Exposé

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Exposé zum Dissertationsvorhaben von Johannes Brambora
„Soziale Deutungsmuster des ökonomischen Umbruchs in der Literatur“
Deutschsprachige Soziale Romane vom Vormärz bis zum Naturalismus
1. Abstract
Das Verhältnis von Literatur und Ökonomie steht besonders seit den Veröffentlichungen von Joseph Vogl1 und Jochen
Hörisch2 im Zentrum literaturwissenschaftlichen Interesses. Bisher wenig Beachtung findet dabei die Ära, in der sich die
moderne kapitalistische Ökonomie recht eigentlich erst etabliert.
Die Industrielle Revolution bedeutet den Umbruch aller materiellen Lebensverhältnisse sowie der bis dato gültigen
Formen des Sozialen. Nicht zuletzt die fiktionale Literatur ist durch diesen radikalen Bruch herausgefordert: Sie sieht
sich konfrontiert mit einem plötzlichen Bedarf an neuem Wissen über die Gesellschaft, das kaum an tradierte Narrative
anknüpfen kann. Während sich dessen ungeachtet heute kanonisierte Romane dieser Zeit, insbesondere die des
bürgerlichen Realismus, der ästhetischen Herstellung von Kontinuitäten widmen, gibt es eine Fülle gegenwärtig
weitgehend in Vergessenheit geratener Erzähltexte, die die Industrielle Revolution und die damit einhergehenden
Diskontinuitäten unmittelbar reflektieren.
Diese Werke sind auch, aber nicht allein, damit befasst, die Brüche zu spiegeln; zugleich arbeiten sie an einer neuen
narrativen Sinn- und Ordnungsstiftung: Die alten literarisch veranschaulichten Kooperationszusammenhänge werden
abgelöst durch einen ästhetischen Blick, der die sich nun etablierenden Akteure der Ökonomie als eine funktionale
Ordnung inszeniert. Diese Literatur zeigt erstmals, dass der neue gesellschaftliche Zusammenhang nicht nur in
politischen, sondern auch in sozio-ökonomischen Kategorien beschreibbar ist. Im Unterschied zum Naturalismus bezieht
sich diese Literatur dabei nicht auf ihr vorausgesetzte Theorien, sondern ist selber an deren Konzeptualisierung aktiv
beteiligt.
2. Stand der Forschung zum sozialen Roman aus der Zeit der Industriellen Revolution
Lange Zeit hat die Literaturwissenschaft die sozialen Romane der Industriellen Revolution gar nicht
zum Gegenstand ihrer Forschung gemacht, selbst explizit dem deutschen sozialen Roman gewidmete
Studien nehmen wichtige Werke dieser Epoche nicht wahr.3 Sie werden und wurden überdies häufig
mit dem Vorwurf konfrontiert, von geringem literarischem Wert zu sein. Tatsächlich vollzieht ein
solches ästhetisches Werturteil jedoch nur die Kanonbildung nach, die selbst nach ganz anderen
Gesetzen verläuft: Welche Werke sich durchsetzen, das ist zunächst durchaus umstritten. Die
Stimmen, die damals an der Neubestimmung des Wissens beteiligt waren, bleiben unbeleuchtet,
sofern man sich auf der Ebene des heute durchgesetzten ästhetischen Werturteils bewegt und sich
affirmativ auf dieses bezieht.
1
Joseph Vogl: Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen. München 2002.
Jochen Hörisch: Kopf oder Zahl. Die Poesie des Geldes. Frankfurt/Main 1996.
3
Jean Dresch: Le roman social en Allemagne de 1850 à 1900. Paris 1912. Pierre-Paul Sagave: Recherches sur le roman
social en Allemagne. Aix-en-Provence 1960. Paul Bourfeind: Die gesellschaftlichen Umschichtungen im sozialen
Roman zwischen 1830 und 1850 unter besonderer Berücksichtigung von Goethes Wanderjahren, Immermanns
Epigonen und Gutzkows Rittern vom Geiste. Köln 1921.
