzip von der „Ehrfurcht vor dem Leben“ in eher extremer Weise charakterisiert. Dabei ist
Schweitzer so konsequent, dass er sich als Mörder von Bakterien bezeichnet, wenn er z.B. durch
Gaben von Sulfonamiden einen Menschen von einer gefährlichen Infektionskrankheit befreit.
Jeder, der Leben vernichtet oder beschädigt, aus welchen Gründen auch immer, handelt nach
Albert Schweitzer böse und lädt moralische Schuld auf sich. Bei Entscheidungszwang kann der
4
Ethik und Tierversuche
Prof. Dr. med. vet. Klaus Gärtner
Mensch dem Lebenswillen aller Lebewesen nicht entsprechen. In allen solchen Situationen
macht er sich schuldig.
Zu entscheiden ist zwischen Schuldlasten. Sie zwingen unter Umständen zur „grausigen
Notwendigkeit“ des Tierversuches in bestimmten Fällen.
Sehr viel nüchterner wird der Gleichheitsgrundsatz zur Zeit diskutiert (Patzig, 1986): Gleiches
wird gemäß seiner Gleichheit gleich bewertet und muß gleich behandelt werden. Ungleiches darf
entsprechend seiner Ungleichheit unterschiedlich behandelt werden (Patzig, 1986). Im Umgang
mit Tieren heißt das, das Vernunftprinzip verpflichtet mich, Interessen, die ich bei mit selbst als
realisierungswürdig betrachte, bei allen anderen Individuen, die die gleichen Interessen haben,
als realisierungswürdig anzuerkennen. Das gilt generell wohl in erster Linie gegenüber anderen
Menschen. Es scheint jedoch nicht rational begründbar, warum wir in Hinsicht auf den Anspruch
auf Schmerzvermeidung einen radikalen Unterschied zwischen Mensch und nichtmenschlichen
Lebewesen machen dürfen. Solange diese sich eindeutig so verhalten, dass wir annehmen
müssen, auch sie könnten Schmerz und Lust, Behagen und Not und Angst empfinden (Patzig,
1986). Das Gleichheitsprinzip endet bei solchen Individuen, bei denen offenbar keine Schmerzund Leidensfähigkeit vorhanden ist. Dort, wo wesentliche Unterschiede zwischen menschlichen
und nichtmenschlichen Lebewesen bekannt sind, verliert das Gleichheitsprinzip seine
Bedeutung.
So
soll
beim
Menschen
die
Leidensfähigkeit
angesichts
seines
Erinnerungsvermögens und seiner Zukunftserwartung in ihrer Qualität von der des Tieres
verschieden sein. Das gilt auch für den Verlust des Lebens. Nur der Mensch hat ein Bewußtsein
der ständigen Bedrohung seines Lebens durch den Tod, nur er hat eine „Biographie“. Ihm ist sein
eigenes Sterbenmüssen bewußt. Er weiß um die Begrenzung seines persönlichen Daseins durch
Geburt und Tod. Tiere haben ein begrenzteres Bewußtsein. Sie erleben sich vornehmlich im
Präsens. Sie haben keine „Biographie“, kein persönliches Lebensziel. Der Verlust seines Lebens
ist für ein Tier unerheblich, da es keine Zukunftsprojektion hat (Hoff, 1980, Spaemann, 1985).
Das ist eine Beurteilung durch die Philosophen, zu der die Biologie meines Wissens noch nicht
Stellung genommen hat, trotz mancher Erkenntnisse über die Bewußtseinshorizonte bei Tieren.
Es gibt eine Fülle von persönlich schattierten Standpunkten verschiedener Philosophen zur
Verantwortung Tieren gegenüber, auf die im weiteren nicht mehr eingegangen wird. Auch gibt
es inzwischen die politisch-plakative Bezeichnung „Tierschutzethik“ (Teutsch, 1987). Sie ist ein
Postulat vornehmlich auf der Basis der Mitgeschöpflichkeit oder der Brüderlichkeit. Etwa alle
philosophischen Standpunkte basieren auf individualethischen Konzepten. Nirgends ist die
Konfrontation mit der Gruppenethik deutlich herausgearbeitet, mit der Ärzte und
Naturwissenschaftler konfrontiert sind.
5
Ethik und Tierversuche
Prof. Dr. med. vet. Klaus Gärtner
1.1.4 Gesellschaftlicher Auftrag zur ärztlichen Forschung und medizinischen Ausbildung
Auftrag der Gesellschaft an die Universitäten und Bildungseinrichtungen ist es, Forschung und
Lehre in den verschiedenen Disziplinen aktuell und fruchtbar zu betreiben. Das gilt auch für die
medizinischen und biologischen Disziplinen. Die Erwartung der Gesellschaft auf entsprechende
Forschungsresultate ist hier hoch. Das ist begründet durch den Einfluss biomedizinischer
Forschung auf die klinische Medizin in den letzten 150 Jahren. Es gelang, Infektionskrankheiten
innerhalb der westlichen Industienationen fast völlig zu beherrschen, unsere durchschnittliche
Lebenserwartung um ca. 15 bis 20 Jahre zu verlängern, die Sterberate der Neugeborenen unter
ein Prozent zu senken, durch die Beherrschung von Tierseuchen die Gefahr von Hungersnöten in
unseren Breiten auszuschließen. Die heutigen Möglichkeiten der Chirurgie am Knochen, am
Herzen, zur Transplantation von Organen, die Behandlung endokriner Krankheiten, die Hilfe
durch Psychopharmaka oder Immuntherapie sind hier zu erwähnen.
Die Erwartungen an den forschenden Arzt sind weiterhin hoch. Sie gelten insbesondere der
Therapie chronischer Knochen- und Gelenkerkrankungen, chronischer Stoffwechsel- und
Gefäßerkrankungen und des Krebses. Für das Betreiben solcher Forschungen weisen ihm die
ärztliche Ethik, die Erfahrungen der forschenden Disziplinen und die Deklaration von Helsinki
(52. WMA, General Assembly, Edinburgh, Scottland 2000) den Handlungsspielraum. Sie
zwingen ihn für die wissenschaftliche Bearbeitung mancher Fragestellungen zum Einsatz von
Versuchstieren. Das war bisher fast immer am Anfang der Bearbeitung eines neuen medizinischbiologischen Poblemfeldes der Fall. Der Tierversuch war meist eine Einstiegsmethode. Nach
Kenntnis von Detailzusammenhängen wurde er verlassen und an den nun bekannten
Subsystemen weitergearbeitet. So wechselte die Bakteriologie von Meerschweinchen zur Zeit
Robert Kochs zu den Nährböden heute, die Pharmakologie von Ganztier zum isolierten Organ
usw. (Gärtner 1986a, Gärtner 1986b, Gärtner 1986c).
Der ethische Konflikt, unter dem der Forscher beim Einsatz von Versuchstieren steht, ergibt
sich, weil er nicht nur eine persönliche, sondern auch eine überpersönliche Verantwortung trägt.
Albert Schweitzer formuliert dazu, dass er unter Umständen „in eine Situation kommt, in der er
nicht nur für sich selbst, sondern für eine Sache verantwortlich ist und zu Entscheidungen
gezwungen ist, welche mit seiner persönlichen Moral in Konflikt geraten“. Er ist eingebunden in
eine Gruppenethik, die in der Diskussion über den Tierversuch aus der Sicht der philosophischen
und religiösen Ethik meist ausgeklammert wird. Für die zur Bewältigung dieses Konfliktes
entwickelten Handlungsprinzipien sind die folgenden Überlegungen ebenfalls von Bedeutung.
Aus zwei Gründen werden Tiere, insbesondere Wirbeltiere, in der Medizin und biologischen
Forschung eingesetzt. Einmal kann man nur Wirbeltiere so züchten, ernähren und halten, dass
genormte und standardisierte Ausgangsbedingungen für die schlüssige Überprüfung einer
6
Ethik und Tierversuche
Prof. Dr. med. vet. Klaus Gärtner
Hypothese bestehen. An Wildfängen oder gar am Menschen ist das praktisch unmöglich.
Zweitens sind die experimentell zu prüfenden Hypothesen vor allem in der Krankheits- und
Therapieforschung für den Menschen oft risikoreich, so dass Tiere hier als Stellvertreter für den
Menschen die Last des Risikos übernehmen. Das ist eine Frage der ärztlichen Ethik. Tiere sind
Stellvertreter für das Überlebensrisiko des Menschen. In keinem Falle sind sie Stellvertreter, an
denen die Schmerzhaftigkeit eines Eingriffs ausprobiert wird. Auf diesen Sachverhalt ist
wiederholt ausführlich eingegangen worden (Ullrich und Frömter, 1985, Schoeppe, 1985,
Brendel, 1985, Schaumann, 1985, Greim, 1985, Hörnicke 1985, Creutzfeldt 1985, Riecker
1985).
1.1.5 Antiscientistische Strömungen in der Gesellschaft und Mißtrauen gegen Forscher
Zwei konträre Motive beeinflussen die Tierschutzgesetzgebung und die öffentliche Diskussion
der Nutzung von Tieren für die Wissenschaft seit über 100 Jahren. Das ist
-einmal die Sorge um den Schutz von Tieren als Mitlebewesen,
-zweitens Wissenschaftsfeindlichkeit in ihren verschiedenen Spielarten.
Argwohn gegen den Einsatz von Tieren in der biomedizinischen Forschung wird sehr häufig
begründet mit dem Zweifel an der Übertragbarkeit von Ergebnissen, die an Tieren gewonnen
worden sind, auf den Menschen. Er wird außerdem meist begründet mit dem Zweifel an der
Reproduzierbarkeit von im Tierversuch gewonnenen quantitativen Resultaten. Daneben haben
gewisse Gruppen der Gesellschaft immer wieder und laut Mißtrauen gegen die Redlichkeit der
Forscher geäußert. Sie meinen, dass sie Tierversuche nicht aus wissenschaftlicher
Erforderlichkeit betreiben, sondern diese zur Befriedigung sadistischer Abartigkeiten möglichst
unter Ausschluß der Öffentlichkeit durchführen (Stiller und Stiller, 1976) oder nur aus
Karrierebestreben, dass sie Tierversuche für unsinnige Fragestellungen machen oder immer
wieder Fragestellungen mit Tierversuchen bearbeiten, die schon lange entschieden sind oder für
die es Ersatzmethoden an schmerzfreier Materie gibt.
Der Einfluss der Misstrauensargumente auf die Tierschutzgesetzgebung in Deutschland ist
außerordentlich groß. Fast alle Ergänzungen, die zur Goßlerschen Verordnung (1983) für den
Tierversuch in den Tierschutzgesetzen 1933, 1972, 1986 und 1998 hinzugekommen sind, zielen
auf polizeiliche Maßnahmen zur Überwachung der fünf Kardinalforderungen dieser Verordnung
(Narkosepflicht, nur Sachkundige, nur unerlässliche Belastungen, nur ernste wissenschaftliche
Fragen, höhere Spezies – mehr Schutzanforderung) ab.
1883, in der Goßlerschen Verordnung, wurde unterstellt, dass Wissenschaftler in
Eigenverantwortung diese fünf Kardinalforderungen wirklichen Tierschutzes berücksichtigen.
Bei Übertretung erwartete man Anzeige und Bestrafung aufgrund des Reichsstrafgesetzbuches.
7
Ethik und Tierversuche
Prof. Dr. med. vet. Klaus Gärtner
1933 finden die immer wieder genannten Zweifel, dass Übertretungen nicht angezeigt würden,
ihren Niederschlag in der Gesetzesauflage, dass alle Institute, die tierexperimentell forschen
wollen, dafür eine Generalerlaubnis einholen müssen und regelmäßig durch Polizeibehörden
überwacht werden. 1972 findet das öffentliche Mißtrauen, dass Versuche häufig ohne
wissenschaftliche Relevanz und mit gewollter Grausamkeit durchgeführt werden, weiteren
Einfluß auf die Gesetzesformulierung. Nunmehr muss jeder einzelne Forschungsplan durch die
Aufsichtsbehörde vor Beginn der Forschung genehmigt sein. Regelmäßige Besuche durch den
Amtstierarzt sollen sicherstellen, dass Entgleisungen nicht stattfinden. Die Protokolle über
durchgeführte Tierversuchsvorhaben müssen der Behörde auf Verlangen ausgehändigt werden.
1986 führt eine langjährige diskriminierende Diskussion über die biomedizinische Forschung zur
weiteren bürokratischen Verschärfung. Es wird vermutet, dass der Aufsichtsbehörde Verstöße
entgehen. Verschärft werden die Antragsbedingungen und enorm vergrößert der erforderliche
bürokratische Aufwand ihrer Beurteilung. Die Polizeibehörde wird nunmehr entscheiden, ob die
mit dem Tierversuch verfolgten wissenschaftlichen Fragestellungen erforderlich und sinnvoll
sind. Den Wissenschaftlern wird das Recht auf Eigenverantwortung völlig entzogen. Die
Entscheidung der Aufsichtsbehörde erfolgt unter Beratung einer Kommission, von der ein Drittel
durch Tierschutzverbände und antivivisektionistische Organisationen vorgeschlagen ist und die
Laien sein dürfen. Die verbleibenden beiden Drittel sollen von Medizinern und Biologen besetzt
werden, jedoch haben Forschungseinrichtungen hierfür kein Vorschlagsrecht. Betriebsinterne
Tierschutzbeauftragte müssen eingestellt werden. Spezielle Protokolle werden erforderlich. Als
erfolgreiche Strategie des Antiscientismus im Gewand der Tierschutzidee hat sich immer mehr
die Lähmung von Forschung durch aufwendige Bürokratie herausgestellt. Die Unnötigkeit
solcher Gesetzesauflagen aus der Sicht eines wirklichen Tierschutzes wird deutlich daran, dass
es offenbar keine gehäuften Verstöße gegen die Grundprinzipien der Goßlerschen Verordnung
gegeben hat; denn innerhalb der letzten 20 Jahre hatten weniger als ein Prozent der aufgrund des
Tierschutzgesetzes
in
Deutschland
ausgesprochenen
Bestrafungen
den
Umgang
mit
Versuchstieren zum Anlaß (Gärtner 1986b).
1.1.6 Ethische Handlungsprinzipien der experimentellen Medizin und der biologischen
Forschung
Für den Konflikt, Tiere in der Forschung einzusetzen, haben die Wissenschaftler generelle
Handlungsbeschränkungen entwickelt, die schon vor 100 Jahren in der Goßlerschen Verordnung
(1983) ihre erste offizielle Formulierung fanden und nach wie vor gültig sind.
Unvoreingenommenheit ist Grundprinzip jeder naturwissenschaftlichen Standortsuche. Diese
Voraussetzung eliminiert anthropozentrische Argumentationen. Das Gleichheitsprinzip (Patzig
8
Ethik und Tierversuche
Prof. Dr. med. vet. Klaus Gärtner
1986) ist Basis der Nutzung von Versuchstieren. Insbesondere warmblütige Wirbeltiere sind
ähnlich wie der Mensch schmerz- und leidensfähig, unterscheiden sich von ihm aber in einer
Reihe von Bewußtseinsdimensionen. Es gelten folgende Handlungsbeschränkungen, zu denen
sich Wissenschaftler immer wieder bekannt haben (Deutsche Forschungsgemeinschaft, 1981;
Schweizer Akademie der Medizinischen Wissenschaften, 1982; Max-Planck Gesellschaft, 1984):
-Narkose der Versuchstiere in nachhaltiger Weise, wo immer es mit dem Zweck der
Forschung vereinbar ist,
-Nur sachkundige Professoren und Dozenten dürfen experimentieren,
-Nur solche und so viele Versuche sind erlaubt, als unerläßlich ist für die Absicherung
einer wissenschaftlichen Hypothese; die Belastungen an Schmerz und Leid sind so gering
wie möglich zu halten („unerläßliches Maß“),
-Alle Versuche, die keinem ernsten wissenschaftlichen Zweck dienen, sind verboten,
-Höher entwickelte Tiere sollen verschont werden, wenn der Versuch auch an niederen
durchgeführt werden kann.
Diese Prinzipien sind seit 1883 fast unverändert Kernstück aller Tierschutzgesetzgebungen. Seit
1960 kam durch die Aktivität der Wissenschaft eine Reihe von Entwicklungen hinzu, die vor
allem optimale Haltung und Unterbringung betrafen. Das sind Entwicklungen, durch die die
tierexperimentellen Forschungsbedingungen in der Bundesrepublik sich auch aus der Sicht des
Tierschutzes zu den besten in der Welt entwickelten. Besondere Ausfüllung bedarf der Begriff
des „unerläßlichen Maßes“. Das betrifft einmal die Abschätzung der Schwere (das Maß) an
Schmerz und Leid, das die Tiere ertragen, und es betrifft zweitens die Erörterung der Größe von
Versuchsgruppen sowie die Notwenigkeit der Wiederholung von Versuchsserien aus der Sicht
der Biometrie.
Für das Erreichen dieser Tierschutzziele haben sich als einfache und informative Sprachformel
die Englischen Begriffe „reduction“, „refinement“ und „replacement“ durchgesetzt, wie sie von
Russel and Burch (1959) ausführlich beschrieben wurden.
Man spricht dann von der
„Berücksichtigung der 3-R“.
Zur Abschätzung des Grades von Schmerzen und Leiden, den Tiere erfahren, werden zwei
Klassifikationssysteme diskutiert, nämlich einmal eine Einteilung nach experimentellen
Methoden, zum anderen eine Klassifikation aufgrund klinischer und Verhaltensmerkmale, die
Tiere im Versuch zeigen. Die erste Methode hat eine lange Tradition insbesondere in
Großbritannien. Sie ist aus der Tierschutzdiskussion erwachsen und berücksichtigt in erster Linie
chirurgisch Eingriffe und solche am Auge und im zentralen Nervensystem. Dieses
Abschätzungssystem kann jedoch wissenschaftlichen Gesichtspunkten nicht standhalten. Auch
von England kommen nunmehr Anregungen, für das Abschätzen von Schmerzen und Leiden
9
Ethik und Tierversuche
Prof. Dr. med. vet. Klaus Gärtner
beim Tier klinische und Verhaltensmerkmale des betroffenen Versuchstieres zu berücksichtigen.
Dabei ist eine vielfältige Merkmalserfassung erforderlich. Die regelmäßige, gründliche
Beobachtung des spontanen und eventuellen Sozialverhaltens unter Berücksichtigung der
Vokalisation, des Putzverhaltens, des Bewegungsverhaltens sowie der Vergleich solcher
Verhaltenskomponenten beim selben Tier vor und nach Versuchsbeginn haben besondere
Bedeutung. Die Quantifikation dieser oder anderer einzelner Verhaltensmuster erleichtert die
Abschätzung. Sie bedürfen der weiteren Ergänzung durch Registrierung von Futter- und
Wasseraufnahme, der Körpergewichtsentwicklung, unter Umständen verschiedener klinischsomatischer, auch hämatologischer Merkmale. Aus all den Einzeldaten lassen sich Vorliegen und
Ausmaß von Schmerz- und Leidenszuständen abschätzend objektivieren, wie es unter anderem
von Beynen et al. (1987), Morton und Griffiths (1985) sowie Gärtner (Gärtner 1986a, Gärtner
1986b, Gärtner 1986c) vorgeschlagen wurde. Für die Abschätzung der Zeitspannen von Leidensund Schmerzzuständen gibt es dabei weitgehend Konsens: bis zu 7 Tag = kurzfristig, bis zu 35
Tage = mittelfristig und mehr als 35 Tage = langandauernd.
Das „unerläßliche Maß“ für den Umfang einer Versuchsgruppe, d.h. die Anzahl der Tiere pro
Gruppe, ist wohl nie kleiner als 6, meist nicht größer als 15, kann aber in Ausnahmefällen bis zu
einigen 100 ansteigen (Weber, 1972, Zbinden, 1973), wenn Messergebnisse mit einer hohen
Wahrscheinlichkeit, d. h. mit hoher Signifikanz gesichert sein sollen. Manchmal genügen dem
Forscher zu seiner Orientierung schon Pilotstudien, also Untersuchungen ohne biostatistische
Absicherung des Ergebnisses. Meist sind jedoch solide Wahrscheinlichkeitsaussagen für ein
Ergebnis erforderlich. Dazu werden sehr geringe Wahrscheinlichkeit dafür gefordert, dass die
Werte der Versuchsgruppe mit der der Kontrollen identisch sind ( Prüfung der Nullhypothese,
Signifikanzprüfung). Der Fehler, eine falschen Aussage zu machen, sollte also kleiner als 5 %,
oder oft sogar kleiner als 1 % sein.
Für die Erfüllung dieser Forderungen muss vor
Versuchsbeginn die dafür erforderliche Gruppengröße sorgfältig abgeschätzt werden. Hierbei ist
die Kenntnis der quantitativen Größe der Variabilität des interessierenden Merkmales, d. h. seine
Standardabweichung notwendig.
Um die Gruppengröße klein zu halten, um sie auf ein unerlässlichen Maß zu begrenzen, gilt es
auch die Frage zu prüfen, oberhalb welchem Unterschied des interessierenden Merkmales
zwischen Versuchsgruppe und Kontrollen dieser Unterschied für die
Beantwortung der
gestellten wissenschaftlichen Frage eigentlich relevant wird. Sind auch kleinste Unterschiede
schon
von
realistischer
wissenschaftliche
oder
angewandter
Bedeutung?
In
der
Grundlagenforschung sind sie es meist, in der angewandten Forschung häufig nicht. Oberhalb
welchem Unterschied ist diese Beobachtung von wissenschaftlichem Interesse bzw. von
praktischem Nutzen? Festlegung solcher Grenzwerte - der Relevanz einer Aussage - ist für die
10
Ethik und Tierversuche
Prof. Dr. med. vet. Klaus Gärtner
Abschätzung der unerlässlichen Gruppengröße von Bedeutung. Ist dieser Relevanzwert hoch,
dann verringert sich die Anzahl der pro Gruppe erforderlicher Tiere ganz beträchtlich.
Von Bedeutung ist weiterhin die Auswahl der statistischen Prüfverfahren. Bei großen
Versuchsserien und erheblicher Belastung sollte zu einer sequenziellen Auswertung geraten
werden, um eine Serie so früh wie irgend möglich erfolgreich beenden zu können.
1.1.7 Die gesetzlichen Vorgaben zur Regelung des Konfliktes zwischen biomedizinischen
Forschung und Tierschutz
Wir leben in einer Gesellschaft mit großer Meinungsvielfalt. Diese Meinungsvielfalt unserer
Gesellschaft verlangt immer dann nach verbindlichen Konsensdefinitionen, wenn politische
Entscheidungen erforderlich sind, die die divergierenden Interessen der Bürger betreffen. Dieser
Konsens, meist ein Kompromiss, wird diskursethisch, im politischen Diskurs zwischen den
verschiedenen Interessengruppen gesucht. Auf ihm basiert schließlich die entsprechende
gesetzliche Bestimmung.
Medizinisch-biologische Forschung verbinden in unserer Gesellschaft die einen mit der
Hoffnung und dem Wunsche, dadurch vor Schmerz, Krankheiten und Hunger erfolgreicher
bewahrt werden zu können, - das sind 70% bis 80% unserer Mitbürger - andere mit der Angst,
dass durch solche Forschung unseren Lebensgrundlagen irreversibler Schaden zufügt wird - das
sind höchstens 20%.
Für die Mensch-Tier-Beziehung reicht die Vielfalt unter unseren Mitbürgern von der strengbrüderlichen Auslegung des Begriffs Mitgeschöpflichkeit - das sind ca. 10 % - über eine eher
anonym-sachliche Mensch-Tier-Beziehungen, wie sie z. B. gegenüber Schlacht- und Nutztieren
in artgemäßer Haltung gilt, - das sind ca. 50% - , bis zur Aversion gegen Tiere aus hygienischer
Hysterie und Bedrohungsempfindungen - etwa 10 %.
Diese Meinungsvielfalt bedingt auch Kollision zwischen den Forderungen nach Tierschutz und
denen nach medizinischer und
naturwissenschaftlicher Forschung. Forderungen die hier
aufeinander prallen sind einerseits die innerwissenschaftlichen Forschungsprinzipien, die die
Gesellschaft als unverzichtbar anerkennt und andererseits ethische Umgangsprinzipien mit
Tieren, die gleichermaßen anerkannt sind.
Die hier tangierten forschungsethischen Prinzipien sind vornehmlich drei, nämlich: (1.) Die
Anerkennung empirischer Daten als letzte Appellationsinstanz. (2.) Rationalität als alleinige
Rechtfertigungsbasis. (3.) Die strikte Ablehnung jedweder Informationseinschränkung.
Die Respektierung dieser forschungsethischen Prinzipien garantiert unser Grundgesetz im
Art.5(3) aber auch das
Hochschulrahmengesetz (§3(2)) oder die EU-Charta (Art. 13) und
andere. Dadurch werden uneingeschränkt durch den Staat gewährleistet: die Freiheiten für die
11
Ethik und Tierversuche
Prof. Dr. med. vet. Klaus Gärtner
wissenschaftliche Fragestellung, für die Wahl der Methodik und für die Wahl der
Veröffentlichungsplattform.
Diese forschungsethischen Prinzipien haben Sachzwang für naturwissenschaftliches Forschen.
Das gilt insbesondere deshalb, weil naturwissenschaftliche Forschung wegen der Komplexität
von Naturvorgängen sowohl auf deterministische als auch auf nichtdeterministische, z. B. sog.
random-Suchstrategien (das ist das Suchen nach Zufallsverteilungen) angewiesen ist. Werden
diese Prinzipien nicht eingehalten, dann wird solche Forschung unfruchtbar und unzuverlässig.
Diese, den Wissenschaften und der Forschung garantierten Freiheiten können mit den Prinzipien
der Tierschutzethik kollidieren, wie sie das Tierschutzgesetz in seinem § 1 schützt:
- Der Staat schützt das Leben und Wohlbefinden eines Tieres,
- Der Staat verbietet das Zufügen von Schmerzen, Leiden oder Schäden ohne
vernünftigen Grund.
Zur Kollision kommt es, wenn bei tierexperimentellen Eingriffen Versuchstiere Schmerzen,
Leiden oder Schäden erdulden könnten.
In welcher Weise die gesetzlich definierten Tierschutzforderungen mit den grundgesetzlichen
Garantien für Wissenschaft und Forschung in Einklang zu bringen sind, das bestimmt das
Tierschutzgesetz in seinem 5. Abschnitt. Im Einzelnen geschieht das in den dortigen §§ 7 bis 10
aber auch in anderen §§ des Tierschutzgesetzes. Generell werden folgende Grenzen gezogen:
Nur wenn die Erforderlichkeit von Versuchen an Wirbeltieren ausführlich und wissenschaftlich
begründet dargelegt wurde und, wenn die dabei den Tieren zugemuteten Schmerzen und Leiden,
aber auch die Anzahl an Einzelversuchen auf ein unerlässliches Maß reduziert sind, dann werden
solche Tierversuchsvorhaben einzeln, als ethisch vertretbare Ausnahmen genehmigt.
Deutlich wird in dieser Definition, dass die Prüfung der Vertretbarbeit der Fragestellung eines
Versuchsvorhabens
allein
forschungsethischen
Kriterien
unterliegt,
dass
aber
seine
Durchführung vielen Auflagen, insbesondere die Berücksichtigung der Forderung nach den 3-Rs
erfüllen muss. Das macht die Genehmigung jedes einzelnen Tierversuchsvorhaben schwierig.
Der Gesetzgeber hat deshalb mit dem § 15 des Tierschutzgesetzes eine Kommission aus
Vertretern der verschienen Interessenrichtungen bei der Aufsichtbehörde angesiedelt, die diese
Bedingungen für jedes Versuchsvorhaben diskutiert und dadurch die Behörde bei der
Entscheidung über die Genehmigung jedes Tierversuchsvorhabens unterstützt.
12
Ethik und Tierversuche
Prof. Dr. med. vet. Klaus Gärtner
1.1.8 Literatur
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13
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Prof. Dr. med. vet. Klaus Gärtner
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14
Rechtliche Grundlagen
Dr. med. vet. Kurt Reifenberg
1.2 Rechtliche Grundlagen tierexperimentellen Arbeitens
1.2.1 Überblick der rechtlichen Grundlagen
Bei der Haltung von Versuchstieren und bei der Durchführung von Eingriffen an Tieren zu
wissenschaftlichen Zwecken sind über das Tierschutzgesetzt hinaus eine Vielzahl gesetzlicher
Regelungen oder versuchstierkundlicher Empfehlungen zu befolgen, die nachfolgend behandelt
werden.
Hygieneanforderungen
In heutigen Versuchstierhaltungen wird ein hohes Hygieneniveau der Tiere angestrebt. Die für
eine Hochhygienehaltung erforderlichen zusätzlichen Investitionen in die Gebäudetechnik oder
in Tierhaltungseinrichtungen sind erheblich. Zur Zeit werden die Hygieneanforderungen an
Tierhaltungen nicht explizit gesetzlich geregelt. Allerdings wird von Seiten der Geldgeber
tierexperimenteller Projekte (z. B. Deutsche Forschungsgemeinschaft – DFG), von Seiten der
wissenschaftlichen Journale, in denen tierexperimentelle Ergebnisse publiziert werden, und zum
Teil auch von Seiten der Tierexperimentatoren selbst eine Haltung von Versuchstieren auf
höchstem Hygieneniveau verlangt. Aus dem Tierschutzgesetz kann die Haltung von
Versuchstieren auf Hochhygieneniveau nur indirekt hergeleitet werden, insofern als einerseits
wissenschaftlich belegt ist, dass sich durch diese Haltungsform die Aussagekraft von
Tierversuchen erhöht und sich somit die Zahl der erforderlicher Tiere reduziert und andererseits
das Deutsche Tierschutzgesetz die Reduktion von Tierversuchen auf das „unerlässliche Maß“
fordert.
Gebäudeabsicherung
Es muss allen Beteiligten klar sein, dass Tierversuche derzeit äußerst kontrovers diskutiert
werden. Die Strenge des Deutschen Tierschutzgesetzes spiegelt letztendlich die Skepsis eines
Großteils der Bevölkerung gegenüber Tierversuchen wider. Die Forderungen nach
weitestgehendem Ersatz von Tierversuchen durch alternative Verfahren und nach der Reduktion
von Tierversuchen auf das unabdingbare Maß reflektieren eben nicht nur das Tierschutzgesetz,
sondern zeigen ein gesellschaftliches Anliegen auf. Andererseits sind viele Tierversuche derzeit
eben nicht ersetzbar und ihre Durchführung ist auch nach Ansicht großer Teile der deutschen
Bevölkerung erforderlich, um u.a. den weiteren biomedizinischen Fortschritt zu gewährleisten.
Das zur Zeit gültige Tierschutzgesetz erlaubt die Durchführung von Tierversuchen lediglich nach
strenger Prüfung und unter erheblichen Überwachungsauflagen und spiegelt damit die
gesellschaftlichen Ambivalenz gegenüber Tierversuchen wider. Bei der Mehrzahl strikter
Tierversuchsgegner besteht ein Konsens, dass die Auseinandersetzung mit den Befürwortern von
15
Rechtliche Grundlagen
Dr. med. vet. Kurt Reifenberg
Tierexperimenten auf politischer bzw. juristischer Ebene zu führen ist. Die Vergangenheit hat
aber immer wieder gezeigt, dass ein Teil der Tierversuchsgegner auch nicht davor
zurückschreckt, im Kampf für ihre Überzeugungen illegale Mittel anzuwenden. In Anbetracht
des gesellschaftlichen Phänomens des illegalen Tierversuchsgegnertums raten die staatlichen
Sicherheitsorgane eindringlich zur verstärkten Gebäudeabsicherung von Tierversuchsanlagen.
Gesetzliche Forderungen zur Absicherung von Tierhaltungen gegen potentielle kriminelle
Aktionen existieren derzeit nicht.
Gentechnikgesetz (GenTG)
Wie die Tierschutzberichte der letzten Jahre eindeutig belegen, werden zunehmend gentechnisch
veränderte
Tiere,
und
zwar
insbesondere
gentechnisch
veränderte
Mäuse,
in
der
tierexperimentellen Forschung eingesetzt. Gentechnisch veränderte Tiere stellen per se
„gentechnisch veränderte Organismen (GVOs)“ im Sinne des GenTGs dar. Darüber hinaus
werden Versuchstiere häufig mit gentechnisch veränderten Mikroorganismen experimentell
infiziert. Derart experimentell infizierte Tiere stellen ebenfalls GVOs im Sinne des GenTGs dar.
GVOs dürfen nur in entsprechend registrierten gentechnisch veränderten Anlagen gehalten und
manipuliert werden. Gemäß GenTG ergeben sich umfangreiche Verantwortlichkeiten bei der
Haltung gentechnisch veränderter Tiere (Bewertung der Sicherheitsstufe (1-4), Festlegung von
Maßnahmen des Arbeitsschutzes und Umweltschutzes sowie Verpflichtung zur Belehrung des
Personals, Festlegung der gentechnische Anlage und Einhaltung von Anforderungen an dieselbe,
Aufzeichnungspflicht, eventuell zusätzliche arbeitsmedizinische Untersuchungen des Personals,
Begrenzung des Zutritts auf autorisierte Personen, etc) die in eindeutiger Weise auf bestimmte
Personen mit nachgewiesener Qualifikation (Projektleiter, Betreiber) verteilt werden. Es sollte
erwähnt werden, dass das GenTG bei Nichteinhaltung gentechnikrechtlicher Forderungen
drakonische Strafen vorsieht.
Infektionsschutzgesetz (IfSG = Nachfolger des ehemaligen „Bundesseuchengesetzes“):
Werden Versuchstiere mit humanpathogenen Mikroorganismen experimentell infiziert, so muss
hierfür eine entsprechende behördliche Erlaubnis eingeholt werden. Ähnlich wie beim
Gentechnikgesetz werden auch durch das IfSG bestimmte Verantwortlichkeiten (Festlegung von
Maßnahmen des Arbeitsschutzes und Umweltschutzes sowie Verpflichtung zur Belehrung des
Personals, Festlegung der Räumlichkeiten und Einhaltung von Anforderungen an diese,
Aufzeichnungspflicht,
zusätzliche
arbeitsmedizinische
Untersuchungen
des
Personals,
Begrenzung des Zutritts auf autorisierte Personen, etc) in eindeutiger Weise auf verantwortliche
Personen mit nachgewiesener Qualifikation verteilt.
16
Rechtliche Grundlagen
Dr. med. vet. Kurt Reifenberg
Verordnung über Sicherheit und Gesundheitsschutz bei Tätigkeiten mit biologischen
Arbeitsstoffen (Biostoffverordnung - BioStoffV)
Alle Tiere sind, wie wir Menschen auch, Träger einer Vielzahl diverser Mikroorganismen. Bei
diesen Mikroorganismen handelt es sich großteils um Bakterien (Darm- und Hautflora) und sie
sind in der überwiegenden Zahl nicht pathogen für den Träger und andere Lebewesen. Tiere und
Menschen können aber auch solche Mikroorganismen tragen, die für sie selbst oder andere
Spezies insbesondere unter ungünstigen Bedingungen wie einer Immunsuppression pathogen
sind, i.e. diese Erreger stellen potentielle Krankheitserreger dar. Die von Tieren getragenen
Mikroorganismen, insbesondere diejenigen mit pathogenen Eigenschaften, stellen biologische
Arbeitsstoffe nach BioStoffV dar. Aus diesem Grunde muss die Haltung und der Umgang mit
Versuchstieren einer Gefährdungsbeurteilung nach BioStoffV unterzogen werden. Aus der
Gefährdungsbeurteilung
ergibt
sich
eine
Schutzstufe
(1-4)
und
entsprechende
Sicherheitsmaßnahmen. Wiederum werden eindeutig festgelegte Verantwortlichkeiten auf
verantwortliche Personen mit nachgewiesener Qualifikation übertragen.
Arzneimittelgesetz (AMG) und Betäubungsmittelgesetz (BtMG)
Werden an Tiere, insbesondere solche, die prinzipiell der Lebensmittelgewinnung dienen
können, Arzneimittel verabreicht, so sind die Forderungen des Arzneimittelgesetzes (AMG) zu
erfüllen. Hierzu muss eine tierärztliche Apotheke bei den Behörden beantragt werden. Der
Inhaber der Apotheke (verantwortliche Person) muss die Umsetzung der Forderungen des AMG
gewährleisten, insbesondere muss er Aufzeichnungen über den Verbleib der Medikamente
führen. Noch wesentlich stringenter sind die Anforderungen bei der Verabreichung von
Betäubungsmitteln an Tiere. In diesem Fall muss bei der sogenannten „Bundesopiumstelle“ eine
diesbezügliche Registrierung der tierärztlichen Apotheke vorgenommen werden. Wiederum wird
eine verantwortliche Person benannt, die gewährleisten und gegebenenfalls auch belegen muss
(Aufzeichnungspflicht), dass kein Missbrauch mit den Betäubungsmitteln erfolgte.
Gefahrstoffverordnung (GefStoffV) und Strahlenschutzverordnung (StrlSchV)
Werden Gefahrstoffe im Sinne des Chemikaliengesetzes bzw. der Gefahrstoffverordnung
(GefStoffV) oder radioaktive Substanzen im Sinne der Strahlenschutzverordnung (StrlSchV) an
Tiere verabreicht, so sind die Forderungen der entsprechenden Regelwerke zu berücksichtigen.
Diese implizieren die Festlegung von Maßnahmen des Arbeitsschutzes und des Umweltschutzes
sowie die Verpflichtung zur Belehrung des Personals, eine entsprechende Kennzeichnung der
Substanzen bzw. der Tierkäfige, gegebenenfalls (z.B. bei Verwendung kanzerogener
Substanzen) die Veranlassung zusätzlicher arbeitsmedizinischer Untersuchungen etc. Wie bei
anderen Gesetzen werden verantwortliche Personen mit nachgewiesener Qualifikation festgelegt.
17
Rechtliche Grundlagen
Dr. med. vet. Kurt Reifenberg
Deutsches Tierschutzgesetz (TSchG)
„Last not least“ sind bei der Haltung von Versuchstieren und der Durchführung von
wissenschaftlichen Eingriffen an Tieren die Forderungen des Deutschen Tierschutzgesetzes
(TSchG) und der damit assoziierten Regelwerke zu beachten. In diesem Zusammenhang ist zu
erwähnen, dass der Tierschutz kürzlich in das Grundgesetz aufgenommen wurde. Hieraus
ergeben sich vorläufig keine direkten Implikationen. Es wurde jedoch damit eine notwendige
Voraussetzung geschaffen, um im nächsten Schritt das sogenannte Verbandsklagerecht im
Tierschutz verankern zu können. Das Verbandsklagerecht würde es bundesweit anerkannten
Tierschutzvereinen
ermöglichen,
quasi
als
„Sachwalter
der
Tiere“
gegen
erlassene
Behördenbescheide gerichtlich vorzugehen. Ob das Verbandsklagerecht tatsächlich in die
Tierschutzgesetzgebung eingebracht werden wird und ob es gegebenenfalls in Folge davon zu
einer Prozessflut und einer damit einhergehenden Lähmung biomedizinischer Forschung kommt,
wie von einem Teil der Gegnerschaft des Verbandsklagerechts befürchtet wird, bleibt
abzuwarten.
Folgende tierschutzrechtlichen Regelungen sind bei der Haltung von Versuchstieren und der
Durchführung von Eingriffen an Tieren zu wissenschaftlichen Zwecken insbesondere zu
berücksichtigen:
•
Tierschutzgesetz in der Fassung v. 25. Mai 1998
•
Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zur Durchführung des Tierschutzgesetzes
vom 09. Februar 2000
•
Verordnung über Aufzeichnungen über Versuchstiere und deren Kennzeichnung
•
Verordnung über die Meldung zu Versuchszwecken oder zu bestimmten Zwecken
verwendeter Wirbeltiere (Versuchstiermeldeverordnung - VtMV) vom 4.
November 1999
•
Richtlinie des Rates vom 24. November 1986 zur Annäherung der Rechts- und
Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten zum Schutz der für Versuche und
andere wissenschaftliche Zwecke verwendeten Tiere (86/609/EWG) genannten
Anforderungen („Euro-Richtlinie“)
1.2.2 Im Deutschen Tierschutzgesetz berücksichtigte Tiergruppen
Das Deutsche Tierschutzgesetz gilt prinzipiell für alle Tiere. Dies trifft insbesondere für den § 2
des Gesetzes zu, der die Tierhaltung betrifft:
„Wer ein Tier hält, betreut oder zu betreuen hat,
18
Rechtliche Grundlagen
Dr. med. vet. Kurt Reifenberg
1. muss das Tier seiner Art und seinen Bedürfnissen entsprechend angemessen ernähren,
pflegen und verhaltensgerecht unterbringen,
2. darf die Möglichkeit des Tieres zu artgemäßer Bewegung nicht so einschränken, dass
ihm Schmerzen oder vermeidbare Leiden oder Schäden zugefügt werden,
3. muss über die für eine angemessene Ernährung, Pflege und verhaltensgerechte
Unterbringung des Tieres erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten verfügen.“
Bei der Nutzung von Tieren zu wissenschaftlichen Zwecken macht sich der Einfluss des
differenzierten
Gleichheitsgrundsatzes
bemerkbar,
auf
dem
die
Deutsche
Tierschutzgesetzgebung prinzipiell basiert. So gelten diejenigen Paragraphen des TSchG, die
explizit auf die Haltung von Versuchstieren und die Nutzung von Tieren zu wissenschaftlichen
Zwecken eingehen, lediglich für Wirbeltiere. Entsprechend wird in der sogenannten „EuroRichtlinie“ zum Schutz der für Versuche und andere wissenschaftliche Zwecke verwendeten
Tiere folgende Definition eingeführt:
„Tiere sind, soweit keine anderen Angaben gemacht werden, alle lebenden Wirbeltiere
außer dem Menschen, einschließlich frei lebender und/oder fortpflanzungsfähiger Larven,
jedoch keine Föten oder Embryonen“
Werden also Wirbeltiere zu wissenschaftlichen Zwecken genutzt, so gelten alle Paragraphen des
TSchG in vollem Umfang. Bei der Verwendung von Nicht-Wirbeltieren für wissenschaftliche
Zwecke liegt eine andere Situation vor, insofern als hier die spezifischen Regelungen des TSchG
für den wissenschaftlichen Einsatz von Tieren nur bedingt greifen (§ 16(1) Nr. 3a . Darüber
hinaus finden sich im TSchG noch Regelungen für die tierexperimentelle Nutzung von
Cephalopoden und Dekapoden.
1.2.3 Erlaubnis nach §11 TierSchG für die Haltung von Wirbeltieren für wissenschaftliche
Zwecke
Der §11 des TierSchG lautet:
„Wer Wirbeltiere
a) nach § 9 Abs. 2 Nr. 7 zu Versuchszwecken oder zu den in § 6 Abs.1 Satz 2 Nr. 4, § 10
Abs.1 oder § 10a genannten Zwecken oder
b) nach § 4 Abs. 3 zu dem dort genannten Zweck
züchten oder halten will, bedarf der Erlaubnis der zuständigen Behörde.“
Dies bedeutet, dass bereits die bloße Haltung von Tieren, die wissenschaftlichen Zwecken
dienen sollen, genehmigungspflichtig ist. Bei der Antragstellung zur Einholung einer
19
Rechtliche Grundlagen
Dr. med. vet. Kurt Reifenberg
Tierhaltungserlaubnis nach § 11 TierSchG sind gemäß der „Allgemeinen Verwaltungsvorschrift
zur Durchführung des Tierschutzgesetzes“ folgende Angaben zu machen:
20
Rechtliche Grundlagen
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
Dr. med. vet. Kurt Reifenberg
Name und dienstliche Adresse des Antragstellers
Tätigkeit, für die die Erlaubnis beantragt wird (Tierspezies, Haltung oder Zucht)
Angabe der Anschrift, wo die Tiere gezüchtet oder gehalten werden
Name und dienstliche Anschrift der für die Tätigkeit verantwortlichen Person(en)
Berufliche Qualifikation der für die Tätigkeit verantwortlichen Person(en)
Nachweis der beruflichen Qualifikation
Gattung und Höchstzahl der Tiere, die jährlich gezüchtet werden sollen
Gattung und Höchstzahl (Bestand) der Tiere, deren Haltung beabsichtigt ist
Beschreibung der Räume und Einrichtungen, die der Tätigkeit dienen sollen
Die Behörde hat das Recht, bei der Erteilung einer Tierhaltungserlaubnis nach §11(1) TierSchG
Nebenbestimmunen zu erlassen. Die für die Tierhaltung verantwortliche Person hat die Pflicht,
über die Herkunft und den Verbleib der Tiere Aufzeichnungen gem. § 11a TierSchG zu machen
und die Aufzeichnungen drei Jahre lang aufzubewahren.
1.2.4 Tierschutzrechtliche Kategorien von Eingriffen an Tieren zu wissenschaftlichen
Zwecken
Der Gesetzgeber unterscheidet bei Eingriffen an Tieren zu wissenschaftlichen Zwecken folgende
Kategorien:
-Tötung zu wissenschaftlichen Zwecken (§ 4 Abs. 3 TierSchG)
Hierbei wird das Tier ohne vorherige Behandlungen getötet und anschließend werden am
toten Tier Organe für wissenschaftliche Untersuchungen entnommen
-Entnahme von Geweben oder Organen (i. d. R. unter Narkose mit anschließender Tötung) zum
Zwecke der Transplantation oder des Anlegens von Kulturen oder der Untersuchung
isolierter Organe, Gewebe oder Zellen (§ 6 Abs. 1 Nr. 4 TierSchG)
Bei der Mehrzahl an Fällen wird das nicht vorbehandelte Tier narkotisiert und es werden
in Narkose Organe für die aufgeführten wissenschaftliche Zwecke entnommen. Das Tier
wird in der Regel noch in Narkose getötet. Bei geringgradigen Belastungen (wie
beispielsweise Schwanzspitzenabnahmen) kann u.U. auf eine Narkose verzichtet werden
und die Tiere können nach dem Eingriff weiterleben.
-Genehmigungspflichtige Tierversuche (§ 8 (1) TierSchG)
Tierversuche werden definiert als Eingriffe oder Behandlungen zu Versuchszwecken
1. an Tieren, wenn sie mit Schmerzen, Leiden oder Schäden für diese Tiere oder
2. am Erbgut von Tieren, wenn sie mit Schmerzen, Leiden oder Schäden für die
erbgutveränderten Tiere oder deren Trägertiere verbunden sein können.
- Genehmigungsfreie (=anzeigepflichtige) Tierversuche (§ 8 a Abs. 1 und 2 TierSchG)
21
Rechtliche Grundlagen
Dr. med. vet. Kurt Reifenberg
Dabei handelt es sich um Eingriffe, die als Impfungen, Blutentnahmen oder sonstige
diagnostische Maßnahmen nach bereits erprobten Verfahren vorgenommen werden,
sowie um genehmigungspflichtige Eingriffe an Cephalopoden oder Dekapoden.
-Eingriffe zu Aus-, Fort- oder Weiterbildung (§ 10 TierSchG)
Hierbei werden Eingriffe jedweder Art zu den aufgeführten Zwecken durchgeführt.
-Eingriffe zur Herstellung, Gewinnung, Aufbewahrung oder Vermehrung von Stoffen, Produkten
oder Organismen (§ 10a TierSchG)
Hierbei werden Eingriffe zu den aufgeführten Zwecken durchgeführt. Die Immunisierung
von Kaninchen zum Zweck der Antikörpergewinnung stellt ein Beispiel eines Eingriffs
nach § 10a TSchG dar.
1.2.5 Tierschutzrechtliche Legalisierung von wissenschaftlichen Eingriffen an Tieren
Über die Durchführung von Tötungen zu wissenschaftlichen Zwecken nach § 4 Abs. 3 muss die
Behörde nicht informiert werden. Sie kann aber gem. § 16a die notwendigen Maßnahmen
bei rechtmäßiger und nicht rechtmäßiger Tötung ergreifen.
Der Anzeigepflicht unterliegen:
-Organentnahme (i. d. R. unter Narkose mit anschließender Tötung) nach § 6 Abs. 1 Nr. 4
-nicht genehmigungspflichtige Tierversuche nach § 8 a Abs. 1 und 2
-Eingriffe zur Aus-, Fort- oder Weiterbildung Anzeige nach § 10
-Eingriffe zur Herstellung, Gewinnung, Aufbewahrung oder Vermehrung von Stoffen,
Produkten oder Organismen nach § 10a
Die Angaben, die bei einer Anzeige von Eingriffen an Tieren gemacht werden müssen, sind in
der „Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zur Durchführung des Tierschutzgesetzes“ festgelegt:
1
2
3
3.1
3.2
4.
4.1
4.2
5
6
6.1
6.2
6.3
7
8
Bezeichnung des Vorhabens einschließlich der internen Kurzbezeichnung und der Rechtsgrundlage des
Anzeigeverfahrens im Tierschutzgesetz
Zweck des Vorhabens
Angaben zu den für die Verwendung vorgesehenen Versuchstieren mit kurzer Begründung im Hinblick auf
§ 9 (2) Nummer 1 und 2
Art der vorgesehenen Tiere
Bei Wirbeltieren, und ggf. bei Cephalopoden oder Dekapoden, die Zahl der vorgesehenen Tiere
Beschreibung des beabsichtigten Verfahrens einschließlich der Betäubung
Art und Durchführung der vorgesehenen Eingriffe oder Behandlungen
Angabe, welche Eingriffe oder Behandlungen an Wirbeltieren unter Betäubung durchgeführt und welche
Betäubungsverfahren dabei angewandt werden sollen
Ort und vorgesehener Beginn (Datum) sowie voraussichtliche Dauer des Verfahrens
Angaben zu den beteiligten Personen
Name, dienstliche Anschrift und Fachkenntnisse des Leiters des Vorhabens
Name, dienstliche Anschrift und Fachkenntnisse des stellvertretenden Leiters des Vorhabens
Name, dienstliche Anschrift und Fachkenntnisse der durchführenden Person(en)
Bei Vorhaben nach § 6 (1) Satz 2 Nr. 4 die Begründung für den Eingriff
Bei Vorhaben, die nach § 8 (7) Nr. 1 nicht der Genehmigung bedürfen, der Rechtsgrund der
Genehmigungsfreiheit
22
Rechtliche Grundlagen
Dr. med. vet. Kurt Reifenberg
9
Bei Durchführung mehrerer gleichartiger Vorhaben nach § 8a Abs. 1 und 2, § 10 oder § 10a, die
voraussichtliche Zahl der Vorhaben (§ 8a (3) Satz 1)
Ort und Datum, Bestätigung der Kenntnis des Tierschutzgesetzes, Unterschriften von Leiter und Stellvertreter
Nach der Einreichung der Anzeige bei der Behörde muss eine Frist von 2 Wochen abgewartet
werden, bevor mit den Eingriffen begonnen werden kann. In der Regel wird von der Behörde
eine Bestätigung über den Eingang der Anzeige ausgestellt.
Der aufwendigen Genehmigungspflicht unterliegen genehmigungspflichtige Tierversuche nach
§ 8 Abs. 1. Die erforderlichen Angaben zur Beantragung der Genehmigung eines
Tierversuchsvorhabens sind in der „Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zur Durchführung des
Tierschutzgesetzes“ festgelegt. Sie umfassen folgende Informationen:
1.
1.1.
Angaben zum Versuchsvorhaben
Bezeichnung des Versuchsvorhaben einschließlich der internen Kurzbezeichnung und Kennzeichnung, ob
es sich um einen Finalversuch im Sinnes des §8 (5 a) handelt.
1.2.
Zweck und Unerlässlichkeit des Versuchsvorhaben
1.2.1. Angaben des Zwecks des Versuchsvorhaben und wissenschaftlich begründete Darlegung, dass dieser einem
der in § 7 Abs. 2 genannten Zwecke zuzuordnen ist
1.2.2. Wissenschaftlich begründete Darlegung der Unerlässlichkeit des Versuchsvorhabens unter der
Berücksichtigung des jeweiligen Standes der wissenschaftlichen Erkenntnisse
1.2.3. Wissenschaftlich begründete Darlegung, dass der Versuchszweck nicht durch andere Methoden oder
Verfahren als den Tierversuch erreicht werden kann
1.3
Ausschöpfung zugänglicher Informationsmöglichkeiten
1.3.1. Genutzte Informationsmöglichkeiten
1.3.2
Wissenschaftlich begründete Darlegung, dass das angestrebte Versuchsergebnis noch nicht hinreichend
bekannt ist.
1.4
Art und Anzahl der vorgesehenen Tiere
1.4.1
Vorgesehene Tierarten und Begründung für die Wahl der Tierart
1.4.2
Vorgesehene Anzahl und Begründung für die Anzahl der Tiere einschließlich Angaben zur biometrischen
Planung
1.4.3
Angabe, ob es sich eigens für Tierversuche gezüchtete Tiere handelt
1.4.3.1 Gegebenenfalls Antrag auf Zulassung einer Ausnahme nach § 9 Abs. 2 Nr. 7 Satz 2 mit Begründung, wenn
eigens für Tierversuche gezüchtete Tiere nicht verwendet werden können.
1.4.3.2 Gegebenenfalls Begründung, wenn eine Entnahme aus der Natur für erforderlich gehalten wird
1.5
Ort, vorgesehener Beginn (Datum) und voraussichtliche Dauer des Versuchsvorhabens
1.6
Beschreibung der vorgesehenen Tierversuche einschließlich der Betäubung
1.6.1
Art, Durchführung und Dauer der vorgesehenen Eingriffe oder Behandlungen
1.6.2
Angabe, welche Eingriffe oder Behandlungen unter Betäubung durchgeführt und welche
Betäubungsverfahren dabei angewandt werden sollen.
1.6.3. Angabe, ob schmerzhafte Eingriffe ohne Betäubung durchgeführt werden soll.
1.6.4. Angabe, ob an einem nicht betäubten Tier mehrere erheblich schmerzhafte Eingriffe oder Behandlungen
durchgeführt werden sollen
1.6.5. Belastung (Intensität und Dauer von Schmerzen oder Leiden), denen die Tiere vorrausichtlich ausgesetzt,
und Schäden, die ihnen vorrausichtlich zugefügt werden
1.6.6. Vorgesehene Maßnahmen zur Schmerzlinderung nach Abklingen der Betäubung
1.6.7. Die Angaben nach den Nummern 1.6.1 bis 1.6.6 sind zusätzlich in einer dem Genehmigungsantrag
beizufügenden Tabelle zu vermerken (siehe Tabelle Anlage I)
1.7.
Ethische Vertretbarkeit des Versuchsvorhaben (§ 7 (3) )
1.7.1. Wissenschaftlich begründete Darlegung, dass die zu erwartenden Schmerzen, Leiden oder Schäden der
Versuchstiere im Hinblick auf den Versuchszweck ethisch vertretbar sind
1.7.2. Bei länger anhaltenden oder sich wiederholenden erheblichen Schmerzen oder Leiden, wissenschaftlich
begründete Darlegung, dass das angestrebte Versuchsergebnis vermutlich für wesentliche Bedürfnisse von
Mensch und Tier einschließlich der Lösung wissenschaftlicher Probleme von hervorragender Bedeutung ist
(§ 7 (3) Satz 2)
2.
Nachweis der Erfüllung der Voraussetzungen des § 8 (3) Nr. 3 und 4
23
Rechtliche Grundlagen
Dr. med. vet. Kurt Reifenberg
2.1.
Nachweis, dass die zur Durchführung des Versuchsvorhaben erforderlichen Anlagen, Geräte und sonstige
sachlichen Mittel vorhanden sind
2.2.
Nachweis, dass die organisatorischen Voraussetzungen, insbesondere für die Aufgabenerfüllung des
Tierschutzbeauftragten, gegeben sind
2.3.
Nachweis, dass eine den Anforderungen des § 2 entsprechende Unterbringung und Pflege einschließlich der
Betreuung der Tiere sowie ihre medizinische Versorgung sichergestellt ist
3.
Verfahren am Versuchsende
4.
Darlegung, dass die Einhaltung der Anforderungen an die Durchführung der Tierversuche nach § 9 Abs. 1
und 2 und die Erfüllung der Aufzeichnungspflicht nach § 9 a Abs. 1 erwartet werden kann
5.
Angabe, ob der Tierschutzbeauftragte eine Stellungnahme nach §8 Abs. 3 Nr. 3 abgegeben hat.
6.
Leiter des Versuchsvorhabens und sein Stellvertreter
6.1
Leiter des Versuchsvorhabens:
6.1.1
Name und Anschrift:
6.1.2
Berufsbezeichnung:
6.1.3
Nachweis der fachlichen Einigung:
6.2
Stellvertretender Leiter des Versuchsvorhabens:
6.2.1
Name und Anschrift:
6.2.2
Berufsbezeichnung:
6.2.3
Nachweis der fachlichen Einigung:
7.
Personen, die im Rahmen der Versuchsdurchführung Eingriffe oder Behandlungen an Tieren durchführen
7.1
Namen der Personen und deren Tätigkeit (ausgenommen Betäubung)
7.1.1
Nachweis der erforderlichen Qualifikation (§9 Abs. 1 Satz 2 und 3; im Falle des §9 Abs. 1 Satz 4 Hinweis
auf eine erteilte Ausnahmegenehmigung)
7.2
Im Fall einer Betäubung Namen der Personen, die die Betäubung durchführen oder die Durchführung der
Betäubung beaufsichtigen
7.2.1
Nachweis der erforderlichen Qualifikation (§9 Abs. 2 Nr.4 Satz 2)
7.3
Berechtigung der Personen zur Benutzung der Einrichtung, in der die Tierversuche durchgeführt werden
7.3.1
Angabe, ob die genannten Personen bei der Einrichtung beschäftigt sind
7.3.2
Gegebenenfalls Angabe, ob sie mit Zustimmung des verantwortlichen Leiters der Einrichtung zur
Benutzung der Einrichtung befugt sind.
8.
Personen, die für die Pflege, Betreuung und medizinische Versorgung der Versuchstiere verantwortlich
sind (§8 Abs. 3 Nr.4)
8.1.
Name und Qualifikation der für die Pflege und Betreuung der Tiere beauftragten Person
8.2.
Name und Qualifikationen der für die medizinische Versorgung verantwortlichen Person
8.3.
Name und Anschrift des Tierarztes, dem nach Abschluss des Versuchs die überlebenden Tiere der in § 9
Abs. 2 Nr. 8 genannten Arten vorgestellt werden
Ort und Datum, Bestätigung der Kenntnis des Tierschutzgesetzes, Unterschriften von Leiter und Stellvertreter
Über Tierversuchsanträge, die bei der zuständigen Behörde eingereicht werden, entscheidet diese
nicht alleine. Gemäß § 15 TierSchG sind die zuständigen Behörden verpflichtet, eine
Kommission zur Unterstützung der zuständigen Behörden bei der Entscheidung über die
Genehmigung von Tierversuchen zu berufen. Die Mehrheit der Kommissionsmitglieder muss die
für die Beurteilung von Tierversuchen erforderlichen Fachkenntnisse der Veterinärmedizin, der
Medizin oder einer naturwissenschaftlichen Fachrichtung haben. In die Kommissionen sind auch
Mitglieder zu berufen, die aus Vorschlagslisten der Tierschutzorganisationen ausgewählt worden
sind und auf Grund ihrer Erfahrungen zur Beurteilung von Tierschutzfragen geeignet sind; die
Zahl dieser Mitglieder muss ein Drittel der Kommissionsmitglieder betragen. Die zuständige
Behörde unterrichtet unverzüglich die Kommission über Anträge auf Genehmigung von
Versuchsvorhaben und gibt ihr Gelegenheit, in angemessener Frist Stellung zu nehmen.
Prinzipiell kann die Behörde einen Tierversuchsantrag vorbehaltlos genehmigen, unter Auflagen
oder Einschränkungen genehmigen oder ablehnen.
24
Rechtliche Grundlagen
Dr. med. vet. Kurt Reifenberg
Unerhebliche Änderung eines genehmigten Versuchsvorhabens können nach § 8 Abs. 7 Satz 2
angezeigt werden. Hierfür sind die gleichen Angaben zu machen wie bei Anzeigen zu anderen
Zwecken.
1.2.6 Kardinalforderungen des Deutschen Tierschutzgesetzes
Die in der heutigen deutschen Tierschutzgesetzgebung (letzte Novelle: 1998) verankerten
Beschränkungen für Eingriffe an Versuchstieren sind weitgehend die gleichen, die auch schon in
der Goßlerschen Verordnung für den Tierversuch, 1883, formuliert wurden und die auch in allen
dazwischen liegenden deutschen Tierschutzgesetzen (1933, 1972 und 1986) berücksichtigt
waren. Dabei handelt es sich um folgende Kardinalforderungen:
•
Narkose der Versuchstiere, wo erforderlich
•
Sachkunde der durchführenden Personen
•
Beschränkung auf das unerlässliche Maß
•
Wissenschaftlicher Zweck
•
Durchführung der Versuche an phylogenetisch möglichst niedrig stehenden
Tieren
Den Kardinalforderungen des Deutschen Tierschutzgesetzes unterliegen alle anzeige- oder
genehmigungspflichtigen Eingriffe an Tieren. Mit Ausnahme der Narkoseforderung gelten sie
ebenfalls für Tötungen, die nach § 4 Abs. 3 zu wissenschaftlichen Zwecken durchgeführt
werden.
Fast
alle
nach
der
Goßlerschen
Verordnung
initiierten
Novellen
der
deutschen
Tierschutzgesetzgebung zielten vorzugsweise auf eine intensivere Überwachung dieser fünf
Kardinalforderungen ab.
1.2.7 Kardinalforderung „Narkose“
In § 9 Abs. 2 Nr. 4 TierSchG wird formuliert:
„Versuche an Wirbeltieren dürfen nur unter Betäubung vorgenommen werden. Ist bei
einem betäubten Wirbeltier damit zu rechnen, dass mit Abklingen der Betäubung
erhebliche Schmerzen auftreten, so muss das Tier rechtzeitig mit schmerzlindernden
Mitteln behandelt werden. An einem nicht betäubten Wirbeltier darf
a) kein Eingriff vorgenommen werden, der zu schweren Verletzungen führt,
b) ein Eingriff nur vorgenommen werden, wenn der mit dem Eingriff verbundene
Schmerz geringfügiger ist als die mit einer Betäubung verbundene Beeinträchtigung des
25
Rechtliche Grundlagen
Dr. med. vet. Kurt Reifenberg
Befindens des Versuchstieres oder der Zweck des Tierversuchs eine Betäubung
ausschließt.“
1.2.8 Kardinalforderung „Sachkunde der durchführenden Personen“
Das TierSchG unterscheidet folgende Eingriffe zu wissenschaftlichen Zwecken an Tieren:
•
Tötung
•
Nicht-operative Eingriffe (z. B. Injektionen, Blutentnahmen)
•
Betäubung
•
Operative
Eingriffe
(Eingriffe,
die
mit
einer
mehr
als
punktförmigen
Zusammenhangstrennung der Haut verbunden sind)
Für die benannten wissenschaftlichen Eingriffe wird folgende Sachkunde der durchführenden
Personen gefordert:
Eine Tötung von Tieren kann von solchen Personen vorgenommen werden, bei denen eines der
folgenden beruflichen oder anderen Qualifikationskriterien erfüllt ist:
-Erfolgreiche
Ausbildung
zum
Biologielaborant(in),
Tierwirt(in),
Landwirt(in),
Tierpfleger(in), Tierpflegemeister(in), Biologisch-technische(r) Assistent(in)
-Erfolgreicher Abschluss des Studiums der Veterinär- oder Humanmedizin, der Biologie
mit dem Schwerpunkt der Zoologie oder Fischereibiologie
-Vorliegen einer Berufsausbildung, eines anderen Studienabschlusses oder eines
Weiterbildungsabschlusses, die nachweislich ebenfalls für bestimmte Tierarten
entsprechende Kenntnisse und Fähigkeiten voraussetzen
-Erfolgreiche Teilnahme an einem tierexperimentellen Kurs oder
-Im Einzelfall kann die zuständige Behörde die entsprechende Sachkunde bei solchen
Personen annehmen, die ohne eine abgeschlossene Berufsausbildung über einen
angemessenen Zeitraum regelmäßig Tiere ordnungsgemäß getötet haben; in
diesem Fall ist eine entsprechende Bescheinigung durch die zuständige Behörde,
eine beauftragte Stelle oder den Tierschutzbeauftragten auszustellen.
Für Personen, die nicht-operative Eingriffe vornehmen, und für Personen, die eine Betäubung
vornehmen, gelten dieselben Qualifikationsmerkmale. Diese lauten:
-Abgeschlossenes Hochschulstudium der Veterinärmedizin oder der Medizin oder
-Abgeschlossenes naturwissenschaftliches Hochschulstudium oder
-Fachkenntnisse auf Grund einer abgeschlossenen Berufsausbildung nachweislich
vorhanden
Für Personen, die operative Eingriffe durchführen gelten folgende Qualifikationsmerkmale:
-Abgeschlossenes Hochschulstudium der Veterinärmedizin oder der Medizin oder
26
Rechtliche Grundlagen
Dr. med. vet. Kurt Reifenberg
-Abgeschlossenes Studium der Biologie - Fachrichtung Zoologie -, wenn diese Personen
an Hochschulen oder anderen wissenschaftlichen Einrichtungen tätig sind
Die höchsten Anforderungen stellt das TierSchG schließlich an die Qualifikation der
verantwortlichen
Leiter
genehmigter
oder
angezeigter
Verfahren
sowie
deren
Stellvertreter. Diese müssen jeweils über ein abgeschlossenes Hochschulstudium der
Veterinärmedizin, der Medizin oder einer anderen naturwissenschaftlichen Fachrichtung
verfügen. Darüber hinaus müssen sich diese Personen jeweils nachweislich zusätzliche
Kenntnisse und Fähigkeiten erworben haben. Hierzu ist es erforderlich, dass sie entweder eine
mindestens dreijährige Tätigkeit in einem vergleichbaren Bereich der tierexperimentellen
Forschung
nachweisen
können
oder
dass
sie
alternativ
erfolgreich
an
einem
versuchstierkundlichen Kurs teilgenommen haben.
Die Ausführungen über die gesetzlich geforderte Sachkunde von Personen, die Eingriffe an
Versuchstieren durchführen, machen apparent, dass in vielen Fällen die erfolgreiche Teilnahme
an einem versuchstierkundlichen Kurs als Qualifikationsmerkmal gefordert wird. Von Seiten der
FELASA
(Federation
of
European
Laboratory
Animal
Science
Associations),
der
Dachorganisation der europäischen versuchstierkundlichen Gesellschaften, werden prinzipiell
vier Kompetenzstufen (Kategorien) bei der Haltung von Versuchstieren und der Durchführung
von Eingriffen an Tieren zu wissenschaftlichen Zwecken unterschieden:
Kategorie A - Tierpfleger
Kategorie B – Personen, die an der Durchführung von Tierversuchen beteiligt sind
Kategorie C - Personen, die für die Leitung von Tierversuchen verantwortlich sind.
Kategorie D – Spezialisten (z.B. Tierhausmanagement)
Tierexperimentelle Kurse, die als Aus- oder Weiterbildungsmaßnahme für Personen der
Kategorie B vorgesehen sind, müssen auf vorgegebene Lerninhalte eingehen, solche Kurse
müssen einen Gesamtumfang von mindestens 40 Stunden haben.
Tierexperimentelle Kurse die als weitere Qualifikationsmaßnahme für Personen der Kategorie C
vorgesehen sind, müssen auf wesentlich umfangreichere Lerninhalte eingehen als dies bei BKursen der Fall ist, solche Kurse müssen einen Gesamtumfang von mindestens 80 Stunden
haben.
Gemäß § 9 (1) kann die zuständige Behörde Ausnahmen von der prinzipiellen Forderung des
TierSchG zulassen, dass Eingriffe an Tieren zu wissenschaftlichen Zwecken nur von solchen
Personen durchgeführt werden dürfen, die über die im TierSchG spezifizierten erforderlichen
Fachkenntnisse verfügen. In solchen Fällen muss dargelegt werden, dass der Nachweis der
27
Rechtliche Grundlagen
Dr. med. vet. Kurt Reifenberg
erforderlichen Fachkenntnisse auf andere Weise erbracht ist. Hierzu ist bei der Behörde ein
Antrag auf Erteilung einer Ausnahmegenehmigung nach § 9 Abs. 1 Satz 4 des
Tierschutzgesetzes zu stellen. Der Antrag muss gemäß der „Allgemeinen Verwaltungsvorschrift
zur Durchführung des Tierschutzgesetzes“ folgende Angaben enthalten:
1.
Name, dienstliche Anschrift und Berufsbezeichnungen der Personen, für die eine
Ausnahmegenehmigung beantragt wird
2. Nachweis der Ausbildung und fachlichen Kenntnisse dieser Personen: (sofern der Nachweis in
einem früheren Antrag gegenüber derselben Behörde erbracht wurde, genügt ein Hinweis auf
diesen Antrag)
3. Art der Eingriffe oder Behandlungen, die von diesen Personen durchgeführt werden sollen
4. Art der Tiere, an denen Eingriffe oder Behandlungen nach Nummer 3 durchgeführt werden sollen
Ort, Datum und Unterschrift des Antragstellers
1.2.9 Kardinalforderung „Beschränkung auf das unerlässliche Maß“
Die tierschutzrechtlich geforderte „Beschränkung auf das unerlässliche Maß“ bezieht sich
sowohl auf die Quantität der Tiere als auch auf die Qualität der Eingriffe. So wird unter §9 (2)
Nr. 2, 3 bzw. 6 formuliert:
„Für den Tierversuch dürfen nicht mehr Tiere verwendet werden, als für den verfolgten
Zweck erforderlich ist.“
„Schmerzen, Leiden oder Schäden dürfen den Tieren nur in dem Maße zugefügt werden,
als es für den verfolgten Zweck unerlässlich ist; insbesondere dürfen sie nicht aus den der
Arbeits-, Zeit- oder Kostenersparnis zugefügt werden.“
„Bei Tierversuchen zur Ermittlung der tödlichen Dosis oder tödlichen Konzentration
eines Stoffes ist das Tier schmerzlos zu töten, sobald erkennbar ist, dass es infolge der
Wirkung des Stoffes stirbt.“
Der Beschränkung von Tierversuchen auf das unerlässliche Maß gemäß Deutschen
Tierschutzgesetzes entspricht das von den Wissenschaftlern Russell and Burch (1959) in die
wissenschaftliche Debatte über Tierversuche eingeführte 3R-Konzept. Gemäß dieses Konzeptes
sind bei der Durchführung von Tierversuche folgende Grundsätze zu verfolgen:
•
Replacement (Ersatz wenn möglich)
•
Reduction (Reduktion auf die unabdingbar erforderliche Tierzahl)
•
Refinement (Reduktion der Belastung auf unabdingbare Maß)
1.2.10 Kardinalforderung „Wissenschaftlicher Zweck“
In §7 (2) TierSchG wird formuliert:
„Tierversuche dürfen nur durchgeführt werden, soweit sie zu einem der folgenden
Zwecke unerlässlich sind:
28
Rechtliche Grundlagen
1.
Dr. med. vet. Kurt Reifenberg
Vorbeugen,
Erkennen
oder
Behandeln
von
Krankheiten,
Leiden,
Körperschäden oder körperlichen Beschwerden oder Erkennen oder Beeinflussen
physiologischer Zustände oder Funktionen bei Mensch oder Tier,
2. Erkennen von Umweltgefährdungen,
3. Prüfung von Stoffen oder Produkten auf ihre Unbedenklichkeit für die
Gesundheit von Mensch oder Tier oder auf ihre Wirksamkeit gegen tierische
Schädlinge,
4. Grundlagenforschung.“
Über die Forderung nach dem wissenschaftlichen Zweck hinaus verbietet das TierSchG die
Durchführung von Tierversuchen zum Zweck der Erprobung von Waffen oder zur Entwicklung
von Tabakerzeugnissen, Waschmitteln und Kosmetika. So wird unter §7 (4) und (5) formuliert:
„Tierversuche zur Entwicklung oder Erprobung von Waffen, Munition und
dazugehörigem Gerät sind verboten.“
„Tierversuche zur Entwicklung von Tabakerzeugnissen, Waschmitteln und Kosmetika
sind grundsätzlich verboten.“
Allerdings wird das zuständige Bundesministerium ermächtigt, im Falle von Kosmetika
Ausnahmen zuzulassen, soweit es erforderlich ist, um
„1. konkrete Gesundheitsgefährdungen abzuwehren, und die notwendigen neuen
Erkenntnisse nicht auf andere Weise erlangt werden können,
oder
2. Rechtsakte der Europäischen Gemeinschaft durchzuführen.“
1.2.11 Kardinalforderung „Durchführung der Versuche an phylogenetisch möglichst
niedrig stehenden Tieren“
In § 9 (2) 1 TierSchG wird formuliert:
„Versuche an sinnesphysiologisch höher entwickelten Tieren, insbesondere warmblütigen
Tieren, dürfen nur durchgeführt werden, soweit Versuche an sinnesphysiologisch
niedriger entwickelten Tieren für den verfolgten Zweck nicht ausreichen.“
In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach der Reihenfolge der „sinnesphysiologischen
Entwicklungshöhe“ der diversen Wirbeltiergruppen. Es besteht sicherlich ein Konsens, dass die
Entwicklungshöhe in der Reihenfolge Fische, Amphibien, Reptilien, Vögel und Säugetiere
kontinuierlich zunimmt. Innerhalb der Säugetiere kommt den lissencephalen Tiergruppen (z.B.
Nagetiere, Kaninchenartige) sicherlich eine primitiverer Status zu als den gyrencephalen Säugern
(z.B. Wiederkäuer, Schweineartige, Fleischfresser, Huftiere). Es wird sicherlich auch allgemein
29
Rechtliche Grundlagen
Dr. med. vet. Kurt Reifenberg
anerkannt, dass Primaten und Delphine Säuger mit herausragenden kognitiven Fähigkeiten
darstellen.
1.2.12 Weitere Forderungen des TierSchG
Über die 5 Kardinalforderungen hinaus gibt das TierSchG weitere Forderungen vor. Hierbei soll
Erwähnung finden, dass Tierversuche nur an speziell dafür gezüchteten Tieren vorgenommen
werden dürfen, dass Tierversuche ethisch vertretbar sein müssen und dass Einrichtungen, an
denen Tierversuche an Wirbeltieren durchgeführt werden, einen Tierschutzbeauftragten
(TierSchB) bestellen müssen
So formuliert das TierSchG unter § 9 (2) 7 sowie § 7 (3) sowie § 8b
„Wirbeltiere, mit Ausnahme der Pferde, Rinder, Schweine, Schafe, Ziegen, Hühner,
Tauben, Puten, Enten, Gänse und Fische, dürfen für Tierversuche nur verwendet werden,
wenn sie für einen solchen Zweck gezüchtet worden sind.“
„Versuche an Wirbeltieren dürfen nur durchgeführt werden, wenn die zu erwartenden
Schmerzen, Leiden oder Schäden der Versuchstiere im Hinblick auf den Versuchszweck
ethisch vertretbar sind. Versuche an Wirbeltieren, die zu länger anhaltenden oder sich
wiederholenden erheblichen Schmerzen oder Leiden führen, dürfen nur durchgeführt
werden, wenn die angestrebten Ergebnisse vermuten lassen, dass sie für wesentliche
Bedürfnisse von Mensch oder Tier einschließlich der Lösung wissenschaftlicher
Probleme von hervorragender Bedeutung sein werden.“
„Träger von Einrichtungen, in denen Tierversuche an Wirbeltieren durchgeführt werden,
haben einen oder mehrere Tierschutzbeauftragte zu bestellen und die Bestellung der
zuständigen Behörde anzuzeigen. In der Anzeige gem. § 8b sind auch die Stellung und
die Befugnisse des Tierschutzbeauftragten nach Ans. 6 Satz 3 anzugeben.“
Zum Tierschutzbeauftragten können nur Personen mit abgeschlossenem Hochschulstudium der
Veterinärmedizin, Medizin oder Biologie - Fachrichtung Zoologie - bestellt werden. Sie müssen
die für die Durchführung ihrer Aufgaben erforderlichen Fachkenntnisse und die hierfür
erforderliche Zuverlässigkeit haben. Der Tierschutzbeauftragte ist verpflichtet,
„1. auf die Einhaltung von Vorschriften, Bedingungen und Auflagen im Interesse des
Tierschutzes zu achten,
2. die Einrichtung und die mit den Tierversuchen und mit der Haltung der Versuchstiere
befassten Personen zu beraten,
3. zu jedem Antrag auf Genehmigung eines Tierversuchs Stellung zu nehmen,
30
Rechtliche Grundlagen
Dr. med. vet. Kurt Reifenberg
4. innerbetrieblich auf die Entwicklung und Einführung von Verfahren und Mitteln zur
Vermeidung oder Beschränkung von Tierversuchen hinzuwirken. „
Die Einrichtung hat den Tierschutzbeauftragten bei der Erfüllung seiner Aufgaben so zu
unterstützen und von allen Versuchsvorhaben zu unterrichten, dass er seine Aufgaben
uneingeschränkt wahrnehmen kann. Der Tierschutzbeauftragte ist bei der Erfüllung seiner
Aufgaben weisungsfrei. Er darf wegen der Erfüllung seiner Aufgaben nicht benachteiligt
werden.
Der Tierschutzbeauftragte muss über alle anzeige- oder genehmigungspflichtigen Eingriffe an
Tieren und auch über Tötungen, die nach § 4 Abs. 3 zu wissenschaftlichen Zwecken
durchgeführt werden, informiert sein.
1.2.13 Aufzeichnungspflicht
In § 9a TierSchG wird vorgeschrieben, dass über Tierversuche Aufzeichnungen zu machen sind.
„Die Aufzeichnungen müssen für jedes Versuchsvorhaben den mit ihm verfolgten
Zweck, insbesondere die Gründe für nach § 9 (2) Nr.1 erlaubte Versuche an
sinnesphysiologisch höher entwickelten Tieren, sowie die Zahl und Bezeichnung der
verwendeten Tiere und die Art und Ausführung der Versuche angeben. Werden
Wirbeltiere verwendet, so ist auch ihre Herkunft einschließlich des Namens und der
Anschrift des Vorbesitzers anzugeben; bei Hunden und Katzen sind zusätzlich
Geschlecht und Rasse sowie Art und Zeichnung des Fells und eine an dem Tier
vorgenommene Kennzeichnung anzugeben. Die Aufzeichnungen sind von den Personen,
die die Versuche durchgeführt haben, und von dem Leiter des Versuchsvorhabens zu
unterzeichnen; der Unterschrift bedarf es nicht, wenn die Aufzeichnungen mit Hilfe
automatischer Einrichtungen erstellt werden. Die Aufzeichnungen sind drei Jahre lang
nach Abschluss des Versuchsvorhabens aufzubewahren und der zuständigen Behörde auf
Verlangen zur Einsichtnahme vorzulegen.“
Der Aufzeichnungspflicht unterliegen alle anzeige- oder genehmigungspflichtigen Eingriffe an
Tieren. Lediglich Tötungen, die nach § 4 Abs. 3 zu wissenschaftlichen Zwecken durchgeführt
werden, unterliegen keiner Aufzeichnungspflicht.
1.2.14 Versuchstiermeldung
Die Versuchstiermeldeverordnung (VtMV) legt fest, dass derjenige, der anzeige- oder
genehmigungspflichtige Eingriffe oder Tötungen nach § 4 Abs. 3 zu wissenschaftlichen
Zwecken an Tieren vornimmt, verpflichtet ist, der zuständigen Behörde Angaben über Art,
31
Rechtliche Grundlagen
Dr. med. vet. Kurt Reifenberg
Herkunft und Zahl der verwendeten Wirbeltiere sowie über den Zweck und die Art der Versuche
oder der sonstigen wissenschaftlichen Verwendungen zu machen. Die Meldungen sind für jedes
Kalenderjahr bis zum 31. März des folgenden Jahres nach vorgegebenem Muster zu erstatten. In
Abstimmung mit der zuständigen Behörde können die Meldungen auch in elektronischer Form
erfolgen.
In der Meldung sind mittels eines Zahlencodes in der Hauptsache folgende Angaben
vorzunehmen:
-Tierspezies
-tierschutzrechtliche Zuordnung des Verfahrens (§§ 4, 6, 7, 8, 10, 10a)
-Zahlenangaben zu erstmals verwendeten Tieren
-Anteil transgener (Anmerkung des Verfassers: = gentechnisch veränderter) Tiere
-Zahlenangaben zu erneut verwendeten Tieren
-Bezugsquelle der Tiere
-Angaben zum Verwendungszweck
-Zusammenhang mit bestimmten Erkrankungen
32
Rechtliche Grundlagen
Dr. med. vet. Kurt Reifenberg
1.2.15 Übersichtstabelle
Die nachfolgende Tabelle informiert im Überblick über die Art von Eingriffen an Tieren zu
wissenschaftlichen Zwecken, deren Legalisierung, Verantwortlichkeiten und Pflichten.
Tierschutz-rechtliche
Zuordnung der Vorhaben
Tierschutzrechtliche
"Legalisierung"
Benennung
eines
verantwortlichen Leiters
und dessen
Stellvertreters
-nach § 4 Abs. 3 (Tötung zu
wissenschaftlichen
Zwecken),
nicht
erforderlich
nein
ja
ja
nein
ja
-nach § 6 Abs. 1 Nr. 4 (
Entnahme von Geweben
oder Organen),
Anzeige
ja
ja
ja
ja
ja
-nach § 8 Abs. 1
(genehmigungspflichtige
Tierversuche),
Antrag /
Genehmigung
ja
ja
ja
ja
ja
Anzeige
ja
ja
ja
ja
ja
Anzeige
ja
ja
ja
ja
ja
- nach § 10 (Aus-, Fort- oder
Weiterbildung),
Anzeige
ja
ja
ja
ja
ja
- nach § 10a (Herstellung,
Gewinnung, Aufbewahrung
oder Vermehrung von
Stoffen, Produkten oder
Organismen)
Anzeige
ja
ja
ja
ja
ja
-nach § 8 a Abs. 1 und 2 nicht
genehmigungspflichtige
Tierversuche (Eingriffe, die
als Impfungen,
Blutentnahmen oder
sonstige diagnostische
Maßnahmen nach bereits
erprobten Verfahren
vorgenommen werden,
genehmigungspflichtige
Eingriffe an Cephalopoden
oder Dekapoden
-nach § 8 Abs. 7 Satz 2
(Änderung eines
genehmigten
Versuchsvorhabens)
33
Gültigkeit
Zuständigder
keit eines
AufzeichAngaben
KardinalTierschutz- nungspflicht nach VtMV
forderungen
beauftragten
des TSchG
Rechtliche Grundlagen
Dr. med. vet. Kurt Reifenberg
1.2.16 Literatur
1. Tierschutzgesetz in der Fassung v. 25. Mai 1998, in Kraft getreten am 01.06.1998, BGBl. Jg.
1998, Teil I, Nr. 30, S. 1105 ff
2. Verordnung über die Meldung zu Versuchszwecken oder zu bestimmten Zwecken
verwendeter Wirbeltiere (Versuchstiermeldeverordnung) vom 4. November 1999
3. Verordnung über Aufzeichnungen über Versuchstiere und deren Kennzeichnung vom
20.05.1988
4. Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zur Durchführung des Tierschutzgesetzes vom 09.
Februar 2000
5. Richtlinie des Rates vom 24. November 1986 zur Annäherung der Rechts- und
Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten zum Schutz der für Versuche und andere
wissenschaftliche Zwecke verwendeten Tiere (86/609/EWG) genannten Anforderungen
(„Euro-Richtlinie“)
6. Hirt A, Maisack C, Moritz J, Tierschutzgesetz, Verlag Franz Vahlen, München, 2003
7. Lorz A, Metzger E , Tierschutzgesetz, Kommentar. C. H. Beck Verlag, München, 1999
8. Russell WMS, Burch RL (1959) The Principles of Humane Experimental Technique. London
Methuen. (Reprinted by UFAW, 1992).
34
Anatomie und Physiologie
2.
Um
Prof. Dr. Uwe Wolfrum
Vergleichende Anatomie und Physiologie von Versuchstieren
die
Anforderung
an
eine
tiergerechte
Haltung
von
Versuchstieren
und
ein
tierexperimentelles Vorgehen fundiert beurteilen zu können, müssen die Eigenheiten im Bauplan
(Morphologie, Anatomie), Physiologie und Verhalten des Versuchstiers bekannt sein. Zudem ist
es bei der Prüfung der Eignung einer Versuchstierspezies für ein spezielles Versuchsvorhaben
wichtig,
die
artspezifischen
anatomischen
und
physiologischen
Gegebenheiten
als
Auswahlkriterium zu nutzen. So eignet sich beispielsweise zur Analyse der Mechanismen des
Farbensehens von Vertebraten der Goldfisch, ein Vertreter der Knochenfische, auf Grund seines
Sinneszellrepertoire im Auge besser als die Labornager, Ratte und Maus, die uns
Altweltprimaten aus phylogenetischer Sicht wesentlich näher stehen. Allerdings ist es häufig
dem breiter ausgebildeten Zoologen vorbehalten, aus der großen Biodiversität tierischer
Organismen die für spezielle Vorhaben geeignete Spezies auszuwählen.
Ein übergreifender Vergleich zwischen den Tiergruppen soll den Veranstaltungen der
„Speziellen Zoologie“ vorbehalten bleiben. Da das Tierschutzgesetz bekanntlich nur - mit
Ausnahme der Tintenfische (Cephalopoden) und Krebse (Dekapoden) – für Wirbeltiere
(Vertebrata) Anwendung findet, möchte ich mich hier auch auf Wirbeltiere beschränken und
dabei die Eigenheiten der Baupläne gängiger Versuchstiere aufgreifen.
2.1
Zentralnervensystem (ZNS)
Das Zentralnervensystem (ZNS) umfaßt bei Vertebraten Rückenmark und Gehirn. Das Gehirn ist
bei den höheren Wirbeltieren – Vögeln und Säugern – zu einem leistungsstarken Datenprozessor
evoluiert. Von ihm werden alle intrinsischen Körperfunktionen am Laufen gehalten und zudem
werden vom ihm komplexe Verhaltensweisen gesteuert.
Das Gehirn der Wirbeltiere setzt sich aus 5 Teilen zusammen: Telencephalon (Großhirn)
und Diencephalon (Zwischenhirn), die zusammen das Vorderhirn bilden, dem Mes- (Mittelhirn)
sowie dem Met- (Hinterhirn) und dem Myelencephalon (Nachhirn), das sich in das Rückenmark
fortsetzt. Met- und Myelencephalon können als das Rhombencephalon (Rautenhirn)
zusammengefasst werden. Während der Wirbeltierevolution sind folgende Trends der
Gehirndifferenzierung deutlich erkennbar. Bei ektothermen (= poikilotherme, „wechselwarme“)
Tieren – Fischen, Amphibien und Reptilien (rezent) – ist das Gehirnvolumen mit dem
Körpergewicht der Tiere korreliert, wohingegen bei den phylogenetisch progressiveren
endothermen (= homoitherme, „gleichwarme“) Wirbeltiere, den Vögeln und Säugern, das Gehirn
im Bezug auf das Körpergewicht maßgeblich vergrößert ist. Dabei nimmt auch die
Segmentierung
des
Gehirns
zu
und
damit
entstehen
auch
weitere
funktionelle
Gehirnkompartimente. Während der Phylogenie der Vertebraten differenziert sich das Dach des
35
Anatomie und Physiologie
Prof. Dr. Uwe Wolfrum
Metencephalon zum Cerebellum (Kleinhirn), dem primären Zentrum zur Koordination von
Bewegungen. Im Bereich des Diencephalons werden bei dieser Umgestaltung die beiden
integrierenden Zentren Thalamus und Hypothalamus herausgebildet und im Telencephalon
differenziert sich die Großhirnrinde (Cortex) heraus, die für höhere Gehirnfunktionen,
beispielsweise für das Lernen und das Gedächtnis, zuständig wird. Während der Cortex
primitiver Säugetieren (z. B. Insektivoren, Nagetiere, Hasenartige) noch eine glatte Oberfläche
aufweist (lissencephales Säugetier-Gehirn) nimmt mit dem Auftreten von komplexeren
Verhaltensweisen die Oberfläche des Cortex durch Einfaltungen enorm zu (gyrencephales
Säugetier-Gehirn der höheren Säuger wie z. B. Raubtiere (Carnivora), Paarhufer (Artiodactyla),
Unpaarhufer (Perissodactyla), Waale (Cetacea) und Primaten. Durch die Faltung können
wesentlich mehr Neurone mit ihrem Zellkörper (Perikaryon) im Cortex Platz finden, was eine
leistungsstärkere Prozessierung der Umweltinformationen und eine entsprechende Zunahme
kognitiver Fähigkeiten erlaubt. Bei niederen Vertebraten, den Fischen, Amphibien und Reptilien
ist das Telencephalon wenig differenziert, dass ein angeborenes Instinktverhalten im
Vordergrund steht, welches die Tiere in der Lage versetzt, auf primitive überlebenswichtige
Umweltreize zu reagieren. Bei allen Säugetieren (ob lissencephal oder gyrencephal) ist das
Telencephalon komplexer aufgebaut und es können z.B. Emotionen empfunden werden oder
Affekt-geprägte Verhaltensweisen durchgeführt werden. Die Beeinflussung des Verhaltens durch
Emotionen ermöglicht es den Säugetieren, wesentlich differenzierter auf Umweltreize zu
reagieren als dies bei primitiveren Wirbeltieren der Fall ist. Dabei können im Gehirn der
Säugetiere Zentren für die positive Emotion „Vorfreude“ sowie für die negativen Emotionen
„Angst“, „Wut“ und „Einsamkeit“ unterschieden werden. Erst bei den progressiven Säugetieren
treten kognitive Leistungen wie Selbstbewusstsein, Aufmerksamkeit, räumliche und zeitliche
Orientierung, und abstraktes Denken auf. Die am höchsten ausgeprägten kognitiven Leistungen
zeigen dabei die Primaten. Setzt man Körpergröße und Cortexoberfäche in Beziehung, so
rangieren interessanterweise Delphine hinter den Primaten auf Rang 2. Die Relativgröße des
Gehirns der Delphine lässt auf ein hohes Maß an Intelligenz der Tiere schließen, könnte jedoch
auch dadurch bedingt sein, dass im Gehirn der Waale immer nur eine Gehirnhälfte aktiv ist. Das
Gehirn
des
Menschen
(Homo
sapiens
sapiens)
zeigt
den
mit
Abstand
höchsten
Differenzierungsgrad des Cortex auf und ermöglicht einzigartige kognitive Leistungen, die ihm
eine komplexe Sprache ermöglicht.
36
Anatomie und Physiologie
2.2
Prof. Dr. Uwe Wolfrum
Sinnesleistungen und Sinnesorgane
Mittels vielgestaltiger Sinnesorgane nehmen Tiere Informationen über Umweltbedingungen auf,
die dann nach der Transformation und Verstärkung des Signals in der Sinneszelle in die
körpereigene elektrische Kodierung weitergeleitet wird, um im Zentralnervensystem (in der
Regel im Gehirn) ausgewertet bzw. vom Tier wahrgenommen zu werden.
2.2.1 Physiologie des Riechens und Schmeckens - „chemische Sinn“
Der „chemische Sinn“ – wie man den Geschmacks- und Geruchsinn zusammenfaßt, weil beide
an chemische Stoffe als Überträger gekoppelt sind - ist das älteste Sinnessystem der Tier. Der
grundsätzliche Unterschied besteht zunächst darin, dass die zu analysierenden chemischen Stoffe
in verschiedenen Medien gelöst vorliegen. Wasserlebende Organismen konnten zunächst im
Wasser gelöste Substanzen über Sinneszellen direkt detektieren bzw. „schmecken“.
Demgegenüber wurde nach dem Wasser-Land-Übergang die Luft das Medium, um Moleküle,
Duftstoffe, zu übertragen und zu ihrer Detektion mußten spezielle Organe ausgebildet werden.
2.2.1.1 Geschmacksinn - Schmecken
Unter dem „Geschmack“ eines Stoffes versteht man in einer ganzheitlichen Betrachtungsweise
die Summe aller Empfindungen, die bei der Nahrungsaufnahme im Mundraum entstehen. Neben
den klassischen gustatorischen Stimulationen sind vor allem die olfaktorischen Empfindungen (~
80%) sowie mechano-, thermo- und nociceptive Stimuli beteiligt. Die eigentlichen
Geschmackssinnesorgane (= Geschmacksknospen) liegen bei höheren Landwirbeltieren
ausschließlich in der Mundhöhle, während hingegen bei Fischen Geschmackssinnesorgane
zusätzlich noch über die gesamte äußere Körperoberfläche verteilt lokalisiert sein können und
manche Amphibien für Salzlösung und für Änderungen des ph-Wertes über ihre Haut sensibel
sind. Bei Säugetieren sind die gustatorischen Sinneszellen (sekundäre Sinneszellen) in den
Geschmacksknospen der Geschmackspapillen des Mundraumes vor allem auf der Zunge
lokalisiert. Säuger können über diese Geschmacksknospen 4 Grundqualitäten, süß, sauer, salzig
und bitter unterscheiden, die durch die Geschmacksrichtungen umami (japanisch = wohl
schmeckend, Geschmacksverstärker Glutaminsäure) und alkalisch ergänzt werden. Die
Geschmacksqualitäten sind über die Zungenoberfläche charakteristisch verteilt. Innerhalb der
Wirbeltiere variiert die Anzahl der Geschmacksknospen beträchtlich. So besitzen Hühner und
Tauben nur 20-40, Enten und Fledermäuse etwa 100, wohingegen der Mensch ca. 2.000 und
Hasen, Rinder und Hunde bis zu 30.000 Geschmacksknospen besitzen.
37
Anatomie und Physiologie
Prof. Dr. Uwe Wolfrum
2.2.1.1 Geruchssinn -Riechen
In der weitgehend sprachlosen Welt der Tiere ist der Geruchsinn neben dem visuellen System
das
wichtigste
Kommunikationsmittel.
In
der
Nasenhöhle
von
Säugern
sind
die
Riechrezeptorzellen neben Stütz- und Basalzellen (adulte Stammzellen für Regeneration der
Riechrezeptorzellen) im Riechepithel, dem olfaktorischen Teil der Nasenschleimhaut, lokalisiert.
Das gesamte Epithel ist mit einer Schleimschicht überdeckt, in die die sensorischen Cilien an den
Riechköpfen der Sinnezellen hineinprojizieren. Duftmoleküle, die mit der Atemluft in die
Nasenhöhle gelangen, müssen durch diesen Schleim hindurchdiffundieren, um auf die
olfaktorischen Rezeptormoleküle (7-trans-Membran-Rezeptormoleküle) in der Cilienmembran
zu gelangen und diese zu stimulieren. Als primäre Sinneszellen besitzen olfaktorische
Rezeptorzellen ein Axon, das aus dem Riechepithel hinaus durch das Siebbein des Schädels
hindurch zu den olfaktorischen Glomeruli des Bulbus olfactorius projizieren, wo die erste
Verarbeitung der eingegangenen Reize erfolgt. Während die meisten Fische paarige Riechgruben
besitzen, wird ein neuer Typ von Riechorgan im Übergang zum Landleben kreiert. Dabei werden
äußeren Nasenöffnungen über einen Gang mit inneren Nasenöffnungen (= Choanen) im Dach
der Mundhöhle verbunden, um eine Ventilation
der Atemluft durch die Nasenhöhle zu
ermöglichen. Die Differenzierung der Riechorgane erreicht innerhalb der Vertebraten bei den
Säugern ihre höchste Komplexität. Die Wale und höheren Primaten bilden dabei jedoch die
Ausnahme. Die enorme Empfindlichkeitsdifferenz zwischen Säugern z.B. zwischen Hund und
Mensch beruht vor allem auf der Anzahl der Riechzellen im olfaktorischen Epithel und damit der
Zahl der auf den olfaktorischen Cilien präsentierten Rezeptormolekülen. Darüber hinaus sind
beim Menschen von den ca. 1.300 bei anderen Säugern, wie beispielsweise der Maus oder dem
Hund, gefundenen Genen für olfaktorische Rezeptoren nur noch ca. 350 aktiv. Die anderen
liegen nur noch als funktionslose Pseudogene vor. Dieser Unterschied in der Differenzierung des
Riechorgans spiegelt sich auch in der Ausbildung des primären Riechzentrums im Gehirn wider.
Dem bei Huftieren, Nagern und Raubtieren mächtig entwickelte Bulbus olfactorius entspricht bei
den Primaten ein winziger Fortsatz des Telencephalon. Bei Delphinen ist das Riechorgan sogar
ganz reduziert. Obwohl vieles dafür spricht, dass Brieftauben sich bei ihrer Orientierung zum
Heimat-Schlag auch Geruchsinformationen ausnutzen, sind Vögel im Allgemeinen recht
schlechte Riecher.
Neben dem olfaktorischen Epithel in der Nasenhöhle besitzen die meisten Reptilien und
Säuger mit dem Vomeronasalorgan oder Jakobson´sche Organ ein weiteres Geruchsorgan im
Gaumendach. Während Eidechsen und Schlangen beim „Züngeln“ mit der Zungenspitze
Duftmolekühle aufnehmen und diese beim Zurückziehen der Zunge auf das Sinnesepithel des
Vomeronasalorgans übertragen wird bei vielen Säugern die Funktion des Vomeronasalorgan im
38
Anatomie und Physiologie
Prof. Dr. Uwe Wolfrum
Zusammenhang mit der Perzeption von Pheromonen gebracht. Zwar wird die Existenz des
Vomeronasalorgans beim Menschen z.Z. noch kontrovers diskutiert, doch gibt es recht
weitreiche Evidenz dafür, dass auch beim Menschen Pheromone über das Vomeronasalorgan
detektiert werden.
Für die Versuchstierhaltung ist von Bedeutung, dass die Populationsdichte z.B. von
Mäusen über die Geruchsperzeption geregelt wird. Ist eine Population zu groß bzw. werden
Tiere zu eng gehalten, so ist der arteigene Geruch im Areal zu intensiv und die Fruchtbarkeit der
Weibchen über hormonelle Wege reduziert.
2.2.2 Mechanorezeption - Hören
Bei Wirbeltieren liegen die einfachsten Mechanorezeptoren in der Epidermis und Dermis der
Haut. Sie kommen dort als freie Nervenendigungen oder umhüllt von akzessorischen Strukturen
als
„Körperchen“
in
Form
der
Meissnerschen
Tastkörperchen,
Vater-Pacinischen
Lammellenkörperchen oder Merkel-Tastkörperchen vor. Mittels prinzipiell ganz anderer
Mechanorezeptoren, nämlich durch sekundäre Haar-Sinneszellen, werden die mechanischen
Reize von Wasserstömungen im Seitenlinienorgan der Fische und der im Wasser lebenden
Amphibien rezipiert. Als sekundäre Sinneszellen besitzen diese Haarzellen kein Axon, sondern
können über Synapsen durch ihre efferente Innervation moduliert werden oder die Erregung an
afferenten (ableitende, sensorische) Neurone weiterleiten. Gruppen von Haarsinneszellen
projizieren mit ihrem reizaufnehmenden Stereovilli in eine Gallertkappe (Cupula), die durch die
Wasserströmung im Seiteliniensystem abgebogen werden.
Vom Seitenlinienorgan läßt sich phylogenetisch das Bogengangsystem des Labyrinthes
im Innenohr der Wirbeltiere ableiten. In den Bogengängen sind als mechanosensitive
Sinnesorgane, neben den Ampullen, die für die Detektion der Winkelbeschleunigung dienen,
Utriculus und Sacculus lokalisiert, die für den Statischen Sinn zuständig sind. Zum
Schallsinnesorgan der Tetrapoden entwickelt sich ein ventrale Aussackung des Labyrinths,
zunächst die Lagena und später bei Säugern die Cochlea, in der mechanosensitive Haarzellen im
Corti´schen Organ organisiert sind. Bei Säugern werden Schallwellen in der Luft über das äußere
Ohr auf das Trommelfell geleitet und über den schalleitenden Apparat der Gehörknöchelchen im
Mittelohr auf die flüssigkeitsgefüllten Räume der Cochlea übertragen. Aufgrund der
unterschiede der Mikromechanik der Cochlea ist das Frequenzspektrum der Hörbereiche
verschiedener Säugetiere recht unterschiedlich und kann wie allgemein bekannt bei
Fledermäusen, aber auch bei Nagetieren und Delphinen in den Ultraschallbereich hineinreichen.
Zahlreiche Säugetiere besitzen zudem Tasthaare oder Vibrissen, die vor allem als Druckund Tastrezeptoren arbeiten. So sind an der Schnauze der Labornager große und kräftige
39
Anatomie und Physiologie
Tasthaare
eingelenkt,
Prof. Dr. Uwe Wolfrum
deren
Wurzeln
mit
hochempfindlichen,
mechanosensitiven
Nervenendigungen umspannt sind. Die Gesichtsvibrissen dienen Seehunden zur Ortung von sich
im Wasser bewegenden Objekten, z.B. Beutefischen. Kürzlich konnten auch bei Krokodilen und
Alligatoren Kuppelförmige Rezeptoren im Schnauzenbereich gefunden werden, die geringsten
Wasserbewegungen detektieren und den Tieren eine Ortung von Beute ermöglichen.
2.2.3
Lichtrezeption - Sehen
Cephalopoden und Vertebraten verfügen über komplexe Einzellinsenaugen, die in der
Onthogenese analog gebildet werden. Dabei differenziert sich das gesamte Auge, incl. der
everse Retina, bei den Cephalopoden aus dem Hautektoderm, während die Retina der
Vertebraten onthogenetisch aus einer Ausstülpung des Diencephalons (Zwischenhirn) entsteht.