2
1
Bis zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts gibt es lediglich eine Arbeit, die auch Werke einbezieht,
die sich im Kanon nicht finden lassen, allerdings folgt Das deutsche Volk bei der Arbeit von Franz
Winter dem nationalsozialistischen Weltbild seines Autors.4 Winter mustert die Romane auf
potentielle Übereinstimmungen mit dem faschistischen Mythos Arbeit und verurteilt sie als „bloß
negative Kritik“, in der „die Zensur mit Recht eine gefährliche Aufhetzung“ gesehen hätte.5 Seit dem
Ende der 1970er Jahre ist die Fülle der sozialen Romane aus der Zeit der Industriellen Revolution
zwar bibliographisch erfasst – Erich Edler stellt in Die Anfänge des sozialen Romans und der sozialen
Novelle in Deutschland6 eine beeindruckende Anzahl an Texten zusammen. Von der Wissenschaft
wurden sie jedoch dessen ungeachtet weiterhin kaum zum Gegenstand von Untersuchungen gemacht,
ein Sachverhalt, auf den die wenigen erscheinenden Studien auch immer wieder hinweisen.7
Überdies: Welche Annäherung diesen Texten adäquat ist, darüber herrscht bislang keine Einigkeit.
Drei sehr verschiedene Zugänge zum sozialen Roman lassen sich zunächst differenzieren: 8
2.1 Der sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Zugang
Vertreter der sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Methode der 1970er Jahre betrachten die Romane
primär unter dem Gesichtspunkt ihrer Eignung als historische Quelle. So prüft Karl Mehle seinen
recht schmalen9 Untersuchungskorpus auf die adäquate Repräsentation der ‚sozialen Frage’.10 In
ähnlicher Weise widmen sich die Arbeiten von Gertrud Milkereit und Ilselore Rarisch dem Bild des
Unternehmers in sozialen Romanen des Vormärz11, während Otfried Scholz das Arbeiterselbstbild
4
Franz Winter: Das deutsche Volk bei der Arbeit. Zur Geschichte des sozialen Romans um die Mitte des 19.
Jahrhunderts. Wien 1934.
5
Ebd. S. 94.
6
Erich Edler: Die Anfänge des sozialen Romans und der sozialen Novelle in Deutschland. Frankfurt am Main 1977. Mehr als eine Grundlage zukünftiger Forschung stellt diese Arbeit nicht zur Verfügung. Auch nach nach eigener
Auffassung will sie „nicht mehr sein als Fleißarbeit, Forschungsbericht und Panorama vielfältiger
Autorenmeinungen“. Ebd. S. 12.
7
Martin Halter: Arbeit und Arbeiter im deutschen Sozialroman zwischen 1840 und 1880. Frankfurt am Main, Bern
1983. Hans Adler: Einleitung. In: Ders. (Hg.): Der deutsche soziale Roman des 18. und 19. Jahrhunderts. Darmstadt
1990, S. 1-14. Schütz, Erhard: „Niemand kann sich freuen wie ein guter Arbeiter.“ Von der Arbeiterliteratur zur
Literatur der Arbeitswelt und zur Arbeitswelt der Literatur. Vortrag auf der Tagung: Arbeitswelt und Literatur, in
Bad Münstereifel. Zugriff am 6.6.2012, http://www.kurt-schumacher-akademie.de/_data/Schuetz.pdf.
8
Vor dem zweiten Weltkrieg sind eine Reihe von Arbeiten zu Motiven wie Maschine, Technik, Industrie bzw. zur Figur
des Webers erschienen, in denen auch soziale Romane behandelt werden. Diese Untersuchungen verfolgen jedoch in
der Hauptsache ein rein stoffgeschichtliches Interesse, ohne sich um den Begriff der Sache zu bemühen, weshalb sie
hier außer acht gelassen werden können. – Felix Zimmermann: Die Widerspiegelung des Technik in der deutschen
Dichtung von Goethe bis zur Gegenwart. Dresden 1913. Hans Werner Kistenmacher: Maschine und Dichtung. Ein
Beitrag zur Geschichte der deutschen Literatur im 19. Jahrhundert. München 1914. Volkmar Frobenius: Die
Behandlung von Technik und Industrie in der deutschen Dichtung von Goethe bis zur Gegenwart. Heidelberg 1935.