Hieraus resultiert die „inverse“, dem Lichteinfall abgewande Anordnung der Photorezeptoren im
Auge der Vertebraten. In der Wirbeltierretina sind zwei getrennte Rezeptorsysteme
unterschiedlicher Sensitivität und Qualität zu finden: das skotopische Stäbchensystem ermöglicht
farbenblindes Dämmerungssehen und das photopische Zapfensystem ist auf Kosten der
Sensitivität farbtüchtig. Das Verhältnis der Zahl der Zapfen zu der der Stäbchen und ihre
Verteilung über die Retina variiert innerhalb der Vertebraten. In der Retina tagaktiver Tiere
dominieren in der Regel die Zapfen während bei Dämmerungstieren die Stäbchen überwiegen.
Die meisten Säugetiere sind Dichromate, sie besitzen zwei Typen von Zapfen, die Opsine
unterschiedlicher spektraler Empfindlichkeit, Blau-Opsin und Grün-Opsin, exprimieren.
Innerhalb der Primaten sind Neuweltaffen Dichromaten, während bei Altweltaffen einschließlich
der Hominoiden ein weiterer Zapfentyp mit einem Rot-Opsin auftritt (Trichromat).
Demgegenüber sind manche Fische sogar pentachromat und besitzen 5 Zapfentypen.
Extraokulare Lichtrezeptoren sind bei Wirbeltieren im Pinealorgan (= Parietalorgan), am
Dach des Zwischenhirns lokalisiert. Das Pinealorgan ist bei manchen Wirbeltieren (Fischen,
Reptilien) zu einem echten Auge mit akzessorischer Linse, dem sogenannten Medianauge
differenziert. Über das Pinealorgan kann die circadiane Rhythmik und damit verbundene
biologische Prozesse lichtabhängig gesteuert werden.
Neben den oben genannten „gängigen“ Sinnessystemen sind bei manchen Wirbeltieren
spezielle Sinnesorgane ausgebildet. So sind z. B. Infrarotrezeptoren in den Grubenorganen am
Kopf von Schlangen lokalisiert, die es den Tieren ermöglichen, Beutetiere über deren
Körpertemperatur zu orten. Elektrische Fische detektieren nicht nur die elektrischen Felder
anderer Tiere im Wasser, sondern können sogar mittels spezifischer elektrischer Signale
kommunizieren.
40
Anatomie und Physiologie
2.3
Prof. Dr. Uwe Wolfrum
Integument (Haut):
Es wird häufig übersehen, dass die Haut (das Integument) das flächenmäßig größte Organ von
Wirbeltieren ist. Die Aufgaben und Leistungen des Integuments und seiner Derivate sind sehr
umfangreich und vielgestaltig. Sie reichen beispielsweise von der Regulation des
Wasserhaushalts und der Thermoregulation über Tarnung der Tiere bis hin zur Brutpflege. So
spiegelt sich der große evolutive Schritt des Wasser-Landübergangs der Wirbeltiere sehr
eindrucksvoll am Aufbau des Integuments wieder. Es ist leicht einsichtig, dass Landtiere sich
von der Austrocknung schützen müssen. Auch wurde die Entwicklung zur Endothermie konnte
erst an Land vollzogen und die Differenzierungen der Haut sind essentiell für die notwendige
Thermoregulation.
Die Haut der Vertebraten unterteilt sich in Cutis und Subcutis. Dabei stellt die Cutis, die Haut im
engeren Sinne dar und besteht aus Epidermis und Dermis. Die Epidermis der Vertebraten ist in
der Regel ein mehrschichtiges Plattenepithel, wobei die sich in der Schicht des Striatum
germinativum gebildeten Zellen durch vermehrte Keratin-Einlagerung verhornen und schließlich
als tote Zellen das Striatum corneum aufbauen. Während Fische und Amphibien häufig eine sehr
dünne, noch wenig verhornte Epidermis aufweisen, bildet sie Reptilien deren Hornschuppen aus,
die cyclisch gehäutet werden (merke: die Hornschuppe der Reptilien und mancher Säuger (z.B.
Schuppen am Schwanz der Ratte) sind epidermalen Ursprungs und damit nicht homolog zur
Fischschuppe, die aus der Dermis stammt.). Aus der Reptilienschuppe dürfte die Feder der
endothermen Vögel (und Archaesauria) hervorgegangen sein, die ursprünglich nicht zur
Lokomotion/Fliegen sondern eher zur Wärmeisolation der Tiere beigetragen hat. Als weitere
Wärmeisolator epidermalen Ursprungs konnten sich Haare bereits auch bei endothermen
Reptilien durchsetzen und sind später als Charakteristikum der Säuger gewertet worden. Weitere
Derivate der Epidermis sind: Krallen, Nägel und Hufe, aber auch Hautdrüsen, wie Schweiß- und
Milchdrüsen der Säuger und
die Schleim- und Giftdrüsen in der Haut von Fischen und
Amphibien.
2.4
Atmung
Der oxidative Stoffwechsel der Tiere erfordert einen ständigen Gasaustausch zwischen
Organismus und Umgebung. Der äußere Gasaustausch ist sehr eng mit dem internen
Transportsystem (Kreislaufsystem s.u.) gekoppelt. Neben Hauptatmungsorganen der Kiemen
und Lungen kann der Gasaustausch bei Amphibien zu einem beträchtlichen Teil (~ 80%) über
die Haut erfolgen (auch Mündhöhlenatmung). Bei „Fischen“ unterscheidet man Beutelkiemen
(Cyclostomata, Neunaugen), Plattenkiemen (Elasmobranchii, Haie und Rochen) und die
41
Anatomie und Physiologie
Prof. Dr. Uwe Wolfrum
Lamellenkiemen der Knochenfische (Teleostei). Demgegenüber besitzen die wasserlebenden
Amphibien und manche Larvenstadien von „Fischen“ büschelförmige Außenkiemen. In den
Kiemen verläuft der Blutstrom im respiratorischen Kapillarsystem entgegen dem Wasserstrom
und Gase können im Gegenstromprinzip ausgetauscht werden. Die Vertebratenlunge und die
Schwimmblase der „Fische“ differenzieren sich homolog als Aussackungen des Vorderdarms.
Die Lungen der Tetrapodengruppen unterscheiden sich vor allem in der Ausdehnung des
respiratorisch aktiven Aveolarepithels. Bei Schlange und „schlangengestaltigen“ Amphibien
(Gymnophiona) ist einer der Lungenflügel reduziert. Beim Atemvorgang werden die Lungen bei
der die Inspiration mit Luft gefüllt, die bei der Exspiration wieder entweicht. Die damit
verbundenen Volumenänderungen werden in der Regel bei den Tetrapoden durch
Atembewegungen des Brustkorbes (oder in Spezialfällen bei Schildkröten durch die
Extremintätenmuskulatur oder bei Krokodilen über die Verschiebung des Eingeweidesackes
mittels eines speziellen Muskels) unterstützt. Demgegenüber ist die eigentliche Lunge der Vögel
starr konstruiert. Die eigentlichen, respiratorisch aktiven Teile der Lunge sind die sogenannten
Parabronchien, die mit einem komplizierten Luftsacksystem in Verbindung stehen, das sich bis
in die Knochen hineinerstreckt (pneumatisierte Knochen). Die Strömungseigenschaften in
diesem System gewährleistet, dass sowohl beim Ein- als auch beim Ausatmen frische Luft in die
Parabronchien gelangt und die Effizienz der Vogellunge gegenüber der Säugetierlunge höher ist.
42
Anatomie und Physiologie
Fisch
Prof. Dr. Uwe Wolfrum
Amphib larval
Amphib adult
I.
II.
Reptilia
Vögel
Mammalia
III
IV
V.
VI
Abbildung: Gruppenspezifische Modifikationen des Gefäßsystems von Vertebraten (Verändert
nach Wehner/Gering).
2.5
Blutkreislaufsystem (BKS)
Vertebraten besitzen ein geschlossenes Blutkreislaufsystem mit einem dreiteiligen Herzen als
Antriebsorgan: Das Wirbeltierherz besteht aus Sinus venosus, Atrium (Vor-) und Ventrikel
(Hauptkammer), die vom Pericard (Herzbeutel) umgeben sind. Durch Einbezug des
Lungenkreislaufs in das BKS differenzieren sich während der Phylogenese zwei Atrien
(Amphibien - Reptilien) und später auch zwei getrennte Ventrikel (Vögel, Säuger), die die
Durchmischung O2-reichen mit O2-armen Blutes verhindern. Zum Herz führende Gefäße werden
Venen genannt, während Arterien das Blut vom Herzen wegführen. Bei Fischen wird das Blut
vom Herzen über die Aorta ventralis in die Kiemenbogenarterien (in der Regel 6) gepumpt, um
nach der Passage durch die Kiemen in der Aorta descendens dem Rumpf zugeführt zu werden.
Bei den Landwirbeltieren werden die Arterienbögen ontogenetisch zwar angelegt, erfahren
jedoch später gruppenspezifische Modifizierungen. Dabei werden die ursprünglich vorhandenen
Bögen 1 und 2, sowie Bogen 5 bei Reptilien, Vögeln und Säugern (Amniota) vollständig
43
Anatomie und Physiologie
Prof. Dr. Uwe Wolfrum
reduziert. Während Bogen 3 zur Kopfarterie und Bogen 4 zur Aortenwurzel werden, wird über
den Bogen 6 die Lunge in den BKL einbezogen. Über den Lungenkreislauf oxygeniertes Blut
gelangt über den linken Ventrikel und die Aortenwurzel in den Körperkreislauf, in dem
desoxygeniertes Blut über die Hohlvenen zum Herzen zurückgeführt wird.
2.6
Verdauungstrakt
Der Verdauungstrakt der Vertebraten läßt sich neben dem Mundbereich und Pharynx (Rachen)
in den Vorderdarm, Mitteldarm und Enddarm gliedern. Dabei setzt sich der Vorderdarm aus
Oesophagus (Speiseröhre) und Magen, der in Cardia (Eingangsbereich), Fundus und Pylorus
(Sphinkter zum Mitteldarm hin) unterteilt ist. Im Allgemeinen dient der Magen primär als
Nahrungsspeicher und kann sekundär Verdauungsaufgaben übernehmen. Die Magenabschnitte
unterscheiden sich vor allem in ihrer Ausstattung an Drüsen- und schleimbildenden Zellen.
Während im Eingangsbereich Schleimdrüsen in der Darmwand lokalisiert sind, scheiden die
Drüsen im Fundus HCl und Proteasen aus. Eine Sonderstellung innerhalb der Wirbeltiere nimmt
der Magen der Vögel ein, der sich aus dem Drüsen- oder Vormagen und dem Muskelmagen
zusammensetzt. Letztere formt bei Insekten- und Körnerfressern das Gewölle. Bei den
Säugetieren stellt der Magen der Wiederkäuer eine Spezifikation dar: Hier gliedert sich der
Magen in 3 Vormägen (Pansen, Netz- und Blättermagen) und den bei den übrigen Säugern
homologen Magenabschnitt, den sogenannten Labmagen. Pansen und Netzmagen beherbergen
eine sehr diffizile Endosymbionten-Fauna aus Ciliaten und Bakterien, die mit Hilfe von
Cellulase Cellulose spalten können. Andere Mikroorganismen der Magenfauna können sogar im
Pansen Harnstoff als Stickstoffquelle für die Proteinsynthese nutzen.
Der Mitteldarm, gleich Dünndarm, ist der eigentliche im Dienste der Verdauung, der
Nahrungsresorption, stehende Darmtrakt. Sein erster Abschnitt ist das Duodenum, der
Zwölffingerdarm, in den die Ausführgänge der Leber (Gallenflüssigkeit emulgiert Fette und
aktiviert die Lipase des Pankreas) und des Pankreas, der wichtigsten Verdauungsdrüse, die
zudem in den Langerhansschen Inseln die Hormone Insulin und Glucagon bildet, münden. Der
Dünndarm setzt sich dann als Jejunum ( = Leerdarm) und als Ileum ( = Krummdarm) fort. Im
Übergang zum Enddarm mündet der Blinddarm, auch Coecum oder Caecum genannt, der bei
manchen Säugern (z. B. Insectivoren oder Bären) ganz fehlen kann, aber bei anderen eine sehr
bedeutende Rolle spielt. So ist er bei manchen Vögeln (Auerhühnern) ein wichtiger
Verdauungsbereich und bei herbivoren Nagetierarten und Lagomorpha (Hasenartige) ersetzt ein
verhältnismäßig voluminöser Blinddarm in gewisser Weise den Pansen der Wiederkäuer. Im
Coecum werden Vitamine der B-Gruppe gebildet und einzellige Symbionten sind Quelle von
Cellulase. Bei Hasenartigen wird der im Coecum produzierte Vitamin-B-reiche Kot nach seiner
44
Anatomie und Physiologie
Prof. Dr. Uwe Wolfrum
Ausscheidung aus dem Enddarm gefressen (Coecotrophie), der harte "normale" Kot dagegen
wird meist nicht aufgenommen. Durch das Kotfressen werden die Aufnahme von Vitamin-B und
die Weitergabe der Symbionten gesichert und die Coecotrophie ist damit ein für das Tier
wichtiges Verhalten, das seiner Gesundheit dient und in Gefangenschaft keinesfalls unterbunden
werden darf. Im Enddarm wird zunächst im Dickdarm (Colon) der Kot durch Wasserresorption
eingedickt und Cellulose verdaut, bevor er nach der Passage durch das Rektum (Mastdarm) über
den After ausgeschieden wird.
2.7
Biologie und Verhalten von Versuchstieren:
Um eine tiergerechte Haltung zu gewährleisten und im Experiment erzielte Ergebnisse
einschätzen zu können, bedarf es auch der fundierten Beurteilung der natürlichen Lebensweise
einschließlich des Verhaltens der Zuchttiere und ihrer wildlebenden Vorfahren.
Ordnung
Familie
Muridae
Rodentia
Lagomorpha
Cricetidae
Spezies
Mus musculus
Rattus norwegicus
Subspezies
M. m. domesticus
M. m. musculus
M. m. castaneus
M. m. bactrianus
Mesocricetus auratus
Meriones ungiculatus
Caviidae
Cavia aperea
Leporidae
Oryctolagus cuniculus
Abbildung: Systematik der Versuchsnagetiere und des häufig fälschlicherweise als Nagetier
angesehenen Kaninchens
2.7.1
Labormaus (Mus musculus domesticus)
Die meisten Stämme und Linien von Labormäusen stammen von der Hausmaus, Mus musculus
(M. m.) ab, wobei genetisches Material der in Europa und Amerika beheimatete Subspezies M.
m. domesticus sowie der in Asien vorzufindende Subspezies M. m. musculus in den Genpool der
Labormäuse eingeflossen sind. Die ersten bekannten experimentellen Untersuchungen an
Mäusen stammen aus dem 17. Jahrhundert. Hobbyzüchter waren wahrscheinlich zunächst an
Varianten in der Fellfarbe interessiert, die dann später für Versuchszwecke weitergezüchtet
45
Anatomie und Physiologie
Prof. Dr. Uwe Wolfrum
wurden. Während der Domestikation der Labormäuse erfuhren die Zuchtformen eine Reihe von
Anpassungsveränderungen. Diese Domestikationseffekte zeigen sich besonders deutlich in der
drastischen Abnahme des Gehirngewichtes in Bezug auf das Körpergewicht der Tiere. Auf
Grund dieser Unterschiede liegt der Schluß nahe, dass sich auch das gesamte
Verhaltensrepertoire während der Domestikation verringert hat. Die Verkleinerung anderer
Organe, z.B. von Herz, Nebenniere, Milz und Leber deuten darauf hin, dass die
Widerstandsfähigkeit der Zuchtmäuse insgesamt
geringer ist. Zudem entwickeln sich die
Geschlechtsorgane der über 500 gängigen Inzuchtstämme früher als die ihrer wildlebenden
Ausgangsformen.
Die Wildform Mus musculus ist ein Allesfresser, der im Gegensatz zu anderen
wildlebenden Mäusearten keine Vorräte anlegt. Sofern die Futter- und Wasserversorgung
gesichert ist, verläßt die Hausmaus ein Areal von einigen Metern zeitlebens nicht. Hausmäuse
leben in kleinen Verbänden (Großfamilien) in einem gemeinsamen, durch Duftmarken
abgegrenzten Wohngebiet. Eß- und Ruheplätze sowie Harn- und Kotstellen werden gemeinsam
genutzt. Unter den Männchen gibt es eine Rangordnung, die durch Kämpfe zwischen den Tieren
aufgestellt wird. Zwischen den Mitgliedern der Großfamilie wird gut zu beobachtende soziale
Körperpflege betrieben. Die Populationsgröße innerhalb des Hausmausbestandes kann durch
hormonelle Geburtenregulation der Weibchen geregelt werden. So können heranwachsende
Weibchen zunächst unfruchtbar bleiben.
Die Hauptaktivitätszeit der Hausmaus liegt am Abend und in der Nacht. Allerdings
können Aktivitäts- und Ruhephasen im Tagesgang recht häufig wechseln (bis ~ 20-mal). Bei der
nächtlichen Orientierung der Tiere spielen Geruchs- und Gehörsinn die Hauptrolle. Dabei ist der
Dynamikbereich der Schallwahrnehmung bei Mäusen gegenüber dem Menschen in den höheren
Frequenzbereich (bis ~ 40 kHz) ausgedehnt. Im Dunkeln orientieren sich Mäuse sehr gut
chemotaktisch an Harnmarkierungen. Doch setzen sie auch ihre mechanosensitive Vibrissen, die
vor allem im Schnauzenbereich lokalisiert sind, ein.
Demgegenüber steht die visuelle Orientierung mit den recht kleinen Augen eher im
Hintergrund. Mäuse sind Dichromaten, besitzen neben Stäbchenphotorezeptoren nur Grün- und
Blau-Zapfen. Unter reinem Rotlicht können sie sich nicht optisch orientieren. Entgegen häufig in
der Literatur beschriebenen Daten entspricht das Verhältnis der Zahl von Zapfen zu Stäbchen
ungefähr dem Verhältnis beim Menschen. Allerdings sind die Zapfen bei Mäusen nicht wie beim
Menschen in der Fovea centralis konzentriert, sondern mehr oder weniger homogen über die
gesamte Retina verteilt.
Biologische Daten der Labormaus:
Körpermasse:
20-35 g, max. bis 50g
46
Anatomie und Physiologie
Prof. Dr. Uwe Wolfrum
Kopf-Rumpf-Länge: 5-10 cm; Schwanzlänge: 8-10 cm
Körpertemperatur:
36-38°C
Atemfrequenz:
ca. 160 Respirationen / min.
Herzschlagfrequenz:
300-800 Schläge / min.
Blutdruck:
150 / 100 mmHg
Chromosomenzahl (2n) :
40
Lebensdauer:
1,5 - 2 Jahre (maximal 3 Jahre)
Verhalten: Nachtaktives Nagetier, Nesthocker, kommensale Lebensweise, Kosmopolit,
Zusammenleben in Gruppen mit ausgeprägter Hierarchie, Nestbauverhalten,
Fellpflege
(Grooming),
Männchen
untereinander
sehr
aggressiv,
Geruchsmarkierung des Reviers mit Urin
Reproduktionsbiologie:
Weibchen: 5 Mammarkomplexe, Uterus duplex
Geschlechtsreife:
Zuchtreife:
Männchen: ca. 30-40 Tage Weibchen ca. 40-50 Tage
55-70 Tage
Brunstzyklus: asaisonal polyöstrisch, Zykluslänge: 4-5 Tage, Spontanovulation im
Östrus
Tragzeit:
18-21 Tage
Wurfgröße:
Inzuchtstämme: 5-8, Auszuchtstämme: 10-20
Geburtsgewicht:
ca. 1 g
Absetzalter:
frühestens 18-21 Tage
Absetzgewicht:
durchschnittlich 10 g
Verpaarung: erfolgt permanent (vorzugsweise) oder alternierend; monogam oder
polygam
Whitteneffekt: Der Whitteneffekt kann zur Zyklussynchronisation genutzt
werden. Hierbei werden in großen Gruppen gehaltene, azyklische
Weibchen terminiert mit Männchen verpaart. Bei ca. 50% der Tiere wird
am 3. Tag nach Verpaarung ein Östrus zu beobachten sein.
Bruceeffekt: Wird ein Mausweibchen in früher Trächtigkeit zu einem neuen Bock
gesetzt, so kann es zum Abort der Föten kommen.
Lee-Boot-Effekt: Durch sterile Kopulation wird zuverlässig eine 10 – 13 Tage
andauernde Pseudogravidität induziert. Der Lee-Boot-Effekt kann in
seltenen Fällen auch durch mechanische Stimulation der Scheide, z.B. im
Rahmen vaginalzytologische Untersuchungen, induziert werden.
Ernährungsbiologie
47
Anatomie und Physiologie
Prof. Dr. Uwe Wolfrum
Zahnformel:
2.7.2
Maxilla: 1003;
Mandibula: 1003
Futteraufnahme:
3-6 g pelletiertes Trockenfutter / Tag / Tier
Wasseraufnahme:
4-7 ml / Tag / Tier
Urinmenge:
1-3 ml / Tag / Tier
Laborratte (Rattus novegicus)
Laborratten sind fast ausschließlich Nachfahren der Wanderratte (Rattus novegicus), die
ursprünglich aus dem asiatischen Raum stammte und neben Hausratte (Rattus rattus), die vorher
durch die Kreuzritter eingeschleppt wurde, im 17. Jahrhundert in Europa heimisch wurde. Auch
Laborratten zeigen durch die Domestikation hervorgerufene Anpassungsveränderungen, die sich
vor allem gegenüber der Wildform in - bezogen auf das Gesamtkörpergewicht - leichteren
inneren Organen äußert. Zudem sind Laborratten früher, nach ca. 60-70 Tagen, geschlechtsreif
und Weibchen zeigen bei einer Tragzeit von 21-23 Tagen eine höhere Fruchtbarkeit (6-12 Junge
pro Wurf sind Nesthocker). Ratten können bis zu 3,5 Jahre alt werden und können ein Gewicht
von bis 300 g bei Weibchen und 550 g bei Männchen erreichen.
Ratten sind Allesfresser und sehr anpassungs- und lernfähig. Sie leben territorial in
Rudeln mit einer Rangordnung. Ihre Hauptaktivitätsphasen liegen in der Nacht und während der
frühen Morgenstunden. Auch bei Ratten steht die visuelle Orientierung eher im Hintergrund. Das
Photorezeptorrepertoire gleicht dabei demjenigen der Maus. Ratten orientieren sich vor allem an
chemischen und mechanischen Reizen. Sie besitzen ein sehr gutes Gehör mit Frequenzmaximum
im Ultraschallbereich (80 kHz) und setzen Vibrissen am Kopf, Beinen und Schwanz als
Tastrezeptoren ein.
Biologische Daten der Laborratte:
Körpermasse:
250-500 g, max. bis 600 g
Kopf-Rumpf-Länge: 22-26 cm;
Schwanzlänge: 18-22 cm
Körpertemperatur:
37,5-38,5 °C
Atemfrequenz:
ca. 60-170 Respirationen / min.
Herzschlagfrequenz:
300-500 Schläge / min.
Blutdruck:
150 / 100 mmHg
Chromosomenzahl (2n) :
42
Lebensdauer:
2 - 3 Jahre (maximal 3,5 Jahre)
Verhalten: Nachtaktives Nagetier, Nesthocker, Kommensale Lebensweise, Kosmopolit,
Zusammenleben in Gruppen mit ausgeprägter Hierarchie, Nestbauverhalten,
gegenseitige
Fellpflege,
Männchen
Geruchsmarkierung des Reviers (Urin)
48
untereinander
wenig
aggressiv,
Anatomie und Physiologie
Prof. Dr. Uwe Wolfrum
Reproduktionsbiologie:
Weibchen
6 Mammarkomplexe, Uterus duplex
Geschlechtsreife:
50-70 Tage
Zuchtreife:
90-100 Tage
Brunstzyklus: asaisonal polyöstrisch, Zykluslänge: 4-6 Tage, Spontanovulation
im Östrus
Tragzeit:
20-23 Tage
Wurfgröße:
Inzuchtstämme: 6-10, Auszuchtstämme: 10-20
Absetzalter:
frühestens 18-21 Tage
Absetzgewicht:
durchschnittlich 35-50 g
Verpaarung erfolgt permanent oder alternierend; monogam oder polygam
Ernährungsbiologie:
Zahnformel:
Maxilla: 1003; Mandibula: 1003
Futteraufnahme:
12-20 g pelletiertes Trockenfutter / Tag
Wasseraufnahme:
15-35 ml / Tag
Urinmenge:
10-15 ml / Tag
Anatomische Besonderheit: Fehlen einer Gallenblase
2.7.3
Kaninchen (Oryctolagus cuniculus)
Die Heimat der europäischen Kaninchen ist die iberische Halbinsel. Sie wurden zunächst von
den Römern weiter über Europa verbreitet und bereits im 16. Jahrhundert waren einige Rassen
bekannt. Kaninchen zählen zur Ordnung der Lagomorpha (Hasenartige) und besitzen im
Gegensatz zu den Nagetieren im Oberkiefer ein weiteres Paar Schneidezähne, die als kleinere
Stiftzähne ausgebildet sind. Kaninchen verfügen als Pflanzenfresser über einen langen Darmtrakt
mit einem großen Blinddarm (Caecum). Der aus dem Blinddarm stammende weiche Kot ist
proteinreich und enthält Vitamin-B. Er wird von den Tieren in den frühen Morgenstunden direkt
vom Anus aufgenommen (Caecotrophie, s.o.).
Bei Kaninchen beträgt die Tragzeit 29-35 Tage und die Wurfgröße liegt bei 4-10
Jungtieren (Nesthocker). Kaninchen können je nach Rasse bis 7 Jahre alt und 2-7 kg schwer
werden. Weibliche Tiere können gut in Gruppen gehalten werden, wohingegen männliche Tiere
untereinander aggressiver sind und Rangordungskämpfe austragen.
Biologische Daten des Kaninchens:
Körpermasse:
250-500 g, max. bis 600 g
Körpermasse:
1,7 – 5,0 kg (stark rasseabhängig, bei einigen Rassen
werden die Weibchen teilweise schwerer als die Männchen)
49
Anatomie und Physiologie
Prof. Dr. Uwe Wolfrum
Körpertemperatur:
ca. 39,5 °C
Atemfrequenz:
ca. 40-60 Respirationen / min (unter Belastung bis 150)
Herzschlagfrequenz:
120-250 Schläge / min (rasse- und belastungsabhängig)
Blutdruck:
110 / 80 mmHg
Chromosomenzahl (2n) :
44
Lebensdauer:
5 - 7 Jahre (maximal bis 14 Jahre)
Verhalten: Tag- und Nachtaktives Tier, Nesthocker, in freier Natur Zusammenleben in
Gruppen mit hierarchischer Ordnung, Nestbauverhalten, gegenseitige Fellpflege,
Männchen
untereinander
sehr
aggressiv
(gezielte
Hodenverletzungen),
Geruchsmarkierung des Reviers (Urin, Drüsen im Halsbereich)
Reproduktionsbiologie: „Langtagzüchter“
Weibchen
4 Mammarkomplexe, Uterus duplex
Geschlechtsreife:
ca. 100 Tage
Zuchtreife:
ca. 4 - 6 Monate
Brunstzyklus: kein regelmäßiger Brunstzyklus, es sind stets sprungbereite
Eifollikel am Ovar vorhanden, die Ovulation wird neurohormonal
ausgelöst und erfolgt ca. 10 Std. nach der Begattung (Reflexovulation)
Tragzeit:
ca. 31 Tage
Wurfgröße:
3-9
Absetzalter:
42-56 Tage
Absetzgewicht:
stark rasseabhängig, ca 0,5 – 1,5 kg
Verpaarung:
erfolgt durch temporäres Zusetzen der Zibbe zum Rammler
Ernährungsbiologie:
2.7.4
Zahnformel:
Maxilla: 2033; Mandibula: 1023
Futteraufnahme:
40 g pelletiertes Trockenfutter / Tag
Wasseraufnahme:
60-350 ml / Tag
Urinmenge:
50-500 ml / Tag
Südafrikanischer Krallenfrosch (Xenopus laevis)
Im Gegensatz zu anderen Anuren ist Xenopus ausschließlich ans Wasser gebunden und kann an
Land nur kurz überleben. Die Kaulquappen sind Detritusfresser, wohingegen adulte Tiere
carnivor sind. Sie fressen alles lebende und tote Material, das sie in stehenden Gewässern finden
und das sie sich mit den Vorderextremitäten ins Maul stopfen. Die namensgebenden Krallen
setzen Krallenfrösche zum Graben nach Beute im Schlamm ein. Zudem vergraben sich die Tiere
im Schlamm, wenn die Heimattümpel im Sommer austrocknen und verharren dort bis zur
50
Anatomie und Physiologie
Prof. Dr. Uwe Wolfrum
nächsten Regenzeit. Die Weibchen legen im Frühjahr binnen 24 h auf einmal 500-1000 Eier, die
von den angeklammerten Männchen anschließend besamt werden. Die Larven schlüpfen ca. 3
Tage nach der Besamung und vollziehen die Metamorphose nach ca. 2 Monaten. Sie sind nach
ca. 18 Monaten geschlechtsreif.
2.7.5
Zebrafisch, Zebrabärbling (Danio rerio)
Der Zebrafisch ist auf Grund seiner großen Potenz für genetische Ansätze in den letzten Jahren
ein weiteres, gängiges Labortier und Tiermodell für menschliche Erkrankungen geworden. Die
Wildformen von Danio stammen aus Pakistan, Indien, Bangladesch und Nepal, wo sie in
Flußbiotopen mit dichter Randbepflanzung leben. Die sehr lebhaften, sonnenlichtliebenden
Fische sind im Alter oft aggressiv. In der Zucht legt das Weibchen zwischen 300 und 400 Eier
ab. Da die Elterntiere Laichräuber sind, sollten sie nach der Eiablage aus dem Zuchtaquarium
wieder entfernt werden. Die Entwicklungszeit von Danio beträgt in der Zucht ca. 24 h. Durch die
Durchsichtigkeit der Jungtiere können Entwicklungsvorgänge am lebenden Tier, wie z.B. die
Organogenese oder das Auswachsen von Blutgefäßen beobachtet werden. Die bis zu 6 cm
langen adulten Tiere können leicht als Schwarmfische in größeren Verbänden gehalten werden
und können ein Alter von 3,5 Jahren erreichen.
51
Zucht und Genetik
Dr. med. vet. Kurt Reifenberg
3. Zucht und Genetik
(das vorliegende Manuskript lehnt sich an die Publikation „Zimmermann F, Weiss J, Reifenberg K (2000) Breeding
and assisted reproduction techniques, In: „The handbook of experimental animals: the rat“ (ed: Krinke G. J.)
Academic Press, London, 177-198“ an.)
3.1 Allgemeine Einführung in die Genetik
Wie bei anderen Säugerspezies umfasst auch das haploide Genom der Versuchstierspezies Maus
und Ratte 3 Milliarden DNA-Basepaare. Diejenigen DNA-Regionen, die für bestimmte
Genprodukte –meist Proteine- kodieren, werden als Gene bezeichnet. Die charakteristische
DNA-Sequenz eines Gens kann geringfügige Variationen aufweisen, die Einfluss auf die
genetische Funktion haben können. Diese alternativen Formen eines Gens werden als Allele
bezeichnet. Ein Gen befindet sich auf einer charakteristischen chromosomalen Region, die als
genetischer Locus bezeichnet wird.
Im Gegensatz zu den Autosomen, die als Paare morphologisch identischer Partnerchromosomen
auftreten, weisen die Geschlechtschromosomen der Säuger, das X- und das Y-Chromosom,
signifikante morphologische Unterschiede auf. Diese werden deshalb auch als Heterosomen
bezeichnet. Die überwiegende Mehrzahl an Genen, die sich auf den Heterosomen befinden,
kommt entweder nur auf den X-Chromosom oder nur auf dem Y-Chromosom vor. Den meisten
dieser Gene fehlt ein Pendant auf dem Partnerheterosom. Bisher wurden nur sehr wenige Gene
identifiziert, die sich sowohl auf dem X- als auch auf dem Y-Chromosom befinden. Die kleine
heterosomale Region, die diese Gene trägt, wird als pseudoautosomale Region bezeichnet. Die
Nomenklatur der pseudoautosomalen Region ist mit Bedacht ausgewählt, da sich die
Heterosomen bezüglich dieser chromosomalen Region wie Autosomen verhalten. Männliche
Säuger tragen von den meisten heterosomal vererbten Genen lediglich ein einziges Allel.
Lediglich die wenigen heterosomalen Gene, die in der pseudoautosomalen Region lokalisiert
sind, existieren bei männlichen Tieren in zwei Allelen.
Ein diploider Organismus, der zwei identische Allele eines bestimmten Gens trägt, wird als
homozygot bezeichnet. Trägt ein Organismus zwei unterschiedliche Allele, so sprechen wir von
Heterozygosität. Die spezielle Situation bei männlichen Säugern, dass die meisten heterosomal
gebundenen Gene in einem einzigen Allel existieren, wird als Hemizygosität bezeichnet. Durch
die Entwicklung der Transgentechnologie musste die Definition der Hemizygosität jedoch
erweitert werden. Die Mikroinjektion von geeigneten linearen DNA-Konstrukten in den
Pronukleus befruchteter Eizellen kann zur Integration der transgenen DNA-Sequenzen an einer
nicht vorhersehbaren chromosomalen Stelle des Empfängergenoms führen, wodurch ein neuer
genetischer Locus entsteht. Transgene Tiere können den neu erworbenen Locus auf einem
52
Zucht und Genetik
Dr. med. vet. Kurt Reifenberg
einzigem Autosom und nicht auf dem Partnerchromosom tragen. Da diese Situation der der
meisten heterosomal gebundenen Gene männlicher Säuger, die ja ebenfalls nur einen Genlocus
aufweisen, sehr ähnlich ist, wird sie ebenfalls als Hemizygosität bezeichnet.
In diploiden Organismen kommt es beim Transfer der genetischen Information von der
vorhergehenden zur nächsten Generation zu einer Reduktion des diploiden parentalen Genoms
(2n) auf das haploide Genom der Gameten. Der spezielle Zellteilungstyp, der diese
Genomreduktion erreicht, wird als Meiose bezeichnet. Im Verlauf der Meiose werden die beiden
parentalen Allele jedes heterozygoten Locus gleichmäßig auf die Keimzellen verteilt. Also
werden 50% der Gameten das eine und 50% das andere Allel tragen. Diese Vererbungsregel
wurde bereits von Mendel entdeckt und wird als zufällige Segregation bezeichnet. Mendel
entdeckte ebenfalls bereits das Gesetz der unabhängigen Vererbung. Dieses Gesetz besagt, dass
die Segregation zweier unterschiedlicher Gene unabhängig voneinander verläuft. Heute weiß
man allerdings, dass das Gesetz der unabhängigen Vererbung lediglich für solche Gene gilt, die
sich auf unterschiedlichen Chromosomen befinden. Für Gene, die auf demselben Chromosom
liegen, existieren kompliziertere Vererbungsregeln. In diesen Fällen ist die Aufteilung der Allele
von komplexen chromosomalen Rekombinationen während der Meiose abhängig. Während alle
autosomalen Partnerchromosomen und die zwei X-Chromosomen weiblicher Säuger häufig
rekombinieren, ist die Situation bezüglich der von männlichen Säugern getragenen X- and YChromosomen anders. Da sich das meiotische Rekombinationspotential dieser Chromosomen
auf die kleine pseudoautosomale Region beschränkt, sind Rekombinationsereignisse, falls sie
überhaupt stattfinden, sehr selten.
3.2 Nomenklatur zur Kreuzung von Versuchstieren
Es wurde ein spezielles Nomenklatursystem etabliert, um Kreuzungen zwischen Versuchstieren,
die ein standardisiertes Genom tragen, zu beschreiben. Das System berücksichtigt meist den
Genotyp eines einzelnen Genes oder einer Gruppe von Genen der beiden Paarungspartner. Zur
Vereinfachung wird das System nachfolgend für ein einzelnes imaginäres Gen mit dem
Allelrepertoire A and a beschrieben.
Beim Incrossing werden homozygote Tiere des Genotyps A/A bzw. a/a miteinander verpaart.
Durch die Incrossing-Kombinationen A/A x A/A or a/a x a/a werden Nachkommen produziert,
die wiederum den parentalen Genotyp A/A bzw. a/a tragen. Das Incrossing wird benutzt, um
ingezüchtete Tierstämme zu propagieren.
53
Zucht und Genetik
Dr. med. vet. Kurt Reifenberg
Ein Intercross wird erreicht, indem heterozygote A/a Tiere untereinander verpaart werden. Das
Intercross A/a x A/a wird Tiere des Genotyps A/A, A/a and a/a erzeugen, wobei diese
Genotypen ein Verhältnis von 1:2:1 aufweisen werden.
Die Kreuzung von homozygoten A/A oder a/a Tieren mit einem heterozygoten A/a Partner wird
als Backcrossing bezeichnet. Die Backcrosse A/A x A/a oder a/a x A/a werden Tiere der
Genotypen A/A und A/a oder a/a und A/a erzeugen. Eine Serie hintereinandergeschalteter
Backcrosse muss durchgeführt werden, um ein bestimmtes interessierendes Gen oder eine
Gengruppe von einem unerwünschten Donorstamm auf einen erwünschten ingezüchteten
Rezipientenstamm zu übertragen.
Verpaarungen zwischen homozygoten A/A und a/a Tieren werden als Outcrossing bezeichnet.
Das Outcross A/A x a/a wird heterozygote A/a Tiere erzeugen. Neben anderen Zwecken dienen
Outcrosse dazu, Hybriden herzustellen.
3.3 Ingezüchtete Stämme
Per Definitionem wird ein Stamm als ingezüchtet bezeichnet, wenn er für 20 oder mehr
aufeinanderfolgende Generationen einer Bruder x Schwester Inzucht (= BSI) unterworfen wurde
(Festing and Staats, 1973). Paarungskombinationen, bei denen Eltern mit Nachkommen gekreuzt
wurden, können das BSI-Zuchtregiment ersetzen, wenn die Verpaarung mit dem jüngeren der
beiden Elternteile erfolgt. Bei der Durchführung eines BSI-Zuchtregiments erhöht sich die
Wahrscheinlichkeit, dass ein bestimmter genetischer Locus homozygot wird, ständig. Diese
Wahrscheinlichkeit wird als Inzuchtkoeffizient Ft bezeichnet. Für eine bestimmte Generation t,
berechnet sich Ft nach folgender Formel (Falconer 1989):
Ft = 0.25 (1 + 2Ft-1 +Ft-2)
Für Stämme, die für 20, 40 bzw. 60 Generationen einer Bruder-Schwester-Inzüchtung
unterlagen, nimmt Ft Werte von 0.986335, 0.999803 bzw. 0.999997 an. Für einige Zwecke ist es
günstiger die Zunahme von Ft pro Generation anzugeben. Dieser wert wird als ∆F bezeichnet.
∆F berechnet sich nach der Formel:
∆F = (Ft-Ft-1) / (1-Ft-1)
∆F ist gleich 0.250, 0.167, 0.200 bzw. 0.188 für die ersten vier Generationen von BSI. In
späteren Generationen erreicht ∆F einen konstanten wert von 0.191. Der Inzuchtkoeffizient gibt
die Wahrscheinlichkeit dafür an, dass ein einzelner (beliebiger) genetischer Locus in
54
Zucht und Genetik
Dr. med. vet. Kurt Reifenberg
homozygoter Form vorliegt. Da jedoch nicht einzelne Gene sondern Blöcke von verbundenen
Genen von einer auf die nachfolgende Generation übertragen werden, ist der Anteil des
gesamten Genoms der nach einer BSI-Serie in homozygoter Form vorliegt (=fixiert ist) immer
geringer als er durch den Inzuchtkoeffizienten wiedergegeben wird. Der Anteil fixierter Loci im
Genom ingezüchteter Tiere hängt nicht nur von der Anzahl durchgeführter BSI-Generationen
sondern auch von der Genomgröße und zu einem geringerem Ausmaß von der artspezifischen
Chromosomenanzahl ab (Stam, 1980). Für eine Tierart der Genomgröße 2500cM und einer
haploiden Chromosomenzahl von 20 hat Fisher (1965) abgeschätzt, dass nach 60 Generationen
aufeinanderfolgender BSI Tiere mit einer 99%-igen Fixierung auftreten. Dieser Wert gilt
wahrscheinlich ebenfalls für ingezüchtete Maus- und Rattenstämme, da diese Spezies ähnliche
Genomgrößen aufweisen. So wird in der Rat Genome Database [http://ratmap.gen.gu.se/] die
Größe des Rattengenoms auf 2250cM geschätzt; das haploide Rattengenom ist in 21
Chromosomen organisiert. Die Genomgröße der Maus beträgt 1650 cM, die genetische
Information ist hier auf 20 Chromosomen verteilt. Folglich tragen ingezüchtete Maus- und
Rattenstämme selbst nach 60 Generationen aufeinanderfolgender BSI noch einen beträchtlichen
Anteil an Restheterozygosität. Um verbleibende heterozygote Loci ingezüchteter Tiere eventuell
doch noch zu fixieren, werden Inzuchtstämme nicht nur mittels BSI erzeugt, sondern ebenfalls
durch BSI propagiert. Es können jedoch Selektionsdrücke wirken, die heterozygote Genotypen
favorisieren. In solchen Fällen nämlich, in denen homozygote Tiere eine reduzierte
Lebensfähigkeit oder Fertilität aufweisen, können trotz des durch BS-Inzucht erzeugten Drucks
zur Homozygosität heterozygote Verhältnisse persistieren (Hayman and Mather, 1953).
Zuchtkolonien
ingezüchteter
Stämme
werden
in
Nucleuskolonien
(NC),
pedigrierte
Expansionskolonien (PEC) and Multiplikationskolonien (MC) unterteilt (Hedrich, 1990a). Die
NC ist ein sich selbst erhaltendes System, das dazu dient, den Inzuchtstamm zu konservieren. Es
wird eine strenge Bruder x Schwester-Inzuchtpaarung durchgeführt. Solche NC-Kolonien haben
meist eine geringe Größe von 10-30 Zuchtpaaren und alle Tiere stammen von einem
gemeinsamen früheren Zuchtpärchen ab. In der Regel werden zwei bis drei Sublinien des
gemeinsamen Ahnenpaares erzüchtet, die dann 3 bis 7 Generationen lang erhalten werden. Die
divergierenden Sublinien werden sorgfältig bezüglich Fortpflanzungserfolg und bestimmter
genetischer Daten kontrolliert. Wenn genügend Daten über die Sublinien vorliegen, wird eine
dieser Linien ausgesucht, um den Inzuchtstamm weiter zu propagieren während die anderen
Sublinien von der NC ausgeschlossen werden. Pro Woche kann eine Maus- oder Ratten-NC etwa
10 bis 15 Tiere produzieren. Werden mehr Tiere benötigt, muss eine pedigrierte
Expansionskolonien (PEC) gesetzt werden. Die Zuchttiere einer PEC stammen ausnahmslos von
55
Zucht und Genetik
Dr. med. vet. Kurt Reifenberg
der NC ab. Wie die NC, wird auch die PEC durch Bruder x Schwester Verpaarung propagiert.
Da PECs primär dazu dienen, Zuchttiere für Multiplikationskolonien (MC) zu produzieren,
entspricht ihre Größe der der zu versorgenden MCs. MCs werden nicht durch Bruder x
Schwester Verpaarung propagiert, sondern die Zuchttiere werden zufällig zusammengesetzt.
MCs dienen dazu, genügende Tierzahlen für die tierexperimentelle Forschung zu erzeugen.
Genetische Variabilität von Inzuchtstämmen
Forscher, die mit ingezüchteten Tieren arbeiten, müssen sich der Tatsache bewusst sein, dass der
Genpool eines vorgegebenen Inzuchtstammes nicht völlig stabil ist, sondern Schwankungen
unterliegt. Die Instabilität des Genpools kann durch folgende drei Faktoren bedingt sein.
Residualheterozygosität: Auch ein stark ingezüchteter Tierstamm, der für 60 oder noch mehr
Generationen durch Bruder-Schwester-Inzüchtung propagiert wurde, kann durchaus noch
heterozygote Loci aufweisen. Während der Weiterzucht des Stammes durch BSI können solche
Loci fixiert werden. Die Fixierung vormals heterozygoter Loci stellt einen Faktor dar, der zu
Schwankungen im Genepool ingezüchteter Stämme führt.
Mutation: Ein anderer Faktor, der den Genepool ingezüchteter Tierstämme beeinflusst, ist das
spontane Auftreten von Mutationen. Die genaue Mutationsrate einzelner Gene ist meist
unbekannt. Die Häufigkeit des Auftretens von Mutationen im Genepool ingezüchteter Stämme
kann jedoch abgeschätzt werden. Die durchschnittliche Mutationsrate eines eukaryoten
Organismus, die als u bezeichnet wird, wird auf etwa 10-5 pro Gamete and pro Locus geschätzt
(Ohno 1972). Dieser Wert berücksichtigt jedoch nicht die Tatsache, dass die Mutationsrate vom
jeweiligen genetischen Locus, vom Geschlecht und vom Alter abhängt (siehe Review-Artikel
von Crow, 1997). Da bei einem durch Bruder x Schwester Inzucht geführten Inzuchtstamm jede
Generation von genau zwei Tieren begründet wird, ist jedes autosomale Gen im Genepool mit
nur 4 Allelen repräsentiert. Deshalb beträgt in einem Inzuchtstamm die Mutationsrate eines
bestimmten genetischen Locus 4 x u. Die Wahrscheinlichkeit der Fixierung einer erworbenen
Mutation ist in starkem Ausmaß davon abhängig, ob selektive Kräfte auf das mutierte Allel
wirken. Ohne den Einfluss einer Selektion weisen neue Mutationen eine 25%ige
Wahrscheinlichkeit auf, im Genpool des Inzuchtstammes fixiert zu werden. Folglich ist die
Wahrscheinlichkeit für den Austausch eines gegebenen Allels durch ein mutiertes Allel pro
Bruder x Schwester Inzuchtgeneration gleich der Mutationsrate u (Falconer, 1989). Da das
Säugergenom etwa 30.000 Gene umfasst, werden pro Generation ca. 0,3 Mutationen Im
Genpool, eines Inzuchtstamms fixiert. Es ist unklar, inwiefern die aufgeführte Abschätzung der
Mutationsrate von Inzuchtstämmen die tatsächlichen Verhältnisse widerspiegelt. Bailey (1977)
56
Zucht und Genetik
Dr. med. vet. Kurt Reifenberg
hat für die Spezies Maus gezeigt, dass tatsächlich in jeder dritten Generation eine Mutation
fixiert wird.
Genetische Kontamination: Genetische Kontaminationen von Inzuchtstämmen resultieren aus
der unbeabsichtigten Einführung fremder Gene durch Outcrossing. Im Gegensatz zu den
Mechanismen der Fixierung vormals heterozygoter Loci und des Erwerbs von Mutationen, ist
die genetische Kontamination prinzipiell vermeidbar. Das nachweislich häufige Auftreten von
genetischen Kontaminationen ingezüchteter Stämme in der Vergangenheit zeigt jedoch, dass es
sehr schwierig ist, ein akzidentelles Outcrossing sicher zu verhindern. Das Risiko der
genetischen Kontamination ist in solchen Tierhaltungen besonders hoch, in denen viele
unterschiedliche Inzuchtstämme, die dieselbe Fellfarbe aufweisen, in großer Nähe zueinander
gezüchtet werden. Personen, denen die Zucht ingezüchteter Tiere anvertraut ist, sind verpflichtet,
alle nur möglichen Maßnahmen zu ergreifen, um das Risiko des Auftretens genetischer
Kontaminationen zu minimieren. Dies impliziert die sichere Identifikation von Zuchttieren und
das Training und die kompetente Beaufsichtigung der Tierpfleger. In Tierhaltungen, in denen
eine breite Vielfalt von ingezüchteten Varianten propagiert wird, muss ein genetisches
Monitoring-System etabliert werden, um die Authentizität der Stämme zu kontrollieren. Es
existiert geeignete Literatur (Hedrich 1990b), die sich spezifisch mit Programmen zur
Durchführung eines genetischen Monitoring befasst. Die Kryokonservierung ingezüchteter
Stämme von Mäusen oder Ratten in der Form von gefrorenen Präimplantationsembryonen ist
heute unproblematisch möglich. Diese Technik erlaubt es, eine Art “backup“ des Genepools
eines ingezüchteten Stamms zu erstellen, so dass im Fall einer genetischen Kontamination der
authentische Stamm wieder hergestellt werden kann.
Zusammenfassend muss konstatiert werden, dass die Veränderung des Genpools ingezüchteter
Stämme durch die Fixierung residualer heterozygoter Loci und durch die Akquirierung von
Mutationen nicht zu vermeiden ist. Der genetische Status ingezüchteter Stämme wird zudem
durch die Möglichkeit der genetischen Kontamination bedroht. Unter Berücksichtigung dieser
Faktoren wurden eindeutige Regeln erstellt, ab welchem Zeitpunkt ein ingezüchteter Stamm in
neue Substämme unterteilt werden muss (Festing and Staats, 1973). Diese Regeln sind
insbesondere von solchen Personen zu befolgen, denen die Zucht von Inzuchtstämmen
anvertraut wurde.
57
Zucht und Genetik
Dr. med. vet. Kurt Reifenberg
3.4 Koisogene Stämme
Ingezüchtete Stämme tragen ein standardisiertes Genom und repräsentieren deshalb ideale
Träger von erwünschten Mutationen. Mutationen von Nagetiergenen können entweder spontan
entstehen oder durch die Behandlung mit mutagenen Substanzen verursacht werden (Russell et
al, 1979) oder durch ionisierende Strahlung entstehen (Green and Roderick, 1966). Weiterhin
können durch Pronukleus-Mikroinjektion geeigneter DNA-Konstrukte direkt transgene
Sequenzen in das Genom ingezüchteter Mäuse oder Ratten eingeführt werden. Weiterhin konnte
für die Spezies Maus eine Technik entwickelt werden, durch homologe Rekombination
embryonaler Stammzellen gezielte Veränderungen im Genom vorzunehmen (Gene Targeting).
Ein koisogener Stamm wird erzeugt, indem ein ingezüchtetes Tier eine Mutation bzw. eine
gentechnische Veränderung (Trangen, „knock-out“ oder „knock-in“) in die nächste Generation
vererbt. Jedes koisogene Stammsystem besteht aus dem originären Inzuchtstamm in der nichtmutierten oder nicht-gentechnisch-veränderten Form sowie dem koisogenen Partnerstamm, der
das mutierte Allel oder die gentechnische Veränderung trägt. Das koisogene Stammsystem
verfügt somit über denselben genetischen Hintergrund, unterscheidet sich jedoch lediglich
bezüglich eines spezifischen genetischen Locus. Diese Eigenschaften machen koisogene
Stammsysteme zu idealen Modellen zur Analyse der Phänotypen, die durch Mutationen oder
durch gentechnische Veränderungen hervorgerufen werden. Koisogene Stämme sollten durch
Bruder x Schwester Inzüchtung propagiert werden.
3.5 Kongene Stämme
Ein kongener Stamm wird erzeugt, indem ein spezifischer genetischer Locus von einem
unerwünschten Donorstamm auf einem erwünschten Rezipienteninzuchtstamm übertragen wird.
Der übertragene genetische Locus wird als Differentiallocus bezeichnet und kann ein spezielles
interessierendes Allel oder eine ganze Gruppe verbundener interessierender Gene wie den
Haupt- histokompatibilitätskomplex (MHC) umfassen. Die Funktion des Donorstamms besteht
darin, den Differentiallocus zur Verfügung zu stellen. Folglich muss der Donorstamm nicht
notwendigerweise ingezüchtet sein und es ist irrelevant, ob das Differentialgen in homozygoter
oder heterozygoter Form vorliegt. Im Gegensatz dazu liefert der Rezipientenstamm den neuen
genetischen Hintergrund für die Differentialregion; dieser Stamm muss ingezüchtet sein. Der
Transfer des Differentiallocus auf den Rezipientenstamm wird durch Zuchtmaßnahmen erreicht,
deren prinzipielles Konzept von George Snell entwickelt wurde (Snell 1978). Heutzutage wird in
fast allen Fällen das sogenannte NX-Zuchtschema angewandt, um kongene Stämme zu erzeugen
(Flaherty, 1981).
58
Zucht und Genetik
Dr. med. vet. Kurt Reifenberg
Donorstamm
RezipientenInzuchtstamm
X
F1 (initiales Outcross)
ungeignet:
X
X
N2 (1. Backcross)
X
X
N3 (2. Backcross)
X
X
N10 (9. Backcross)
X
Kongener Stamm
Abbildung 3.1 NX-Zuchtschema zur Erzeugung kongener Stämme
Der Donorstamm trägt einen gewünschten Differentiallocus X, der sich jedoch auf einem unerwünschten
genetischen Hintergrund befindet (durch weiße Füllung der Symbole dargestellt). Der Rezipienteninzuchtstamm
trägt zwar den erwünschten genetischen Hintergrund (durch schwarze Füllung der Symbole dargestellt), ihm fehlt
jedoch
das
Differentialallel
X.
Durch
konsekutive
Kreuzung
von
X-Trägertieren
auf
Tiere
des
Rezipienteninzuchtstamms wird ein kongener Stamm erzeugt. Der Kongenstamm vereint das Differntailallel X mit
dem gewünschten genetischen Hintergrund des Rezipienteninzuchtstamms ( : Männchen, Ο: Weibchen).
Wie in der Abbildung 3.1 dargestellt, besteht das NX-Zuchtkonzept aus zwei Komponenten.
Zunächst wird ein Outcrossing zwischen Donor- und Rezipientenstamm durchgeführt, um das
Differentialallel überhaupt in den Genpool des Empfängerstammes einzubringen. Durch das
initiale Outcross wird nicht nur der gewünschte Differentiallocus übertragen, das Outcross führt
leider zur breiten Einführung unerwünschter Donorstammallele. Deshalb werden anschließend
viele Backcrosse auf den Rezipientenstamm durchgeführt, um die kontaminierenden
Donorstammallele
wieder
durch
Rezipientenstammgene
zu
ersetzen.
In
jeder
Backcrossgeneration werden heterozygote oder hemizygote Träger des Differentiallocus von
Nicht-Trägertieren selektiert. Nur die Trägertiere werden mit Repräsentanten des RezipientenInzuchtstammes verpaart. Die erste Outcrossgeneration wird als Generation 1 (F1) bezeichnet,
die erste Backcrossgeneration als Generation 2 (N2), die zweite Backcrossgeneration als
Generation 3 (N3), u.s.w. Per definitionem (Greenhouse et al, 1990) sind 10 Kreuzungen des
Differentialallels auf den Rezipienteninzuchtstamm erforderlich, um die resultierende Variante
59
Zucht und Genetik
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als kongen bezeichnen zu dürfen. Dabei wird das initiale Outcross als 1. Generation (F1) gezählt.
Ist das übertragene Gen dominant, können einmal etablierte kongene Stämme durch weiteres
Backcrossing zum Rezipientenstamm gezüchtet werden. Alternativ kann der kongene Stamm
auch durch Bruder x Schwester Inzüchtung propagiert werden.
Abschätzung der genetischen Kontamination kongener Stämme
Obwohl das NX Zuchtsystem zu einem extensivem Ersatz unerwünschter Donorstammallele
durch erwünschte Rezipientenstammgene führt, sollte im Auge behalten werden, dass kongene
Stämme eine beträchtliche residuale genetische Kontamination durch Donorstammallele
aufweisen. In diesem Zusammenhang muss erwähnt werden, dass der Ersatz von
Donorstammallelen mit chromosomaler Verbindung (Linkage) zum Differentiallocus durch
Rezipientenstamm-Material von chromosomalen Rekombinationsereignissen abhängt. Im
Gegensatz
dazu
sind
keine
keine
meiotischen
Rekombinationen
erforderlich,
um
Donorstammallele ohne Linkage zum Differentiallocus durch Rezipientenmaterial zu
verdrängen. Deshalb müssen Versuche, das Ausmaß der residualen Kontamination kongener
Varianten durch Donorstammallele abzuschätzen, unterscheiden, ob eine chromosomale
Verbindung zum Differentiallocus vorliegt oder nicht. Unter der Annahme, dass alle Gene des
Donor- und Rezipientenstammes polymorph sind, werden diejenigen Tiere, die aus dem initialen
Outcross resultieren, Genome tragen, die ausschließlich heterozygote Loci aufweisen. In
denjenigen Genomteilen, die keine Linkage zum Differentiallocus haben, wird jedes
Backcrossing den Anteil heterozygoter Loci um 50% reduzieren. Folglich kann bezüglich der
Loci ohne Linkage zum Differentialgen für eine bestimmte Backcrossgeneration n der Anteil an
Heterozygosität durch die Formel 0.5n-1 berechnet werden. Gemäß dieser Formel werden
kongene Tiere, die für 10 Generationen (n=10) mit dem Rezipienten-Inzuchtstamm gekreuzt
wurden, 0.20% heterozygoter Loci an jenen Stellen des Genoms tragen, die ohne Linkage zur
Differentialregion sind. Dieser Wert wird allgemein als akzeptabel bewertet. Die
Kontaminationsrate kongener Stämme durch Donorstammallele ist jedoch an demjenigen
Chromosom, das den Differentiallocus trägt, kritischer zu bewerten. Dieses Chromosom wird,
zusammen mit der eigentlichen Differentialregion, ein chromosomales Fragment des
Donorstamms erwerben, das eine beträchtliche Größe aufweist. Die Größe des Segmentes Ln (in
cM) kann für eine bestimmte Anzahl n von Kreuzungen zum Rezipienteninzuchtstamm nach
folgender Formel abgeschätzt werden (Flaherty, 1981):
Ln (cM) = 200 x (1-2-n)/n
60
Zucht und Genetik
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Für alle Werte, in denen n größer als 5 ist, kann diese Formel vereinfacht werden zu (Bartlett and
Haldane, 1935):
Ln = 200/n
Beide angegebenen Formeln basieren auf der Annahme, dass der Differentiallocus sich nicht am
chromosomalen Ende befindet. Mit Hilfe der Formeln kann die Größe des chromosomalen
Donorsegments, das den Differentiallocus flankiert, abgeschätzt werden. Für kongene Stämme,
die für 10 bzw. 20 Generationen mit dem Rezipienten-Inzuchtstamm gekreuzt wurden, ergeben
sich Werte von 20 cM bzw. 10 cM. Bei einer Größe des Maus- bzw. Rattengenoms von 1650 cM
bzw 2250 cM , entspricht dies immerhin ca. 1.0 % bzw. 0.5 % des kongenen Genoms.
Die aufgeführten Kalkulationen zeigen, dass neu etablierte kongene Stämme ein beträchtliches
Ausmaß an residualer genetischer Kontamination durch Donorstammallele tragen. Werden
kongene Stämme durch weiteres Backcrossing propagiert, so wird diese Kontaminationsrate
weiter abnehmen. In solchen Fällen jedoch, in denen kongene Stämme durch Bruder x Schwester
Inzüchtung weitergezüchtet werden, werden diese heterozygoten Loci zum Teil fixiert werden.
Da die Donor- und Rezipientenstammallele heterozygoter Loci eine gleiche FixierungsWahrscheinlichkeit aufweisen, werden 50% der Loci durch unerwünschte Donorstammallele
besetzt werden. Diese kontaminierenden Donorstammregionen werden über das gesamte Genom
kongener Tiere, die durch Vollgeschwisterverpaarung propagiert werden, verteilt sein. Sie
werden als sogenannte „Passenger Loci“ bezeichnet. Von wesentlich größerer Bedeutung ist
jedoch, dass in allen kongenen Stämmen eine beträchtliche Kontamination vorliegt, die durch
das den Differentiallocus flankierende Donor-Chromosomenfragment verursacht wird. Es ist
deshalb wichtig zu wissen, dass kongene Stämme keineswegs koisogenen Stämmen entsprechen.
Ein koisogener Stamm unterscheidet sich vom Partnerstamm lediglich bezüglich eines einzigen
genetischen Locus. Deshalb können in koisogenen Stammsystemen gefundene phänotypische
Unterschiede eindeutig auf den Differentiallocus zurückgeführt werden. Im Gegensatz dazu
unterscheidet sich ein kongener Stamm vom Rezipienteninzuchtstamm nicht nur bezüglich des
Differentiallocus, sondern auch bezüglich der Passenger Loci sowie bezüglich einer Vielzahl
von Donorstammallele, die sich in dem den Differentiallocus flankierernden DonorChromosomensegment befinden. Deshalb müssen phänotypische Unterschiede, die in kongenen
Stammsystemen beobachtet wurden, nicht notwendigerweise durch das Differentialallel
61
Zucht und Genetik
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verursacht sein; sie können ebenfalls die Folge der residualen Kontamination durch
Donorstammallele darstellen.
Situation der Geschlechtschromosomen bei kongenen Stämmen
Ein Faktor, der bei der Herstellung kongener Stämme berücksichtigt werden muss, ist die
spezielle Situation der Geschlechtschromosomen. Wenn sich der Differentiallocus auf einem
Autosom befindet, muss die Einführung beider Heterosomen des Rezipienten-Inzuchtstammes
durch sorgfältige Auswahl des Geschlechts der Verpaarungspartner, die zum Outcrossing und
Backcrossing verwandt werden, gewährleistet werden. Während beim initialen Outcross
männliche Tiere des Rezipienteninzuchtstammes mit Donorstammweibchen verpaart werden,
werden in den nachfolgenden Backcrossen Rezipientenstammweibchen mit männlichen Trägern
des Differentiallocus angepaart. Diese Geschlechterkombination garantiert einerseits, dass das
Y-Chromosom des Rezipientenstamms beim initialen Outcross in den kongenen Stamm
eingeführt wird und bei allen nachfolgenden Backcrossen erhalten bleibt. Andererseits
gewährleistet die Auswahl männlicher Trägertiere des Differentiallocus zur Durchführung der
weiteren Backcrosse zum Rezipienten-Inzuchtstamm, dass der kongene Stamm nichtrekombinierte X-Chromosomen des Rezipientenstammes erhält. Wenn der Differentiallocus, der
auf einen neuen kongenen Stamm übertragen werden soll, sich auf einen X-Heterosom befindet,
muss das Backcrossing durchgeführt werden, indem weibliche Trägertiere des Differentiallocus
mit Männchen des Rezipienteninzuchtstamms angepaart werden. Diese Modifikation des
Zuchtschemas ermöglicht meiotische Rekombinationen zwischen Donor- und Rezipientenstamm
X-Chromosomen. Würde das Zuchtschema für autosomal-gebundene Differentialloci angewandt
werden, um X-chromosomal gebundene Allele zu übertragen, so würden die resultierenden Tiere
das gesamte X-Chromosom des Donorstamms tragen. Solche Stämme werden als konsomisch
bezeichnet. Die Etablierung eines konsomischen Stammes ist in solchen Fällen unvermeidbar, in
denen ein Y-chromsomal gebundener Differentiallocus auf einen neuen Rezipientenstamm
übertragen werden soll.
3.6 Sogenannte “Speed-kongene“ Stämme
“Konventionelle“ kongene Stämme werden erzeugt, indem Trägertiere des Differentiallocus für
mindestens 10 aufeinander folgende Generationen auf einen Rezipienteninzuchtstamm gekreuzt
werden. Da die Generationszeit von Maus und Ratte etwa 3 Monate beträgt, beansprucht die
Erzeugung eines konventionellen kongenen Stamms folglich eine Zeitspanne von ca. 3 Jahren.
Dieser beträchtliche Zeitfaktor spornte zu Überlegungen an, wie kongene Stämme durch den
62
Zucht und Genetik
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Einsatz zusätzlicher Selektionskriterien eventuell in kürzerer Zeit erzeugt werden könnten. Das
solchen Überlegungen zugrunde liegende Konzept besteht darin, nicht nur positiv auf die
Transmission der Differentialregion, sondern zusätzlich negativ gegen die Übertragung
unerwünschter Donorgene zu selektieren. Diese zusätzliche negative Selektion erfordert eine
genügend große Anzahl genetischer Polymorphismen zwischen Donor- und Rezipientenstamm.
Die Polymorphismen müssen zusätzlich so beschaffen sein, dass sie schnell und ökonomisch
bestimmt werden können. Mit der Entdeckung von Mikrosatellitenmarkern (Miesfeld et al, 1981,
Hamada et al, 1982) konnte ein genomisches Element ausgemacht werden, das all die oben
aufgeführten Kriterien erfüllt. Mikrosatelliten, die auch als “Simple Sequence Repeats (SSR)”
bezeichnet werden, bestehen aus Tandem-Wiederholungen von DNA-Grundmotiven, die aus 2
bis 4 Basenpaaren aufgebaut sind. Mikrosatelliten finden sich sehr häufig in allen
Säugergenomen und zeigen einen extremen intraspezifischen Polymorphismus, der durch die
Anzahl
an
Wiederholungen
des
zugrundeliegenden
DNA-Motivs
charakterisiert
ist.
Wichtigerweise können Mikrosatelliten-Polymorphismen sehr leicht durch PCR-Amplifikation
des gesamten Locus detektiert werden. Dazu werden Primer eingesetzt, die homolog zu den
spezifischen DNA-Sequenzen sind, die den Locus flankieren. Variationen in der Länge der PCRProdukte, die als “Simple Sequence Length Polymorphisms (SSLPs)” bezeichnet werden,
können leicht durch Gelelektrophorese nachgewiesen werden.
Mikrosatelliten haben sich als ein ideales genetisches Werkzeug herausgestellt, um die
Erzeugung kongener Stämme zu beschleunigen. Mittels Computersimulationen (Weil et al,
1997, Markel et al, 1997) konnte gezeigt werden, dass durch den Einsatz selektiver
Zuchtstrategien, die auf der Auswertung von Mikrosatelliten-Polymorphismen basieren, kongene
Nagerstämme in deutlich weniger Generationen hergestellt werden können, als dies beim
Backcrossing ohne negative Selektion der Fall wäre. Lander and Schork (1994) haben für derarte
beschleunigt hergestellte kongene Stämme den Terminus “Speed-Kongene“ eingeführt. Während
“speed-kongene“ Mausstämme heute bereits routinemäßig erzeugt werden (Serreze et al, 1996),
ist die Herstellung “speed kongener“ Rattenstämme noch unüblich. Die Technik wird sich
jedoch in demselben Ausmaß bei der Ratte durchsetzen, in dem geeignete MikrosatellitenMarker für diese Spezies charakterisiert werden. Kürzlich haben James and Lindpaintner (1997)
eine Vielzahl von Internetadressen publiziert, in denen detailierte Informationen über RattenMikrosatelliten verfügbar sind.
63
Zucht und Genetik
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3.7 Segregierende Inzuchtstämme
Koisogene und kongene Stämme werden häufig durch Bruder x Schwester Inzüchtung
propagiert. Manchmal führt jedoch die Homozygosität des interessierenden Differentialgens
solcher Stämme zur Beeinträchtigung der Fertilität oder Lebensfähigkeit. In diesen Fällen kann
der Stamm ebenfalls durch Vollgeschwister-Verpaarung geführt werden; das Differentialgen
wird jedoch in einen heterozygoten Status gezwungen. Heterozygosität kann einerseits entweder
durch Backcrossing oder durch Intercrossing erzwungen werden. Beim Backcrossing werden
heterozygote und homozygote Träger des Differentialgenes untereinander gepaart; beim
Intercrossing werden heterozygote Träger gekreuzt. Ein Beispiel eines segregierenden
Inzuchtstammes sind kongene Mäuse, die das rezessive nu-Allel tragen, das eine
Immunodefizienz (T-Zelldefekt) induziert. Da nu/nu Weibchen häufig Probleme bei der
Jungenaufzucht haben, wird dieser Stamm in vielen Fällen derart propagiert, dass homozygote
nu/nu Männchen mit heterozygoten nu/+ Weibchen verpaart werden.
3.8 Hybriden
Hybriden werden erzeugt, indem Angehörige zweier unterschiedlicher Inzuchtstämme
miteinander verpaart werden (Outcrossing). Folglich tragen Hybriden je einen haploiden
Chromosomensatz von jedem Parentalstamm. Da das X- bzw. das Y-Chromosom männlicher
Hybriden ausschließlich von maternalen bzw. paternalen Parentalstammm abstammt, ist bei
Hybriden anzugeben, welcher Inzuchtstamm als paternaler bzw. maternaler Elternstamm
verwandt wurde. Das spezifische Genom eines F1-Hybriden kann nur erzeugt werden, indem die
parentalen Inzuchtstämme untereinander verpaart werden. Folglich ist es erforderlich, dass die
zur Herstellung von Hybriden erforderlichen Parentalstämme ständig zur Verfügung stehen.
Werden F1-Hybriden untereinander verpaart (Intercrossing), führen zufällige Segregation und
unabhängige Vererbung heterozygoter Loci zu F2-Tieren, die im Gegensatz zum F1-Hybriden
nicht mehr genetisch einheitlich sind.
Ingezüchtete Tiere und Hybriden zeigen beide die Eigenschaft der genetischen Uniformität
(Isogenität). Im Gegensatz zum hohen Ausmaß an Homozygosität, das für ingezüchtete Tiere
charakteristisch ist, zeigen Hybriden jedoch ein starkes Maß an Heterozygosität. Für eine
Vielzahl von Merkmalen und Spezies zeigen ingezüchtete Tiere eine stärkere phänotypische
Variation im Vergleich zu nicht-ingezüchteten Individuen (Livesay, 1930, Hyde, 1973).
Bezüglich solcher Merkmale stellen Hybriden eine geeignete Alternative zu den Inzuchttieren
dar, da sie die Faktoren der genetischen Einheitlichkeit und der geringeren Merkmalsvariabilität
kombinieren. Ein anderer Grund für den verbreiteten Einsatz von Hybriden in der
64
Zucht und Genetik
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biomedizinischen Forschung liegt in ihrer hohen Viabilität und Fertilität im Vergleich zu
ingezüchteten Tieren.
3.9 Rekombinante Inzuchtstämme
Das Zuchtschema zur Erzeugung rekombinanter Inzuchtstämme (RI) beginnt mit einem
Outcrossing von zwei bekannten Inzuchtstämmen, die als Progenitorstämme bezeichnet werden.
Die resultierenden F1-Hybriden werden untereinander verpaart (Intercrossing), um eine große
Anzahl von F2-Tieren zu erzeugen. Die F2-Tiere werden nun jeweils in zufälliger Weise
paarweise miteinander verpaart. Jedes Paar dient dabei als Begründer eines neuen
Inzuchtstammes. Folglich müssen die Nachkommen jedes gesetzten F2-Paares getrennt gehalten
werden und zwei dieser Tiere werden in zufälliger Weise ausgesucht, um die erste Generation
einer konsekutiven Bruder x Schwester Inzüchtung zu begründen. Zwanzig aufeinanderfolgende
Generationen Vollgeschwisterverpaarung müssen mit den Nachkommen jedes einzelnen F2Paares durchgeführt werden, um den resultierenden Stamm als RI-Stamm bezeichnen zu können.
Das beschriebene Zuchtschema wird für eine bestimmte Kombination an Progenitorstämmen
eine breite Palette neuer RI-Stämme erzeugen. Unterschiedliche RI-Stämme, die mit denselben
Progenitorstämmen erzeugt wurden, werden demselben RI-Stammset zugesprochen. Jeder
Stamm eines bestimmten RI-Sets wird vielfach rekombinierte Chromosomen tragen, die jeweils
aus Fragmenten beider Progenitorstämme zusammengesetzt sind. Wichtigerweise trägt jeder
einzelne Stamm des RI-Sets ein einheitliches Muster an chromosomalen Rekombinationen, das
bei der weiteren Propagierung des Stammes durch Vollgeschwisterpaarung stabil vererbt wird.
Es ist das Verdienst von Donald Bailey, die enorme Bedeutung rekombinant ingezüchteter
Stämme für genetische Analysen erkannt zu haben (Bailey, 1971, Bailey 1981). Das wichtigste
Einsatzgebiet von RI-Stämmen liegt in der Bestimmung von chromosomalen Positionen sowie in
Linkage-Analysen. Um den genauen Genlocus eines neu klonierten Gens zu bestimmen
(mapping) werden die Progenitorstämme existierender RI-Sets daraufhin untersucht, ob ein
Polymorphismus des interessierenden Genes vorliegt. Gelingt es, für die Progenitoren eines RIsets alternative Allele zu diskriminieren, so werden alle RI-Stämme dieses Sets typisiert.
Prinzipiell sollten 50% der RI-Stämme das eine und 50% das andere Allel tragen. Das Resultat
dieser Analyse wird als Stammverteilungsmuster (strain distribution pattern = SDP) des
spezifischen Locus bezeichnet. Das SDP eines einzelnen Locus ist noch nicht informativ. Je
mehr SDPs jedoch für ein bestimmtes Set von RI-Stämmen vorliegen, desto größer ist die
Wahrscheinlichkeit, dass ein neues Gen kartiert werden kann, indem das Locus-spezifische SDP
mit dem von bekannten Genen verglichen wird. Geeignete Computerprogramme zur Analyse
65
Zucht und Genetik
Dr. med. vet. Kurt Reifenberg
solcher Fragestellungen sind verfügbar (Manly, 1993). Werden die SDPs zweier definierter Loci
zur Durchführung einer Linkage-Analyse miteinander verglichen, so wird das Resultat
üblicherweise
durch
die
Begriffe
Konkordanz
und
Diskordanz
beschrieben.
Zwei
unterschiedliche genetische Loci werden innerhalb eines bestimmten RI-Stammsets als
konkordant angesehen, wenn diese Stämme ausschließlich Allele des einen Progenitorstammes
tragen. Trägt ein bestimmter RI-Stamm Allele beider Progenitoren, so werden diese Loci als
diskordant bezeichnet. Für eine bestimmte Kombination nicht-verbundener Gene sollten jeweils
50% der RI-Stämme eines bestimmten Sets Konkordanz bzw. Diskordanz aufweisen.
Andererseits sollten bei zwei Loci, die sehr nahe auf einem Chromosom zusammenliegen, etwa
100% der RI-Stämme eines bestimmten Sets Konkordanz und fast keine Stämme Diskordanz
aufweisen. Für Loci, die weniger nahe beieinanderliegen, sollten sich dazwischenliegende Werte
für Konkordanz und Diskordanz ergeben. Die Termini N und i bezeichnen die Gesamtzahl an
RI-Stämmen, die auf Diskordanz untersucht wurden sowie die Anzahl an tatsächlich
diskordanten Stämmen. Der Anteil R = i/N bezeichnet die Diskordanzebene, die in einem oder
mehreren
Sets
von
RI-Stämmen
ermittelt
wurde.
Wichtigerweise
reflektiert
die
Diskordanzebene, die für zwei bestimmte Loci in RI Sets ermittelt wurde, die mittlere
Entfernung der beiden Loci. Nach Haldane and Weddington (1931) kann die Wahrscheinlichkeit
für eine Rekombination zwischen zwei verbundenen Loci r, die ja ein direktes Maß für den
genetischen Abstand der beiden Loci darstellt, nach folgender Formel errechnet werden:
r = R / (4-6R)
Diese Formel erlaubt die direkte Abschätzung des Abstandes zweier genetischer Loci (in
cM/100) durch die Bestimmung des Diskordanzanteils R, der in einem oder in mehreren Sets
von RI-Stämmen auftritt. Zur weiteren Information über RI-Stämme empfehlen wir die
hervorragende Publikation von Silver (1995).
3.10 Ausgezüchtete Stocks (Auszuchtstämme)
Bei Auszuchtstämmen soll eine breite genetische Variabilität aufrechterhalten und so die
genetische Situation einer natürlichen Population nachgeahmt werden. Ausgezüchtete Tiere
werden üblicherweise eingesetzt, um pharmakologische Wirkungen von Testsubstanzen zu
evaluieren sowie das toxikologische Potential von Chemikalien zu prüfen. Ausgezüchtete
Stämme können ebenfalls als Ausgangsmaterial für Selektionsexperimente dienen. Bei der Zucht
von Auszuchtstämmen müssen folgende Punkte berücksichtigt werden:
66
Zucht und Genetik
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1) Auszuchtstämme müssen als geschlossene Population propagiert werden. Das
unkontrollierte Einbringen neuer Tiere und somit neuer genetischer Information in solche
Populationen ist nicht zulässig.
2) Der Verlust von Allelen aus dem ursprünglichen Genpool des Auszuchtstamms muss auf
ein minimales Maß reduziert werden.
3) Innerhalb eines Auszuchtstamms muss die Bildung von Sublinien mit deutlichen
Unterschieden der Allelfrequenzen vermieden werden.
Das Ausmaß, in dem Allelverlust und Sublinienbildung vermieden werden können, wird durch
folgende Parameter bestimmt (Rapp, 1972):
Populationsgröße: Der Faktor, der primär für die Abnahme der durchschnittlichen
Heterozygosität verantwortlich ist, ist die sogenannte effektive Populationsgröße. Diese wird
definiert als die Anzahl an Zuchttieren, die tatsächlich Nachkommen für die nächste
Zuchtgeneration liefern. Durch die Anwendung von Computersimulationen konnte Eggenberger
(1973) zeigen, dass eine effektive Populationsgröße von 400 Tieren erforderlich ist, um den
Verlust von Allelen aus dem Genpool eines Auszuchtstamms auf ein zu vernachlässigendes Maß
zu reduzieren. Es sollte an dieser Stelle erwähnt werden, dass ein einmal in einem
ausgezüchteten
Genepool
stattgefundener
Allelverlust
nicht
durch
Zuchtmaßnahmen
kompensiert werden kann. Deshalb ist die Sanierung des Hygienestatus kontaminierter
Auszuchtstämme durch die Technik des Embryotransfers aus genetischer Sicht kritisch zu
bewerten. Da die Anzahl an übertragenen Embryonen meist limitiert ist, ist bei solchen Anlässen
häufig ein Flaschenhalseffekt der Populationsgröße zu beobachten, der zu einer kritisch zu
beurteilenden Zunahme der durchschnittlichen Homozygosität des Stammes führt.
Generationenfolge: Da der Verlust von Allelen aus dem Genpool eines Auszuchtstamms beim
Generationenwechsel stattfindet, sollten die Zuchtpaare so selten wie möglich ausgetauscht
werden. Durch diese Maßnahme kann der Prozess der kontinuierlichen Abnahme der
durchschnittlichen Heterozygosität der Auszucht-Population signifikant abgebremst werden.
Auswahl der Zuchttiere: Die künstliche Selektion auf spezifische Phänotypen muss bei der
Zucht von Auszuchtstämmen strikt vermieden werden (Eggenberger, 1973). Falls starke
Selektionskräfte wirken, werden innerhalb weniger Zuchtgenerationen bestimmte Allele im
Genpool des Auszuchtstamms fixiert. Diese Regel gilt auch bezüglich des Zuchterfolgs und der
Wachstumsgeschwindigkeit. Obwohl eine Selektion bei diesen Parametern aus ökonomischer
Sicht natürlich sehr attraktiv ist, darf dies keine Zielsetzung bei der Zucht eines standardisierten
Auszuchtstamms sein.
67
Zucht und Genetik
Dr. med. vet. Kurt Reifenberg
Zuchtsystem: In der Vergangenheit wurden eine Vielzahl von Zuchtsystemen auf ihre
Tauglichkeit überprüft, ein hohes Maß an durchschnittlicher Heterozygosität innerhalb einer
Population zu bewahren.
Bei der randomisierten Zucht oder Zufallszucht werden neue Zuchttiere in zufälliger Weise aus
dem Nachkommenpool ausgesucht. Dies bedeutet, dass jedes Tier eine gleich große Chance auf
Anpaarung mit einem anderen Tier der Population hat (Falconer, 1989). Die Verpaarung von
nahen Angehörigen kann dabei prinzipiell nicht vermieden werden, was jedoch zu einem
starkem Inzucht-bedingten Heterozygositätsverlust der Population führt. Aus diesem Grunde
kann die Zufallsverpaarung nicht als Zuchtverfahren zum Propagieren von Auszuchtstämmen
empfohlen werden.
Das Zuchtsystem der Pedigrierung basiert auf der maximalen Vermeidung von Inzucht durch die
Verpaarung wenig verwandter Tiere (Wright, 1921). Diese pedigrierten Systeme erfordern
Kenntnisse über den Verwandtschaftsgrad der Paarungspartner; folglich muss ein Stammbaum
(Pedigree) der Kolonie geführt werden, was ein sehr arbeitsintensives Unterfangen darstellt. Es
hat sich gezeigt, dass pedigrierte Zuchtsysteme zwar eine geringe initiale Verlustrate der
durchschnittlichen Heterozygosität aufweisen; dass die Homozygotierate der Population jedoch
mit steigender Generationenzahl deutlich zunimmt. Deshalb sind pedigrierte Zuchtsysteme nicht
für Auszuchtstämme geeignet.
Als
zur
Minimierung
Zuchtverfahren
haben
des
sich
Heterozygositätsverlusts
sogenannte
von
Auszuchtstämmen
Rotationszuchtsysteme
erwiesen.
Bei
optimale
diesen
Zuchtverfahren werden die Zuchtpartner nicht nach dem Prinzip der Randomisierung oder
Pedigrierung ausgewählt, sondern mit Hilfe eines mathematischen Schemas festgelegt.
Als sehr simples Rotationszuchtverfahren kann das sogenannte “circular-pair-mating” System
(Kimura and Crow, 1963) angesehen werden, das in der nachfolgenden Tabelle 3.1 erläutert
wird.
68
Zucht und Genetik
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n (Anzahl der Zuchtpaare)
1
2
3
4
4/1
1/2
2/3
3/4
F2 etc 4/1
1/2
2/3
3/4
5/1
1/2
2/3
3/4
4/5
F2 etc 5/1
1/2
2/3
3/4
4/5
6/1
1/2
2/3
3/4
4/5
5/6
F2 etc 6/1
1/2
2/3
3/4
4/5
5/6
4 F1
5
6
7
8
(wie
F1)
5 F1
(wie
F1)
6 F1
(wie
F1)
Tabelle 3.1 “Circular pair mating” nach Kimura and Crow (1963)
Dieses Zuchtsystem arbeitet mit Zuchtpaaren, die ständig (permanent) verpaart bleiben. Jeder Zuchtkäfig erhält eine
Nummer n. Die Anzahl an Zuchtpaaren bzw. Zuchtkäfigen wird beim Generationenwechsel konstant gehalten. Das
Zuchtschema ist für 4 (obere 2 Zeilen), 5 (mittlere 2 Zeilen) und 6 (untere 2 Zeilen) Zuchtpaare aufgeführt. F
charakterisiert die jeweilige Generation. Die Felder der Tabelle bestehen aus Kombinationen von Käfignummern.
Dabei spezifiziert die erste bzw. zweite Zahl die Nummer der Zuchtkäfige der vorhergehenden Generation, aus
denen beim Generationenwechsel die neuen Männchen bzw. Weibchen zu rekrutieren sind. So bedeutet
beispielsweise die in der Tabelle fett und unterstrichen dargestellt Zahlenkombination 4/1, dass das Zuchtpaar 1 der
Generation F2 rekrutiert wird, indem ein männlicher Nachkomme aus dem Zuchtkäfig 4 der vorherigen Generation
mit einem weiblichen Nachkommen aus dem Zuchtkäfig 1 der vorherigen Generation verpaart wird.
Obwohl das circular-pair-mating System durchaus praktikabel ist, wird es selten eingesetzt, um
Auszuchtpopulationen zu propagieren. Rotationszuchtsysteme, die üblicherweise zur Zucht von
Auszuchtstämmen eingesetzt werden, sind das System nach Poiley (Poiley, 1960), das System
nach Robertson (Falconer 1967), das System nach Falconer (Falconer 1967) und das HanRotationssystem (Rapp, 1972). Diese vier Systeme sind dadurch charakterisiert, dass die
Auszuchtpopulation in eine Anzahl gleich großer Blöcke unterteilt wird. Während bei den
69
Zucht und Genetik
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anderen drei Systemen die Anzahl an Blöcken frei gewählt werden kann, erlaubt das System von
Robertson nur die Auswahl von 4 oder 8 oder 16 oder 32 etc Blöcken. Die Gesamtanzahl an
Blöcken wird für alle nachfolgenden Generationen konstant gehalten. Ein einzelner Block
besteht aus einer gleichgroßen Anzahl an männlichen und weiblichen Zuchttieren, wie z.B. ein
einzelnes Zuchtpaar oder üblicherweise einer Vielzahl von Zuchtpaaren. Um Zuchttiere für die
nächste Generation zur Verfügung zu stellen, muss die Nachkommenschaft eines Blocks streng
von
den
Nachkommen
eines
anderen
Blocks
getrennt
werden.
Die
einzelnen
Rotationszuchtsysteme legen nun Regeln fest, wie beim Übergang von einer Zuchtgeneration auf
die nachfolgende neue Zuchttiere für einen bestimmten Zuchtblock aus der Nachkommenschaft
der vorgehenden Blockgeneration zu rekrutieren sind. In der nachfolgenden Tabelle 3.2 wird das
Han-Rotationssystem vorgestellt. Den an den Rotationszuchtsystemen nach Poiley, Robertson
und Falconer interessierten Leser verweisen wir auf Zimmermann et al. (1990).
m (Zuchtblöcke)
5
F
1
2
3
4
5
6
F1
5/1
1/2
2/3
3/4
4/5
F2
4/1
5/2
1/3
2/4
3/5
F3
2/1
3/2
4/3
5/4
1/5
F4
3/1
4/2
5/3
1/4
2/5
F1
6/1
1/2
2/3
3/4
4/5
5/6
F2
5/1
6/2
1/3
2/4
3/5
4/6
F3
3/1
4/2
5/3
6/4
1/5
2/6
7
8
F5
(wie
F1)
6
F4
(wie
F1)
Tabelle 3.2 Han-Rotationssystem nach Rapp (1971)
Das System ist für m = 5 Blöcke (obere 4 Zeilen) und m = 6 Blöcke (untere 3 Zeilen) dargestellt. F charakterisiert
die jeweilige Zuchtgenerationen. Die Zellen der Tabelle gibt Kombinationen von Blocknummern wieder. Die erste
bzw. die zweite Nummer der Zahlenkombination spezifiziert, von welchen Blöcken der vorhergehenden Generation
männliche bzw. weibliche Zuchttiere zu rekrutieren sind. So bedeutet beispielsweise die in der Tabelle fett und
unterstrichen dargestellte Zahlenkombination 6/2, dass der Zuchtblock 2 der Generation F2 rekrutiert wird, indem
70
Zucht und Genetik
Dr. med. vet. Kurt Reifenberg
männliche Nachkommen des Zuchtblocks 6 der vorherigen Generation mit weiblichen Nachkommen des
Zuchtblocks 2 der vorherigen Generation verpaart werden.
Eggenberger (1973) konnte zeigen, dass das Rotationszuchtsystem von Poiley, das System von
Robertson, das System von Falconer und das Han-Rotationssystem in gleicher Weise geeignet
sind, um ein hohes Maß an durchschnittlicher Heterozygosität in Auszuchtstämmen zu
konservieren. Das Rotationssystem nach Poiley kann jedoch nicht empfohlen werden, da es zur
Bildung von Sublinien führt.
3.11 Embryotransfer bei der Spezies Maus
In modernen Maus- und teilweise auch in Rattenhaltungen spielt die Technik des
Embryotransfers eine herausragende Rolle (Hogan et al., 1994). Bei dieser Methode werden von
Spendertieren Embryonen gewonnen, die dann in vitro zur Durchführung embryonaler
Manipulationen zur Verfügung stehen. Die für die biomedizinische Forschung wohl wichtigste
embryonale Manipulation besteht darin, gentechnische Veränderungen in murine Embryonen
einzubringen. Aus solchen Experimenten resultieren entweder transgene Tiere oder sogenannte
„knock-out“ bzw. „knock-in“ Mäuse“. Da es nicht möglich ist, die Embryonen nach erfolgter
Manipulation in vitro zu einem lebensfähigen Tier zu kultivieren, müssen sie zur
Weiterentwicklung wieder in dieselbe Umgebung zurückgebracht werden, der sie auch
entnommen wurden: den weiblichen Reproduktionstrakt. Bei den Spezies Maus und Ratte erfolgt
der Embryotransfer auf scheinträchtige (pseudogravide) Empfängerweibchen. Der Transfer
erfolgt bei diesen Spezies im Rahmen eines operativen Eingriffs, bei dem die Bauchhöhle
eröffnet wird. Da die Spezies Maus in der biomedizinischen Forschung eine herausragende Rolle
spielt, werden nachfolgend die Technik und die Anwendungsgebiete des Embryotransfers für
diese Spezies aufgeführt.
Gewinnung von Embryonen:
Zur Gewinnung von Mausembryonen sind weibliche Spendertiere und zeugungsfähige (fertile)
Böcke notwendig. Die Spenderweibchen werden üblicherweise mit Hormonen behandelt, um
einerseits zuverlässig eine Ovulation auszulösen (Zyklussynchronisation) und um andererseits
eine möglichst erhöhte Ovulationsrate („Superovulation“) auszulösen. Häufig werden noch nicht
geschlechtsreife Mausweibchen mit Hormonen behandelt. Zur Hormonbehandlung kommen
Substanzgemische zum Einsatz, die als PMSG (pregnant mare serum gonadotrophin) und HCG
(human chorionic gonadotrophin) bezeichnet werden. PMSG enthält vorwiegend FollikelStimulierendes-Hormon
(FSH),
HCG
vorwiegend
71
Luteinisierungs-Hormon
(LH).
Zur
Zucht und Genetik
Dr. med. vet. Kurt Reifenberg
Hormonbehandlung werden die Tiere zunächst mit PMSG und 48 Stunden später mit HCG
behandelt. Dabei werden jeweils 5-10 Einheiten (Units) der Hormonpräparate intraperitoneal
verabreicht. Die Injektionszeitpunkte müssen mit dem Licht/Dunkel-Rhythmus der Tierhaltung
abgestimmt werden. Die Verabreichung erfolgt etwa zur Mitte der Helligkeitsperiode. Nach der
HCG-Injektion werden die Weibchen mit den fertilen Männchen verpaart. In der kommenden
Dunkelperiode erfolgen Ovulation und Begattung. Die Begattung kann anhand eines
sogenannten Vaginalpfropfes erkannt werden. In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, dass
das Ejakulat von Nagetieren aufgrund der besonderen Zusammensetzung der Sekrete der
akzessorischen Geschlechtsdrüsen in der weiblichen Scheide koaguliert und temporär einen
Vaginalpfropf bildet. Der erste Tag nach der Dunkelperiode, in der Ovulation und Begattung
stattgefunden haben, wird üblicherweise als Tag 0,5, der zweite als Tag 1,5 u.s.w. bezeichnet.
An den Tagen 0.5 bis 2.5 der Trächtigkeit (Gravidität) können die Embryonen aus dem Eileiter
(Ovidukt) gespült werden, wobei sich die Embryonen an Tag 0,5 bis zum 1-Zellstadium, am Tag
1,5 bis zum 4-Zellstadium und am Tag 2,5 bis zum 8-Zellstadium entwickeln. An den Tagen 3,5
und 4,5 können die Embryonen aus der Gebärmutter (Uterus) gewonnen werden. Solche
Embryonen haben ein fortgeschritteneres Entwicklungsstadium (Morula, Blastozyste) erreicht.
Zur
Embryonengewinnung
müssen
die
Spendermäuse
getötet
werden.
Die
Stammeszugehörigkeit der Spendertiere richtet sich nach der Fragestellung des jeweiligen
Experiments. Zur Herstellung von transgenen Tieren durch DNA-Injektion in 0,5 Tage alte
Embryonen werden üblicherweise FVB-Inzuchttiere oder (B6 x DBA/2)F1 Hybriden
herangezogen. Zur Herstellung von Knockout-Tieren werden meist B6-Embryonen eingesetzt.
Übertragung von Embryonen auf Empfängerweibchen:
Um geeignete Empfängerweibchen für Embryotransfers bei der Maus zur Verfügung zu stellen,
sind scheinträchtige (pseudogravide) Empfängerweibchen und zeugungsunfähige (sterile oder
vasektomierte) Böcke notwendig. Als Empfängerweibchen bei Embryotransfers kommen ganz
allgemein nur solche Weibchen in Frage, deren Geschlechtsorgane sich in einem geeigneten
Stadium befinden. Im Maussystem kann die Weiterentwicklung der Embryonen gewährleistet
werden, indem pseudogravide Tiere als Empfänger eingesetzt werden. Hormon-behandelte
Mausweibchen stellen ungeeignete Embryonenempfänger, da diese Behandlung zu einer
Hyperstimulation des weiblichen Genitaltrakts führt und die embryonale Implantation
beeinträchtigt. Scheinträchtige Mäuse werden erzeugt, indem Weibchen mit natürlichem Zyklus
mit vasektomierten Männchen verpaart werden. Nur solche Weibchen, die sich im Östrus
befinden tolerieren die Begattung. Da die Zykluslänge bei der Maus 4-5 Tage und die
Östruslänge ca. 1 Tag betragen, befinden sich ca. 20 – 25% einer Weibchenpopulation im
72
Zucht und Genetik
Dr. med. vet. Kurt Reifenberg
Östrus. Bei östrischen Weibchen erfolgen Ovulation und Begattung in der Dunkelperiode nach
Verpaarung. Die erfolgreiche Begattung kann wiederum am Vorhandensein eines VaginalPropfes erkannt werden. Der erste Tag nach der Dunkelperiode, in der Ovulation und sterile
Begattung stattgefunden haben, wird als Tag 0,5 der Pseudogravidität bezeichnet. Beim
Embryotransfer werden nur dann gute Angangsraten erzielt, wenn als Empfängerweibchen Tiere
bestimmter Stämme eingesetzt werden. Als geeignet haben sich Auszuchtweibchen (z.B. NMRI)
sowie (B6 x DBA/2)F1 Hybriden erwiesen.
Erzeugung vasektomierter Männchen
Zur Vasektomie werden die Samenleiter des Männchens durchtrennt. Dazu muss die Bauchhöhle
eröffnet werden. Da die Hoden nicht entfernt werden, wird unverändert männliches
Sexualhormon, das Testosteron, gebildet. Die Samenflüssigkeit vasektomierten Männchen ist
lediglich insofern verändert, als der Spermienanteil fehlt; die Libido wird durch den Eingriff
nicht dauerhaft gestört. Nach der Vasektomie benötigen die Männchen jedoch eine mehrwöchige
Erholungszeit, bis sie sich vollständig vom Eingriff erholt haben und wieder Interesse an
Weibchen zeigen. Auch bei den vasektomierten Männchen ist die Stammeszugehörigkeit nicht
gleichgültig. Die Verwendung von Auszuchttieren wie NMRI führt meist zu Problemen, da die
Tiere frühzeitig verfetten. Als geeigneter haben sich (B6 x DBA/2)F1 Hybriden erwiesen.
Abstimmung von Spender- und Empfängerseite (Synchronisation des Embryotransfers):
Mausembryonen, die 0,5, 1,5 oder 2,5 Tage alt sind, werden in den Eileiter (Ovidukt) von 0,5
Tage scheinträchtigen Ammen übertragen (Ovidukttransfer). Mausembryonen, die 3,5 oder 4,5
Tage alt sind, werden in die Gebärmutter (Uterus) von 2,5 Tagen scheinträchtigen Ammen
übertragen (Uterustransfer). Die Einhaltung der aufgeführten Synchronisation ist sehr wichtig,
um optimale Effizienzen zu erreichen. Die Transferkonstellation, die durchgeführt wird, ist
abhängig von der Zielsetzung des Experiments. So werden zur Herstellung transgener Mäuse
Embryonen an Tag 0,5 der Gravidität gewonnen, manipuliert (DNA-Injektion in den
Pronukleus) und anschließend in Tag 0,5 scheinträchtige Weibchen übertragen. Zur Herstellung
von „knock-in“ oder „knock-out“ Mäusen werden Embryonen an Tag 3,5 der Gravidität
gewonnen, manipuliert (Injektion von gentechnisch veränderten embryonalen Stammzellen) und
anschließend in Tag 2,5 scheinträchtige Weibchen übertragen. Zur Sanierung des Hygienestatus
von Mausvarianten via Embryotransfer werden die Embryonen an Tag 1,5 akquiriert und in Tag
0,5 scheinträchtige Weibchen transferiert. Zur Kryokonservierung von Mausvarianten in
Embryonenform werden die Embryonen an Tag 1.5 entwickelt und weggefroren. Nach
73
Zucht und Genetik
Dr. med. vet. Kurt Reifenberg
erfolgreichem Auftauen werden diese Embryonen in Tag 0,5 pseudogravide Empfänger
übertragen.
Embryotransfer
Beim Ovidukttransfer werden die Embryonen mit einer feinen Glaskapillare in die natürliche
Öffnung des Eileiters eines Empfängertiers übertragen. Embryonen, die aus der Gebärmutter des
Spenders gewonnen wurden, werden auch in die Gebärmutter der Amme übertragen. Hierzu
wird die Gebärmutter mit einem feinen Instrument punktiert und die Embryonen mit Hilfe einer
Glaskapillare übertragen. In der Regel werden diese Eingriffe beidseits durchgeführt, d.h. es
werden Embryonen in linke(n) und rechte(n) Eileiter bzw. Gebärmutter transferiert. Die Anzahl
der übertragenen Embryonen wird so gewählt, dass eine Wurfgröße von etwa 10 Tieren (in der
Regel) nicht überschritten wird.
3.12 Anwendungsgebiete des Embryotransfers bei der Spezies Maus
Embryotransfer als Maßnahme der Sanierung des Hygienestatus
Zur Sanierung des Hygienestatus stehen prinzipiell zwei Methoden zur Auswahl. Einerseits
können geburtsreife Jungmäuse einer kontaminierten Mutter unter sterilen Bedingungen durch
Kaiserschnitt entwickelt werden (die Mutter wird bei diesem Vorgehen getötet). Die durch
Kaiserschnitt entwickelten Jungtiere werden dann Ammen eines geeigneten Hygienestatus
untergelegt. Neben dem Kaiserschnitt ist auch der Embryotransfer eine geeignete Methode, um
einen Mäusestamm aus einer unhygienischen Tierhaltung in eine SPF- oder GnotobiotikTierhaltung zu überführen. Dazu werden Embryonen des kontaminierten Stammes gewonnen
und unter sterilen Bedingungen auf ein Empfängerweibchen der Gnotobiotik- oder SPFTierhaltung übertragen.
Kryokonservierung und Embryobanking
Mäuse- und Ratten-Präimplantationsembryonen können unproblematisch in einer Art und Weise
eingefroren werden, die mit hoher Effizienz eine Revitalisierung erlaubt (DaCruz, 1991). In
Flüssigstickstoff eingelagerte Embryonen (Embryonenbank) benötigen wenig Platz sind
vermutlich unbegrenzt haltbar. Mit Hilfe der Kryotechnik können „Backups“ von Mausvarianten
hergestellt werden, die es erlauben, Stämme im Falle mikrobiologischer bzw. genetischer
Kontaminationen auf adäquatem Hygieneniveau bzw. in der ursprünglichen Form zu
reetablieren. Die Kryotechnik ermöglicht weiterhin, temporär nicht benötigte Mäuse- oder
74
Zucht und Genetik
Dr. med. vet. Kurt Reifenberg
Rattenstämme ausschließlich in Embryonenform zu bewahren. In diesem Fall ist die
Aufrechterhaltung einer Zuchtkolonie nicht mehr erforderlich; mithin kann die Kryotechnik dazu
beitragen, Haltungsressourcen effizienter zu nutzen.
Herstellung transgener Tiere
Durch die Anwendung molekulargenetischer Methoden ist es heute unproblematisch möglich,
neue funktionsfähige Gene (Transgene) in vitro zu erzeugen. Werden solche DNA-Konstrukte in
geeigneter Form (linearisiert, geeigneter Puffer, geeignete Konzentration) in den Vorkern
(Pronukleus) von 1-zelligen Maus- oder Rattenembryonen mikroinjiziert, so kommt es bei etwa
10 bis 40 % der derart manipulierten Embryonen zu einer stabilen Integration der TransgenDNA in das Genom der Empfängertiere. Das chromosomale Integrationsereignis ist durch
folgende Merkmale charakterisiert:
-Die Transgen-Integration findet i. d. R. an einer einzigen Integrationsstelle des
Mausgenoms statt. Der chromosomale Ort der Transgen-Integration ist nicht
vorhersagbar, d. h. die Integration erfolgt zufällig an einem beliebigen Ort des
Mausgenoms.
-Es kommt i. d. R. zur Integration mehrerer Kopien des Transgens; bei Integration von
mehrerer Kopien weisen diese i. d. R. eine head-to-tail Anordnung auf. Somit integriert
zumeist ein Transgen-Konkatamer in das Mausgenom. Die Kopienzahl von Transgenen
kann zwischen 1 und mehreren Hundert variieren.
Das charakteristische Integrationsereignis, das in einem bestimmten manipulierten Embryo
stattfindet (charakterisiert durch einen spezifischen Integrationsort und eine bestimmte
Kopienzahl) wird nach Weiterentwicklung des transgenen Embryos zur Geschlechtsreife stabil
nach Mendelschen Regeln vererbt. Jeder Embryo, bei dem eine Transgen-Integration
stattgefunden hat, begründet mithin einen eigenen Tierstamm. Es muss berücksichtigt werden,
dass die Expression einer Transgensequenz in sehr starker Weise vom spezifischen
Integrationsort
und
der
Kopienanzahl
beeinflusst.
Hinzu
kommt,
dass
durch
die
Transgenintegration eventuell die Funktion eines murinen Genes beeinträchtigt werden kann
(Insertionsmutagenese). Diesen Fakten muss dadurch Rechnung getragen werden, dass mit
einem spezifischen Transgenkonstrukt mehrere transgene Stämme erstellt werden. Sofern
mehrere der etablierten Stämme einen spezifischen Effekt zeigen, kann mit an Sicherheit
grenzender Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass dieser auf der Transgenität
beruht.
75
Zucht und Genetik
Dr. med. vet. Kurt Reifenberg
Herstellung von „knock-in“ und „Knock-out“ Tieren (derzeit nur bei der Spezies
Maus verfügbar)
Die Voraussetzung für die Herstellung von sogenannten knock-out und knock-in Tieren wurden
durch die Entdeckung der homologen DNA-Rekombination und der Entwicklung embryonaler
Stammzellen geschaffen.