Henriette Hoffmann: Eine Untersuchung über Kapital, Industrie und Maschine von Goethe bis Immermann. Wien
1942. Solomon Liptzin: The Weavers in German Literature. Göttingen, Baltimore 1926.
9
Seine Untersuchung beginnt erst in den 1850er Jahren und betrachtet, abgesehen von naturalistischen Werken, nur
Romane von Karl Gutzkow, Gustav Freytag und Friedrich Spielhagen näher.
10
Karl Mehle: Die soziale Frage im deutschen Roman der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Halle 1924.
11
Gertrud Milkereit: Das Unternehmerbild im zeitkritischen Roman des Vormärz. Köln 1970. Ilselore Rarisch: Das
Unternehmerbild in der deutschen Erzählliteratur der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Rezeption
2
und Arbeiterfremdbild zur Zeit der Industriellen Revolution12 zum Gegenstand seiner Untersuchung
macht und dabei auch Arbeiterautobiographien sowie statistische Materialien mit einbezieht.
So aufschlussreich die Erkenntnisse, die dieser Zugang im Einzelnen liefert, auch sind, mittels dieser
Methode wird die Analyse den literarischen Werken schon deshalb nicht gerecht, weil deren
ästhetischer Überschuss in Form von neuen Deutungsmustern und innovativen Reflexionsangeboten
dem Diktum der empirischen Verwertbarkeit untergeordnet, stellenweise ganz herausgekürzt wird.
2.3 Der Zugang der Literaturwissenschaft der DDR
Die Literaturwissenschaft der DDR hat sich von Beginn an mit dem sozialen Roman beschäftigt.
Forscher wie Jürgen Kuczynski13, Edith Zenker14, Hermann Schneider15 und Hadwig KirchnerKlemperer16 werfen dabei aber einen besonderen Blick auf diese Werke. Die Texte werden dem
theoretischen Imperativ der Darstellung des Klassenkampfs zwischen Arbeitern und Kapitalisten
unterworfen, was ihnen, so das anschließende Urteil, in Abhängigkeit von der ‚ideologischen Reife’17
ihrer Autoren zumeist nur sehr unvollkommen gelinge. Diese Arbeiten bilden eine Vorlage, die auch
Forscher der BRD inspiriert.18
Tatsächlich findet sich wenig Klassenkampf in den Werken. Es ist ein Irrtum, von einer prinzipiellen
Parteilichkeit dieser Schriftsteller auszugehen. Dagegen spricht schon der Adressatenkreis, der in
einem bürgerlichen Publikum besteht. Vielmehr beziehen sich die Texte auf einen gesellschaftlichen
Zusammenhang, der nicht allein in politischen Kategorien zu fassen ist; sie arbeiten auf ihre Weise
an
der
Beschreibung
neuer
ökonomischer
Charaktere
und
sozialer
Rollen,
deren
gesamtgesellschaftliches Verständnis noch gar nicht ausgehandelt ist. Der Literatur als einem
Reflexionsmedium der Gesellschaft wird das Konzept von ihr als Widerspiegelungsmedium sozialer
Verhältnisse also auch in diesem Zugang nicht gerecht.
der frühen Industrialisierung in der belletristischen Literatur. Berlin 1977.
Otfried Scholz: Arbeiterselbstbild und Arbeiterfremdbild zur Zeit der Industriellen Revolution. Ein Beitrag zur
Sozialgeschichte des Arbeiters in der deutschen Erzähl- und Memoirenliteratur um die Mitte des 19. Jahrhunderts.
Berlin 1980.
13
Jürgen Kuczynski: Vom möglichen Nutzen unschöner Literatur. In: Neue Deutsche Literatur 3 (1955) H 8, S. 126139.
14
Edith Zenker: Der Arbeiter in der deutschen Literatur. In: Neue Deutsche Literatur 5 (1957), S. 142-167.