Embryonale Stammzellen (ESC) werden aus frühen Embryonen (Präimplantationsembryonen)
gewonnen und können in vitro propagiert werden. Sie besitzen die Fähigkeit, sich in jeden
beliebigen Zelltyp (z.B. Herzzellen, Muskelzellen, Knorpelzellen, aber auch Keimzellen)
differenzieren zu können, die als Pluripotenz bezeichnet wird. Dabei kann die Differenzierung
der ESC durch Faktoren der Zellkultur entweder unterdrückt oder in Gang gesetzt werden.
Werden undiffernzierte ESC in Embryonen, meist des Blastozystenstadiums, injiziert, beteiligen
sie sich an der Organogenese. Dabei entstehen sogenante chimäre Tiere, die von zwei
unterschiedlichen Zelltypen gebildet werden, und zwar solchen, die sich aus den ESC gebildet
haben, und solchen, die vom Empfängerembryo abstammen. Über die Herstellung von chimären
Tieren kann das genetische Material der ESC in die Keimbahn von Tieren eingebracht werden.
Bei der homologen Rekombination kommt es zu einem DNA-Austausch zwischen identischen
DNA-Bereichen (homologe Sequenzen). Wird also ein DNA-Konstrukt, welches homologe und
nicht-homologe Sequenzen umfasst, in eine Zelle eingebracht, so kann es zu einer homologen
Rekombinationsereignis kommen, bei dem die nicht-homologen Sequenzen in das Zellgenom
eingeschleust werden. So können gezielt Gene inaktiviert oder verändert werden (gene targeting,
Joyner et al., 1993). Da homologe Rekombinationen sehr selten sind, muss das Targeting-DNAKonstrukt, welches zur Einleitung des Vorgangs in die Zellen eingeschleust wird, sogenannte
Marker enthalten, die eine Vorselektion solcher Zellen erlauben, bei denen das gewünschte
homologe Rekombinationsereignis tatsächlich stattgefunden hat.
Indem embryonale Stammzellen für homologe Rekombinationsexperimente eingesetzt werden,
können gentechnisch veränderte Tiere generiert werden, bei denen spezifische Gene gezielt
verändert wurden. Hierbei wird ein DNA-Konstrukt, mit dem das gewünschte Zielgen verändert
werden soll, in vitro in die Zellen eingebracht (übliche Methode: Elektroporation). Mit Hilfe
bestimmter Selektionstechniken kann nun in vitro festgestellt werden, welche ESC-Zellklone die
gewünschte spezifische gentechnische Veränderung tragen. Diese Stammzellen werden in
Empfängerembryonen injiziert. Die embryonalen Stammzellen und die Empfängerembryonen
werden dabei so gewählt, dass unterschiedliche Fellfarbengene getragen werden. So können
chimäre Tiere, bei denen sich die gentechnisch veränderten ESC an der Organogenese beteiligt
haben, an der Zweifarbigkeit des Fells erkannt werden. Die Mehrzahl der heute bei der Spezies
76
Zucht und Genetik
Dr. med. vet. Kurt Reifenberg
Maus verfügbaren ESC stammen vom Inzuchtstamm 129 ab, der Träger des dominanten agoutiFellfarbenallels ist. Gentechnisch veränderte ESC des Stamms 129 werden üblicherweise in
Blastozysten des Inzuchtstammes C57BL/6, der das non-agouti-Fellfarbenallel trägt, injiziert.
Die resultierendem Fellfarben-chimären Tiere werden dann auf C57BL/6 Tieren zurückgekreuzt.
So können diejenigen Nachkommen der Fellfarbenchimären, die die gentechnische Veränderung
in heterozygoter Weise tragen, wiederum anhand der Fellfarbe von den nicht gentechnisch
veränderten Wurfgeschwistern unterschieden werden. Durch homologe Rekombination können
Tierstämme erstellt werden, bei denen spezifische Gen entweder inaktiviert (knock-out) oder
verändert (knock-in) wurden. Da Knock-out-Allele üblicherweise einen rezessiven Erbgang
aufweisen, kommt es bei den heterozygoten gentechnisch veränderten Chimärennachkommen in
der Regel noch nicht zur Ausbildung des Gendefekts. Meist wirkt sich die genetische
Inaktivierung erst bei homozygoten Trägertieren aus.
Bewertung der Generierung gentechnisch veränderter Tiere nach Deutschem
Tierschutzgesetz (TSchG)
Im § 7 des Tierschutzgesetzes werden Tierversuche in folgender Weise definiert:
„Tierversuche im Sinne dieses Gesetzes sind Eingriffe oder Behandlungen zu
Versuchszwecken
1. an Tieren, wenn sie mit Schmerzen, Leiden, oder Schäden für diese Tiere oder
2. am Erbgut von Tieren, wenn sie mit Schmerzen, Leiden oder Schäden für die
erbgutveränderten Tiere oder deren Trägertiere verbunden sein können“
Diese Formulierung stellt klar, dass Eingriffe am Genom von Tieren dann Tierversuche
darstellen, wenn sie zu Versuchszwecken durchgeführt werden und mit Schmerzen, Leiden oder
Schäden der erbgutveränderten Tiere oder deren Trägertiere (Nachkommen) verbunden sind.
Selbstverständlich fallen alle Eingriffe an den zur Herstellung gentechnisch veränderter
Tierstämme
erforderlichen
Embryonenspendern
und
Embryonenempfängern
unter
die
Genehmigungspflicht. Eine gewisse Unsicherheit besteht jedoch bezüglich der neu generierten
gentechnisch veränderten Tiere selbst. Da vor Beginn des Experiments nur schwer sicher
ausgeschlossen werden kann, dass eine spezifische gentechnische Veränderung möglicherweise
zu Schmerzen, Leiden oder Schäden der Trägertiere führt, werden üblicherweise die erste und
zweite Generation neu hergestellter gentechnisch veränderter Tiere in den Schutzbereich der
gesetzlichen Vorschriften über Tierversuche gestellt. Dabei geht der Gesetzgeber davon aus,
dass diese beiden ersten Tiergenerationen dazu genutzt werden zu eruieren, ob eine Belastung
der Trägertiere durch die spezifische gentechnische Veränderung vorliegt. Die Weiterzucht der
77
Zucht und Genetik
Dr. med. vet. Kurt Reifenberg
gentechnisch veränderten Tiere über die 2. Generation hinaus wird üblicherweise nicht mehr als
Tierversuch sondern als Zuchtmaßnahme zum Erhalt des Tierstamms gewertet. Hierfür gelten
die Bestimmungen des siebenten Abschnitts des Deutschen Tierschutzgesetzes Gesetzes, die sich
auf die Zucht, die Haltung und den Handel von Wirbeltieren zu Versuchszwecken beziehen. In
diesem Zusammenhang sollte erwähnt werden, dass die Zucht und Haltung von Tieren einem
behördlichen Erlaubnisvorbehalt (§11 TSchG) unterliegen. Weiterhin muss darauf hingewiesen
werden, dass „es verboten ist, Wirbeltiere zu züchten oder durch bio- oder gentechnische
Maßnahmen zu verändern, wenn damit gerechnet werden muss, dass bei der Nachzucht, den biooder gentechnisch veränderten Tieren selbst oder deren Nachkommen erblich bedingt
Körperteile oder Organe für den artgemäßen Gebrauch fehlen oder untauglich oder umgestaltet
sind und hierdurch Schmerzen, Leiden oder Schäden auftreten“. Zudem „ist es verboten,
Wirbeltiere zu züchten oder durch bio- oder gentechnische Maßnahmen zu verändern, wenn
damit gerechnet werden muss, dass bei den Nachkommen a) mit Leiden verbundene erblich
bedingte
Verhaltensstörungen
oder
mit
Leiden
verbundene
erblich
bedingte
Aggressionssteigerungen auftreten oder b) jeder artgemäße Kontakt mit Artgenossen bei ihnen
selbst oder einem Artgenossen zu Schmerzen oder vermeidbaren Leiden oder Schäden führt oder
c) deren Haltung nur unter Bedingungen möglich ist, die bei ihnen zu Schmerzen oder
vermeidbaren Leiden oder Schäden führen.
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82
Pflege und Haltung
4.
Dr. med. vet. Kurt Reifenberg
Pflege und Haltung der wichtigsten Versuchstierarten
4.1 Möglichkeiten der Standardisierung von Tierversuchen
Durch die Standardisierung von Tierversuchen kann die statistische Streuung der
Versuchsresultate deutlich reduziert und so die zur Überprüfung einer wissenschaftlichen
Hypothese erforderliche Tierzahl signifikant verringert werden. Da sich dadurch die
Aussagekraft
und
Reproduzierbarkeit
tierexperimenteller
Studien
erhöht,
liegt
die
Standardisierung von Tierversuchen einerseits ganz im Interesse der Tierexperimentatoren.
Andererseits
stellt
sie
aber
ebenfalls
eine
eindeutige
Forderung
des
Deutschen
Tierschutzgesetzes dar. Ansätze zur Standardisierung von Tierversuchen können sich mit den
Versuchstieren
selbst
beschäftigen
(endogene
Faktoren)
oder
können
auf
die
Haltungsbedingungen der Tiere (exogene Faktoren) abzielen. Es können endogene und exogene
Parameter unterschieden werden, die einen Einfluss auf Tierversuche nehmen können.:
Endogene Faktoren sind Geschlecht, Zyklusstand, Gravidität und Laktation sowie Alter und
Genotyp der Versuchstiere. Alle endogenen Faktoren können prinzipiell vom Experimentator
durch sorgfältige Auswahl der Versuchstiere kontrolliert werden. Dabei ist anzumerken, dass die
Standardisierung des Zyklusstandes weiblicher Tiere nur in den seltensten Fällen praktiziert wird
und dass der Einsatz gravider oder laktierender Tiere für Tierversuche nur legitim ist, wenn eben
diese physiologischen Zustände Bestandteil einer wissenschaftlichen Fragestellung sind. Da der
Standardisierung des Genotyps der Versuchstiere eine herausragende Bedeutung zukommt, wird
diesem Thema ein eigenes Kapitel gewidmet.
Exogene Faktoren mit Einfluss auf Tierversuche sind die Haltungssysteme, Fütterung und
Tränkung, Klima (Temperatur, Feuchte, Schadgase), Beleuchtung (Helligkeit, Licht-DunkelSchema)
und
mikrobiologischer
Status
der
Versuchstiere.
Auf
die
exogenen
Tierversuchsfaktoren hat der Experimentator zumeist keinen Einfluss; diese werden vielmehr
vom Tierhausmanagement vorgegeben. Es ist heute allgemein üblich, das Klima und in
gewissem Umfang auch die Beleuchtung der Tierräume zu standardisieren. Die Haltungssysteme
von Versuchstieren sowie die Versuchstierfütterung und -tränkung unterliegen in der Regel
keiner Standardisierung. Da dem mikrobiologischen Status der Versuchstiere eine herausragende
Bedeutung zukommt; wird dieses Thema an anderer Stelle gesondert behandelt.
4.2 Haltungssysteme
Das Deutsche Tierschutzgesetz fordert, Tiere entsprechend ihrer Art und ihrer Bedürfnisse
verhaltensgerecht unterzubringen. Dies impliziert, dass Versuchstiere in solchen Käfigen zu
halten sind, die alle natürlichen Bewegungsmuster der Versuchstiere erlauben. Die Haltung von
83
Pflege und Haltung
Dr. med. vet. Kurt Reifenberg
Tieren in Käfigen, in denen ein Aufrichten oder Strecken des Körpers nicht möglich ist, ist
tierschutzrechtlich unzulässig. An Käfigelemente, die der Aufnahme von Versuchstieren dienen,
sind jedoch weitergehende Anforderungen zu stellen. So sollten die Systeme vorzugsweise aus
Kunststoffen hergestellt sein, da dadurch eine gute Temperaturisolation gewährleistet wird.
Zudem müssen die Käfige eine geringe Verletzungsgefahr für Personal und Tiere darstellen und
ergonomischen
Kriterien
genügen
(geringes
Gewicht,
leichte
Wechselbarkeit,
gute
Stapelbarkeit). Schließlich müssen die Käfige aus hygienischen Gründen leicht zu reinigen und
zu desinfizieren sein (glatte Oberfläche, Beständigkeit gegen Desinfektionsmittel, eventuell
geeignet für thermische Verfahren)
Die Haltung von Mäusen und Ratten erfolgt üblicherweise in transparenten Kunststoffkäfigen, in
die Einstreumaterial zur Absorption von Urin eingebracht wird. Als Einstreu wird üblicherweise
Holz- oder Cellulosegranulat verwandt. Prinzipiell wird die Einzelhaltung von Mäusen und
Ratten heute kritisch gesehen. Bei der Gruppenhaltung männlicher Mäuse ist allerdings Vorsicht
geboten, da Mausböcke untereinander sehr aggressiv sind. Da Rattenböcke untereinander nur
geringe aggressive Tendenzen zeigen, ist deren Gruppenhaltung in der Regel unproblematisch
möglich.
Die
Haltung
von
Meerschweinchen
und
Kaninchen
erfolgt
zumeist
in
Kunststoffkäfigen, deren Boden perforiert ist und unter die jeweils eine Kotwanne geschoben
wird. Die Kotwanne dient der Entmistung. Alternativ kann die Entmistung der Kaninchenkäfige
auch durch eine Bandfolie erfolgen, die von einer Rolle abgespult wird (Bandentmistung). Es
stehen Kaninchenkäfige zur Verfügung, die sowohl eine Einzelhaltung als auch -durch Verbunddie Bildung größerer Käfigkompartimente und somit die Haltung in größeren Tiergruppen
erlauben. Alternativ zur Käfighaltung können Kaninchen auch gruppenweise in Boxen gehalten
werden, die direkt auf dem Boden des Tierraums aufgestellt werden (Bodenhaltung). Bei der
Haltung von Meerschweinchen und weiblichen Kaninchen ist eine Gruppenhaltung zu
empfehlen. Die Gruppenhaltung männlicher Kaninchen ist kritisch zu bewerten, da die Rammler
untereinander sehr aggressiv sind.
Die gesetzlichen Anforderungen an Tierhaltungsräume und Tierkäfige sind in der „Richtlinie des
Rates vom 24. November 1986 zur Annäherung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der
Mitgliedstaaten zum Schutz der für Versuche und andere wissenschaftliche Zwecke verwendeten
Tiere (86/609/EWG)“ spezifiziert. Dieses Werk wird auch als sogenannte Eurorichtlinie
bezeichnet. Die Eurorichtlinie werden derzeit überarbeitet. Zwar existiert bereits eine
„endgültige Entwurfsversion“ der neuen Eurorichtlinie, diese Regelung ist jedoch noch nicht
offiziell in Kraft getreten. Da mit der Verabschiedung der neuen Eurorichtlinie jedoch in Bälde
zu rechnen ist, sind nachfolgend die Anforderungen der „endgültigen Entwurfsversion“ der
84
Pflege und Haltung
Dr. med. vet. Kurt Reifenberg
modifizierten Eurorichtlinie wiedergegeben. Dabei sind lediglich die Angaben für die Spezies
Maus, Ratte, Meerschweinchen und Kaninchen wiedergegeben.
85
Pflege und Haltung
Dr. med. vet. Kurt Reifenberg
4.3 Richtlinien für Maushaltung:
Mindesthöhe eines Käfigs:
12 cm
Mindestfläche eines Zuchtkäfigs
für ein Zuchtpaar oder ein Zuchttrio:
330 cm2
zusätzlich pro weiterem Zuchtweibchen:
180 cm2
Mindestflächen bei Zuchtvorratstieren
die in einem Käfig von mindestens 1500 cm2 gehalten werden:
pro Tier von < 20 g
40 cm2
die in einem Käfig von mindestens 950 cm2 gehalten werden:
pro Tier von < 20 g
30 cm2
Mindestfläche eines Käfigs bei Experimentalvorrats- und Experimentalhaltung: 330 cm2
Mindestflächen pro Tier bei Experimentalvorrats- und Experimentalhaltung:
86
< 20 g
60 cm2
21-25 g
70 cm2
26-30 g
80 cm2
> 30 g
100 cm2
Pflege und Haltung
Dr. med. vet. Kurt Reifenberg
4.4 Richtlinien für Rattenhaltung:
Mindesthöhe eines Käfigs:
18 cm
Mindestfläche eines Zuchtkäfigs
für ein Zuchtweibchen:
800 cm2
zusätzlich pro weiterem Zuchttier:
400 cm2
Mindestflächen pro Tier bei Zuchtvorratstieren, die in einem Käfig von mindestens 1500
cm2 gehalten werden :
<50 g
100 cm2
51-100 g
125 cm2
101-150 g
150 cm2
151-200 g
175 cm2
Mindestflächen pro Tier bei Zuchtvorratstieren, die in einem Käfig von mindestens 2500
cm2 gehalten werden:
< 100 g
100 cm2
101-150 g
125 cm2
151-200 g
150 cm2
Mindestfläche eines Käfigs bei Experimentalvorrats- und Experimentalhaltung:
bis 600 g
800 cm2
> 600 g
1500 cm2
Mindestflächen pro Tier bei Experimentalvorrats- und Experimentalhaltung:
87
< 200 g
200 cm2
201-300 g
250 cm2
301-400 g
350 cm2
401-600 g
450 cm2
> 600 g
600 cm2
Pflege und Haltung
Dr. med. vet. Kurt Reifenberg
4.5 Richtlinien für Meerschweinchenhaltung
Mindesthöhe eines Käfigs:
23 cm
Mindestfläche eines Zuchtkäfigs:
für ein Zuchtpaar mit Jungtieren:
2500 cm2
pro weiterem Zuchtweibchen zusätzlich:
1000 cm2
Mindestfläche eines Käfigs bei Vorrats- und Experimentalhaltung:
bis 450 g
1800 cm2
> 450 g
2500 cm2
Mindestflächen pro Tier bei Vorrats- und Experimentalhaltung:
88
< 200 g
200 cm2
201-300 g
350 cm2
301-450 g
500 cm2
451-700 g
700 cm2
> 700 g
900 cm2
Pflege und Haltung
Dr. med. vet. Kurt Reifenberg
4.6 Richtlinien für Kaninchenhaltung
Mindestkäfigflächen und Mindestkäfighöhen eines einzelnen Tiers oder eines sozial
harmonisierenden Duos eines Alters > 10 Wochen:
Gewicht
Fläche
Höhe
2
45 cm
3 - 5 kg
2
4200 cm
45 cm
> 5 Kg
5400 cm2
60 cm
< 3 kg
3500 cm
Mindestabmessungen der Käfigfläche, der Nestboxfläche und der Käfighöhe eines einzelnen
Zuchtweibchens samt Jungtieren:
Gewicht
Käfigfläche
Nestboxfläche
Höhe
< 3 kg
3500 cm2
1000 cm2
45 cm
2
2
45 cm
2
60 cm
3 - 5 kg
> 5 kg
4200 cm
2
5400 cm
1200 cm
1400 cm
Maximale Anzahl an Tieren eines Alters < 7 Wochen pro Käfig einer Fläche von mindestens
4000 cm2 und einer Höhe von mindestens 40 cm: 5
pro zusätzlichem Tier eines Alters < 7 Wochen zusätzlich 800 cm2
Maximale Anzahl an Tieren eines Alters von 8 - 10 Wochen pro Käfig einer Fläche von
mindestens 4000 cm2 und einer Höhe von mindestens 40 cm: 3
pro zusätzlichem Tier eines Alters 8 - 10 Wochen zusätzlich 1200 cm2
Bei Kaninchenhaltung wird dringend der Einsatz von erhöhten Liegebrettern empfohlen. Auf
den Einsatz dieser Haltungselemente kann verzichtet werden, wenn experimentelle oder
veterinärmedizinische Gründe dafür bestehen. In diesem Fall sollten die oben aufgeführten
Käfigflächen bei Einzelhaltung um 33% und bei gemeinsamer Haltung von mindestens 2
Kaninchen um 60% erhöht werden.
Für Fläche und Höhe der Liegebretter gelten folgende Empfehlungen:
Alter
(Wochen)
< 10
> 10
Abmessung der
Liegebretter (cm
Körpergewicht
x cm)
55 x 25
<3
55 x 25
3 - 5 kg
55 x 30
> 5 Kg
60 x 35
89
Höhe der
Liegebretter (cm)
25
25
30
Pflege und Haltung
Dr. med. vet. Kurt Reifenberg
4.7 Fütterung
Die Fütterung von Versuchstieren muss einerseits die ausreichende energetische Versorgung der
Tiere gewährleisten. Darüber hinaus müssen die Futtermittel so zusammen gesetzt sein, dass die
Entstehung von Mangelkrankheiten sicher verhindert wird. Zur Bearbeitung entsprechender
wissenschaftlicher Fragestellungen kann es notwendig sein, Futtermittel einzusetzen, die zu
gesundheitlichen Beeinträchtigungen der Versuchstiere führen. Dies darf jedoch nur im Rahmen
genehmigter
Tierversuchsverfahren
erfolgen.
Viele
Tierexperimentatoren
nehmen
fälschlicherweise an, die Zusammensetzung der Versuchstierfuttermittel sei standardisiert. Dabei
handelt es sich jedoch um einen Trugschluss; es existieren weder nationale noch internationale
Richtlinien für die Herstellung von Versuchstierfutter. Der hauptsächliche Grund für die
fehlende Standardisierung von Versuchstierfuttermitteln liegt in der stark wechselnden Qualität
der Ausgangsstoffe, die aus ökonomischen Gründen üblicherweise für die Herstellung verwandt
werden.
Bei der Fütterung von Versuchstieren werden vorzugsweise Alleinfuttermitteln eingesetzt.
Alleinfuttermittel können die artgerechte Ernährung der Tiere prinzipiell alleine, d. h. ohne den
Einsatz weiterer Futtermittel, gewährleisten. Versuchstierarten wie Mäuse, Ratten, Hamster und
Schweine können als omnivore Spezies unproblematisch ausschließlich mit Alleinfuttermitteln
ernährt werden. Alleinfuttermittel werden nach der Reinheit der zur Herstellung verwandten
Ausgangsstoffe unterschieden:
•
Alleinfuttermittel auf der Basis von Getreide (=non-purified diet, =cereal-based diet):
Alleinfutter auf der Basis von Getreide werden mit Abstand am häufigsten zur Fütterung von
Versuchstieren eingesetzt. Diese Futtermittel sind aus unterschiedlichen Getreiden
zusammengesetzt, die gemahlen, gemischt und gepresst werden. Futtereigenschaften wie
Energie-, Protein- Kohlenhydrat-, Fett-, Mineral- und Vitamingehalt können durch die
Zusammensetzung der Ausgangsmaterialien in gewisser Weise variiert werden. Die Qualität
von Alleinfuttermitteln auf der Basis von Getreide wird kontrolliert, indem die
Futterzusammensetzung im Rahmen einer sogenannten Weenderanalyse bestimmt wird. Bei
dieser Analyse werden Rohwasser, Rohasche, Rohfett, Rohprotein, Rohfaser und Stickstofffreie Extraktstoffe (=Kohlenhydrate excl. Rohfaser) auf ökonomische Weise gemessen. Das
Adjektiv „Roh-“ besagt dabei, dass die Weenderanalyse keine chemisch exakte Bestimmung
der aufgeführten Inhaltsstoffe leistet, sondern dass durch die Analyse bestimmte
Stoffgruppen zusammengefasst werden. So erfolgt beispielsweise die Bestimmung des
Rohproteins bei der Weenderanalyse über die Quantifizierung des Stickstoffgehalts des
Futtermittels. Dabei wird bewusst in Kauf genommen, dass auch bestimmte Nicht-Proteine
90
Pflege und Haltung
Dr. med. vet. Kurt Reifenberg
Stickstoff enthalten. In Abhängigkeit von Charge, Lagerungsart und -dauer sowie vom
Verarbeitungsverfahren können bei Alleinfuttermitteln auf der Basis von Getreide starke
Schwankungen der wertbestimmenden Anteile auftreten. Zudem können diese Futtermittel
stark mit Toxinen oder Mikroorganismen belastet sein. Alleinfuttermittel auf der Basis von
Getreide können offen oder geschlossen formuliert sein. Bei offener Formulierung können
ganz unterschiedliche Ausgangskomponenten zur Futtermittelherstellung verwandt werden;
bei geschlossener Formulierung finden stets die gleichen Ausgangskomponenten, jedoch in
unterschiedlichen Mengen, Verwendung.
•
Alleinfuttermittel aus reinen Komponenten (=purified diet):•Diese Futtermittel bestehen aus
isolierten Proteinen (z.B. Kasein, extrahiertes Sojaprotein), aufgereinigten Kohlenhydraten
(z.B. Mais-, Reis-, Kartoffelstärke) und pflanzlichen Ölprodukten. Alleinfuttermittel aus
reinen Komponenten zeigen nur geringe Schwankungen der wertbestimmenden Anteile.
Darüber hinaus weisen sie keine oder nur geringfügige Belastungen mit Toxinen oder
Mikroorganismen
auf.
Aus
ökonomischen
Gründen
bleibt
ihr
Einsatz
jedoch
Spezialanwendungen vorbehalten.
•
Chemisch definierte Alleinfuttermittel (=chemically defined diet): Diese Alleinfuttermittel
werden aus synthetisch hergestellten Aminosäuren, Zuckern, isolierten Fettsäuren und
Mineralstoff-
und
Vitaminvormischungen
mit
jeweils
hohen
Reinheitsgraden
zusammengemischt. Die Verwendung bleibt speziellen Fragestellungen vorbehalten.
Während bestimmte Versuchstierarten ganz unproblematisch mit Alleinfuttermitteln auf der
Basis von Getreiden ernährt werden können, stellen andere Tierspezies höhere Anforderungen.
So sind beispielsweise reine Pflanzenfresser (herbivore Spezies) auf einen hohen Anteil
strukturierter Rohfaser (vorwiegend Zellulose) in der Nahrung angewiesen. Der ausschließliche
Einsatz von Alleinfuttermitteln auf der Basis von Getreide kann bei Pflanzenfressern deshalb zu
Gesundheitsproblemen führen. Bei der Fütterung von Pflanzenfressern kommen deshalb
sogenannte Ergänzungsfuttermittel zum Einsatz. Ergänzungsfuttermittel dienen dazu, zusammen
mit einem anderen Futtermittel, wie einem Einzelfuttermittel, oder in Kombination miteinander
den tierischen Nährstoffbedarf zu decken. Dabei können folgende Ergänzungsfuttermittel
unterschieden werden:
•
Rauhfutter: Dabei handelt es sich um Ergänzungsfuttermittel, die einen hohen Anteil
strukturierter Rohfaser enthalten (Heu, Stroh). Bei Pferden und Wiederkäuern (Rinder,
Schafe, Ziegen) ist die Zufütterung von Rauhfutter zwingend erforderlich, bei Kaninchen
und Meerschweinchen wird sie dringend empfohlen.
91
Pflege und Haltung
•
Dr. med. vet. Kurt Reifenberg
Saftfutter: Dabei handelt es sich um Ergänzungsfuttermittel, die durch einen hohen
Wassergehalt gekennzeichnet sind (z. B. Kohl, Mohrrüben, Äpfel, Rüben, Kartoffeln).
Saftfutter werden häufig bei der Fütterung landwirtschaftlicher Nutztiere eingesetzt. Dabei
ist sorgfältig auf Verderb der Saftfuttermittel zu achten.
•
Ergänzungsfuttermittel auf Getreidebasis (z. B. Hafer, Haferflocken, Getreideschrote). Auch
dieser Typ von Ergänzungsfuttermittel wird häufig bei der Fütterung landwirtschaftlicher
Nutztiere eingesetzt.
Tierische Alleinfuttermittel können auf unterschiedliche Weise technisch präpariert werden:
•
Mehle: Der Einsatz von Mehlen ist insbesondere bei Nagetieren kritisch zu sehen, da die
Tiere das Material leicht zerstreuen können. Zudem besteht die Gefahr der Entmischung des
Mehls.
•
Breie: Breie werden wegen des rasch eintretenden mikrobiologischen Verderbs eher selten
bei Versuchstieren eingesetzt. Kommen Sie dennoch zum Einsatz, muss eine sorgfältige
Hygieneüberwachung stattfinden. Statt Breien können auch eingeweichte Futterpellets
eingesetzt werden.
•
Pellets: Bei dieser Futterpräparation werden die Ausgangsmaterialien mit Wasserdampf
behandelt und über einen Zeitraum von 30 Sekunden bei Temperaturen von ca. 75 0C - 80 0C
zusammengepresst.
Die
thermische
Behandlung
entspricht
einem
Niederpasteurisierungsverfahren (high temperature – short time). Der Einsatz von
Futterpellets ist bei Versuchstieren, insbesondere bei Nagetieren und Kaninchen, sehr stark
verbreitet. Futterpellets sind in der Regel mikrobiologisch stark belastet. Dies kann zur
Gefährdung des Hygienestatus von Versuchstieren führen. Pellets können jedoch durch
Autoklavierung beispielsweise bei 121 0C über einen Zeitraum von 20 Minuten sterilisiert
werden. Bei der thermischen Behandlung kommt es zu starken Vitaminverlusten. Thermisch
zu behandelndes Futter muss deshalb besonders mit Vitaminen angereichert sein
(„Übervitaminisierung“ oder „fortified“). Übervitaminisierte Futtermittel müssen vor der
Verfütterung autoklaviert werden, da sie ansonsten zu Hypervitaminosen führen können.
Futterpellets haben eine sehr harte Konsistenz, die durch die Autoklavierung noch zusätzlich
erhöht sich.
•
Extrudiertes Futter: Beim Extrudieren wird das Futterausgangsmaterial ca. 10 Sekunden lang
auf eine Temperatur von 130 - 160 0C erhitzt. Diese thermische Behandlung entspricht einem
Ultra-Hochtemperatur-Verfahren. Die entstehenden Futterkügelchen sind zwar nicht steril,
aber deutlich geringer mikrobiologisch belastet als Futterpellets. Extrudiertes Futter kann
92
Pflege und Haltung
Dr. med. vet. Kurt Reifenberg
nicht mehr autoklaviert werden. Die Wahrscheinlichkeit, mit extrudiertem Futter einen SPFTierhaltungsbereich mit Tier-pathogenen Mikroorganismen zu kontaminieren, ist jedoch
extrem gering. Da extrudiertes Futter spezifisch leichter als pelletiertes Futter ist, muss bei
ad libitum Fütterung häufiger nachgefüttert werden. Zudem sind extrudierte Futtermittel
deutlich weicher als Futterpellets, weshalb bei ad libitum Gabe extrudierter Futtermittel an
Versuchstiere stärkere Gewichtszunahmen und raschere Verfettung im Vergleich zur
Pelletfütterung zu beobachten sind.
Bei der Fütterung von Versuchstieren können unterschiedliche Techniken zum Einsatz kommen:
•
Ad libitum Fütterung: Bei dieser Fütterungsart haben die Tiere zu jedem Zeitpunkt Zugang
zum Futter. Ad libitum Fütterung führt prinzipiell zur raschen Verfettung der Tiere, sie ist
jedoch aus ökonomischen Gründen, insbesondere bei Labornagern, weit verbreitet. Bei ad
libitum Fütterung nehmen die Tiere in ihrer Aktivitätsperiode deutlich mehr Futter auf als in
der Inaktivitätsperiode. So nehmen ad libitum gefütterte nachtaktive Labornager
beispielsweise mehr Futter in der Dunkelperiode als in der Helligkeitsphase auf.
•
Zeitbegrenzte Fütterung: Bei dieser Fütterungsart können die Versuchstiere über definierte
Zeiträume soviel Futter zu sich nehmen, wie sie möchten. Die zeitbegrenzte Fütterung wird
üblicherweise nur im Rahmen von Tierversuchen und nicht zur Routinefütterung eingesetzt.
•
Beschränkte Fütterung: Bei beschränkter Fütterung wird die Futteraufnahme quantitativ
begrenzt. Dabei darf die Mengenbeschränkung kein Ausmaß annehmen, welches zu
Unterernährung oder Mangelsituationen führt. Vielmehr soll bei der beschränkten Fütterung
eine definierte energetische Grenze oder eine definierte Nährstoffquantität nicht
überschritten werden. Die beschränkte Fütterung kann zum Ausgleich der Futteraufnahme
unterschiedlicher Tiere (Kontrolltiere versus Testtiere) herangezogen werden.
•
Paarfütterung: Die Paarfütterung ist eine spezielle Form der beschränkten Fütterung. Dabei
wird
zunächst
jedem
Tier
einer
Versuchsgruppe
genau
ein
Partner
aus
der
Behandlungsgruppe zugeordnet. Die Kontrolltiere erhalten jeweils genau die gleiche
Futtermenge und -qualität, die ihr Partner aus der Versuchsgruppe einen Tag zuvor verspeist
hat. Durch die Paarfütterung kann die Futteraufnahme von Kontroll- und Behandlungsgruppe
genau ausgeglichen werden.
4.8 Tränkung
Den Versuchstieren ist jederzeit sauberes Trinkwasser zur Verfügung zu stellen. Da
Trinkwasserentzug sehr rasch zum Tod führt, muss der Kontrolle der Trinkwasserversorgung der
93
Pflege und Haltung
Dr. med. vet. Kurt Reifenberg
Versuchstiere größte Aufmerksamkeit gewidmet werden. Darüber hinaus ist die Verkeimung des
Trinkwassers durch geeignete Maßnahmen zu verhindern Die Verabreichung des Trinkwassers
an die Versuchstiere kann entweder über Flaschen oder über automatische Tränkesysteme
erfolgen. Eine Flaschentränkung wird üblicherweise bei Nagetieren und Kaninchen eingesetzt.
Hierbei ist zu beachten, dass sämtliche Flaschen und Tränkenippel in angemessenen
regelmäßigen Abständen zerlegt, gereinigt und desinfiziert/sterilisiert werden. Üblicherweise
werden
alle
Trinkwasserflaschen
ca.
einmal
wöchentlich
durch
saubere
und
desinfizierte/sterilisierte Flaschen mit frischem Tränkewasser ersetzt. Selbstverständlich sind
alle leeren oder fast leeren Wasserflaschen oder solche, die sichtbar verschmutztes Trinkwasser
enthalten, unverzüglich zu wechseln. Automatische Tränkevorrichtungen werden üblicherweise
bei größeren Tierspezies wie Ziegen, Schafen oder Schweinen eingesetzt. Die automatischen
Systeme sind regelmäßig zu überprüfen, zu warten und zu durchspülen, damit Defekte und eine
Verkeimung des Wassers vermieden werden. Zur Tränke von Versuchstieren können folgende
Wasserqualitäten eingesetzt werden:
•
Demineralisiertes Wasser (frei von Mineralstoffen): Ein Teil der Versuchstierkundler steht
der Tränkung von Versuchstieren mit demineralisiertem Trinkwasser kritisch gegenüber, da
Mineralmangelsituationen der Versuchstiere befürchtet werden. Es muss jedoch angemerkt
werden, dass sich in der Literatur keinerlei Hinweise zur Unterstützung dieser Hypothese
finden. Darüber hinaus wird demineralisiertes Trinkwasser in einer Vielzahl von
Tierhaltungen eingesetzt, ohne dass bisher Mangelerkrankungen der Versuchstiere
beschrieben worden wären. Demineralisiertes Trinkwasser kommt in solchen Tierhaltungen
zum Einsatz, in denen das Wasser routinemäßig aus hygienischen Gründen autoklaviert wird.
Durch den Einsatz von demineralisiertem Wasser kann die Bildung von freiem Kalk bei der
thermischen Behandlung vermieden werden. Kalkrückstände im Trinkwasser sind sehr
gefürchtet, da sie die Tränkenippel der Wasserflaschen verstopfen und so zum Verdursten
der Tiere führen können.
•
Entkalktes Wasser (Austausch von Ca
2+
und Mg
2+
Ionen durch Na
+
Ionen): Gegen den
Einsatz von entkalktem Wasser zur Tränkung von Versuchstieren bestehen keine
versuchstierkundlichen Bedenken. Wie demineralisiertes Wasser wird auch entkalktes
Wasser in solchen Tierhaltungen eingesetzt, in denen das Trinkwasser aus hygienischen
Gründen autoklaviert werden muss.
•
Übliches Trinkwasser (Leitungswasser): Bei der Verwendung von dieser Wasserqualität sind
die üblichen quantitativen und qualiatativen regionalen Schwankungen der Mineralgehalte
(z. B. Kalk- und Eisengehalt) zu berücksichtigen.
94
Pflege und Haltung
Dr. med. vet. Kurt Reifenberg
4.9 Klima
In Versuchstierhaltungen muss zwischen dem Klima im Raum selbst (=Raumklima) und dem
Klima im einzelnen Tierhaltungskäfig (Mikroklima) unterschieden werden. Raumklima und
Mikroklima können sich durchaus in gewissen Grenzen unterscheiden. Die Standardisierung des
Raumklimas von Tierhaltungen bezüglich Temperatur, Luftfeuchte und Raumluftrate stellt eine
tierschutzrechtliche Forderung dar. In diesem Zusammenhang wird von einer Klimakonstanz der
Tierhaltungsräume gesprochen. Der Klimakonstanz kommt eine große tierexperimentelle
Bedeutung zu, da bekannt ist, dass die Ergebnisse beispielsweise von pharmakologischen und
toxikologischen Tierexperimenten in starker Weise von der Haltungstemperatur der Tiere
abhängen.
Im
Einzelnen
legt
der
Gesetzgeber
folgende
Klimaanforderungen
an
Tierhaltungsräume fest:
•
Temperatur der Tierhaltungsräume:
o 22 - 24 oC (bei Maus-, Ratten-, Hamster-, Gerbil- oder Meerschweinchenhaltung)
o 15 - 21 oC (bei Kaninchen-, Frettchen- oder Hühnerhaltung)
o 10-24 oC (bei Schweine-, Ziegen-, Schaf-, Rinder- oder Pferdehaltung)
•
Relative Luftfeuchte: 55 % +/- 10 %. Eine relative Luftfeuchte von weniger als 40 % und
mehr als 70 % sollte über längere Zeiträume in Tierhaltungsräumen vermieden werden, da
sie zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen der Versuchstiere führen kann.
•
Luftaustauschrate: 15-20 pro Stunde. Durch das Belüftungssystem von Tierräumen sollen
Frischluft zugeführt und Gerüche, Schadgase, Staub und Krankheitserreger jeglicher Art
soweit wie möglich abgeführt werden. Das Belüftungssystem dient auch zur Beseitigung
überschüssiger Wärme und Feuchtigkeit. Unter bestimmten Bedingungen, wenn die
Belegungsdichte gering ist, können in Tierhaltungsräumen 8 bis 10 Luftwechsel pro Stunde
ausreichen oder es kann eventuell sogar auf eine Zwangslüftung verzichtet werden. Unter
anderen Bedingungen könnte eine wesentlich höhere Luftaustauschrate erforderlich sein. Das
Belüftungssystem von Tierhaltungsräumen sollte so ausgelegt sein, dass schädliche Zugluft
vermieden wird.
•
Die Klimaanlagen von Tierhaltungsräumen sind an ein elektronisches Überwachungssystem
anzuschließen, so dass bei Lüftungsausfall unverzüglich geeignete Gegenmaßnahmen
ergriffen werden können, um gesundheitliche Schäden der Versuchstiere zu vermeiden.
95
Pflege und Haltung
Dr. med. vet. Kurt Reifenberg
4.10 Beleuchtung
Bei der Gestaltung der Beleuchtung von Tierräumen ist einerseits der Licht-Dunkel-Rhythmus
und andererseits die Helligkeit zu beachten. Die Kontrolle dieser Parameter ist nur möglich,
wenn die Versuchstierräume entweder ohne Fenster sind, was üblicherweise auch der Fall ist,
oder wenn die Fenster verdunkelt werden. Bei den meisten Versuchstierspezies wird ein LichtDunkel-Rhythmus von 12 Stunden Helligkeitsphase und 12 Stunden Dunkelphase eingestellt. Es
gibt jedoch auch Ausnahmen. So ist beispielsweise zur Zucht von Hamstern oder
Meerschweinchen (Langtagzüchter!) eine längere Helligkeitsperiode (üblicherweise 14 Stunden)
zu wählen.
Für die Durchführung von Tierpflegearbeiten muss aus Gründen des Arbeitsschutzes eine
ausreichende Helligkeit gewährleistet sein. Üblicherweise wird hierfür ein Helligkeitswert von
ca. 500 Lux etabliert. Dieser Wert kann jedoch bei nachtaktiven Tieren wie Mäusen, Ratten oder
Hamstern,
insbesondere
bei
albinotischen
Stämmen,
bereits
zu
Augenschädigungen
(phototoxische Retinopathie) führen. Deshalb sollte bei solchen Tieren für eine dunkle
Rückzugsmöglichkeit im Käfig gesorgt werden. Zusätzlich kann die Raumhelligheit während der
Abwesenheit des Personals mittels eines Dimmers auf Werte von ca. 200 – 300 Lux herabgesetzt
werden.
4.11 Geräusche, Lärm
Lärm ist ein wichtiger Störfaktor im Tierlaboratorium. Dabei muss berücksichtigt werden, dass
viele Versuchstierspezies (z. B. Maus und Ratte) Frequenzen oberhalb der menschlichen
Hörschwelle von ca. 20.000 Hz wahrnehmen können. Um Störungen des Verhaltens zu
vermeiden, sind laute Arbeitsplätze und technische Einrichtungen, insbesondere wenn von
diesen dabei Ultraschallwellen emittiert werden (z. B. Waschmaschinen, Computermonitore),
von der Tierhaltung fernzuhalten. Im leeren Tierraum sollten die durch die technischen
Einrichtungen wie raumlufttechnische Anlagen usw. erzeugten Geräusche möglichst 52 dB (A)
nicht überschreiten. Gedämpfte Musik hingegen und Gegensprechanlagen zeigen keinen
ungünstigen Effekt auf das Verhalten der Versuchstiere. Durch den Einsatz von Filtertopkäfigen
wird eine Dämpfung von Lärm und Geräuschen des Tierraums erreicht. Andererseits können bei
IVC-Systemen mit direkter Anbindung der Käfige an ein Lüftungssystem eventuell
Ventilatorengeräusche zu den Tieren übertragen werden.
4.12 Angereicherte Tierhaltungsumgebung („Environmental Enrichment“)
Im § 1 des Deutschen Tierschutzgesetzes wird der Schutz des Wohlbefindens von Tieren
gefordert. Das animale Wohlbefinden kann nur in einer Umgebung gewährleistet werden, die
den Tieren entsprechende Anreize bietet. In diesem Zusammenhang wird von einer
96
Pflege und Haltung
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angereicherten Umgebung („environmental enrichment“) gesprochen. Das „environmental
enrichment“ beinhaltet die Ermöglichung sozialer Aktivitäten, d.h. eine Gruppenhaltung von
Tieren ist einer Einzelhaltung vorzuziehen. Sofern die Einzelhaltung unabdingbar ist, sollte auf
visuelle, akustische oder olfaktorische Kontaktmöglichkeiten geachtet werden. Über soziale
Aktivitäten hinaus kann eine Umgebungsanreicherung durch Futtersuche, durch die passive
Ermöglichung bzw. Begünstigung physischer Aktivitäten oder durch aktive Herbeiführung
geeigneter tierischer Verhaltensweisen erreicht werden.
Die Notwendigkeit zur Anreicherung der Umgebung von Versuchstiere wird von der Mehrzahl
der
Versuchstierkundler
anerkannt.
Zur
Bewertung
von
unterschiedlichen
Umgebungsanreicherungen stehen prinzipiell verhaltensbiologische und stressphysiologische
Ansätze zur Verfügung.
Bei den verhaltensbiologischen Ansätzen kann einerseits das Verhalten von Versuchstieren mit
dem von Artgenossen verglichen werden, die unter „semiwild“ Bedingungen gehalten werden.
Zeigen die Versuchstiere Einschränkungen ihres Verhaltensrepertoires in Vergleich zur
„semiwild“ Kontrolle, so ist dies ein Hinweis auf ein eingeschränktes Wohlbefinden, welches
durch Anreicherungsmaßnahmen zu kompensieren ist. Alternativ können Tiere vor die Wahl
gestellt werden, sich in verschieden ausgestatteten Arealen aufzuhalten (Wahlverhalten). In
Arealen, die stärker gemieden werden, wird von einem beeinträchtigten Wohlbefinden der Tiere
ausgegangen. Eine sehr elegante, aus der Marktpsychologie stammende Methode der
verhaltensbiologischen Beurteilung von Umgebungsanreicherungen stellt die Bestimmung der
„Elastizität der Nachfrage“ dar. Hierbei müssen die Tiere Arbeit verrichten, um in den Genuss
einer bestimmten angereicherten Umgebung zu kommen. Die Methode hat im Gegensatz zum
„semiwild“-
und
Wahlverhaltenansatz
den
Vorteil,
dass
sie
präziser
zwischen
Umgebungsanreicherungen diskriminieren kann, die für das Wohlergehen essentiell sind bzw.
Luxus darstellen. Im ersten Fall wird die sukzessive Erschwerung des Zutritts zum
angereicherten Areal einen geringen Einfluss auf die Nutzung haben, d. h. es wird
gegebenenfalls sehr stark dafür gearbeitet, um in das angereicherte Areal zu gelangen. In dieser
Situation wird von einer geringen Nachfrageelastizität gesprochen. Im anderen Fall wird die
Erschwerung des Zutritts einen deutlichen Einfluss auf die Arealnutzung haben, d. h. bei
entsprechend starkem Arbeitsaufwand wird die angereicherte Umgebung kaum noch genutzt, die
Nachfrage nach dem angereicherten Areal unterliegt offensichtlich einer starken Elastizität.
Bei stressphysiologischen Ansätzen zur Beurteilung von Umgebungsanreicherungen von
Versuchstieren wird gemessen, ob das zu testende Areal eine Stressreaktion der Tiere induziert.
Ist dies der Fall, so wird von einem beeinträchtigten Wohlbefinden der Versuchstiere im
Testareal ausgegangen.
97
Pflege und Haltung
Dr. med. vet. Kurt Reifenberg
In der bereits erwähnten „endgültigen Entwurfsversion“ der modifizierten Eurorichtlinie finden
sich folgende Angaben über die Umgebungsanreicherung von Versuchstiershaltungen:
1. Bei Tierarten mit geselligem Zusammenleben soll eine Gruppenhaltung praktiziert werden,
solange die Gruppen stabil und harmonisch sind. Solche Gruppen können auch bei der
Haltung männlicher Mäuse, adulter Hamster und Gerbils erreicht werden, wenn auch
teilweise mit Schwierigkeiten, weil innerhalb der Gruppenmitglieder aggressives Verhalten
auftreten kann.
2. Tiere können in solchen Fällen einzeln gehalten werden, in denen ansonsten die Gefahr
nachteiliger Effekte oder einer Schädigung besteht. Das Auseinanderreißen stabiler
harmonischer Gruppen sollte vermieden werden, da dies zu starken Stressreaktionen führen
kann.
3. Die Käfige und deren Anreicherung sollen so gestaltet sein, dass den darin gehaltenen Tieren
ein normales Verhalten ermöglicht wird.
4. Einstreu- und Nestbaumaterial sowie Rückzugsmöglichkeiten stellen wichtige Ressourcen
für Nagetiere dar, die sich in der Zucht, in der Vorratshaltung oder in der
Experimentalhaltung befinden. Diese Mittel sollten den Versuchstieren nur dann
vorenthalten werden, wenn ein experimenteller oder veterinärmedizinischer Grund gegeben
ist. Das Nestbaumaterial sollte so beschaffen sein, dass die Tiere es selbst manipulieren und
ein Nest herstellen können. Alternativ zum Nestbaumaterial können den Tieren Nestboxen
zur Verfügung gestellt werden. Das Einstreumaterial dient primär der Absorption von Urin,
wird aber auch von den Versuchstieren genutzt, um Urinmarkierungen zu hinterlassen.
Nestbaumaterial ist wichtig für Mäuse, Ratten, Hamster und Gerbils; Nestboxen für
Meerschweinchen,
Hamster
und
Ratten.
Meerschweinchen
sollten
immer
mit
manipulierbarem Material wie Heu zum Kauen und als Versteckmöglichkeit versehen
werden.
5. Holzstöckchen
zum
Kauen
und
Nagen
sollten
bei
allen
Nagetierarten
als
Anreicherungsmaterial in Betracht gezogen werden.
6. Viele Nagetierarten versuchen, ihren Käfig in Areale zum Fressen, zum Ruhen, zum
Urinieren und Koten sowie zum Futtersammeln zu unterteilen. Die Unterteilung muss nicht
auf physische Barrieren sondern kann auf Geruchsmarkierungen beruhen. Um die
Komplexität der Umgebung darüber hinaus anzureichern, wird der Einsatz von Schläuchen,
Häuschen oder Klettergestellen empfohlen.
7. In der Kaninchenhaltung kann eine Umgebungsanreichung durch Ballaststoffe, Heublöcke,
Kaustöckchen und durch die Bereitstellung von Rückzugsmöglichkeiten erreicht werden. Bei
98
Pflege und Haltung
Dr. med. vet. Kurt Reifenberg
Bodenhaltung von Kaninchen in Gruppen sollten Sichtbarrieren und Rückzugsmöglichkeiten
sowie Ausblickeinrichtungen bereitgestellt werden.
4.13 Gesundheitskontrolle
In jeder Tierhaltung muß eine regelmäßige Betreuung des Tierbestands sowie eine Überwachung
der Unterbringung und Pflege vorzugsweise durch tierärztliches Personal oder alternativ durch
andere sachkundige Personen stattfinden.
4.14 Transport von Tieren
Für Tiere stellen Transporte eine starke Belastung dar. In Deutschland müssen Tiertransporte
den
Anforderungen
der
Verordung
zum
Schutz
von
Tieren
beim
Transport
(Tierschutztranportverordnung) genügen. Wer Versuchstiere aus sogenannten Drittländern
(entspricht etwa den nicht zur EG gehörenden Ländern wie z. B. USA) einführen will, bedarf der
Genehmigung durch die zuständige Behörde (Importerlaubnis). Selbstverständlich muss der
Empfänger vor dem Tiertransport ein Hygienezeugnis vom Empfänger einholen (siehe
Manuskript „Hygiene in Versuchstierhaltungen“). Zudem müssen Sender und Empfänger die
Bedingungen und das Timing des Transports abstimmen. Kranke Versuchstiere dürfen nicht
transportiert werden. Die Transportbehältnisse müssen so beschaffen sein, dass den Tieren
genügend Raum zur Verfügung steht, dass sich die Tiere nicht verletzen können, dass Schutz vor
schädlichen Witterungseinflüssen geboten ist und dass eine ausreichende Lüftung gewährleistet
ist. Die Transportmittel sind an gut sichtbarer Stelle der Außenseite mit der Angabe „lebende
Tiere“ oder einer gleichbedeutenden Angabe zu versehen. Es ist sicherzustellen, dass beim
Transport von Tieren eine sogenannte Transporterklärung mitgeführt wird, die Angaben über
Herkunft und Eigentümer der Tiere, über Versandort und Bestimmungsort sowie über Tag und
Uhrzeit des Verladebeginns enthält.
4.15 Weiterführende Literatur
Van Zutphen LFM, Baumans V, Beynen AC (eds) (1995) Grundlagen der Versuchstierkunde,
Gustav Fischer, Stuttgart, Jena, New York
Weiss J, Maeß J, Nebendahl K (eds) (2003) Haus- und Versuchstierpflege, Enke, Stuttgart
99
Hygiene
Dr. med. vet. Kurt Reifenberg
5.
Hygiene in Versuchstierhaltungen
5.1
Bedeutung des mikrobiologischen Status von Versuchstieren
Dem Hygieneniveau von Versuchstieren kommt eine herausragende Bedeutung zu, da
interkurrente Infektionen, die während der Experimentalphase auftreten, die wissenschaftliche
Aussagekraft der Tierversuche in erheblichem Umfang einschränken (Baker, 1998).
Versuchstierkundliche Hygienedefizite sind tierschutzrechtlich relevant und widersprechen guter
wissenschaftlicher Praxis. Hohe mikrobiologische Qualitätsniveaus können in der Regel nur in
solchen Versuchstierhaltungen langfristig gehalten werden, die entsprechende bauliche
Voraussetzungen (z.B. Sterilfiltration der Zuluft, Sterilisation der Käfigmaterialien in
Durchfahrautoklaven, Personalschleusen) erfüllen und bei denen geeignete Hygieneregeln in
konsequenter Weise befolgt werden. Bei der Planung von Versuchstierhaltungen muss
berücksichtigt werden, dass das bauliche Konzept ganz maßgeblich über den Hygienestatus
entscheidet.
5.2
Mikroflora von Versuchstieren
Säugetiere sind physiologischerweise mit einer Vielzahl unterschiedlicher apathogener
Mikroorganismen (mehrere 100 verschiedene Spezies, vorzugsweise Bakterien) besiedelt, die in
ihrer Gesamtheit als autochthone Flora bezeichnet wird. Die autochthone Flora siedelt auf Haut
und Schleimhäuten und macht einen signifikanten Anteil des Darminhaltes aus. Alle Vertreter
der animalen autochthonen Flora sind nicht pathogen, d.h. diese Mikroorganismen können dem
Trägertier keinen Schaden zufügen. Über die autochthone Flora hinaus können Versuchstiere
aber ebenfalls mit solchen Mikroorganismen besiedelt sein, die obligatorisch oder bei
entsprechender Gelegenheit wie z.B. einer Immunsuppression (opportunistische Erreger)
Krankheiten verursachen können. Mikroorganismen, die in ihren Trägertieren Krankheiten
induzieren können, werden als pathogen bezeichnet. Die mikrobiologische Standardisierung von
Versuchstieren kann daraufhin abzielen, die gesamte autochthone Flora zu eliminieren oder kann
lediglich
das
Ziel
verfolgen,
die
jeweilige
Palette
Spezies-spezifischer
pathogener
Mikroorganismen zu kontrollieren (van Zutphen et al., 1995).
5.3
Versuchstierkundliche Hygieneniveaus
Entsprechend der Unterscheidung in autochthone Flora und pathogene Mikroorganismen können
bei Versuchstieren folgende Hygienestufen unterschieden werden (van Zutphen et al., 1995,
Weiss et al., 2003):
100
Hygiene
Dr. med. vet. Kurt Reifenberg
-Gnotobiotische Tiere: Gnotobiotische Tiere tragen weder eine autochthone Flora noch
pathogene Organismen. Bei gnotobiotischen Tieren, und nur bei solchen Tieren, kann
von einer mikrobiologischen Standardisierung gesprochen werden.
-Spezifiziert Pathogen Freie (SPF) Tiere: Bei SPF-Tieren liegen keinerlei Informationen über die
Zusammensetzung der komplexen autochthonen Flora vor. Aus diesem Grunde kann bei
SPF-Tieren auch nicht von einer mikrobiologischen Standardisierung gesprochen
werden. Von einem SPF-Hygienestatus wird dann gesprochen, wenn regelmäßig
bestimmt wird, welche pathogenen Mikroorganismen die Versuchstiere tragen. Bei der
überwiegenden Anzahl von Tierversuchen wird der Einsatz von SPF-Versuchstieren
gefordert. Dabei ist anzumerken, dass SPF-Tiere in den wenigsten Fällen völlig frei von
pathogenen Mikroorganismen sind; in diesem Sonderfall spricht man von einem
spezifisch Pathogen-freien Hygienestatus. In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle
werden SPF-Tiere ein spezifiziert Pathogen-freies Hygieneniveau aufweisen sein, d.h. es
ist genau bekannt, welche pathogenen Mikroorganismen vorhanden sind.
-Konventionelle Tiere: Bei konventionellen Tieren liegen weder Informationen über die
autochthone Flora vor, noch ist bekannt, welche pathogenen Organismen die Tiere
tragen.
5.4
Gnotobiotische Tierhaltung
Von einer gnotobiotischen Tierhaltung wird gesprochen, wenn die mikrobiologische,
insbesondere die bakterielle, Besiedlung der Versuchstiere genau bekannt ist. Es werden
keimfreie und assoziierte Gnotobioten unterschieden.
Keimfreie Gnotobioten
Gnotobiotische Tiere können einerseits völlig keimfrei sein. Keimfreie Gnotobioten hatten noch
nie Kontakt mit einem viralen, bakteriellen oder parasitologischen Mikroorganismus, d.h. es
fand noch nie eine Interaktion des Versuchstiers mit einer mikrobiologischen Lebensform oder
einem Virus statt. Keimfreie Tiere weisen physiologische und anatomische Besonderheiten auf.
So ist der Blinddarm (Caecum) deutlich vergrößert und die Darmwand verdünnt (hypotroph).
Auch der Darminhalt zeigt eine besondere Konsistenz auf; er ist flüssiger und weicher und zeigt
ein verändertes Redoxpotential im Vergleich zu nicht keimfreien Tieren. Die mit der
Keimfreiheit verbundenen anatomischen und physiologischen Besonderheiten führen häufig zu
gesundheitlichen Beeinträchtigungen; insbesondere der vergrößerte Blinddarm führt zu einer
deutlichen Verkürzung der Lebenserwartung keimfreier Tiere.
101
Hygiene
Dr. med. vet. Kurt Reifenberg
Assoziierte Gnotobioten
Um die aufgeführten physiologischen und anatomischen Besonderheiten keimfreier Tiere
zumindest teilweise auszugleichen, werden keimfreie Tiere häufig assoziiert. Dies bedeutet, dass
die keimfreien Tiere mit einem qualitativ genau bekannten Bakterienspektrum besiedelt werden.
Zur Assoziierung werden fakultativ oder obligat anaerobe Mikroorganismen (z.B. Laktobazillen
oder Sporenbildner) eingesetzt. Die Flora, die zur Assoziierung eingesetzt wird, umfasst in der
Regel nur wenige Bakterienspezies. Bei Assoziierung der Versuchstiere mit 1 bzw. 2 bzw. 3
Bakterienspezies spricht man von mono-, di- oder tri-assoziierten Tieren. Zum Teil werden
jedoch auch sehr komplexe aus ca. 10 Bakterienspezies zusammengesetzte Bakterienfloren (z.B
Schaedlerflora, Wensinck-Flora) zur Assoziierung eingesetzt. Solche komplexen Floren sind in
der Lage, eine Besiedelung der Tiere mit weiteren Bakterienspezies in gewissem Umfang zu
verhindern. Man bezeichnet sie deshalb auch als „colonization resistent flora (CRF)“ Assozierte
Gnotobioten können nicht eigenständig entwickelt werden, sondern müssen immer aus
keimfreien Tieren hergeleitet werden.
Technik der Herstellung von gnotobiotischen Tieren
Aus unterschiedlichen Gründen gelang es nicht bei allen Versuchstierspezies, keimfreie Tiere zu
erzeugen. Bei den Spezies Maus und Ratte ist die Entwicklung keimfreier Tiere jedoch
gelungen. So werden heute eine Vielzahl keimfreier Maus- und Rattenstämme gehalten. Die
ersten keimfreien (Baby-) Tiere wurden dabei durch Hysterektomie (Kaiserschnitt) unter sterilen
Bedingungen entwickelt und „mit Hand“ aufgezogen. Auf diese aufwendige Art der Herstellung
keimfreier Tiere ist man heute nicht mehr angewiesen. Da zahlreiche versuchstierkundliche
Einrichtungen über keimfreie Mäuse und Ratten verfügen, können diese Tiere genutzt werden,
um neue Tierstämme auf keimfreies Niveau zu heben. Dazu werden die auf keimfreies Niveau
zu verbringenden Tiere entweder in Embryonenform (Embryotransfer) oder unmittelbar vor der
zu erwartenden Geburt als Baby (Hysterektomie) in das keimfreie Milieu eingeschleust. Bei
Einschleusung von Embryonen werden diese im keimfreien Milieu auf Empfängertiere
übertragen und von diesen ausgetragen. Bei Einschleusung von Babies übernehmen keimfreie
Ammen die Jungenaufzucht.
Tierexperimentelle Nutzung gnotobiotischer Tiere
Trotz des erheblichen technischen Aufwands, der mit der gnotobiotischen Tierhaltung verbunden
ist, ist dieses Hygieneniveau durchaus weit verbreitet. Allerdings ist die Palette gnotobiotisch
verfügbarer Maus- und Rattenstämme wenig breit. Die gnotobiotische Technik wird zur
tierexperimentellen Untersuchung immunsuppressiver Therapieformen und zur Erforschung der
intestinalen Ökologie eingesetzt. Auch die Haltung stark immungeschwächter Tiere wie z.B. von
102
Hygiene
Dr. med. vet. Kurt Reifenberg
SCID-Mäusen (severe combined immunodeficiency: kombinierter B- und T-Zellmangel) erfolgt
unter gnotobiotischen Bedingungen am sichersten.
Technik der gnotobiotischen Versuchstierhaltung
Der gnotobiotische Hygienestatus kann nur durch eine absolute Barriere gewährleistet werden.
Bei absoluten Barrieren wird die Tierhaltung so hermetisch von der Umgebung abgetrennt, dass
das Eindringen von Mikroorganismen sicher verhindert wird. Als absolute Barriere werden
üblicherweise Isolatoren aus luftdichten, transparenten, flexiblen PVC-Hüllen eingesetzt. Damit
die Tiere innerhalb der Isolatoren hantiert werden können, müssen Handschuhe in luftdichter
Weise in die Hülle integriert sein. Der Isolator muss weiterhin über eine Be- und Entlüftung
verfügen. Die Belüftung erfolgt aktiv über einen Ventilator, die Entlüftung erfolgt passiv.
Hierdurch entsteht im Isolator ein Überdruck gegenüber der Umgebung; diese Druckverhältnisse
sind sehr wichtig zur Aufrechterhaltung des gnotobiotischen Hygienestatus. Selbstverständlich
muss die Zuluft vor Einleitung in den Isolator sterilfiltriert werden. Um bei Lüftungsausfällen
den Rückstrom unsteriler Luft über das Abluftsystem in den Isolator zu verhindern, wird die
Abluft durch eine „Falle“ geleitet (Abluftfalle), die eine Umkehr der Strömungsrichtung der
Abluft sicher verhindert. Alle Versorgungsmaterialien (Futter, Wasser), die in den Isolator
eingebracht werden, werden zunächst in Zylindern durch Autoklavierung sterilisiert und dann
unter sterilen Bedingungen in den Isolator eingeschleust. Die Materialschleuse stellt somit
ebenfalls einen essentiellen Teil der Keimfrei-Isolatortechnik dar. Die Sterilisierung der
Schleuse erfolgt chemisch durch Peressigsäure; vor Schleusenöffnung wird die Säure durch
sterile Belüftung entfernt. Das Peressigsäure Sterilisationsverfahren wird ebenfalls benutzt, um
die Isolatoren vor der Inbetriebnahme zu entkeimen.
103
Hygiene
Dr. med. vet. Kurt Reifenberg
2
5
3
4
1
Abbildung 5.1: Isolator aus transparenter, flexibler PVC-Hülle zur Haltung gnotobiotischer Tiere
Der Ventilator 1 versorgt den Isolator über den Sterilfilter 2 mit Frischluft. In die Isolatorhülle sind Handschuhe (3),
eine Materialschleuse (4) sowie eine Abluftfalle integriert. Die Abbildung wurde freundlicherweise von der Firma
Scanbur, Dänemark, zur Verfügung gestellt.
5.5
Spezifisch bzw. spezifiziert Pathogen-freie (SPF) Tierhaltung
Obwohl
nur
die
gnotobiotische
gewährleistet,
ist
diese
Tierhaltung
Haltungsform
eine
technisch
mikrobiologische
und
personell
zu
Standardisierung
aufwendig,
um
tierexperimentelle Studien regelmäßig auf diesem Hygieneniveau durchführen zu können. Die
Haltung der überwiegenden Mehrzahl von Versuchstieren erfolgt deshalb gemäß des
sogenannten SPF-Hygienekonzepts. In SPF-Versuchstierhaltungen muss regelmäßig auf die
Präsenz pathogener Mikroorganismen untersucht werden. Dabei existieren Empfehlungen der
FELASA (Federation of European Laboratory Animal Science Associations) bezüglich der
Spezies-spezifischen Palette der pathogenen Erreger, bezüglich der Untersuchungsintervalle,
104
Hygiene
Dr. med. vet. Kurt Reifenberg
bezüglich der Untersuchungsmethodik sowie bezüglich des Probenumfangs zur Konstatierung
des SPF-Status (Nicklas et al. 2001). Es muss jedoch als problematisch bewertet werden, dass
die akkurate Einhaltung der FELASA-Empfehlungen zur Zeit nicht von unabhängigen Instanzen
kontrolliert wird. Vielmehr liegt es im Ermessen des Tierhaltungs-Managements, ob überhaupt,
und falls ja wie genau, die zur Deklaration des SPF-Status erforderlichen Untersuchungen auch
tatsächlich durchgeführt werden. SPF-Tierhaltungen müssen in der Lage sein, ein
Hygienezeugnis zu erstellen, aus dem hervorgeht, welche pathogenen Mikroorganismen im
Tierhaltungsbereich anzutreffen sind und welche eben nicht. Aus den aufgeführten Gründen
steht und fällt die Zuverlässigkeit solcher Zertifikate mit der Integrität des jeweiligen
Tierhaltungsmanagements.
Gründe für die starke Verbreitung des SPF-Hygienekonzepts
Die überwiegende Mehrzahl von Tierversuchen wird an spezifiziert Pathogen-freien
Versuchstieren durchgeführt. Hierfür können nachfolgende Gründe angeführt werden:
-Sehr virulente tierpathogene Mikroorganismen können durchaus zu Infektionskrankheiten bei
Versuchstieren und auch zu Tierverlusten führen. So wurden beispielsweise vor wenigen
Jahrzehnten ganze Maushaltungsbereiche durch epidemische Ausbrüche muriner Pocken
hinweggerafft. Die „Killer“ unter den Versuchstierkeimen sind heute allerdings aufgrund
entsprechender Bekämpfungsmaßnahmen eher selten geworden. Die in der heutigen Zeit
überwiegend
anzutreffenden
Versuchstierinfektionen
verlaufen
zumeist
klinisch
inapparent.
-Unter Stressbedingungen (bedingt durch z.B. tierversuchsbedingte Belastungen oder
suboptimale Haltungsbedingungen) können auch ansonsten harmlose Versuchstierpathogene Erreger zu klinisch apparenten Erkrankungen führen.
-Viele
Versuchstier-pathogene
Erreger
können
die
Ergebnisse
von
Tierversuchen
beeinträchtigen. So ist bekannt, dass z.B. tierische Verhaltensweisen, Wachstumsraten,
Organgewichte, oder Immunreaktionen durch interkurrente Infektionen der Versuchstiere
mit tierpathogenen Erregern beeinflusst werden.
-Bestimmte Versuchstier-pathogene Erreger können zur Kontamination biologischer Materialien
(wie Gewebekulturen, Zellinien, transplantable Tumoren, biologische Produkte etc.)
führen und die Qualität dieser Produkte maßgeblich beeinträchtigen.
-Einige Versuchstier-pathogene Erreger können Zoonosen verursachen und stellen somit eine
Gefährdung des tierpflegerischen oder wissenschaftlichen Personals dar (z.B. LCMV,
Hantan, Listeria). Es muss jedoch angemerkt werden, dass das Auftreten gefährlicher
Zoonose-Erreger in Versuchstierhaltungen in der heutigen Zeit nur eine untergeordnete
105
Hygiene
Dr. med. vet. Kurt Reifenberg
Rolle spielt. Bei der Heimtierhaltung besteht ein deutlich größeres Risiko der
Übertragung von Infektionskrankheitserregern vom Tier auf den Mensch.
Technische, bauliche und organisatorische Umsetzung des SPF-Hygienekonzepts
Das SPF-Hygienekonzept wird in erster Linie durch eine Barrierentechnik realisiert. Dabei wird
ein einzelner oder i. d. R. eine Gruppe von Tierhaltungsräumen durch eine Hygienebarriere von
der Umgebung abgeschottet. Die Hygienebarriere umfasst dabei folgende Komponenten:
-Lüftungsbarriere: Die Zuluft von SPF-Tierhaltungen wird i.d.R durch Schwebstofffilter von
Kleinstpartikeln gereinigt. Schwebstofffilter können Kontaminationen der Zuluft mit
Bakterien, Viren oder Pilzen sehr sicher abfangen.
-Materialbarriere: Für die Tierversorgung notwendige Versorgungsmaterialien wie frische
Käfige und Futter werden i.d.R. vor Einschleusung in den SPF-Tierhaltungsbereich
behandelt. Dies erfolgt üblicherweise durch einen in die Barriere integrierten
Durchfahrautoklaven. Das Autoklavierungsprogramm wird so gewählt, dass zumindest eine
sichere Desinfektion der Käfighaltungseinrichtungen gewährleistet ist. In vielen Fällen wird
sogar eine Sterilisierung des Materials durchgeführt, obwohl dies prinzipiell nicht zwingend
erforderlich wäre. Die Materialbarriere umfasst ebenfalls die mikrobiologische Kontrolle
des für die Tiere erforderlichen Trinkwassers. Häufig wird gewöhnliches Leitungswasser
zum Tränken der Tiere eingesetzt. Die Kontaminationsgefahr, die von gewöhnlichem
Trinkwasser für Versuchstiere ausgeht, ist in Deutschland als äußerst gering einzustufen; da
solches Wasser einer standardisierten intensiven mikrobiologischen Qualitätskontrolle
unterliegt (Trinkwasserverordnung). In vielen Fällen wird das in SPF-Tierhaltungen zur
Tiertränke eingesetzte Wasser zusätzlich desinfiziert oder gar sterilisiert. Zur TrinkwasserDesinfektion werden meist die Methoden der UV-Bestrahlung, Azidifizierung, Chlorierung
oder Ozonierung verwandt eine -Sterilisierung kann durch Autoklavierung erreicht werden.
-Personalbarriere: Ganz allgemein ist der Personalzutritt zu SPF-Tierhaltungen auf das
unerläßliche Maß zu reduzieren. Der Zutritt zu SPF-Tierhaltungen erfolgt über
Personalschleusen, in denen Schutzkleidung angelegt wird. Zum Teil erfolgt der Zutritt
durch Luftduschen, die Staubpartikel und die daran eventuell gebundenen Mikroorganismen
vom Personal entfernen. Bei einem Teil der SPF-Anlagen kann der Zutritt erst nach einem
obligatorischen Duschvorgang erfolgen. Der Nutzen dieses „Zwangseinduschens“ ist jedoch
umstritten, da hierdurch lediglich eine Keimreduktion jedoch keine Desinfektion erreicht
wird.
-Tierzugangsbarriere:
Die
Aufnahme
neuer
Tierstämme
in
SPF-Tierhaltungen
kann
selbstverständlich nicht unkontrolliert erfolgen. Zu groß ist die Gefahr, dass durch solche
Vorgänge neue Tierpathogene die Hygienebarriere überwinden. Prinzipiell gilt, dass in eine
106
Hygiene
Dr. med. vet. Kurt Reifenberg
SPF-Tierhaltung nur Tiere einer anderen SPF-Tierhaltung aufgenommen werden können.
Gemäß des SPF-Hygienekonzepts muss die den Tierstamm abgebende Tierhaltung in der
Lage sein, ein mikrobiologisches Zeugnis über pathogene Mikroorganismen zu erstellen.
Das Management der den Tierstamm aufnehmenden Tierhaltung kann nun entscheiden,
inwiefern es dem mikrobiologisches Zeugnis vertraut und inwiefern der angegebene
Hygienestatus kompatibel zur eigenen Haltung ist. Üblicherweise werden Neuzugänge mit
verlässlichen und günstigen Hygienedaten quarantänisiert und erst nach der Verifizierung
des hygienischen Status erfolgt eine Aufnahme in den SPF-Bereich. Bei ungünstigem
Hygienezeugnis wird eine Sanierung des Hygienestatus des Tierstamms durch
Embryotransfer durchgeführt. Dabei wird der Tierstamm in Form von Embryonen, die sich
noch nicht in die Gebährmutter eingenistet haben (Präimplantationsembryonen), in den SPFBarrierenbereich eingeschleust und dort auf geeignete Empfängertiere übertragen. Durch
den Embryotransfer kann die Einschleppung von Tier-pathogenen Erregern in einen SPFHaltungsbereich am sichersten unterbunden werden.
1
2
3
4
5
6
7
8
11
10
12
13 14 15
9
16 17 18
19
Abbildung 5.2: Plan einer SPF- Barrierentierhaltung
Die Räume 3-8 dienen der Tierhaltung. In Raum 2 wird das Trinkwasser der Tiere angesäuert, in Flaschen abgefüllt
und gelagert. In Raum 12 werden Embryotransfers zum Einschleusen neuer Tierstämme in die Tierhaltung
durchgeführt. Raum 13 dient zu Dokumentationszwecken. In Raum 14 ist ein Durchfahrautoklav und in Raum 15
eine H2O2-Materialschleuse zum Einschleusen von Material in den Tierhaltungsbereich etabliert. Die Räume 16 und
18 stellen Personalschleusen dar, in Raum 17 sind WCs untergebracht. In Raum 9 befindet sich die Spülküche, die
mit einer Bandspülmaschine ausgestattet ist. Die Schleuse 11 dient dem Ausschleusen von verschmutzten
Materialien in die Spülküche. Der Flur 1 stellt in erster Linie den Fluchtweg dar. In Flur 10 werden die sterilisierten
Versorgungsmaterialien für die Tierhaltung entnommen und auch gelagert. Flur 19 dient zur Beschickung von
Autoklav und H2O2-Schleuse.
107
Hygiene
Dr. med. vet. Kurt Reifenberg
Die Räume 14-18 stellen die Hygienebarriere dar. Durch die Barriere geschützt werden die Tierräume 3-8, der reine
Lagerflur 10, das Embryotransferlabor 12 und die Dokumentation 13. Der Planausschnitt wurde freundlicherweise
von der Firma Doranth und Post Architekten, Deutschland, zur Verfügung gestellt.
Zusätzliche Absicherung des Hygienestatus von SPF-Tierhaltungen durch den Einsatz von
Mikroisolatorkäfigen
Bei vielen SPF-Tierhaltungen erfolgt die Absicherung des Hygieneniveaus ausschließlich durch
die Hygienebarriere. In der Vergangenheit hat sich jedoch gezeigt, dass SPF-Barrieren häufig
durch pathogene Erreger überwunden wurden. Bei diesen Kontaminationsfällen kam es,
nachdem die Hygienebarriere erst einmal überwunden war, zu einer raschen und vollständigen
Durchseuchung des gesamten durch die Barriere geschützten Tierbestands. Es wurden deshalb
Überlegungen angestellt, wie SPF-Bereiche über den Barrierenschutz hinaus hygienisch
abgesichert
werden
könnten.
Diese
Anstrengungen
führten
zur
Entwicklung
von
Mikroisolatorkäfigen. Übliche Nagetierkäfige bestehen aus einer luftdichten Käfigschale, die
von einem Gitterdeckel verschlossen wird. Durch den Gitterdeckel kann ein freier Austausch
von Partikeln zwischen Käfiginnerem und Umgebung stattfinden. Auf diesem Weg gelangen
Partikel direkt von einem Käfig zum anderen und führen zu einer raschen Ausbreitung von
Infektionen. Bei Mikroisolatorkäfigen wird der freie Partikelaustausch zwischen Käfigen
unterbunden. Bei SPF-Tierhaltungen mit Mikroisolatorkäfigen ist prinzipiell jeder einzelne
Käfig ein eigenes Hygienekompartiment. Im Gegensatz dazu stellen bei SPF-Barrierenhaltungen
ohne Mikroisolatorkäfige die Gesamtheit aller hinter der Barriere gelegenen Käfige das
Hygienekompartiment dar. Der Hygieneschutz von Mikroisolatorkäfigen kommt insbesondere
dann zur vollen Geltung, wenn alle Manipulationen an Tieren nicht offen, sondern unter
Sicherheitswerkbänken
oder
speziellen
Umsetzstationen
durchgeführt
werden.
Sicherheitswerkbänke (der Klasse II) und Umsetzstationen bieten durch einen vertikalen
laminaren Strom steriler Luft einen mikrobiologischen Objekt- und Personenschutz. Durch den
Einsatz
von
Mikroisolatorkäfigen
in
Kombination
mit
Sicherheitswerkbänken
und
Umsetzstationen erhalten SPF-Tierhaltungen eine mächtige Hygieneunterstützung. Zum einen
können sie verhindern, dass pathogene Erreger, die die Barriere durchbrochen haben, an den
Tierbestand gelangen und zu Infektionen der Versuchstiere führen. Zum anderen ist bei bereits
erfolgter mikrobiologischer Kontamination von Versuchstieren die Ausbreitungsgeschwindigkeit
der Erreger so stark herabgesetzt, dass bei gutem Tierhaltungsmanagement prinzipiell die
Möglichkeit besteht, die Kontamination durch gezielte Eliminierung infizierter Tiere und nicht
durch die sehr aufwendige erneute Etablierung der SPF-Anlage zu beseitigen. Den gravierenden
Vorteilen von Mikroisolatorkäfigen stehen ihre hoher Anschaffungs- und Unterhaltskosten sowie
108
Hygiene
Dr. med. vet. Kurt Reifenberg
der durch das Umsetzen der Tiere unter speziellen Umsetzstationen personelle Mehraufwand
entgegen. Da beim Einsatz von Mikroisolatorkäfigen prinzipiell der einzelne Käfig zur
Hygieneeinheit wird, gestaltet sich Kontrolle des Hygienestatus von SPF-Anlagen mit solchen
Käfigsystemen
als
problematisch.
Es
können
zwei
unterschiedliche
Typen
von
Mikroisolatorkäfigen unterschieden werden, Filtertopkäfige und individuell ventilierte Käfige
(IVCs).
Bei Filtertopkäfigen ist das Käfiggitter von einer Haube abgedeckt, in die ein Grobfilter
integriert ist. Der Grobfilter verhindert den Partikelaustausch zwischen Käfiginnerem und der
Umgebung sehr effizient und bewirkt somit eine beträchtliche Erhöhung des Hygieneschutzes.
Der Grobfilter behindert aber auch den Luftaustausch, so dass aus Filtertopkäfigen Schadstoffe
wie NH3 oder H2S, die durch mikrobielle Zersetzung aus tierischen Ausscheidungen entstehen,
wesentlich schlechter abgeführt werden, als dies bei ungefilterten „offenen“ Käfigen der Fall ist.
Die Haltung von Tieren in Filtertopkäfigen geht deshalb häufig mit intermittierend hohen
Schadstoffkonzentrationen einher. Dabei ist die Schadstoffkonzentration zum Zeitpunkt des
Einbringens der Tiere in einen frischen Käfig gering und steigt bis zum folgenden Käfigwechsel
allmählich an. Zur zumindest teilweisen Kompensation dieses Effekts werden Filtertopkäfige
meist zweimal wöchentlich oder noch häufiger umgesetzt. Beim Umsetzen werden die Tiere von
den verschmutzten in frische Käfige transferiert.
Abbildung 5.3: Filtertopkäfig
Der Käfig besteht aus der Käfigschale aus transparentem Kunststoff, dem Gitterdeckel, in den eine Raufe zur
Aufnahme von Futter und Wasserflasche eingearbeitet ist, und der Haube, in die ein Grobfilter integriert ist.
In den letzten Jahren hat sich ein völlig neuartiges System von Mikroisolatorkäfigen stark
verbreitet. Dabei handelt es sich um IVC-(individually ventilated cage) Systeme. Bei IVC109
Hygiene
Dr. med. vet. Kurt Reifenberg
Systemen wird jeder einzelne Käfig individuell ventiliert. Dazu erforderliche Zu- und
Ableitungslüftungskanäle sind direkt in das Käfighaltungsgestell integriert. Die Ventilatoren
(meist Zu- und Abluftventilator) befinden sich in einer separaten Lüftungseinheit, die entweder
in das Tierhaltungsgestell integriert oder davon getrennt aufgestellt ist. Die Zuluft zum IVC wird
sterilfiltriert. Bei der individuellen Ventilation der Käfige wird in der Regel eine ca. 50-fache
stündliche Käfigluftwechselrate eingestellt. Hierdurch werden die im Käfige durch mikrobielle
Zersetzung tierischer Ausscheidungen entstehenden Schadstoffe hocheffizient abgeführt. Wird
die Abluft des IVC-Gestells direkt in das Abluftsystem des Tierhaltungsraums eingeleitet,
werden auch die Konzentrationen von Schadgasen im Tierhaltungsraum deutlich reduziert.
Deshalb kann in solchen Fällen die für Tierhaltungsräume üblicherweise geforderte 15-18-fache
Raumluftwechselrate auf eine ca 8-fache Rate heruntergesetzt werden. Dabei muss jedoch
beachtet werden, dass die Tierraumlüftung nicht nur zur Ableitung von Schadstoffen sondern
ebenfalls zur Temperaturkontrolle dient. Neuere Tierhaltungskonzepte sehen vor, die Belüftung
der IVC-Einheiten nicht mehr durch einzelne, im Tierhaltungsraum aufzustellende, dezentrale
Ventilatoren zu erreichen, sondern die IVCs zentral an die Gebäude-Belüftung anzuschließen.
Die Zeit wird zeigen, ob sich das Konzept der zentralen IVC-Anbindung durchsetzen kann.
Die Vorteile der IVC-Haltung liegen -ähnlich wie beim Einsatz von Filtertopkäfigen- in der
besseren mikrobiologischen Abschirmung. Während es bei den lediglich passiv ventilierten
Filtertopkäfigen jedoch zu einer Akkumulation von Schadstoffen im Käfig kommen kann, kann
dieses Problem beim aktiv ventilierten IVC-Gestell nicht auftreten. Das Mikroklima in IVCKäfigen ist sogar besser als das von „offenen“ Haltungssystemen, bei denen ein passiver
Luftaustausch durch die Käfiggitter erfolgt. So können bei offenen Haltungssystemen, bei denen
üblicherweise einmal wöchentlich die Käfigeinstreu gewechselt wird, in Abhängigkeit von der
Käfigbelegung durchaus kurz vor dem Umsetzen erhöhte NH3–Konzentrationen auftreten. Im
Gegensatz dazu werden bei IVC-Haltung auch kurz vor dem Umsetzen der Tiere keine erhöhten
Schadstoffkonzentrationen beobachtet. Zum Teil wird deshalb erwogen, IVC-Käfige nur alle 14
Tage zu wechseln.
110
Hygiene
Dr. med. vet. Kurt Reifenberg
7
4
8
5
2
3
1
Abbildung 5.4: Schema der Luftführung in einem IVC-Käfig
Der IVC-Käfig besteht wie der Filtertopkäfig aus der Käfigschale aus transparentem Kunststoff (1), dem
Gitterdeckel (2), in den eine Raufe zur Aufnahme von Futter und Wasserflasche (3) eingearbeitet ist, und der Haube
(4). Allerdings wird der Käfig über die Zuluftöffnung 7 und die Abluftöffnung 8 aktiv ventiliert. Der in die
ansonsten geschlossene Haube integrierte Grobfilter 5 sichert die Käfigventilation bei Ausfall des
Ventilationssystems des Käfigs. Die Abbildung wurde freundlicherweise von der Firma Tecniplast Deutschland
GmbH, Deutschland, zur Verfügung gestellt.
Inbetriebnahme von SPF-Tierhaltungseinheiten
Vor der Inbetriebnahme von SPF-Tierhaltungen ist eine gründliche Raumdesinfektion unbedingt
erforderlich. Unter optimalen Bedingungen werden die Tierhaltungsräume mit Formaldehyd
oder mit „trockenem“ H2O2 begast. Beide Methoden sind hocheffizient, prinzipiell kann eine
Raumsterilisierung erreicht werden. Bei der Durchführung von Raumbegasungen mit
Formaldehyd stellt sich jedoch das Problem des Aufwands der Legalisierung. Hierfür sind
entsprechend geschulte Personen (Befähigungsscheininhaber) sowie eine behördlich ausgestellte
spezielle Begasungserlaubnis erforderlich. Raumbegasungen mit H2O2 erfordern einen
geringeren Legalisierungsaufwand, hier erweisen sich jedoch die hohen Anschaffungskosten des
Superoxid-Generators von Nachteil. Als Alternative zu Raumbegasungen können die
Tierhaltungsräume
auch
durch
Dampfbestrahlung
und/oder
Scheuerwischdesinfektion
desinfiziert werden. Zur „lege artis“ Inbetriebnahme von SPF-Tierhaltungen werden keimfreie
111
Hygiene
Dr. med. vet. Kurt Reifenberg
Tiere mit einer komplexen Colonization-Resistant-Flora (CRF) wie der Schädler- oder der
Wensinck-Flora assoziiert. Die CRF-assoziierten Tiere dienen nun als Empfängertiere bei
Embryotransfers zur Einbringung weiterer Stämme in die SPF-Kolonie. Obwohl die CRFAssoziierung eine Besiedelung mit weiteren Bakterien verzögern soll, ist die Akquirierung
weiterer Bakterienspezies im Laufe der Jahre unausweichlich. Die Initiierung einer SPF-Kolonie
auf CRF-Niveau ist jedoch eher die Ausnahme als die Regel. Meist werden SPF-Tierhaltungen
aufgebaut, indem SPF-Tiere aus anderen Kolonien bezogen werden und diese dann als
Empfängertiere bei der Einbringung weiterer Stämme in die SPF-Anlage mittels Embryotransfer
dienen.
Möglichkeiten der Kontamination von SPF-Tierhaltungsbereichen
In Anbetracht des beträchtlichen Aufwands, der damit verbunden ist, einmal kontaminierte SPFBereiche wieder zu sanieren, sollten alle Anstrengungen unternommen werden, den
Hygienestatus von Tierhaltungen möglichst langfristig zu bewahren. Voraussetzung hierfür ist
genaue Kenntnis möglicher Kontaminationsrouten.
-Kontamination durch das Einbringen Pathogen-belasteter Versuchstiere
Dieser
Kontaminationsmodus
ist
der
sicherlich
häufigste
von
allen.
Der
Kontaminationsweg kommt zum tragen, wenn die Tierzugangskontrolle nicht gründlich
genug durchgeführt wird. Gründe hierfür liegen häufig im Tierhaltungsmanagement
(fehlende oder zu wenig stringente Eingangskontrolle). In diesem Zusammenhang muss
nochmals betont werden, dass die Möglichkeit in Betracht gezogen werden muss, dass
mikrobiologische Zeugnisse fremder Institutionen nicht in vollem Umfang der Wahrheit
entspricht. Letztendlich kann nur das kategorische Einbringen neuer Tierstämme im
Rahmen von hygienisch einwandfrei durchgeführten Embryotransfers SPF-Bereiche
relativ sicher vor diesem Infektionsweg schützen. Zumindest sollten zu importierende
Tiere mit vermeintlich günstigem Hygienezeugnis zur Verifikation des Hygienestatus
quarantänisiert werden.
-Kontamination durch die Verwendung biologischer Materialien:
Auch dieser Kontaminationsweg ist häufig zu beobachten. Versuchstiere dienen als
Lieferanten von Seren, Ascitesflüssigkeit, Organen, Mikroorganismen, Tumoren, Zellen
etc. Dieses biologische Material kann Viren, Mykoplasmen und intrazelluläre Bakterien
enthalten, die tierpathogen sind. Bei Einbringung solcher kontaminierter Materialien in
Tierhaltungen (z.B. im Rahmen tierexperimenteller Nutzung) kann dies zur
Kontamination des Tierhaltungsbereichs führen. Der Infektionsweg kann einerseits
unterbunden werden, indem die Präsenz infektiöser Mikroorganismen in biologischen
Materialien im AP-Test (Antibody Production Test) oder durch Anwendung
112
Hygiene
Dr. med. vet. Kurt Reifenberg
molekulargenetischer Methoden sicher evaluiert wird. Andererseits hat sich in der
Vergangenheit bewährt, die Zucht und die experimentelle Nutzung von Versuchstieren in
unterschiedlichen Barrierenbereichen durchzuführen. Durch dieses Vorgehen können
kontaminierte
Experimentalhaltungsbereiche
relativ
leicht
nach
Keulung
oder
Auslagerung des kontaminierten Tierbestands und der Reinigung und Desinfektion des
Bereichs mit Tieren der Zuchtbereiche repopuliert werden.
-Kontamination durch das Personal
Dieser Kontaminationsweg kommt dann zum tragen, wenn die Personalbarriere leck ist.
Ursache
hierfür
kann
fehlerhaftes
Management
(ungenügende
Personalbarrierenmaßnahmen, ungenügende Information des Personals, Auswahl
unzuverlässigen Personals, zu geringe Autorität des Managements) sein. Häufig setzen
sich aber tierexperimentelle Nutzer ganz bewusst über Hygieneregeln hinweg. Das
Personal kann entweder direkt mit tierpathogenen Mikroorganismen wie Salmonella sp.,
Mycobacterium tuberculosis, Pneumocystis carinii oder Staphylococus sp. besiedelt sein
und so eine mikrobiologische Gefährung der Tierhaltungen darstellen. Wesentlich
häufiger dient das Personal jedoch als Vektor für Mikroorganismen. Es ist deshalb sehr
wichtig,
eindeutige
Hygienemaßnahmen
für
den
Personalwechsel
zwischen
Tierhaltungen unterschiedlicher Hygieneniveaus zu etablieren. Da in mikrobiologischen
Laboratorien und insbesondere in versuchstierkundlichen Diagnostiklabors häufig mit
tierpathogenen Mikroorganismen hantiert wird, sollte Tierpflegepersonal zu solchen
Räumen keinen Zutritt haben. In diesem Zusammenhang muss auch erwähnt werden,
dass Heimtiere häufig ein gefährliches Erregerreservoir für Labornager darstellen. Dem
Tierpflege- und tierärztlichen Personal sollte die Haltung bestimmter Haustiere (Nager
und Kaninchen) deshalb verboten werden.
-Kontamination durch Materialien und Gerätschaften
Dieser Kontaminationsweg spielt nur dann eine Rolle, wenn die Materialbarriere Lecks
aufweist. Dies kann dann auftreten, wenn die in die Barriere integrierten Geräte zur
Desinfektion
oder
Sterilisation
von
Materialien
(wie
Autoklaven
oder
Desinfektionsmittelschleusen) Defekte aufweisen oder fahrlässigerweise umgangen
werden. In diesem Zusammenhang ist auf die regelmäßige Wartung dieser Geräte und auf
die Belehrung des Personals hinzuweisen.
-Kontamination durch die Zuluft
Auch Lecks in der Lüftungsbarriere können zur Kontamination von SPF-Tierhaltungen
führen. Dieser Infektionsmodus kann insbesondere dann eine Rolle spielen, wenn die
Zuluft von SPF-Tierhaltungen keine Einzelanlagen darstellen. Auch bei Koexistenz von
113
Hygiene
Dr. med. vet. Kurt Reifenberg
SPF-Tierhaltungen
und
kontaminierten
Tierhaltungsbereichen
in
unmittelbarer
räumlicher Nähe muss auf diesen Infektionsweg geachtet werden.
-Kontamination durch Wildnager oder Gliedertiere
Wildnager haben in der Vergangenheit bereits sehr häufig zu mikrobiologischen
Kontaminationen von SPF-Tierhaltungen geführt. Aus diesem Grund, aber auch, um
genetische Kontaminationen zu vermeiden, müssen SPF-Tierhaltungen so konstruiert
sein, dass das Eindringen von Wildnagern sicher ausgeschlossen ist. Inwiefern
Gliedertiere als Vektoren für tierpathogene Erreger dienen können, ist nur schwer
abschätzbar. Aus allgemeinen hygienischen und tierschutzrechtlichen Erwägungen
sollten SPF-Tierhaltungen aber so konstruiert sein, dass Gliedertiere nicht oder nicht
leicht eindringen können. Bei Befall sind unverzüglich Gegenmaßnahmen einzuleiten.
Sanierung des Hygieneniveaus kontaminierter SPF-Tierhaltungen
Die überwiegende Mehrzahl an SPF-Tieren wird heute in klassischen Barriereneinheiten ohne
Mikroisolatorkäfige gehalten. In solchen Anlagen sind relativ häufig Hygieneeinbrüche zu
beobachten. Ist der Kontaminationsfall eingetreten, muss entschieden werden, ob und, falls ja,
welche Sanierungsmaßnahmen zur Anwendung kommen. Ganz allgemein hat sich gezeigt, dass
durch therapeutische Interventionen (wie beispielsweise der Einsatz von Antibiotika zur
Eliminierung von bakteriellen Infektionen oder der Einsatz von Antiparasitika zur Beseitigung
parasitärer Organismen) nur selten die Beseitigung einer Kontamination erreicht werden kann.
Sehr effizient lassen sich Tierhaltungs-Kontaminationen dadurch bekämpfen, dass der gesamte
kontaminierte Tierbestand gekeult oder ausgelagert wird, alle hinter der Barriere befindlichen
Räume gründlich gereinigt und desinfiziert werden und die Tierhaltung anschließend wieder mit
SPF-Tieren repopuliert wird. Diese Vorgehensweise ist jedoch sehr zeitaufwendig und impliziert
eine temporäre Räumung der Tierhaltung.
5.6
Konventionelle Tierhaltung
Bei konventionellen Tierhaltungen liegen keinerlei Angaben zur Keimbesiedlung des
Versuchstiers vor. Folglich kann bei konventionellen Versuchstieren nie ausgeschlossen werden,
dass sie mit tier- oder human-pathogenen Mikroorganismen infiziert sind. Konventionelle
Versuchstiere stellen somit immer ein hygienisches Risikopotential dar. Insbesondere können
konventionelle
Tierhaltungen
als
Infektionsquellen
für
Tierhaltungen
mit
höherem
Hygieneniveau dienen. Die Wahrscheinlichkeit der Infektion konventioneller Versuchstiere mit
Zoonoseerregern und die damit einhergehende potentielle Gefährdung des Betreuungspersonals
kann in der heutigen Zeit als geringgradig eingestuft werden. In konventionellen Tierhaltungen,
die nachweislich mit tierpathogenen Erregern kontaminiert sind, müssen Tiererkrankungen oder
114
Hygiene
Dr. med. vet. Kurt Reifenberg
–ausfälle nicht zwangsweise wesentlich häufiger vorkommen als in SPF-Tierhaltungsbereichen.
Häufig handelt es sich bei den Erregern um Opportunisten, die keine Krankheitssymptome
hervorrufen, solange keine zusätzlichen Stressoren wirksam sind. Werden solche Tiere jedoch
im Rahmen von Tierversuchen zusätzlich belastet, so ist mit Erkrankungen und Todesfällen zu
rechnen, die durch Infektionskrankheiten verursacht sind. Zudem wird die Aussagekraft der
wissenschaftlichen Experimente beeinträchtigt sein. Aus diesen Gründen sind konventionelle
Tierhaltungen in der heutigen Zeit eher kritisch zu bewerten. Nachweislich mit pathogenen
Erregern verseuchte konventionelle Tierhaltungen sollten deshalb einer Hygienesanierung
unterzogen werden und es sollte ein SPF-Hygieneniveau etabliert werden. Die Nutzung
konventioneller Versuchstiere sollte sich auf Experimente mit geringer oder fehlender Belastung
(z.B. Zuchtexperimente) beschränken.
Aus externen Tierhaltungen erhaltene konventionelle Tiere sind wegen des nicht
auszuschließenden Infektionsrisikos mit größter Vorsicht zu behandeln. Werden solche Tiere
überhaupt angenommen, so müssen sie in einem abgeschirmten Bereich quarantänisiert werden.
Die Quarantäne sollte in einem Isolator- oder einem Mikroisolatorkäfigsystem mit negativem
Druck erfolgen. Durch geeignete Hygienemaßnahmen muss die Verschleppung potentiell
vorhandener
Keime
sicher
ausgeschlossen
werden.
Erst
nach
Bestimmung
des
mikrobiologischen Status kann über den Verbleib konventioneller Tiere bestimmt werden.
Häufig befinden sich konventionelle Versuchstierhaltungen in Gebäuden, die über keine
besonderen baulichen Ausrüstungen wie Autoklav, Personalschleusen, Materialschleusen u.s.w.
verfügen. Aber auch baulich und technisch besser ausgerüstete Tierhaltungen sind zum
konventionellen Typ zu rechnen, wenn die regelmäßige Bestimmung des Hygienestatus
unterbleibt.
5.7
Literatur
Baker DG (1998) Natural pathogens of laboratory mice, rats, and rabbits and their effects on research. Clin
Microbiol Rev 11: 231-266
Nicklas W, Baneux P, Boot R, Decelle T, Deeny AA, Fumanelli M, Illgen-Wilcke B (2001) Recommendations for
the health monitoring of rodent and rabbit colonies in breeding and experimental units. Laboratory Animals 36: 2042
Van Zutphen LFM, Baumans V, Beynen AC (eds) (1995) Grundlagen der Versuchstierkunde, Gustav Fischer,
Stuttgart, Jena, New York
Weiss J, Maeß J, Nebendahl K (eds) (2003) Haus- und Versuchstierpflege, Enke, Stuttgart
115
Schmerzen, Leiden, Schäden
Dr. med. vet. Kurt Reifenberg
7.1 Schmerzen, Leiden, Schäden
Der §1 des Deutschen Tierschutzgesetzes (TSchutzG) lautet:
„Zweck dieses Gesetzes ist es, aus der Verantwortung des Menschen für das Tier als
Mitgeschöpf dessen Leben und Wohlbefinden zu schützen. Niemand darf einem Tier ohne
vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen.“
Die im §1 TSchutzG benutzten Begriffe „Wohlbefinden“, „Schmerzen“, „Leiden“ und
„Schäden“ dienen in erster Linie der Beschreibung menschlicher Wahrnehmungen und
Erfahrungen. Die Verwendung der Begriffe im Deutschen Tierschutzgesetz macht zwingend eine
Übertragung dieser Begriffe auf Tiere erforderlich, was ein ausgesprochen heikles Unterfangen
darstellt. Nachfolgend werden Definitionen der im §1 des Deutschen Tierschutzgesetzes
aufgeführten Begriffe „Wohlbefinden“, „Schmerzen“, „Leiden“ und „Schäden“ aufgeführt, die
durch den Deutschen Gesetzgeber zur Anwendung kommen. Es sei darauf hingewiesen, dass in
der versuchstierkundlichen Wissenschaft zum Teil andere Definitionen kursieren. Auf deren
Darstellung wurde jedoch bewusst verzichtet, da sie hierzulande zum Teil nicht juristisch
übernommen wurden.
7.1.1. Wohlbefinden
Unter Wohlbefinden wird nach Lorz / Metzger (1999) ein Zustand physischer und psychischer
Harmonie des Tieres in sich und -entsprechend seinen angeborenen Lebensbedürfnissen- mit der
Umwelt verstanden. Regelmäßige Anzeichen von Wohlbefinden sind „Gesundheit“ und ein
natürliches, in jeder Beziehung der jeweiligen Tierart „entsprechendes Verhalten“.
Die von Lorz / Metzger (1999) eingeführte Definition des tierischen Wohlbefindens muss als
gelungen gelten. Zwar ist der „Zustand physischer und psychischer Harmonie des Tieres“ nicht
objektiv zu greifen, aber als Indikatoren des Wohlbefindens werden wichtigerweise die
Parameter
„Gesundheit“
und
„Verhalten“
eingeführt.
Körperliche
Gesundheit
und
Normalverhalten können unproblematisch von Experten (Tierärzte, Ethologen) charakterisiert
werden. Tatsächlich dient derzeit auch die Aufrechterhaltung der tierischen Gesundheit und die
Gewährleistung eines normalen Verhaltens als wichtigstes Beurteilungskriterium bei der Prüfung
der „Artgerechtheit“ von Tierhaltungssystemen.
116
Schmerzen, Leiden, Schäden
Dr. med. vet. Kurt Reifenberg
7.1.2. Schmerzen
Die von der „International Association for the Study of Pain (1979)“ veröffentlichte und
zwischenzeitlich in der Fachliteratur allgemein anerkannte Definition von Schmerz lautet:
"Schmerz ist eine unangenehme sensorische und emotionale Erfahrung, die im Zusammenhang
steht mit tatsächlicher oder potentieller Schädigung oder in Form einer solchen Schädigung
beschrieben wird".
Diese Schmerzdefinition wird auch vom Deutschen Gesetzgeber akzeptiert. Ihr liegt folgender
Mechanismus zugrunde: Bestimmte mechanische, chemische, thermische, elektrische oder
andere Einflüsse, die über eine ausreichende Intensität verfügen, um tatsächliche oder potentielle
Verletzungen oder Gewebeschäden hervorzurufen, stellen in der Regel die Auslöser von
Schmerzen dar. Schmerzen können allerdings auch ohne direkte Auslöser entstehen (z. B.
Phantomschmerzen). Durch die schmerzhaften Reize werden spezifische neuronale Rezeptoren,
sogenannte Nocizeptoren, aktiviert. Die nocizeptiven Reize werden dem Zentralen
Nervensystem zugeführt und führen dort zur Erfahrung des Schmerzes. Nach den Erkenntnissen
von Physiologie und Psychologie ist für die Schmerzerfahrung notwendig, dass eine
Wahrnehmung erzeugt wird, was wiederum erfordert, dass ein Bewusstsein vorhanden ist d.h. es
muss eine funktionstüchtige Hirnrinde verfügbar sein.
Zur Festlegung einer Schmerzempfindung bei Tieren hat das „Committtee on pain and distress in
laboratory animals“ folgende Kriterien benannt:
-Anatomische und physiologische Ähnlichkeiten bei Schmerzaufnahme, -weiterleitung
und –verarbeitung mit dem Menschen
-Meidung von Reizen, die vermutlich schmerzauslösend sind
-Feststellbare Wirksamkeit schmerzhemmender Substanzen
Je mehr der aufgeführten Kriterien erfüllt werden, desto legitimer ist die Annahme, dass im
tierischen System tatsächlich eine Schmerzempfindung vorliegt.
Bei Säugtieren und Vögeln kann heute niemand mehr ernsthaft bestreiten, dass eine
Schmerzempfindung möglich ist. Im Gegensatz dazu war jedoch die Schmerzfähigkeit von
Fischen für lange Zeit umstritten. Neuere wisssenschaftliche Erkenntnisse insbesondere über das
Meideverhalten und die Wirksamkeit schmerzhemmender Substanzen belegen jedoch die
Schmerzfähigkeit von Fischen. So gehen beispielsweise nur sehr wenige Forellen, die schon
einmal geangelt und dann wieder freigelassen wurden, erneut an einen Angelköder. Auch zeigen
Morphium-behandelte Fische ein deutlich reduziertes Abwehrverhalten gegenüber potentiellen
Schmerzreizen. Andererseits verfügen Fische nicht über einen Neocortex, in dem bei höheren
Wirbeltieren die Schmerzverarbeitung stattfindet. Es wird angenommen, dass bei primitiven
117
Schmerzen, Leiden, Schäden
Dr. med. vet. Kurt Reifenberg
Wirbeltieren die Schmerzemmpfindung in anderen Gehirnteilen erfolgt. Unabhängig von allen
wissenschaftlichen Details ist jedoch die derzeitige juristische Einschätzung entscheidend: der
Gesetzgeber unterstellt derzeit bei allen Wirbeltieren eine Schmerzfähigkeit.
Noch schwieriger ist die Frage zu beantworten, wie die Schmerzfähigkeit wirbelloser Tiere
wissenschaftlich zu beurteilen ist. Zu dieser Thematik existiert derzeit nur wenig Fachwissen.
Auch hier ist die juristische Einstufung entscheidend und diese besagt derzeit, dass der
Gesetzgeber
bei
Cephalopoden
(Kopffüßler)
und
Dekapoden
(Zehnfußkrebse)
eine
Schmerzfähigkeit unterstellt und bei den anderen wirbellosen Tieren eben nicht.
7.1.3. Leiden
Die Definition von tierischem Leiden bereitet prinzipiell erhebliche Schwierigkeiten. An dieser
Stelle wiedergegeben wird eine „negative Definition“ des Bundesgerichtshofs, bei der es sich um
eine juristische Auslegung handelt, die nicht der Human- oder Tiermedizin entstammt. Die
Definition des Bundesgerichtshofs spiegelt jedoch wichtigerweise die Einschätzung des
Deutschen Gesetzgebers wieder:
„Leiden sind alle nicht bereits vom Begriff des Schmerzes umfassten Beeinträchtigungen im
Wohlbefinden, die über ein schlichtes Unbehagen hinausgehen und eine nicht ganz
unwesentliche Zeitspanne fortdauern.“
Auch hier handelt es sich um eine negative Definition, die im Prinzip besagt, dass all das zum
Leiden zu rechnen ist, was nicht weh tut aber trotzdem unangenehm ist. In entsprechenden
Urteilen hat der Verwaltungsgerichtshof festgelegt, dass die Beeinträchtigung des tierischen
Wohlbefindens, die als Leiden zu bezeichnen ist, nicht unbedingt körperlicher Natur sein muss,
sondern auch das „seelische“ Wohlbefinden der Tiere betreffen kann. Gemäß Bundesgerichtshof
stellt zudem nicht jedwede Beeinträchtigung des Wohlbefindens von Tieren Leiden dar, sondern
es gelten zwei Einschränkungen: einerseits reicht ist eine bloße Augenblicksempfindung des
Tieres nicht aus und andererseits ist auch ein „schlichtes Unbehagen“ (hierunter werden die
Vorstufen von Angst oder ähnlicher Empfindungen verstanden) nicht genug.
Als Faktoren, die tierisches Leiden induzieren können, sind beispielsweise Mängel bei der
Grundversorgung (inadäquate Futter- und Wasserversorgung, mangelhafte Käfigreinigung,
schlechte Gesundheitskontrolle) und nicht-artgerechte Haltung (normales Verhaltensrepertoire
nicht auslebbar) zu nennen. Bei Säugetieren, die aufgrund eines hoch entwickelten limbischen
118
Schmerzen, Leiden, Schäden
Dr. med. vet. Kurt Reifenberg
Systems nachweislich starke Emotionen entwickeln können, sind negative Emotionen wie Angst,
Wut oder Panik als Leidensfaktoren aufzuführen.
7.1.4. Schäden
Nach Lorz / Metzger (1999) liegt ein Schaden dann vor, wenn der körperliche oder geistige
Zustand eines Tieres vorübergehend oder dauernd negativ beeinflusst wird. Schaden ist somit
jede Beeinträchtigung der körperlichen oder geistigen Unversehrtheit. Lorz / Metzger (1999)
geben folgende Beispiele für Schäden: Abmagerung, Übergewicht, Amputation, Verletzung,
Störung
der
Bewegungsfähigkeit,
Störung
des
Verhaltens,
Gesundheitsschäden,
Gleichgewichtsstörung, reduzierte Leistungsfähigkeit, Unfruchtbarkeit, etc.
7.1.5. Erkennen tierischer Schmerzen, Leiden oder Schäden
Bei Hau und van Hoosier (2003) werden basierend auf einem OECD-Bericht klinische Zeichen
aufgeführt, die bei (Versuchs)tieren auf Schmerzen, Leiden oder Schäden hinweisen. Die
nachfolgende Auflistung orientiert sich an dieser Publikation:
•
Augenveränderungen: „getrübter Blick“, Ausfluss
•
Fellveränderungen: struppiges Fell, Haare aufgestellt, vernachlässigte Fellpflege
•
Abnahme des Körpergewichts
•
Blutungen und Verletzungen: Blutungen aus Körperöffnungen, Blut in Kot oder
Urin, Wunden, Frakturen
•
Bewegungsanomalien:
unkoordinierte
Bewegungen,
Krämpfe,
Lahmheit,
Lähmungen, geschwollene Gelenke, gestörte Reflexe, Zittern
•
Verhaltensanomalien:
Stereotypien,
verstärkte
Aggression,
verstärkte
Ängstlichkeit, Automulitation, Apathie, Inaktivität, Urin trinken, Kot aufnehmen
(Beachte: die Aufnahme von Kot ist bei bestimmten Spezies normal: z.B.
Kaninchen), Koma, fehlende Fellpflege oder inadäquates Sozialverhalten
•
Ungewöhnliche Vokalisationen (Schmerzschreie, Angstschreie)
•
Reproduktionsanomalien: Zuchtbeeinträchtigung, Abort, Agalaktie, Mastitis,
Vaginalprolaps
•
Pathologische Körpertemperatur
•
Störungen
der
Respirationsorgane:
Husten,
Schnupfen,
Aufbuckeln,
Pathologische Atemfrequenz
•
Störungen der Verdauungsorgane: Speicheln, Diarrhoe, Obstipation, gestörter
Urinabsatz (Anurie, Polyurie), aufgeblähtes Abdomen, eingefallener Bauch,
119
Schmerzen, Leiden, Schäden
Dr. med. vet. Kurt Reifenberg
Rektumprolaps, gestörtes Fressverhalten (Polyphagie, Inappetenz), gestörtes
Trinkverhalten, Erbrechen
•
Störungen der Sensibilität: Analgesie, Hyperästhesie
•
Stellungsanaomalien: Lordose, Kyphose, Skoliose
•
Hautveränderungen: Gelbsucht, Anämie
•
Kreislaufprobleme: pathologische Herzfrequenz, Ödeme
7.1.6. Literatur:
1. Baumans V, Brain PF, Brugere H, Clausing P, Jeneskog T and Perretta G (1994) Pain and
distress in laboratory rodents and lagomorphs Laboratory Animals28: 97-112
2. Hau J und van Hoosier GL, Handbook of Laboratory Animal Science - Volume I - Essential
principles and practices; CRC; New York, 2003
3. Hirt A, Maisack C, Moritz J, Tierschutzgesetz, Verlag Franz Vahlen, München, 2003
4. Lorz, Metzger (1999) Tierschutzgesetz, Kommentar, München
120
Anästhesie bei Versuchstieren
Dr. med. vet. Kristianna Becker
7.2. ANÄSTHESIE BEI VERSUCHSTIEREN
- Dr. Kristianna Becker –
7.2. Narkose und Schmerzausschaltung bei kleinen Versuchstieren
Rechtsvorschriften zur Durchführung von Narkosen an Tieren:
1. Tierschutzgesetz vom 25.05.1998 (§§5,9)
2. Gesetz über den Verkehr mit Arzneimitteln (Arzneimittelgesetz)vom 01.11.2002 (§§1,2,3,5)
3. Gesetz über den Verkehr mit Betäubungsmitteln vom 28.03.2000 (§§ 1,2,4,5)
4. Verordnung über tierärztliche Hausapotheken (TÄHAV) vom 10.08.2001
Um Betäubungsmittel zu wissenschaftlichen Zwecken beziehen zu können, bedarf es einer
Erlaubnis des:
Bundesinstitutes für Arzneimittel und Medizinprodukte - Bundesopiumstelle –
Friedrich-Ebert-Allee 38, 53113 Bonn!
7.2.1. Definitionen
Narkose:
Eine Narkose ist ein durch Zufuhr von Narkosesubstanzen induzierter reversibler Zustand, in
dem chirurgische, diagnostische oder therapeutische Eingriffe bei erloschenem Bewusstsein
ohne Schmerzempfindungen oder Abwehrreaktionen durchführbar sind.
Daraus ergeben sich die Hauptanforderungen an eine Narkose:
1. Bewusstseinsverlust
2. Analgesie (Ausschaltung der Schmerzempfindung)
3. Muskelrelaxation
4. vegetative Blockade/ Parasymphatolyse
(Ausschaltung von Reaktionen des autonomen Nervensystems)
5. geringe Ausbildung von Nebenwirkungen
Anästhesie: "Empfindungslosigkeit"
Diese Empfindungslosigkeit muss nicht zwingend mit einem Bewusstseinsverlust verbunden
sein.
Bspl.: Oberflächen-, Lokal-, Regional-, Allgemeinanästhesie ...
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Anästhesie bei Versuchstieren
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Analgesie: (Aufhebung der zentralen Schmerzempfindung)
Die Analgesie ist i.d.R. nicht mit einem Bewusstseinsverlust verbunden.
7.2.2. Narkosevorbereitung
Bei der Vorbereitung einer Narkose sind Aspekte zu berücksichtigen, die sowohl das Tier selbst
als auch sein Umfeld betreffen. Eine gut durchdachte Narkosevorbereitung kann das Auftreten
von Komplikationen während der Narkose deutlich reduzieren.
Narkose:
y Auswahl der geeigneten Narkose für den jeweiligen Eingriff:
(kurze ↔ lange Dauer; wenig ↔ stark schmerzhaft; Injektionsnarkose ↔
Inhalationsnarkose;
Spontanatmung ↔ Beatmung)
y Auswahl der geeigneten Narkosemittel
(Berücksichtigung spezifischer Nebenwirkungen, Wirkung bei der jeweiligen Tierart muss
gesichert sein)
y Prämedikation
bei kleinen Versuchstieren eher unüblich
Umfeld:
y Akklimatisation
(i.d.R. 10-14 Tage, im Einzelfall 6 Monate)
y Handling
y Tageszeit
(Tag/Nacht-Rhythmus vieler Versuchstierarten!)
y Futterentzug
(ist zu vermeiden, da bei kleinen Versuchstieren durch Nüchternsetzen die Gefahr der
Entwicklung einer Hypoglykämie und Azidose besteht, welche zu massiven Problemen
während der Narkose und in der Aufwachphase führen können)
Tier:
y Bestimmung des aktuellen Gewichtes!!!
(sehr wichtig für exakte Dosierung, Verlaufskontrolle)
y Alter, Geschlecht, Art, Stamm
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Anästhesie bei Versuchstieren
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y Gesundheitszustand
(kurze Überprüfung vor Narkose, um z.B. respiratorische Probleme auszuschließen)
7.2.3 Applikationsmöglichkeiten einer Narkose
Zur Verabreichung von Narkosesubstanzen stehen unterschiedliche Verfahren zur Verfügung:
Injektion:
intramuskulär, intraperitoneal (intravenös, subkutan)
Inhalation:
Kammer, Maske, Tubus
Sonstige:
oral, rektal, perkutan
7.2.4 Injektionsnarkose
Zur Injektionsnarkose verwendete Substanzen gehören unterschiedlichen Wirkstoffgruppen an,
die im folgenden kurz dargestellt werden.
Hypnotika
= Schlaf herbeiführende Substanzen,
bewirken selbst keine Hemmung der Schmerzempfindung
dosisabhängige Wirkung: Sedation - Hypnose - Narkose - Koma - Tod
Bspl.: Barbiturate (Pentobarbital), Chloralhydrat, Propofol
Analgetika
= Schmerzmittel
Aufhebung der Schmerzempfindung auf zentraler Ebene,
keine oder nur geringe sedative Wirkung
Bspl.: Opioide (Morphin, Fentanyl, Dipidolor...), Ketamin
Sedativa
= "Beruhigungsmittel"
allgemeine Erregbarkeitsminderung des zentralen Nervensystems
ohne deutliche Herabsetzung lebenswichtiger Funktionen
Bspl.: Benzodiazepine (Diazepam, Midazolam), Phenothiazine
(Acepromazin), α2-Agonisten (Xylazin, Medetomidin)
Muskelrelaxantien
= Substanzen, die zur Erschlaffung bzw. Lähmung der quergestreiften
Muskulatur führen (künstl. Beatmung erforderlich)
Beachte: Narkoseüberwachung wird fast unmöglich, aus Tierschutzgründen sind
Muskelrelaxantien daher abzulehnen
Bspl.: Curare, Atracurium
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Anästhesie bei Versuchstieren
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Parasymphatolytika
= Substanzen, die einen hemmenden Einfluss auf das parasymphatische
Nervensystem haben, welches durch Narkosemittel selbst (Opioide) oder
durch Manipulationen (Intubation) stimuliert werden kann
Folge einer Stimulation: Bradykardie, Bronchosekretion, Salivation
Bspl.: Atropin, Glykopyrrolat
7.2.5 Beispiele häufig eingesetzter Substanzen zur Injektionsnarkose
Hypnotika
Pentobarbital (Narcoren©)
Wirkung: s. allgemeine Wirkung Hypnotika
Nebenwirkungen: leichte – mäßige Herzkreislaufdepression, starke Atemdepression,
Herabsetzung der Körpertemperatur
Sonstige: Betäubungsmittelpflichtig!
Kann bei der Ratte zur Mononarkose eingesetzt werden. Bei der Maus ist die Wirkung für
eine Mononarkose zu unzuverlässig.
Chloralhydrat, α- Chloralose
Wirkung: s. allgemeine Wirkung Hypnotika
Nebenwirkungen: gering ausgeprägt am Herzkreislaufsystem, Atem depression nur bei
hohen Dosierungen, große Injektionsvolumina, gewebereizend, krampfreiche
Aufwachphasen!aufgrund der Nebenwirkungen nur für Akutversuche einsetzen!
Analgetika
Opioide (z.B. Fentanyl)
Wirkung: Analgesie, geringe bis keine sedative Wirkung, tierartspezifisch auch erregende
Wirkung
Nebenwirkungen: Stimulation des parasympathischen Nervensystems, Atemdepression
Sonstige: Betäubungsmittelpflichtig!
Ketamin
Wirkung: "dissoziative Anästhesie", gute Analgesie (v.a. somatisch)
Nebenwirkungen: Halluzinationen, Erhöhung des Muskeltonus, starke Atemdepression
Sonstige: Sekretionssteigerung im Atemtrakt, Steigerung des Speichelflusses
immer nur in Kombinationen mit Sedativa verwenden!
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Sedativa
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α2-Adrenozeptoragonisten
(Xylazin = Rompun©, Medetomidin = Domitor©)
Wirkung: sehr gute Sedation und Muskelrelaxation, leichte Analgesie
Nebenwirkungen: Abfall der Herzfrequenz, Blutdrucksenkung, gering bis mittelgradige
Atemdepression, Herabsetzung der Körpertemperatur
Sonstige: Erhöhung des Blutzuckerspiegels (Insulinfreisetzung v),
Verstärkung der Urinausscheidung (ADH-Freisetzung v)
Die Kombination von Ketamin mit Xylazin ist geeignet für sehr viele Versuchstierarten
(s. Tabellen 5.1.1 bis 5.1.4)
Benzodiazepine
(Diazepam = Valium©, Midazolam = Dormicum©)
Wirkung: Sedation, Anxiolyse, Muskelrelaxation
Nebenwirkungen: Verstärkung der Nebenwirkungen der Kombinationspartner
Sonstige: andere Wirkdauer und –intensität als beim Mensch
Anwendung in Kombinationen mit Benzodiazepinen bei großen Versuchstieren gut möglich
Um den Anforderungen an eine Narkose gerecht zu werden, kombiniert man i.d.R. verschiedene
Substanzen miteinander, da keines der Narkosemittel alleine die Anforderungen an eine Narkose
erfüllen kann. Mit der Kombination unterschiedlicher Substanzen versucht man, Wirkungen zu
maximieren und Nebenwirkungen zu minimieren (z.B. Analgetikum + Sedativum).
Beispiele für mögliche Injektionsnarkosen für kleine Versuchstiere sind in den Tabellen
5.1.1 bis 5.1.4 dargestellt.
7.2.6. Inhalationsnarkose
Da eine Intubation bei kleinen Versuchstieren nicht ganz einfach ist, werden Inhalationsnarkosen
oft nur mit sehr einfachen Mitteln durchgeführt, z.B. als Kammer- oder Maskennarkose. Dabei
sind einige grundlegende Maßnahmen zu beachten:
- zur eigenen Sicherheit unter einem Abzug arbeiten !!!
- Tier nicht in direkten Kontakt mit dem flüssigem Inhalationsanästhetikum bringen
- Kammernarkose: nur mit Inhalationsanästhetika mit einer großen therapeutischen Breite
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Anästhesie bei Versuchstieren
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verwenden, da eine exakte Dosierung nicht möglich ist
- Maskennarkose: Gefahr der Ansammlung von Kohlendioxid in der Maske
Beim Einsatz von Inhalationsanästhetika ist zu beachten, dass man immer unter einem Abzug
oder mit einer Gasabsaugung arbeiten sollte, um selbst kein Anästhetikum einzuatmen. Bei
dauerhafter Exposition haben fast alle Inhalationsanästhetika nicht unerhebliche
Nebenwirkungen (Halothan ist z.B. lebertoxisch).
7.2.7 Beispiele für Inhalationsanästhetika:
Äther
der Einsatz von Äther wird sehr kontrovers diskutiert
Vorteil: große therapeutische Breite durch langsames An- und Abfluten,
gute Muskeleelaxation, geringe Kreislaufdepression, billig,
in einfachen Apparaturen einsetzbar (Kammer, Open-drop)
Nachteil: starke Atemdepression, starke Schleimhautreizung (Salivation,
Bronchosekretion), Explosionsgefahr
Halothan, Isofluran, Sevofluran
sollten nur über spezielle Verdampfer verabreicht werden, da sonst die Gefahr einer
Überdosierung sehr groß ist (Herz-Kreislauf-Stillstand schon bei 2-4 fachem der
anästhetischen Dosis möglich)
lediglich hypnotische Wirkung
Nebenwirkung überwiegend am Herz-Kreislauf-System (Blutdruckabfall), Atemdepression
Lachgas
im Gegensatz zum Menschen wirkt Lachgas in den üblicherweise möglichen Dosierungen
bei Tieren nicht analgetisch!!
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Anästhesie bei Versuchstieren
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7.2.8 Komplikationen während der Narkose
Das Hauptproblem während der Narkose bei kleinen Versuchstieren ist die Entstehung einer
Hypothermie (Auskühlung). Diese ist für >50% der Todesfälle während der Narkose und in der
Aufwachphase verantwortlich. Weitere Komplikationen entstehen durch die Atem- und
Herzkreislaufdepression sowie durch die Austrocknung (Dehydration) während der Anästhesie.
Atem- und Herzkreislaufdepression
Jede Narkose führt zu einer Deprimierung von Atmung und Kreislauf, wobei i.d.R. das
Atemzentrum stärker betroffen ist. Meist entwickelt sich eine Atemdepression schleichend und
fällt erst dann auf, wenn es zur Apnoe mit anschließendem Herz-Kreislauf-Stillstand kommt.
Vor allem respiratorisch vorgeschädigte Tiere (z.B. Ratten mit Pasteurellose) reagieren sehr
empfindlich.
Ursache
atemdepressive Wirkung der zur Narkose verwendeten Substanzen
Atemdepression ist erkennbar an:
niedriger Atemfrequenz bei flacher Atmung (<40% des Ausgangswertes), Ausbildung einer Cyanose (Augen erscheinen dunkel; Nase, Schwanz bläulich
verfärbt; Blut dunkel)
Prophylaxe und Notfallmaßnahmen:
Sauerstoffzufuhr z.B. über einen Schlauch
manuelle Beatmung: Thoraxkompression (80 - 100X/min),
Schwenken des Tieres um die Horizontale
künstliche Beatmung durch einen auf die Nase aufgesetzten Schlauch/Spritze
Herz-Kreislauf-Stillstand:
Ursachen sind i.d.R. eine Atemdepression oder ein größerer Blutverlust
Bekämpfung der Ursachen! Reanimation und Flüssigkeitssubstitution
Das alleinige Spritzen von Medikamenten in einer Notfallsituation ist meist nicht ausreichend, da
Medikamente bei einem kollabierten Kreislauf erst gar nicht an den Wirkort gelangen!!!
Dehydration
Ursachen:
keine Flüssigkeitsaufnahme während der Narkose
Narkosemittel, die die Diurese anregen (z.B. α2-Agonisten)
Verdunstung von Flüssigkeit über eröffnete Körperhöhlen, Blutungen
Folge:
Kreislaufprobleme
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Anästhesie bei Versuchstieren
Maßnahme:
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Flüssigkeitssubstitution
z.B. Applikation von körperwarmer physiologischer NaCl-, Ringer- oder
Vollelektrolytlösung in die Bauchhöhle oder auch subkutan
Dosis: 10 - 20 ml/kg KG/h (Ratte 250g: 2,5 - 5ml/h)
Hypothermie
Darunter versteht man den Abfall der Körpertemperatur < 35°C. Dies kann während einer
Narkose bei kleinen Versuchstieren sehr schnell eintreten (15-20 min!).
Ursachen:
fehlende Muskelaktivität
Lagerung auf kalten Unterlagen, großzügiges Scheren und Desinfizieren
niedrige Umgebungstemperaturen
Narkosemittel (Hemmung der Thermoregulation im Gehirn, periphere
Vasodilatation), z.B. durch Barbiturate oder α2-Agonisten
Eröffnung von Körperhöhlen
Folge:
Hauptursache für Todesfälle
Hypoventilation durch verringerte Stoffwechselaktivität → Hypoxämie,
Hyperkapnie, Gewebshypoxie, metabolische Azidose
Blutdruckabfall, Bradykardie,
Temperatur < 30°C: Kammerflimmern, Herzstillstand
Verlangsamung der Metabolisierung → Verlängerung der Aufwachphase
langfristig: Wundheilungsstörungen
Maßnahmen: regelmäßige Temperaturkontrolle während der Narkose
Lagerung auf warmen Unterlagen, minimales Scheren und Desinfizieren
zusätzliche Wärmeapplikation: Einwickeln in Alufolie oder in genoppte
Plastikfolie, Heizkissen, Wärmelampen (Gefahr der Überhitzung beachten)
Kurznarkosen für kurze Eingriffe, antagonisierbare Narkosen
7.2.9. Aufwachphase
Das Tier sollte in einer ruhigen, evt. abgedunkelten Umgebung erwachen. Die Einstreu wird mit
Zellstoff o.ä. abgedeckt, damit Einstreupartikel die Atemwege nicht verlegen können. Die
Lagerung sollte so erfolgen, dass Verletzungen vermieden werden. Narkotisierte Tiere dürfen
nicht zu wachen Artgenossen gesetzt werden, erst nach vollständigem Erwachen ist ein
Zurücksetzen in die Gruppe möglich. Es kann hilfreich sein, abgezähltes und/oder
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Anästhesie bei Versuchstieren
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angefeuchtetes Futter direkt in den Käfig zu geben, um die Futteraufnahme zu erleichtern bzw.
besser kontrollieren zu können.
In regelmäßigen Abständen ist das Tier zu überwachen, hierbei ist insbesondere auf folgende
Parameter zu achten:
Atmung:
regelmäßig, tief
Kreislauf:
Farbe der sichtbaren Schleimhäute, Venenfüllung, Puls (Nachblutungen)
Temperatur:
Auskühlung vermeiden, evt. zusätzliche Wärmeapplikation
Schon während der Narkose aber spätestens in der Aufwachphase sollte mit einer adäquaten
Schmerztherapie begonnen werden.
7.2.10. Narkoseüberwachung
Das Tier sollte nach Applikation der Anästhetika in einer ruhigen, gewohnten Umgebung
(eigener Käfig) einschlafen können.. Das Tier muss regelmäßig kontrolliert werden, ohne es
dabei zu stören oder aufzuwecken.
Wenn das anästhesierte Tier einen vollständig relaxierten Eindruck macht, kann es aus seinem
Käfig herausgenommen und die Narkosetiefe überprüft werden.
Ausfall vonReflexen während der Einschlafphase
unkoordinierte Bewegungen
Ausfall mit
zunehmender
Narkosetiefe
Ausfall des Klammerreflexes
Hinterkörper in Seitenlage
Auflegen des Kopfes
Ausfall des Umdrehreflexes
Überprüfung der Narkosetiefe
Umdrehreflex
sollte nicht mehr vorhanden sein
Lidreflex
sollte gerade eben verschwunden sein
Cornealreflex
sollte noch gering vorhanden sein
Pupillen-Licht-Reaktion muss noch vorhanden sein, ansonsten gefährlich tiefe Narkose
Zwischenzehenreflex
Hinweis auf die Ausbildung der Analgesie während der Narkose
darf für schmerzhafte Eingriffe nicht mehr vorhanden sein
Exophthalmus
bei der Ratte Hinweis auf sehr tiefes Narkosestadium
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Anästhesie bei Versuchstieren
Atmung, Kreislauf
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Frequenzänderungen beachten
Überwachung der Narkose
Atmung
Erhöhung der Frequenz: Narkose zu flach, Tier wird wach
Erniedrigung der Frequenz, Atmung flach: Narkose sehr tief
Kreislauf
Herzfrequenz erhöht: Narkose zu flach oder zu tief, Kreislaufprobleme z.B. aufgrund eines größeren Blutverlustes (Schock)
Herzfrequenz erniedrigt: Einfluss von Narkosemitteln
Temperaturkontrolle
sehr, sehr wichtig, da aufgrund von Hypothermie die meisten
Todesfälle während und nach einer Narkose auftreten
weiterführende Maßnahmen:
EKG, Blutdruckmessung, Pulsoximetrie u.a.
aber: Geräte aus der Humanmedizin sind oft überfordert mit den
hohen Frequenzen der kleinen Versuchstieren
7.2.11 Einteilung der Narkosestadien nach Guedel
Anhand der erhobenen Befunde kann eine Einteilung der Narkose in unterschiedliche Stadien
erfolgen. Ein grundlegendes Schema hierzu hat Guedel 1920 aufgrund der bei einer Inhalationsanästhesie mit Äther auftretenden klinischen Zeichen erarbeitet. Dieses Schema kann mit
gewissen Einschränkungen auch auf Injektionsnarkosen bei Versuchstieren übertragen werden
(z.B. Ketamin: einige Schutzreflexe können länger erhalten bleiben).
Stadium I
Stadium der Amnesie und Analgesie
Beginn: Zufuhr des Anästhetikums
Ende: Erlöschen des Bewusstseins
Schmerzempfinden nimmt langsam ab
Stadium II
Exzitationsstadium
Beginn: Erlöschen des Bewusstseins
Ende: Beginn des Toleranzstadiums
Erregung, unwillkürliche Muskelzuckungen, starke Reaktionen
auf äußere Reize (z.B. laute Geräusche), Würgen, Erbrechen,
Kot-, Urinabsatz
Dieses Stadium ist besonders unerwünscht und sollte so rasch
wie möglich durchlaufen werden
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Anästhesie bei Versuchstieren
Stadium III
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Toleranzstadium
Beginn: Ende des Exzitationsstadiums
Ende: Aufhören der Spontanatmung
wird nochmals in Unterstadien unterteilt, in der mit zunehmender
Tiefe auch Operationen steigender Schmerzintensität möglich
sind Atmung wird regelmäßiger als im Exzitationsstadium
kein Lid- und Cornealreflex mehr
Muskeltonus ist stark vermindert
Stadium IV
Stadium der Vergiftung
Beginn: Stillstand der Atmung
Ende: Zusammenbruch des Herz-Kreislauf-Systems
Pupillen sind maximal weit und reagieren nicht auf Licht
Abb. : Einteilung der Narkosestadien nach Guedel
131
7.2.12. Beispiele für mögliche Injektionsnarkosen bei kleinen Versuchstieren
Tabelle 7.2.1: Injektionsnarkose Ratte - Beispiele
Narkose
Dosis + Applikationsart
Chirurg. Toleranz
Schlafdauer
Nebenwirkungen
Sonstige Bemerkungen
Pentobarbital
40 - 60 mg/kg KG
variabel,
120 - 240 min
ausgeprägte Atemdepression
als Nembutal nicht mehr auf dem
intraperitoneal
bis 45 min
mäßige Kreislaufdepression
Markt, nur noch als Narcoren
zentral bewirkte Hypothermie
(beachte: höhere Konzentration)
deutliche Atemdepression
bei intramuskulärer Injektion auf
2,5 - 5 mg/kg KG Xylazin
mäßige Herzkreislaufdepression
Volumen achten
in einer Spritze mischen
zentral bewirkte Hypothermie
Nachinjektion: 1/3 der Ketamin-
intramuskulär, intraperitoneal
forcierte Diurese
menge intramuskulär
240 - 300 min,
ausgeprägte Atemdepression
sehr rascher Wirkungseintritt
Ketamin + Xylazin
100 mg/kg KG Ketamin +
ca. 30 min
120 - 240 min
Ketamin +
100 mg/kg KG Ketamin +
Medetomidin
0,2 mg/kg KG Medetomidin
bei Hypothermie
ausgeprägte Kreislaufdepression
sehr tiefe Narkose, sorgfältige
in einer Spritze mischen
deutlich länger
zentral bewirkte Hypothermie
Überwachung auch während der
forcierte Diurese
Aufwachphase notwendig
ca. 120 min
intramuskulär
Nachinjektion: 1/3 der Ketaminmenge intramuskulär
Vollständig
150 µg/kg KG Medetomidin
©
Eintritt nach
variabel, da
mittelgradige Atemdepression
Antagonisierung:
antagonisierbare
(Domitor )+
5 - 10 min
vollständige
mäßige Kreislaufdepression
Atipamezol (Antisedan©)
Anästhesie
2 mg/kg KG Midazolam
ca. 60 min
Antagonisierung der
Hypothermie
750 µg/kg KG +
Narkose möglich
forcierte Diurese
Flumazenil (Anexate©)
(Dormicum© 15/3) +
5 µg/kg KG Fentanyl
0,2 mg/kg KG +
(Fentanyl-Janssen)
Naloxon (Narcanti©)
in einer Spritze mischen
120 µg/kg KG
intramuskulär
in einer Spritze mischen, subkutan
132
Tabelle 7.2.2: Injektionsnarkose Meerschweinchen - Beispiele
Narkose
Dosis + Applikationsart
Chirurg. Toleranz
Schlafdauer
Nebenwirkungen
Sonstige Bemerkungen
Ketamin + Xylazin
40 mg/kg KG Ketamin +
30 min
90 - 120 min
deutliche Atemdepression
individuell Analgesie nicht
5 mg/kg KG Xylazin
mäßige Herzkreislaufdepression
ausreichend für größere chirurgische
in einer Spritze mischen
zentral bewirkte Hypothermie
Eingriffe
intraperitoneal
forcierte Diurese
Vollständig
200 µg/kg KG Medetomidin +
Eintritt nach 15 min
variabel, da
Antagonisierung:
antagonisierbare
1 mg/kg KG Midazolam +
ca. 30 min
vollständige
Atipamezol 1 mg/kg KG +
Anästhesie
25 µg/kg KG Fentanyl
Antagonisierung der
Flumazenil 0,1 mg/kg KG +
in einer Spritze mischen
Narkose möglich
Naloxon 300 µg/kg KG
intraperitoneal
in einer Spritze mischen, subkutan
133
Tabelle 7.2.3: Injektionsnarkose Maus – Beispiele
Beachte: Die verschiedenen Mäusestämme bzw. –linien reagieren sehr unterschiedlich auf Narkosen. Daher ist es notwendig, die Dosierungen gegebenenfalls nach oben oder nach unten
zu korrigieren.
Narkose
Dosis + Applikationsart
Chirurg. Toleranz
Schlafdauer
Nebenwirkungen
Sonstige Bemerkungen
Ketamin + Xylazin
120 mg/kg KG Ketamin +
ca. 20 - 30 min
ca. 60 - 120 min
deutliche Atemdepression
oft nicht ausreichend für größere
16 mg/kg KG Xylazin
abhängig von
mäßige Herzkreislaufdepression
chirurgische Eingriffe
auf 10ml verdünnen, Dosis:
Körpertemperatur
zentral bewirkte Hypothermie
10 ml/kg = 0,1ml/10g
forcierte Diurese
intraperitoneal
Ketamin + Xylazin +
65 mg/kg KG Ketamin
Acepromazin
ca. 15 - 30 min
ca. 60 – 120 min
deutliche Atemdepression
13 mg/kg KG Xylazin
abhängig von
mäßige Herzkreislaufdepression
2 mg/kg KG Acepromazin
Körpertemperatur
zentral bewirkte Hypothermie
intraperitoneal
Pentobarbital
40 - 50 mg/kg KG
Wirkung
forcierte Diurese
sehr unterschiedlich
50 - 250 min
intraperitoneal
Wirkungsintensität und - dauer sehr
Über - und Unterdosierungen leicht
stark abhängig vom Stamm
möglich
Vollständig
500 µg/kg KG Medetomidin +
Eintritt nach 10 - 20
variabel, da
Antagonisierung:
antagonisierbare
5 mg/kg KG Midazolam +
min
vollständige
Atipamezol 750 µg/kg KG +
Anästhesie
50 µg/kg KG Fentanyl
ca. 75 min
Antagonisierung der
Flumazenil 0,5 mg/kg KG +
in einer Spritze mischen
(mit Wärme)
Narkose möglich
Naloxon 1200 µg/kg KG
intraperitoneal
ca. 180 min
zusammen in einer Spritze mischen,
(ohne Wärme)
subkutan applizieren
134
Tabelle 7.2..4: Injektionsnarkose Kaninchen - Beispiele
Narkose
Dosis + Applikationsart
Chirurg. Toleranz
Schlafdauer
Ketamin + Xylazin
40 - 50 mg/kg KG Ketamin +
ca. 40 - 60 min
Stehvermögen nach ca. deutliche Atemdepression,
Intubation nicht immer möglich
120 min
Apnoephasen möglich
unbefriedigende Analgesie
in einer Spritze mischen
starker Blutdruckabfall
Nachdosierung intravenös
intramuskulär
forcierte Diurese
mit 1/3 der Initialdosis
4 - 6 mg/kg KG Xylazin
Propofol
Nebenwirkungen
Sonstige Bemerkungen
6 - 12 mg/kg KG
nach einmaliger
schnelle Anflutung, keine Kumulation,
intravenös
Injektion ca. 10 min
Intubation nur schwer möglich
Vollständig
200 µg/kg KG Medetomidin +
antagonisierbare
Anästhesie
sehr rasch
variabel, da
starke Atemdepression
Antagonisierung:
1 mg/kg KG Midazolam +
vollständige
Apnoephasen möglich
Atipamezol 1 mg/kg KG +
20 µg/kg KG Fentanyl
Antagonisierung der
Flumazenil 0,1 mg/kg KG +
in einer Spritze mischen
Narkose möglich, ohne
Naloxon 300 µg/kg KG
intramuskulär
Antagonisierung ca.
in einer Spritze mischen, subkutan
140 min
135
Anästhesie bei Versuchstieren
Dr. med. vet. Kristianna Becker
7.2.13. Literaturliste Anästhesie bei Versuchstieren
P. Flecknell:
Laboratory Animal Anaesthesia.
A practical introduction for research workers and technicians.
Academic Press London, 1996, 2. ed.
D.F. Kohn, S.K. Wixson, W.J. White, G.J. Benson (eds.):
Anesthesia and analgesia in laboratory animals.
Academic Press San Diego, 1997
W. Erhardt, J. Henke, T. Brill:
Anästhesie beim Versuchstier (Säuger).
in: H.P. Scheuber (Hrsg.): Handbuch über Möglichkeiten und Methoden zur
Verbesserung, Verminderung und Vermeidung von Tierversuchen.
Thomas Denner Verlag München, Stand Nov. 1996
W. Erhardt:
Anästhesie beim Tier. Perioperative Überwachung. Postoperative Versorgung.
in: L. Kronberger (Hrsg.): Experimentelle Chirurgie.
Ferdinand Enke Verlag Stuttgart, 1992
A.P.M.G. Bertens, L.H.D.J. Booij, P.A. Flecknell, E. Lagerweij:
Anästhesie, Analgesie und Euthanasie.
in: L.F.M. van Zutphen, F. Baumans, A.C. Beynen (Hrsg.): Grundlagen der
Versuchstierkunde.
Gustav Fischer Verlag Stuttgart, 1995.
C.J. Green:
Animal Anaesthesia.
Laboratory animal handbooks 8
Laboratory Animals Ltd London, 1979
W. Küpper:
Schmerzausschaltung in der experimentellen Chirurgie bei Hund, Katze, Schwein, Schaf.
Schriftenreihe Versuchstierkunde 11
Paul Parey Berlin, 1984
136
Anästhesie bei Versuchstieren
Dr. med. vet. Kristianna Becker
K. Gärtner, K. Militzer:
Zur Bewertung von Schmerzen, Leiden und Schäden bei Versuchstieren.
Schriftenreihe Versuchstierkunde 14
Paul Parey Berlin, 1993
Schweizer Gesellschaft für Versuchstierkunde:
Tagungsbericht der SGV-Fortbildungstagung 25./26.11.1997: Anästhesie und
Analgesie.
137
7.2.14. Belastungsmerkmale/Reaktionen auf Schmerzen bei kleinen Versuchstieren
Beispiele für Reaktionen ausgewählter Versuchstierspezies auf akute und chronische Schmerzen, Leiden und Schäden
[nach K. Gärtner, H. Militzer (1993) Zur Bewertung von Schmerzen, Leiden und Schäden bei Versuchstieren; Schriftenreihe Versuchstierkunde, Paul Parey Verlag, Berlin]
MERKMAL
MAUS
RATTE
MEERSCHWEINCHEN
KANINCHEN
HAMSTER
ALLGEMEIN
Abwehrreaktionen erhöht
Beißen
gesträubtes Fell
gekrümmter Rücken
Bauch schlaff oder
aufgezogen
Dehydration
Gewichtsverlust
Lider weit offen, halb oder
ganz geschlossen
Augen eingesunken
Tränenfluss
Lautäußerung
aggressiv oder
Rückzugsverhalten
Selbstschädigung
Gewichtsverlust
gesträubtes Haarkleid
gekrümmte Haltung
Hypothermie
Lider halb oder ganz
geschlossen
Augen eingesunken
Tränenfluss
evt. ″Brillenauge“
Atemfrequenz hoch
Rasselgeräusche
Nasenausfluss
Lautäußerung
widerstandsloses Stillhalten
nach dem Erfassen
gesträubtes Fell
Teilnahmslosigkeit
Teilnahmslosigkeit
Hockhaltung
frisst oder trinkt nicht
bei Berührung durchdringende
Schmerzlaute
Gewichtsverlust
gesteigerte Aggressivität
Depression
stark veränderte Schlafzeiten
Augen eingesunken
Tränenfluss
Tränenfluss mit Hervortreten
der Nickhaut
Lichtscheue
Atemfrequenz hoch
trotz langanhaltender
Bewegungslosigkeit bei
schmerzhaften oder
belastenden Reizen
Rasselgeräusche
Nasenausfluss
Gewichtsverlust
unsymmetrischer, regional
nicht begrenzter Haarausfall
schuppige Haut
Dehydration
Atemfrequenz hoch
schleimig-eitriger
Nasenausfluss
Schwellung
Bindehautentzündung
Verklebungen
Tränenfluss schon bei
abakterieller Reizung
Atemfrequenz hoch
extreme Atembewegungen
AUGEN
ATMUNG
Atemfrequenz hoch
angestrengtes Atmen
Atemgeräusche
Nasenausfluss
AUSSEHEN
Fell gesträubt
Gewichtsverlust
Dehydration
Flanken eingezogen
(=Darm leer)
Kotflecken, schmutzig
kalte Körperoberfläche
Frequenz kann erhöht oder
reduziert sein
DEFÄKATION
URINIEREN
Fell gesträubt
Gewichtsverlust
Dehydration
Deckhaare struppig
bleiche oder gelbe Hautfalbe
ungeputztes Aussehen
Wenig deutlich bei
anhaltenden Schmerzen oder
Leiden
Obstipation oder Diarrhöe
möglich
Diarrhöe
häufigeres Urinieren bei
Blasen- oder
Niereninfektionen
138
Erkrankungen am Aussehen
nur schwierig zu erkennen!
Sorgfältige Untersuchung auf
Gewichtsverlust
(Rückenmuskulatur)
Dehydration
Kotflecken auf Fell
Rhythmus der
Weichkotproduktion
verändert
Obstipation oder Diarrhöe
Haut physiologisch schon mit
stark verschiebbarer
Unterhaut; Schwellung oder
Dehydration schwierig
festzustellen
Kotbefleckte
Perianalregionen, ”nasser
Schwanz“; Hinweis auf
Diarrhöe
Anästhesie bei Versuchstieren
Dr. med. vet. Kristianna Becker
MERKMAL
MAUS
RATTE
MEERSCHWEINCHEN
KANINCHEN
HAMSTER
VERHALTEN
Rückzugsverhalten, aber
auch Aggressivität, vermehrte
Neigung zum Beißen
später teilnahmslos,
Isolierung von der Gruppe
Typisches Ausweichverhalten
anfänglich gesteigert, später
Verschwinden des
Ausweichverhaltens bis zur
Teilnahmslosigkeit
Zunehmender Rückgang aller
umweltbezogenen
Reaktionen,
Abwendung vom Licht
Explorationsverhalten gestört
Zunehmende Aggressivität
beim Berühren
reduziertes Verhalten trotz
deutlicher Außenreize
ANORMALE
AKTIVITÄT
Abwehrverhalten erhöht
Automutilation
Beißen in schmerzende
Körperteilen
Wälzen bei starken
Bauchschmerzen
Speichelabsonderung bei
überlangen Zähnen
Benagen des eigenen oder
fremden Fells bei Schmerzen
im Gastrointestinaltrakt
Keine Futter- und/oder
Wasseraufnahme
Schlafzeiten während des
Tages verändert
zunehmende Trägheit bei
Berührung, eingeschränktes
Explorationsverhalten
HALTUNG
Aufgekrümmter Rücken
häufig von Lichtquellen
abgewandete Haltung
Anfänglich erhöhte
Aufmerksamkeit, aggressive
Reaktionen und Tendenz zum
Beißen bei Berührung,
später Teilnahmslosigkeit,
Rückzugverhalten
Schlaf-/ Wach-/
Fressrhythmus zunehmend
gestört
reduziertes
Explorationsverhalten
Rückzug oder Aggressivität
gegenüber
Mensch/Artgenossen
Automutilation
Liegedauer verlängert
Rücken aufgekrümmt mit
Kopf in der Bauchgegend
FORTBEWEGUNG
Vorsichtiger
unvollständiger
Bewegungsablauf
unsicherer Gang
Hochfrequente Quieklaute bei
Ergreifen,
Abnahme bei zunehmender
Schwäche
LAUTÄUSSERUNG
SONSTIGES
Abkühlung der
Körperoberfläche bei
zunehmender
Verschlechterung
Gehemmte Fortbewegung,
Lahmheit oder vorsichtiger
Gang
Hochfrequente Laute bei
akuten Schmerzen, besonders
bei Berührung,
später Rückgang der
Schmerzlaute auch bei
anhaltenden Schmerzen
Abkühlung der
Körperoberfläche als Hinweis
auf wesentliche
Zustandsverschlechterung
Aufgezogener Bauch und/oder Verlagerung des
gewölbter Rücken bei
Körpergewichtes nach vorn
Schmerzen in der Bauchhöhle oder hinten bei wunden Pfoten
bei Bauchschmerzen
ungewohntes Strecken des
Körpers, Kopfschiefhaltung
Lahmheit, vorsichtiger Gang, Lähmungen nach
Nachschleifen des
Verletzungen der Wirbelsäule
Hinterkörpers bei Schwäche
(durch unsachgemäßes
Handling)
Lautäußerungen gehören zum Unter Normalbedingungen
normalen Verhaltensrepertoire kaum Lautäußerungen
gesunder Meerschweinchen,
bei plötzlichen Schmerzen für
Reduktion bei Schmerzen und kurze Zeit schrille LautLeiden
äußerungen
Zusammengerollte Lage
zögernde und eingeschränkte
Bewegungen bei Erkrankung
der Bauchorgane
Abkühlung
Gewichtsverlust
reduzierter Muskeltonus
Abkühlung, Gewichtsverlust,
nasser Schwanz, Diarrhöe,
Schwellungen oder Ulzera an
Lippen und Pfoten
139
Belastungen nur sehr schwer
zu erkennen, da schmerzhafte
Zustände oft ohne auffällige
Reaktionen hingenommen
werden
Gehemmte Fortbewegung
Evt. Quieklaute
Anästhesie bei Versuchstieren
Dr. med. vet. Kristianna Becker
7.2.15. Möglichkeiten der Schmerzausschaltung im Wachzustand
modifiziert nach:
1. Grundlagen der Versuchstierkunde, Hrsg.: van Zutphen, Baumans, Beynen, Gustav Fischer Verlag 1995
2. Pain Management in Animals, Hrsg.: Flecknell u. Waterman-Pearson, WB Saunders, London 2000
3. K. Otto: Schmerztherapie bei Klein-, Heim- und Versuchstieren. Parey Buchverlag, Berlin 2001
4. GV-SOLAS, Ausschuss für Anästhesie und Analgesie: Schmerztherapie bei Versuchstieren
Analgetikum
Maus
Ratte
Meerschweinchen Kaninchen
Nichtsteroidale Antiphlogistika
Azetylsalicylsäure
(Aspirin)
120 mg/kg p.o.
alle 4 h
100 mg/kg p.o.
alle 4 h
85 mg/kg p.o.
alle 4 h
100 mg/kg p.o.
alle 4 h
Carprofen
(Rimadyl)*
5 mg/kg s.c., p.o.
alle 12 h
5 mg/kg s.c., p.o.
alle 12 h
5 mg/kg s.c.
alle 12 h
4 mg/kg IV, s.c.
1,5 mg/kg p.o.
alle 12 h
Diclofenac
14-100 mg/kg p.o.
?
k.A.
k.A.
k.A.
Flunixin
(Finadyne)
2,5 mg/kg s.c.
alle 12 h
2,5 mg/kg s.c.
alle 12 h
k.A.
1 mg/kg s.c.
alle 12 h
Metamizol
(Novalgin)
k.A.
200 mg/kg s.c.
alle 6 h
k.A.
k.A.
Phenacetin
200 mg/kg p.o.
alle 4 h
100 mg/kg p.o.
alle 4 h
k.A.
k.A.
Phenylbutazon
31-250 mg/KG i.p.
k.A.
k.A.
Opioide
Buprenorphin
(Temgesic)*
0,05-0,1 mg/kg
s.c.
alle 6-8 h
0,01-0,03 mg/kg
s.c ./i.v.
0,1-0,25 mg/kg p.o.
alle 6-12 h
0,05 mg/kg s.c.
alle 6-12 h
0,01-0,05 mg/kg p.o.
alle 6-12 h
Butorphanol
(Stadol)
1-2 mg/kg s.c.
alle 4 h
0,051-2 mg/kg s.c.
alle 2-4 h
k.A.
0,1-0,5 mg/kg i.v.,
s.c.
alle 4 h
Morphin
10 mg/kg s.c.
alle 2-4 h
2,5 mg/kg s.c.
alle 2-4 h
2,5-10 mg/kg s.c.
alle 4 h
2,5 mg/kg s.c.
alle 2-4 h
Nalbuphin
(Nubain)
4-8 mg/kg s.c.
alle 4 h
1-2 mg/kg s.c.
alle 3 h
k.A.
1-2 mg/kg i.v.
alle 4-5h
Pentazocin
(Fortral)
10 mg/kg s.c.
alle 3-4 h
10 mg/kg s.c.
alle 4 h
k.A.
5 mg/kg i.v.
alle 2-4 h
10-20 mg/kg s.c.
alle 4 h
Pethidin
10-20mg/kg s.c.
alle 2-3 h
10-20 mg/kg s.c.
alle 2-3h
k.A.
k.A.
k.A. = keine Angaben
* = nur diese beiden Analgetika werden momentan als sehr gut wirksam eingeschätzt
140
Applikationen und Probenentnahmen
8.
Dr. med. vet. Kurt Reifenberg
Applikationen und Probenentnahmen
8.1. Blutentnahmen bei Versuchstieren
8.1.1. Allgemeine Informationen
Zur Entnahme von Blutproben bei Versuchstieren existiert eine geeignete Empfehlung, die in
Kooperation
zwischen
dem „Ausschuß
für
Tierschutzbeauftragte
der
Gesellschaft
für
Versuchstierkunde (GV-SOLAS)“ und dem Arbeitskreis 4 der Tierärztlichen Vereinigung für
Tierschutz (TVT) erstellt wurde. Die Empfehlung trägt den Titel „Empfehlung zur Blutentnahme
bei Versuchstieren, insbesondere kleinen Versuchstieren“ und kann bei der TVT angefordert
werden. Die vorliegende Abhandlung lehnt sich an die Empfehlung der TVT und GV-SOLAS an,
beschränkt sich jedoch auf die Spezies Maus, Ratte und Kaninchen
Vor einer Blutentnahme bei Versuchstieren sind folgende prinzipiellen Parameter abzuwägen:
-Gewünschte Qualität des Blutes
•
steril - unsteril
•
arteriell - venös - Mischblut
•
potentielle Verunreinigungen (Dekapitation, Kappen der Schwanzspitze)
•
Hämolyse
•
Abstand von Futteraufnahme
-Entnahmefrequenz
•
einmalig - mehrmalig
•
zeitliche Abstände zwischen Blutentnahmen
-Überleben des Tieres nach der Blutentnahme oder terminale Blutentnahme?
-Gewünschte Blutmenge
In Abhängigkeit von den experimentellen Ansprüchen an die Blutentnahme, muss eine
Entscheidung getroffen werden, welche maximale Blutmenge dem Versuchstier entzogen werden
kann und welche Technik zum Einsatz kommen soll. Aus Tierschutzgründen und zur Erleichterung
der Abnahme ist es wichtig, die Tiere durch häufigen und behutsamen Umgang (Handling) an die
Durchführung von Manipulationen zu gewöhnen. Durch diese Maßnahmen kann einerseits der Grad
der Beunruhigung und damit der Belastung der Tiere erheblich vermindert werden und andererseits
dem Operateur die Durchführung des Eingriffs erleichtert werden. Das Tierschutzgesetz fordert die
Anwendung möglichst schonender Blutentnahmetechniken.
141
Applikationen und Probenentnahmen
Dr. med. vet. Kurt Reifenberg
8.1.2. Bestimmung der maximal zu entnehmenden Blutmenge
Bei der Festlegung der maximal zu entnehmenden Blutmenge ist in erster Linie die
Entnahmefrequenz zu berücksichtigen. Prinzipiell muss klar sein, ob es sich um eine Entblutung
(d.h. Gewinnung einer möglichst großen Blutemenge in Narkose mit anschließender Tötung des
Versuchstiers), eine einmalige Blutentnahme (d.h. Blutentnahme mit anschließender mindestens 14tägiger Erholungsphase ohne weitere Blutabnahmen) oder um mehrmalige Blutentnahmen (Serie
von Blutentnahmen mit Zeitintervall(en) von unter 14 Tagen) handelt. Die nachfolgende Tabelle
informiert, welche Blutmengen (in % des Gesamtblutvolumens) jeweils aus Tierschutzgründen
(Blutentnahmen mit Überleben) bzw. aus biologischen Gründen (Entblutungen) maximal entzogen
werden können.
maximal zu entnehmende Blutmenge
Entblutung
50% des Gesamtblutvolumens
Einmalige Blutentnahme
10% des Gesamtblutvolumens
mehrmalige Blutentnahmen
1% des Gesamtblutvolumens pro Tag
Wird als Faustregel angenommen, dass die relative Gesamtblutmenge eines Labortieres ca. 10% des
Körpergewichts ausmacht, so kann die maximal zu entziehende Blutmenge als prozentualer Anteil
des Körpergewichts ausgedrückt werden.
maximal zu entnehmende Blutmenge
Entblutung:
5% des Körpergewichts
Einmalige Blutentnahme:
1% des Körpergewichts
mehrmalige Blutentnahmen:
0,1% des Körpergewichts pro Tag
Dabei muss jedoch allen Beteiligten klar sein, dass es sich „lediglich um eine Faustregel“ handelt.
Wie die nachfolgende Tabelle aufzeigt zeigt die relative Gesamtblutmenge von Tieren starke
Speziesunterschiede und liegt zum Teil deutlich unter dem „Faustwert“ von 10%. Dies muss in
Grenzfällen berücksichtigt werden.
Spezies
Relative Gesamtblutmenge
(% des Körpergewichts)
Maus
7,0 - 8,0 %
Ratte
5,0 - 7,0 %
Kaninchen
4,5 - 7,0 %
142
Applikationen und Probenentnahmen
Dr. med. vet. Kurt Reifenberg
8.1.3. Gebräuchliche Techniken der Blutentnahme bei Maus und Ratte
-Anritzen bzw. Punktion der Schwanzvene
Bei Mäusen und Ratten kann Blut durch Anritzen der Schwanzvene gewonnen werden. Da
die Schwanzvenen bei der Thermoregulation der Versuchstiere eine große Rolle spielen,
kann die Blutabnahme durch Hyperämisierung wesentlich erleichtert werden. Dazu werden
die Tiere in der Regel einem Infrarotstrahler ausgesetzt, wobei durch sorgfältiges
Beobachten des Tierverhaltens eine Überhitzung ausgeschlossen werden muss. Bei der
Maus wird die Vene in der Regel nicht punktiert sondern mit einem Skalpell angeritzt. Bei
der Ratte kann entweder die Ritztechnik angewandt werden oder die Vene kann alternativ
punktiert werden. Ein wiederholtes Einschneiden des Schwanzes und der Schwanzvene
sollte prinzipiell vermieden werden, ist in vielen Fällen aber zur Gewährleistung des
Versuchszwecks unabdingbar. Die leichten Schnittverletzungen des Schwanzes verheilen
rasch, hinterlassen jedoch Narben, die die Eignung des Tiers für intravenöse Applikationen
beeinträchtigen können.
Abbildung: Anritzen der Schwanzvene bei einer Maus
-Punktion des retrobulbären Venenplexus
Die Blutentnahme aus dem retrobulbären Venenplexus wird bei Mäusen und Ratten häufig
praktiziert. Es ist selbstverständlich, dass diese Technik der Blutentnahme ausschließlich in
Narkose durchgeführt werden darf. Wichtig für die Punktion des retrobulbären Venenplexus
ist auch die korrekte Fixierung des Tieres. Für Entblutungen, bei denen das Tier im
Anschluss an den Eingriff noch in Narkose getötet wird, kann die Punktion des
143
Applikationen und Probenentnahmen
Dr. med. vet. Kurt Reifenberg
retrobulbären Plexus unproblematisch eingesetzt werden. Tierschutzrechtlich sehr umstritten
ist diese Technik jedoch in solchen Fällen, in denen das Tier nach dem Eingriff weiterleben
soll. Untersuchungen zur Auswirkung von Punktionen des retrobulbären Venenplexus bei
der Ratte haben ergeben, dass bei sachgerechter Durchführung wesentliche Schädigungen
des Auges oder Beeinträchtigungen des Wohlbefindens nicht auftreten (Beynen et al. 1988,
van Herck et al., 1992). Bei sachgerechter Durchführung werden lediglich Bindegewebe,
peribulbäres Fett und Venen punktiert. Andererseits werden jedoch auch viele mögliche
Schadensfolgen beschrieben (Joint working group on refinement, 1993).
Abbildung: Punktion des retroorbitalen Plexus bei der narkotisierten Ratte
-Herzpunktion
Bei der Durchführung von Herzpunktionen besteht immer das Risiko der Entstehung einer
Herzbeuteltamponade (Eindringen von Blut zwischen Herzmuskel und Perikard) sowie
eines Pneumothorax (Eindringen von Luft zwischen Lunge und Rippenfell) und der damit
assoziierten funktionellen Beeinträchtigungen. Aus diesem Grunde sind Herzpunktionen
ausschließlich für Entblutungen zulässig, d.h. diese Technik darf nur in Narkose eingesetzt
werden und das Tier muss noch in Narkose getötet werden. Die Versuchstiere werden in
narkotisiertem Zustand in überstreckter Rückenlage fixiert. Die Kanüle wird in der
Medianlinie unmittelbar hinter dem Brustbein eingeführt und unter leichter Aspiration in
Richtung zum Kopf, zur linken Körperhälfte und zum Rücken hin (Richtung: cranial, lateral,
dorsal) geführt. Gelingt der Eingriff beim Ungeübten auf die beschriebene Weise nicht,
sollten alle Vorkehrungen getroffen sein, um rasch den Brustkorb zu öffnen und das Herz
144
Applikationen und Probenentnahmen
Dr. med. vet. Kurt Reifenberg
unter Sichtkontrolle punktieren zu können. Geübte Personen sind unproblematisch in der
Lage, Herzpunktionen erfolgreich an frisch getöteten Tier durchzuführen.
-Punktion großer Bauchgefäße
Zur terminalen Blutentnahme kann bei Maus und Ratte ebenfalls in Betracht gezogen
werden, die Bauchaorta oder die Vena cava caudalis zu punktieren. Hierzu wird in tiefer
Narkose die Bauchhöhle eröffnet und das Gefäß unter Sichtkontrolle punktiert oder eröffnet.
8.1.4. Gebräuchliche Techniken der Blutentnahme beim Kaninchen
-Punktion der Ohrvene
Beim Kaninchen lassen sich durch Punktion der Ohrvenen meist nur kleine Blutvolumina
(wenige ml) gewinnen. Zur Venenpunktion wird das Gefäß am Ohransatz durch Fingerdruck
aufgestaut.
-Punktion der zentralen Ohrarterie
Beim Kaninchen können auch große Blutmengen (bei schweren Tieren ca 30 ml) aus der
Ohrarterie entnommen werden, ohne dass eine Narkose nötig ist und ohne dass es zu wesentlichen Belastungen für das Tier kommt. Eine leichte Hyperämie an der Ohrspitze reicht
aus, um die Arterie so stark anschwellen zu lassen, dass sie mit einer Kanüle gut punktiert
werden kann. Nachteil der Blutentnahme aus einer Arterie ist das hohe Risiko der
Hämatombildung oder von Nachblutungen. Deshalb muss nach der Blutentnahme die
punktierte Arterie an der Punktionsstelle oder proximal davon ausreichend lange (mitunter
bis zu 5 Minuten) komprimiert werden, um die Blutung sicher zu stillen.
Zur Hyperämisierung des Ohres reicht oft ein leichtes Klopfen auf das Ohr mit den Fingerspitzen oder das Auszupfen von Haaren über der Einstichstelle aus. Alternativ kann der Effekt auch durch leichtes Erwärmen des Ohres, z. B. mit einer Wärmelampe, erzielt werden.
Die Verwendung von Xylol und ähnlichen Stoffen, die durch eine Reizung der Haut eine
Hyperämie bewirken, wird zum Teil aus Tierschutzgründen abgelehnt, da Xylol bei
häufigerem Gebrauch zu Hautschäden führen kann, ist aber teilweise unvermeidbar.
145
Applikationen und Probenentnahmen
Dr. med. vet. Kurt Reifenberg
Abbildung: Punktion der Ohrarterie beim Kaninchen
-Herzpunktion oder Punktion der großen Bauchblutgefäße
(siehe entsprechende Technik bei Maus und Ratte)
8.1.5. Belastungen durch Blutentnahmen
Bei Einhaltung der empfohlenen Maximalmengen und Mindestabstände zwischen Blutentnahmen
ist im Regelfall von einer geringen bis mäßigen Belastung (Dauer <1 Tag) als Folge des Blutentzuges auszugehen. Auch bei der Punktion selbst entstehen bei sachgerechter Durchführung und
entsprechender Gewöhnung der Tiere an die Prozedur nur kurzzeitig geringe Belastungen. Die
gesamte Problematik von biologischen Effekten durch Blutverluste, bedingt durch einzelne oder
wiederholte Blutentnahmen, ist ausführlich bei McGuill und Rowan (1989) beschrieben. Die
Autoren diskutieren auch die Eignung unterschiedlicher Entnahmetechniken bei Ratte, Maus und
Kaninchen. Techniken der Blutentnahme werden ausführlich von Grice (1964), Herbert und
Kristensen (1986) sowie von Iwarsson et al. (1994) beschrieben. Jeder, der tierexperimentell
arbeitet, sollte auch die Empfehlungen zur Blutentnahme der “Joint working group on refinement“
(1993) lesen. Hier finden sich wertvolle Details und auch eine ausführliche Zusammenstellung der
relevanten Literatur.
146
Applikationen und Probenentnahmen
Dr. med. vet. Kurt Reifenberg
8.1.6. Literatur
BEYNEN, A.C., et al. (1988), Assessment of discomfort induced by orbital puncture in rats. In:
Beynen, A. C. & H. A. Solloveld (Eds.), New developments in biosciences: Their implications for laboratory animal science, S.431-436. Martinus Nijhoff Publishers, Dordrecht
GRICE, H.C. (1964), Methods for obtaining blood and for intravenous injections in laboratory
animals, Lab.Anim.Care 14, 483-493
HERBERT, W.J.& F. KRISTENSEN (1986), Laboratory animal techniques for immunology. In:
Weir, D.M.(Ed), Handbook of experimental immunology 4.Ed., Volume 4: Applications of
immunological methods in biomedical sciences, 133.1-133.36, Blackwell Scientific Publ.,
Oxford
IWARSSON, K., L. LINDBERG & T. WALLER (1994), Common non-surgical techniques and
procedures. In: Svendsen, P. and J. Hau (Eds.), Handbook of laboratory animal science, Vol.
1, S.229-272, CRC Press Inc., Boston
JOINT WORKING GROUP ON REFINEMENT (1993), Removal of blood from laboratory
mammals and birds, Laboratory Animals, 27, 1-22
MCGUILL, M.W. & A.N. ROWAN (1989), Biological effects of blood loss: Implications for
sampling volumes and techniques, Ilar News 31(4), 5-20
VAN HERCK, H. et al. (1992), Histological changes in the orbital region of rats after orbital
puncture, Lab. Anim. 27, 1-22
8.2 Gewinnung von Kot und Urin
Bei Mäusen, Ratten und Kaninchen ist es unüblich, Kot- und Urinproben durch direkte Entnahme
am lebenden Tier zu gewinnen. Stattdessen wird der natürliche Absatz genutzt. Bei einmaligen
Probengewinnungen ist es für den Experimentator zumutbar, auf das Absetzen von Kot oder Urin
zu warten. Die Ausscheidung durch leichte Verunsicherung der Tiere beschleunigt werden. Dies
kann beispielsweise durch das Einbringen der Tiere in eine neue Umgebung erreicht werden.
Solche Tiere setzen häufiger Kot oder Urin ab.
Soll im Rahmen pharmakologischer oder toxikologischer Untersuchungen kontinuierlich Kot und
Urin von Versuchstieren gesammelt werden, so werden hierfür besondere Sammelkäfige,
sogenannte Stoffwechselkäfige, verwandt.
147
Applikationen und Probenentnahmen
Dr. med. vet. Kurt Reifenberg
8.3 Injektionstechniken
Bei der Injektion von Substanzen in Versuchstiere muss der Experimentator über den
Applikationsweg, über das maximal zu injizierende Volumen und die maximale Kanülenstärke
entscheiden. Zu dieser Thematik existiert ebenfalls eine geeignete Empfehlung (Titel: „Empfohlene
maximale Injektionsvolumina bei Versuchstieren“), die in Kooperation zwischen dem „Ausschuss
für Tierschutzbeauftragte der Gesellschaft für Versuchstierkunde (GV-SOLAS)“ und dem
Arbeitskreis 4 der Tierärztlichen Vereinigung für Tierschutz (TVT) erstellt wurde. In der
vorliegenden Abhandlung werden Vorgaben dieser Empfehlung berücksichtigt, es werden jedoch
keine maximalen Injektionsvolumina bzw. maximalen Kanülengrößen angegeben. Hierfür wird der
interessierte Leser auf die Empfehlung von TVT und GV-SOLAS verwiesen.
8.3.1. Allgemeine Informationen
An Injektionslösungen sind folgende allgemeineAnorderungen zu stellen
•
Isotonität
•
ph-Neutralität (ph 7,0-7,3)
•
Körperwärme
•
Konzentration, chemische Zusammensetzung und physikalische Eigenschaften der
Injektionslösung sollten so beschaffen sein, dass es nicht zu allgemeinen Schäden
oder lokalen Reizungen kommt.
Hyper- und hypotone Lösungen oder Lösungen in einem unphysiologischen pH können zu
erheblichen Schmerzen und Gewebezerstörung (z.B. der perivaskulärer Injektion) führen sowie zur
Schädigung von Erythrozyten (Hämolyse).
Es können folgende Injektionswege unterschieden werden:
•
intravenös (i.v.)
•
intraperitoneal (i.p.)
•
intramuskulär (i.m.)
•
subcutan (s.c.)
•
oral
Der Experimentator hat jedoch keine völlig freie Entscheidung über die Art der Applikation.
Insbesondere muss berücksichtigt werden, dass die Verteilungsgeschwindigkeit der zu
applizierenden Substanzen im Tierkörper vom Applikationsweg abhängig ist. Dabei nimmt die
Verteilungsgeschwindigkeit in folgender Reihenfolge zu:
i.v. > i.p. > i.m. > s.c. > oral
148
Applikationen und Probenentnahmen
Dr. med. vet. Kurt Reifenberg
Der subcutanen Injektion ist prinzipiell der Vorzug zu geben, sofern es sich nicht um lokal reizende
Substanzen handelt, die streng intravenös verabreicht werden müssen. Intramuskuläre Injektionen
sind grundsätzlich für die meisten Tiere schmerzhaft: das Injektionsvolumen sollte daher so klein
wie möglich sein, bzw. die injektionslösung sollte auf mehrere Stellen verteilt werden. Die
intramuskuläre Injektion sollte langsam erfolgen. Bei intravenöser Applikation ist zu
berücksichtigen, dass Emulsionen und partikuläre Substanzen sowie Luftbläschen nicht auf diese
Weise appliziert werden dürfen (Emboliegefahr!). Werden bestimmte Substanzen wegen
suboptimaler Technik neben die Vene statt in sie hinein verabreicht (sogenannte paravenöse
Injektion), so kann es zu sehr schmerzhaften Venenentzündungen und zu Obliterationen der Gefäße
kommen. Bei intravenösen Verabreichungen sollte daher die Kanüle möglichst weit in das Gefäß
eingeführt werden und der korrekte Sitz sollte möglichst durch Aspiration geprüft werden. Bei
Verwendung von Metallnadeln kann die Vene durch plötzliche Bewegung des Tieres beschädigt
werden, so dass nicht-isotone Lösungen vorzugsweise über einen Katheter verabreicht werden
sollten. Bei der intraperitonealen Injektion besteht die Gefahr einer versehentlichen Punktion von
Bauchorganen (z.B.: Blase, Darm, Leber, Milz).
8.3.2. Orale Applikationen bei Maus, Ratte und Kaninchen:
Langfristige orale Verabreichungen von Substanzen werden üblicherweise durch Beimischung der
Substanz in Trinkwasser oder Futter realisiert. In vielen Fällen (instabile Substanzen, präzise
Dosierung) ist eine gezielte Verabreichung durch Schlundsondierung jedoch nicht zu umgehen.
149
Applikationen und Probenentnahmen
Dr. med. vet. Kurt Reifenberg
Abbildung: Schlundsondierung bei der Ratte
8.3.3. Intravenöse Applikationen bei Maus, Ratte und Kaninchen:
Intravenöse Injektionen erfolgen bei Maus und Ratte in die Schwanzvene, beim Kaninchen in die
Ohrrandvene.
Abbildung: intravenöse Injektion bei der Maus in die Schwanzvene und beim Kaninchen
unter Verwendung eines Butterfly’s in die Ohrvene
150
Applikationen und Probenentnahmen
Dr. med. vet. Kurt Reifenberg
8.3.4. Intraperitoneale Applikationen bei Maus, Ratte und Kaninchen:
Abbildung: intraperitoneale Injektion bei Maus und Kaninchen
8.3.5. Intramuskuläre Applikationen Ratte und Kaninchen:
Intramuskuläre Injektionen werden bei der Maus prinzipiell sehr selten durchgeführt. Eine gewisse
Bedeutung hat die Injektion in den M tibialis narkotisierter Mäuse im Rahmen von DNAImmunisierungen. Bei Ratte und Kaninchen erfolgt die intramuskuläre Injektion in den
Oberschenkel.
151
Applikationen und Probenentnahmen
Dr. med. vet. Kurt Reifenberg
Abbildung: intramuskuläre Injektion beim Kaninchen
8.3.6. Subcutane Applikationen bei Maus, Ratte und Kaninchen:
Subcutane Applikationen erfolgen bei Maus, Ratte und Kaninchen unter die Rückenhaut.
Abbildung: Subcutane Injektion bei Maus und Kaninchen
152
Grundlagen chirurgischen Arbeitens
Dr. med. vet. Kurt Reifenberg
9. Grundlagen chirurgischen Arbeitens
Der nachfolgende Text orientiert sich an der Publikation „Operative Eingriffe bei
Versuchstieren“, die vom Ausschuss für Anästhesie der Gesellschaft für Versuchstierkunde (GVSOLAS) erstellt wurde. Die Empfehlung wurde von Arras M, Becker K, Grosse-Siestrup Ch,
Küpper W und Kuhnt B verfaßt und ist verfügbar unter http://www.gv-solas.de/.
9.1. Definition
In der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zur Durchführung des Tierschutzgesetzes vom
09.02.2000 wird festgelegt, dass als operative Eingriffe alle instrumentellen Einwirkungen
gelten, bei denen die Haut oder darunter liegendes Gewebe eines lebenden Tieres mehr als
punktförmig durchtrennt wird.
9.2. Anforderungen bei operativen Eingriffen bei Versuchstieren
Das Deutsche Tierschutzgesetz fordert eindeutig die Reduktion von Tierversuchen auf das
unerlässliche Maß. Dies impliziert unter anderem, dass bei der Durchführung operativer
Eingriffen der jeweilige Stand der Wissenschaft und Technik zu berücksichtigen ist. Sofern
anzunehmen ist, dass chirurgische Eingriffe bei Versuchstieren durch Störfaktoren (Infektionen,
suboptimales Instrumentarium) beeinflusst werden und damit die Aussagekraft der
wissenschaftlichen Experimente reduziert wird, müssen die Bedingungen optimiert werden. Im
Extremfall müssen sich die räumlichen, operativen und personellen Anforderungen
tierexperimenteller OPs an denen der Humanmedizin orientieren.
9.3. Räumliche Voraussetzungen für die Durchführung von Operationen bei
Versuchstieren
Operativer Eingriffe an großen Versuchstieren (wie zum Beispiel landwirtschaftlichen
Nutztieren) sind in speziell dafür vorgesehenen Räumen durchzuführen. Weiterhin müssen
Vorbereitungsräume sowohl für die Tiere als auch für die Operateure vorhanden sein. Über diese
Räumlichkeiten hinaus sollte in räumlicher Trennung zum Operationssaal ein Aufwachraum für
die frisch operierten Tiere etabliert werden. Der Operationstrakt ist räumlich von der Tierhaltung
zu trennen, sollte aber aus logistischen und Tierschutzgründen in unmittelbarer Nahe der Haltung
angesiedelt sein.
Zur Durchführung operativer Eingriffe an kleinen Versuchstieren und Kaninchen werden in der
Regel keine eigenen OP-Bereiche mit assoziierten Vorbereitungs- und Aufwachräumen zur
153
Grundlagen chirurgischen Arbeitens
Dr. med. vet. Kurt Reifenberg
Verfügung gestellt. Statt dessen werden solche Eingriffe häufig in entsprechend ausgestatteten
allgemeinen Laborräumen durchgeführt und Vorbereitungsfunktion und Operationsbereich
werden im selben Raum zur Verfügung gestellt.
9.4. Antisepsis und Asepsis
Wie bei humanmedizinischen Operationen gelten auch für die Durchführung chirurgischer
Eingriffe bei Versuchstieren die Regeln der Asepsis und Antisepsis. Dies impliziert, dass
chirurgische Eingriffe unter solchen Bedingungen durchzuführen sind, dass Infektionen
möglichst vermieden werden. Deshalb sind alle mit dem Operationsfeld in Berührung
kommenden Komponenten entweder zu sterilisieren (Asespis) oder gründlich zu desinfizieren
(Antisepsis). Im Einzelnen gilt dieses Prinzip für
-Instrumente (Sterilisation durch Autoklavierung oder Heissluftsterilisierung)
-Naht- oder Klammermaterial, Implantate (Sterilisation durch Autoklavierung oder
Heissluftsterilisierung bzw. im Fall von thermolabilen Materialien durch Begasung oder
Bestrahlung)
-Raum (regelmäßige chemische Desinfektion, UV-Bestrahlung von OP-Flächen)
-Operateur (Reinigung und Desinfektion der Hände, Tragen steriler oder desinfizierter
Handschuhe)
-Operationsfeld des Tieres (Rasur, Reinigung, Desinfektion, Abkleben oder Bedecken der
Haut mit sterilen Tüchern)
9.5. Voraussetzungen bei operativen Eingriffen
Der Operateur muss allgemeine Kenntnisse über Chirurgie und Narkosetechnik haben. Bei
komplexen Eingriffen oder Techniken muss er darüber hinaus über die erforderlichen
spezifischen anatomischen oder technischen Detailkenntnisse verfügen. Spezielle Techniken
kann sich der Operateur häufig bei anderen Arbeitsgruppen erwerben. Ist dies nicht möglich,
kann die Operationstechnik zunächst an getöteten Tieren probiert und sukzessive auf ein
Qualitätsniveau gehoben werden, welches ein Arbeiten an lebenden Tieren erlaubt.
Im Detail muss der Operateur einerseits folgende technische Voraussetzungen gewährleisten:
präoperativ:
-Waage für Gewichtsbestimmung
-Fixationsmöglichkeiten für die Anästhesie der Tiere
-geeignete Anästhetika
-gegebenenfalls venöser Zugang vorhanden (in der Regel nicht bei Nagetieren)
-Mittel für Rasur bzw. Reinigung der Haut
154
Grundlagen chirurgischen Arbeitens
Dr. med. vet. Kurt Reifenberg
-gegebenenfalls Mittel zur Gewährleistung einer normalen Körpertemperatur
-gegebenenfalls Intubationsbesteck (in der Regel nicht bei Nagetieren und Kaninchen)
-gegebenenfalls Antibiotika
-Sonstige Bedarfsgegenstände (Spritzen, Kanülen, Augensalbe, Infusionslösung)
-Händewaschen und Desinfektion des Operateurs
operativ:
-Geeignete Schutzkleidung (Handschuhe, Kittel, Kopfhaube, Mundschutz) für Operateur
-Steriler Operationstisch und eventuell Mikroskop und Lupe vorhanden
-adäquate Beleuchtung (Kaltlichtlampe, OP-Leuchte) vorhanden
-Nachdosierung der Anästhesie
-Anästhesiemonitoring
-steriles Instrumentarium
-Nahtmaterial
-sonstige Materialien (Spritzen, Kanülen, Tupfer, Kompressen, Katheter etc
postoperativ:
-Analgetika
-Überwachung bis zum Aufwachen
Darüberhinaus muss der Operateur folgende tierspezifischen Voraussetzungen gewährleisten:
präoperativ:
-Gesundheitsstatus des Tieres
-ausreichende Adaptationszeit
-gegebenenfalls ausreichende Nüchternphase (in der Regel nicht bei Nagetieren und
Kaninchen)
-Vorbereitung des Operationsfeldes
-Gewichtsbestimmung
-Allgemeinuntersuchung vor Einleitung der Anästhesie
-gegebenenfalls antibiotische Prophylaxe
operativ:
korrekte Anästhesie und Anästhesiemonitoring
Korrekte Lagerung
Desinfektion und Abdeckung des OP-Felds
Korrekte OP-Technik
Unterstützende Maßnahmen (Augensalbe, Flüssigkeitssubstitution)
postoperativ:
155
Grundlagen chirurgischen Arbeitens
Dr. med. vet. Kurt Reifenberg
Lagerung
gegebenenfalls Extubation (in der Regel nicht bei Nagetieren und Kaninchen)
Kontrolle bis zum Erwachen gewährleistet
Gesundheitszustand
Futter- und Wasseraufnahme
Analgesie
In personeller Hinsicht ist zu gewährleisten, dass die Operateure über die entsprechende
tierschutzrechtliche Qualifikation und das chirurgische Können verfügen. Entsprechendes gilt für
diejenigen Personen, die die Anästhesie gewährleisten. Tierpfleger oder andere Hilfspersonen,
die in die präoperative, operative oder postoperative Phase des Eingriffs involviert werden,
müssen die entsprechenden Qualifikationen aufweisen und ausreichend instruiert sein. Geeignete
Schutzkleidung muss für alle Beteiligten zur Verfügung stehen.
9.6. Beispiele operativer Eingriffe bei Labornagern
Embryotransfer:
Embryotransfers werden bei den Spezies Maus und Ratte häufig durchgeführt, um entweder
gentechnisch veränderte Tiere herzustellen, oder um Embryonen, die über längere Zeiträume
durch Einfrieren konserviert waren, zu revitalisieren oder um das Hygieneniveau muriner
Stämme anzuheben. Beim Embryotransfer muss die Bauchhöhle des Empfängerweibchens
eröffnet werden. Die Applikation der Embryonen erfolgt unter mikroskopischer Kontrolle in die
natürliche Eileiteröffnung oder in die vorher punktierte Gebärmutter.
Vasektomie:
Als Embryonenempfänger für murine Embryotransfers dienen scheinträchtige (pseudogravide)
Weibchen. Eine murine Pseudogravidität wird durch einen sterilen Begattungsreiz ausgelöst. Um
sterile Begattungsreize zu gewährleisten werden männliche Tiere vasektomiert, d.h. der
Samenleiter wird durchtrennt. Dazu wird der Hodensack eröffnet, der Samenleiter präpariert und
ligiert oder kauterisiert.
Subcutane Implantation von Tumorgewebe:
Zur Bearbeitung onkologischer Fragestellungen wird häufig humanes Tumorgewebe unter die
Haut von immundefizienten Mäusen (Nude-Mäuse, Scid-Mäuse) oder Ratten (Nude-ratten)
implantiert. Die subcutane Applikation erfolgt im Rückenbereich. Aufgrund des Immundefekts
der Empfängertiere erfolgt ein Wachstum des artfremden Tumorgewebes und ermöglicht so die
Untersuchung onkologischer Fragestellungen.
156
Grundlagen chirurgischen Arbeitens
Dr. med. vet. Kurt Reifenberg
Abbildung: subcutane Applikation von Tumorgewebe (links) bei einer Maus sowie
Wundverschluss mit Michelklammern (rechts)
Implantation von Geweben unter die Nierenkapsel:
Zur Erforschung humaner Infektionskrankheiten, die bei Nagetiere nicht auftreten (Hepatitis B,
Hepatitis C, HIV-Infektion), sowie für onkologische Studien wird humanes Gewebematerial
unter die Nierenkapsel immundefizienter Mäuse implantiert. Hierzu muss die Bauchhöhle
eröffnet, Die Nierenkapsel angeritzt und das Gewebe unter die Kapsel geschoben werden. In
diesem spezifischen Milieu bleibt das transplantierte Gewebe am leben und ermöglicht die
Bearbeitung entsprechender wissenschaftlicher Fragestellungen.
Partielle Hepatektomie
Hierzu wird bei Labornagern ein Teil der Leber entfernt. Die ein starkes Regenerationsvermögen
aufweisende Leber bildet sich nahezu vollständig nach. Ziel des Experimentes ist es, eine starke
Proliferation (Zellteilung) der ansonsten teilungsmüden Leberzellen zu erreichen.
9.7 Literatur:
1. Arras M, Becker K, Grosse-Siestrup Ch, Küpper W, Kuhnt B, Operative Eingriffe bei
Versuchstieren, Empfelung des Ausschusses für Anästhesie der Gesellschaft für
Versuchstierkunde (GV-SOLAS) (verfügbar unter http://www.gv-solas.de/)
157
Töten von Versuchstieren
ARBEITSGEMEINSCHAFT DER TIERSCHUTZBEAUFTRAGTEN IN BADEN-WÜRTTEMBERG – ATBW
10. Töten von Versuchstieren
Empfehlung der ARBEITSGEMEINSCHAFT DER TIERSCHUTZBEAUFTRAGTEN IN
BADEN-WÜRTTEMBERG – ATBW
(Die Empfehlungen der ATBW sind zu erhalten über Dr. Jürgen Weiss, Zentrales Tierlabor, Im
Neuenheimer Feld 347, 69120 Heidelberg)
Die Tötung von Versuchstieren erfordert im Sinne des Tierschutzes größtmögliche Sorgfalt und
höchstes Verantwortungsbewusstsein seitens der Durchführenden. Wichtigste Voraussetzung ist,
dass diese über die notwendigen Kenntnisse und Fähigkeiten verfügen (§ 4 TschG), die man nur
durch persönliche Praxis an der Seite von erfahrenen Fachleuten erwerben kann. Den
Durchführenden muss der Grund für die Tötung des Tieres bekannt sein. Nicht zuletzt, um bei der
Entscheidung für eine bestimmte Tötungsart berücksichtigen zu können, dass diese auch bei
fachgerechter Ausführung spezifische Veränderungen, z.B. von Hormonkonzentrationen und
makroskopischer wie auch histologischer Organbefunde zur Folge haben und damit
Versuchsergebnisse beeinflussen kann.
Die Tötung selbst muss so erfolgen, dass das Tier dabei möglichst keine Angst und Schmerzen
empfindet. Dies setzt voraus, dass das Tötungsverfahren einen schnellen Eintritt der
Bewusstlosigkeit und des Todes gewährleistet. Töten soll einzeln oder in kleinen Gruppen und
möglichst nicht im Tierraum erfolgen, da andere Tiere durch Lautäußerungen, Blutgerüche oder
durch spezifisch wirkende Duftstoffe stark beunruhigt werden können.
Vor der weiteren Verwendung eines Tieres, z.B. für eine Organpräparation, muss in jedem Fall der
sichere Eintritt des Todes abgewartet werden. Als Beurteilungskriterien gelten dabei:
*es sind keine Atembewegungen mehr zu erkennen
*der Herzschlag ist nicht mehr fühlbar
*die Muskelspannung ist verschwunden
Insbesondere bei der Tötung größerer Zahlen kleiner Labornager können die genannten Kriterien
mitunter nur unter Schwierigkeiten überprüft werden. Hier sollte, sofern keine andere
Kontrollmöglichkeit zur Verfügung steht, der Eintritt der Totenstarre abgewartet werden.
In der Folge sind für die wichtigsten Versuchstierarten (beschränkt auf Wirbeltiere), diejenigen
Methoden aufgeführt, die nach heutigem Kenntnisstand - sachkundige Ausführung vorausgesetzt 158
Töten von Versuchstieren
ARBEITSGEMEINSCHAFT DER TIERSCHUTZBEAUFTRAGTEN IN BADEN-WÜRTTEMBERG – ATBW
eine tierschutzgerechte Tötung ermöglichen. Die Reihenfolge ihrer Nennung entspricht lediglich
ihrer systematischen Zugehörigkeit, d.h. zu 1. mechanischen, 2. chemischen oder 3. physikalischen
Verfahren und stellt keine Gewichtung dar.
10.1. Maus1
- Luxation der Halswirbelsäule durch schnelles, kräftiges Strecken des Tieres
- Dekapitation mit Guillotine (siehe auch bei Ratte)
- Inhalation von CO2
- i.p. Injektion von Barbituraten2.
- Tötung durch zentrierte Gehirnbestrahlung mit Mikrowellen einer Frequenz von 2450 MHz
erfordert eine Mindestleistung des Spezialgerätes von 1.25 kW
10.2. Ratte1
- Ruckartige Dislokation der Halswirbelsäule; erfordert spezielle Erfahrung und ist nur bei Tieren
bis 250 g KGW zu empfehlen (vorherige Sedierung der Tiere empfehlenswert)
- Dekapitation mittels Guillotine. Zur leichteren Durchführung können die Tiere in eine leichte
Narkose (z.B. mit CO2) versetzt werden; nicht narkotisierte Tiere sollten nur von besonders
geübten Personen dekapitiert werden.
- Bei Tieren > 250 g: Bolzenschuß (federgetrieben, ohne Patrone), auf korrekte Positionierung ist
zu achten. Unmittelbar anschließend Tötung durch Thoraxeröffnung und Entbluten
- Inhalation von CO2
- i.p. Injektion von Barbituraten2
- Tötung durch zentrierte Gehirnbestrahlung mit Mikrowellen einer Frequenz von 2450 MHz
erfordert bei Tieren bis zu 700 g KGW eine Mindestleistung des Spezialgerätes von 6 kW
(vorherige Sedierung der Tiere erforderlich)
10.3. Hamster1
- Luxation der Halswirbelsäule durch schnelles und kräftiges Strecken des Tieres (nur bei
Zwerghamstern anwendbar, größere Hamster werden dekapitiert)
1
Feten und Neugeborene kleiner Labornager und Kaninchen werden zur Tötung in flüssigen Stickstoff gebracht oder
(z.B. mit einer geeigneten Schere) dekapitiert. Inhalationsverfahren - auch mit CO2 - sind in dieser Altersstufe
unzuverlässig und damit ungeeignet
2
der Bezug von Barbituraten ist genehmigungs- und meldepflichtigpflichtig (gem. § 18 BtMG), der Bezug erfolgt über
eine tierärztliche Hausapotheke
1
Feten und Neugeborene kleiner Labornager und Kaninchen werden zur Tötung in flüssigen Stickstoff gebracht oder
(z.B. mit einer geeigneten Schere) dekapitiert. Inhalationsverfahren - auch mit CO2 - sind in dieser Altersstufe
unzuverlässig und damit ungeeignet
159
Töten von Versuchstieren
ARBEITSGEMEINSCHAFT DER TIERSCHUTZBEAUFTRAGTEN IN BADEN-WÜRTTEMBERG – ATBW
- Dekapitation mit der Guillotine
- Inhalation von CO2
- i.p. Injektion von Barbituraten 2
- Tötung durch zentrierte Gehirnbestrahlung mit Mikrowellen einer Frequenz von 2450 MHz,
erfordert eine Mindestleistung des Spezialgerätes von 1.25 kW
10.4. Meerschweinchen1
- Dekapitation mit der Guillotine
- Inhalation von CO2
- i.p. Injektion von Barbituraten
- Tötung durch zentrierte Gehirnbestrahlung mit Mikrowellen einer Frequenz von 2450 MHz
erfordert eine Mindestleistung des Spezialgerätes von 6 kW (vorherige Sedierung der Tiere
erforderlich)
10.5. Kaninchen1
- Tötung durch geeigneten Bolzenschussapparat und unmittelbar anschließendes Entbluten
- Genickschlag: Kurzer, kräftiger Schlag mit einem Stock hinter die Ohren auf der Genickseite des
Halses. Nach der Betäubung sind die Tiere durch Eröffnung der großen Halsgefäße sofort zu
entbluten. Das Verfahren ist nur geübten Personen zu gestatten bzw. muß zunächst an toten Tieren
ausreichend geübt werden
-Wenn möglich i.v., ausnahmsweise auch i.p. Injektion von Barbituraten.
- i.v. Injektion von T 613 (vorherige Sedierung empfehlenswert)
- Tötung durch zentrierte Gehirnbestrahlung mit Mikrowellen einer Frequenz von 2450 MHz
erfordert bei Kaninchen bis zu 5 kg KGW eine Mindestleistung des Spezialgerätes von 10 kW
(vorherige Sedierung der Tiere erforderlich)
10.6. Katze4
- Tötung durch geeigneten Bolzenschußapparat und unmittelbar anschließendes Entbluten (ggf.
vorherige Sedierung empfehlenswert)
- Wenn möglich i.v., ausnahmsweise auch i.p. Injektion von Barbituraten. Bei sehr jungen oder im
Koma liegenden Tieren kann eine intrathorakale bzw. intrakardiale Injektion vorgenommen
werden.
2
der Bezug von Barbituraten ist genehmigungs- und meldepflichtigpflichtig (gem. § 18 BtMG), der Bezug erfolgt über
eine tierärztliche Hausapotheke
3
T61® ist nur über eine tierärztliche Hausapotheke zu beziehen
160
Töten von Versuchstieren
ARBEITSGEMEINSCHAFT DER TIERSCHUTZBEAUFTRAGTEN IN BADEN-WÜRTTEMBERG – ATBW
- i.v. Injektion von T 61 (ggf. vorherige Sedierung empfehlenswert)
10.7. Hund4
- Tötung durch geeigneten Bolzenschußapparat und unmittelbar anschließendes Entbluten (nur in
Ausnahmefällen und bei ruhigen Tieren)
- i.v., ausnahmsweise auch i.p. Injektion von Barbituraten; vor einer i.p. Injektion sollten die Tiere
sediert werden.
- i.v. Injektion von T 61 (vorherige Sedierung empfehlenswert)
10.8. Frettchen, Nerz4
- Tötung durch geeigneten Bolzenschußapparat und unmittelbar anschließendes Entbluten (ggf.
vorherige Sedierung empfehlenswert)
- Wenn möglich i.v., ausnahmsweise auch i.p. Injektion von Barbituraten
- i.v. Injektion von T 61 (ggf. vorherige Sedierung empfehlenswert)
4Narkotisierte Feten werden dekapitiert, nicht narkotisierte Feten werden in Flüssigstickstoff
getötet
10.9. Schwein, Schaf, Ziege5
- Tötung durch geeigneten Bolzenschußapparat und unmittelbar anschließendes Entbluten
- i.v. Injektion von Barbituraten
10.10. Tupaias u. höhere Primaten5
- i.v. Injektion von Barbituraten (vorherige Sedierung empfehlenswert)
- i.v. Injektion von T 61 (vorherige Sedierung empfehlenswert)
10.11. Vögel/Geflügel6
- Genickbruch (kleine Vögel bis Taubengröße)
- Dekapitation mit einem scharfen Beil oder Hackmesser
- Inhalation von CO27
- Wenn möglich i.v., ggf. auch intraabdominale Applikation von Barbituraten
4
Narkotisierte Feten werden dekapitiert, nicht narkotisierte Feten werden in Flüssigstickstoff getötet
Feten werden nach den für erwachsene Tiere geeigneten Methoden getötet
5
Feten werden nach den für erwachsene Tiere geeigneten Methoden getötet
6
Noch im Ei befindliche Embryonen werden durch 4stündige Lagerung bei 4°C getötet; direkte Tötung von Embryonen
kann durch Dekapitation oder intraabdominale Injektion von Barbituraten erfolgen
7
Für Enten und andere Tauchvögel sind Inhalationsverfahren ungeeignet!
5
161
Töten von Versuchstieren
ARBEITSGEMEINSCHAFT DER TIERSCHUTZBEAUFTRAGTEN IN BADEN-WÜRTTEMBERG – ATBW
- Tötung durch zentrierte Gehirnbestrahlung mit Mikrowellen einer Frequenz von 2450 MHz,
erfordert je nach Tierart und Größe eine bestimmte Mindestleistung des Spezialgerätes
10.12. Frösche und Molche
Sofern das Experiment es zuläßt, ist vor der Tötung z.B. durch Injektion oder durch zentrierte
Gehirnbestrahlung eine Tauchbadnarkose mit Aethyl-m-Aminobenzoat (MS-222, Sandoz ®)
empfehlenswert. Bei entsprechender Dosierung und ausreichender Verweildauer kann auch das
Tauchbad allein zur Tötung verwendet werden. Vertreter landlebender Arten dürfen nur in einer
flachen Schale mit niedrigem Flüssigkeitsstand behandelt werden, da sonst Erstickungsgefahr
besteht. Kaulquappen werden in einer Schale mit MS-222 zunächst narkotisiert und anschließend in
einer Schale mit Chloroformwasser abgetötet
- i.p. Injektion von Barbituraten
- i.p. Injektion von T 61
- Tötung durch zentrierte Gehirnbestrahlung mit Mikrowellen einer Frequenz von 2450 MHz,
erfordert je nach Tierart und Größe eine bestimmte Mindestleistung des Spezialgerätes
10.13. Schildkröten8
- i.p. Injektion von Pentobarbital (Einstich im Kniefaltenbereich). Vorherige Abkühlung auf 4° C
reduziert die Belastung der Tiere und erleichtert die Injektion
10.14. Schlangen8
- Intraabdominale Applikation von Pentobarbital (Einstich paramedian am Übergang vom mittleren
zum letzten Körperdrittel). Vorherige Abkühlung auf 4° C reduziert die Belastung der Tiere und
erleichtert die Injektion
10.15. Fische9
-Fische mit einem Körpergewicht bis zu ca. 200g: Rasche Dekapitation mit einem scharfen Messer.
- Schwerere Tiere: Schlag auf die Schädeldecke. Der Schlag soll kurz und kräftig mit einem
geeigneten Gegenstand durchgeführt werden. Unmittelbar anschließend müssen die Tiere enblutet
oder dekapitiert werden.
- Einleiten von CO2-Gas in das Wasser. Besonders geeignet auch für Tiere , die zum Verzehr
bestimmt sind: keine Rückstandsprobleme und keine Verminderung der Schlachtkörperqualität!
8
Frisch geschlüpfte Junge können wie erwachsene Tiere getötet werden
Embryonen können grundsätzlich wie erwachsene Tiere getötet werden. Bei viviparen Fischen erfolgt die Tötung des
Muttertieres vorzugsweise mit MS 222, unmittelbar anschließend ist das Muttertier zu eröffnen und in die Lösung
zurückzulegen, damit die noch nicht geschlüpften Jungtiere ebenfalls erreicht werden können.
9
162
Töten von Versuchstieren
ARBEITSGEMEINSCHAFT DER TIERSCHUTZBEAUFTRAGTEN IN BADEN-WÜRTTEMBERG – ATBW
-Tauchbadverfahren mittels Aethyl-m-Aminobenzoat10 (MS 222 Sandoz ®). Auflösen des
Präparates in einer Lösung von 150 mg pro Liter Wasser. Durch den geringen pH-Wert werden die
Schleimhäute gereizt. Das kann man verhindern, indem man zusätzlich 300 mg Natriumcarbonat
pro Liter auflöst (die Lösung ist nicht haltbar). Die Tiere müssen so lange in der Lösung bleiben,
bis der Atemstillstand eingetreten ist, was daran zu erkennen ist, dass sich die Kiemendeckel nicht
mehr bewegen. Anschließend dürfen die Tiere auf keinen Fall in sauberes Wasser gelegt werden, da
dann die Möglichkeit besteht, dass sie wieder zu Bewusstsein kommen.
10.16. Abzulehnende Tötungsmethoden:
Die nachstehend beschriebenen Methoden erfüllen die Anforderungen einer fachgerechten Tötung
nicht und sind daher abzulehnen:
- Orale oder rektale Verabreichung von Narkosemitteln, da sich die Dosierung schwierig gestaltet,
die Wirkung zu langsam eintritt und es zusätzlich zu erheblichen Schleimhautreizungen kommen
kann.
- Elektrische Tötung, da bei unsachgemäßer Anwendung die Gefahr von Krämpfen und Schmerzen
besteht. Ausnahme: die fachgerechte elektrische Tötung von Fischen.
- Intravenöse oder intrakardiale Luftapplikation, da das Eintreten des Todes nicht immer mit der
erforderlichen Sicherheit eintritt.
- Injektion von Magnesiumsulfat, da die nötige letale Dosis nicht in genügend kurzer Zeit
verabreicht werden kann.
- Sämtliche Tötungsmethoden, die auf dem Prinzip der Erstickung beruhen, wie z.B. Ertränken,
Inhalation von Stickstoff oder Helium, Verabreichung von Curare oder curariformen Stoffen, von
Strychnin oder Blausäure, intrapulmonale Applikation von T 61 sowie Gasinhalation bei Vögeln.
Diese Methoden können zu extremen Angstzuständen und auch Krämpfen führen, da der Tod durch
Ersticken und damit erst nach einiger Zeit eintritt. Da die meisten dieser Methoden keine
betäubende Wirkung auf das Gehirn ausüben, geschieht die allmähliche Erstickung bei vollem
Bewusstsein!
10
Bei Verwendung von Aethyl-para-Aminobenzoat muß die Lösung wegen schlechter Löslichkeit wenigstens 15 Minuten
vor Gebrauch angesetzt und gründlichst gerührt werden, da sonst u.U. mit erheblicher Verzögerung des
Wirkungseintrittes gerechnet werden muß
163
Töten von Versuchstieren
Physikal.
Verfahren
Dekapitation1
Strecken2
Genickbruch3
Genickschlag4
Bolzenschuß5
Mikrowellen6
Inhalationsverfahren
Kohlendioxid7
Injektionsverfahren
Barbiturate8
T 61 - Hoechst9
ARBEITSGEMEINSCHAFT DER TIERSCHUTZBEAUFTRAGTEN IN BADEN-WÜRTTEMBERG – ATBW
Maus
Ratte
Hamster
Meerschwein
möglich
möglich
möglich
möglich
möglich
möglich
Kaninchen
Katze
Hund
Schwein
Schaf
Ziege
Tupaia
möglich
möglich
möglich
möglich
möglich
möglich
möglich
möglich
möglich
i.v.
i.v.
i.v.
i.v.
i.v.
i.v.
i.v.
i.v.
höhere
Primaten
möglich
möglich
möglich
möglich
möglich
möglich
möglich
möglich
möglich
möglich
i.p.
i.p.
i.p.
i.p.
möglich
möglich
möglich
i.v.
möglich
i.v.
i.v.
i.v.
i.v.
i.v.
i.v.
1 in der Regel mit der Guillotine
2 Luxation der Halswirbelsäule durch schnelles, kräftiges Strecken des Tieres
3 Genickbruch durch Abknicken des Kopfes nach hinten mit plötzlichem Ruck; bei Ratten nur bis 250 g KGW empfehlenswert
4 Kaninchen: kurzer, kräftiger Schlag mit einem Stock hinter die Ohren auf der Genickseite des Halses, sofort anschl. durch Kehlschnitt entbluten
5 Hund: nur in Ausnahmefällen u. nur bei ruhigen Tieren
6 Spezielle Geräte mit 2450 MHz u. je Tierart best. Mindestleistung (Kaninchen: 10 kW; Ratte: 6 kW; Maus: 1.25 kW)
7 Tötungskammern dürfen nicht überbelegt werden!
8 Unbedingt auf Herstellervorschriften achten (Injektionsgeschwindigkeit!)
9 Vorherige Sedation der Tiere ist grundsätzlich empfehlenswert, bei Hunden u. Katzen Voraussetzung
Fortsetzung umseitig
164
Töten von Versuchstieren
ARBEITSGEMEINSCHAFT DER TIERSCHUTZBEAUFTRAGTEN IN BADEN-WÜRTTEMBERG – ATBW
Frettchen
Nerz
Vögel
Geflügel
möglich
möglich
möglich
möglich
Frösche
Molche
Schildkröten
Schlangen1
Fische
Physikal.
Verfahren
Dekapitation2
Strecken
Genickbruch3
Genickschlag4
Bolzenschuß
Mikrowellen
Inhalationsverfahren
Kohlendioxid5
Injektionsverfahren
Barbiturate6
T 61 - Hoechst
TauchbadVerfahren7
möglich
möglich
möglich
möglich
i.v./i.p.
i.v./i.p.
i.v.
i.v.
möglich
möglich
möglich
möglich
möglich
möglich
möglich
i.v/intraabd i.v/intraabd
om.
om.
intraabdominal
möglich
möglich
i.p.
intraabdominal
möglich
1 Bestimmte tropische Schlangenarten lassen sich durch einfaches Abkühlen, z.B. für mehrere Stunden im Kühlschrank plus anschließender
Überführung in einen Tiefkühlbereich töten
2 Geflügel u. Vögel mit Beil od. Hackmesser.
3 kleine Vögel bis Taubengröße
4 kurzer, kräftiger Schlag mit geeignetem Gegenstand auf die Schädeldecke
5 bei Fischen durch Einleiten von CO -Gas in das Wasser
2
6 Bei Schildkröten Einstich im Kniefaltenbereich, bei Schlangen paramedian am Übergang vom mittleren zum letzten Körperdrittel
7 mit MS 222-Lösung: Tiere müssen in der Lg bleiben, bis Atemstillstand eingetreten ist, bei Fischen an den Kiemendeckeln erkennbar,
Vertreter landlebender Molcharten dürfen nur in flacher Schale mit niedrigem Flüssigkeitsstand narkotisiert werden, da sonst
Erstickungsgefahr droht! Tragende vivipare Fische müssen nach Tötung eröffnet werden und mit den noch nicht geschlüpften Jungen
erneut in MS 222-Lg gesetzt werden (Dauer: mindestens so lange wie das Muttertier bis zum Atemstillstand benötigte)
165
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