15
Hermann Schneider: Die Widerspiegelung des Weberaufstandes von 1844 in der zeitgenössischen Prosaliteratur. In:
Weimarer Beiträge 7 (1961) H. 2, S. 255-278.
16
Hadwig Kirchner-Klemperer: Der deutsche soziale Roman der vierziger Jahre des vorigen Jahrhunderts. In:
Wissenschaftliche Zeitschrift der Humboldt Universität zu Berlin. Gesellschafts- und Sprachwissenschaftliche Reihe
11 (1962), S. 241-280.
17
Schneider, Widerspiegelung (s. Anm. 15), S. 277.
18
Karin Gafert: Die soziale Frage in Literatur und Kunst des 19. Jahrhunderts. Ästhetische Politisierung des
Weberstoffes. 2 Bde. Kronberg 1973.
12
3
2.3 Der ästhetische Zugang
Fruchtbare Ansätze für einen neuen Blick auf die sozialen Romane bieten die Arbeiten von Hans
Adler und Martin Halter. Nachdem Hans Adler 1980 in seiner ersten Arbeit zum sozialen Roman
noch die Formen, in denen die ‚soziale Frage‘ in ihnen thematisiert wurde, herausgearbeitet und
anhand der Diskrepanz zwischen überkommenen ästhetischen Mitteln bzw. diskursiven Schemata
und neuer Thematik dem sozialen Roman ein Versagen attestiert19 hatte, distanziert er sich in späteren
Arbeiten von dieser Kritik. Es sei, so Adler 1990, davon auszugehen, dass „die Sache selbst im
Verständnis der Zeitgenossen durchaus andere Dimensionen hatte, als es nach vollzogener
Industriealisierung erscheinen mag.“20 Es müsse der literaturwissenschaftlichen Forschung darum
vielmehr darauf ankommen, die „Neubesetzung [des Romans mit Elementen der Schauerromantik
und den Mustern der Kriminalerzählung] mit Elementen der sozialen Frage zu untersuchen.“21
Diese Vorstellung bildet auch den Ausgangspunkt der Dissertation von Martin Halter, der Wert darauf
legt, dass „die Romanform, die Mittel der poetischen Fiktion überhaupt, mehr als bloß formale
Hülsen, nämlich prä- und deformierende Momente eines sozialkritischen Diskurses“22 darstellen. In
seiner Dissertation versucht er zu zeigen, inwiefern der soziale Roman zwar gegen die überkommene
Ästhetik mit ihrem Gebot des Ausschlusses des Hässlichen verstieß, zugleich aber andere
„Selektionsraster[..]“ entwickelte, „die den Arbeiter selbst erneut und vielleicht folgenschwerer
distanzierten und denunzierten. […] [D]ie allgemeine Ausbeutung des Proletariats reproduzierte sich
ausgerechnet in jenen Romanen, die so engagiert und gesinnungstüchtig dagegen protestierten“23.
Während Hans Adler ein Forschungsprogramm skizziert, ist Halters Arbeit – vom Autor
eingestandenermaßen – Fragment geblieben: Sie behandelt das Bild des Arbeiters ausführlich, die
literarische Darstellung anderer ökonomischer Rollen sowie deren Zusammenwirken im
gesellschaftlichen Reproduktionsprozess wird hingegen in neun Thesen im Anhang nur skizziert und
an den einzelnen Texten nicht mehr diskutiert.
3. Eigene Fragestellung
Die zuletzt dargestellten, angefangenen, aber nicht mehr fortgesetzten Ansätze greife ich unter der
Fragestellung auf, mit Hilfe welcher Narrative die sozialen Romane die neuen sozio-ökonomischen
19
20
Hans Adler: Soziale Romane im Vormärz. Literatursemiotische Studie. München 1980.
Hans Adler: Literatur und Sozialkritik. Versuch einer historischen Spezifikation des sozialen Romans. In: Ders. (Hg.):
Der deutsche soziale Roman des 18. und 19. Jahrhunderts. Darmstadt 1990, S. 280-309, S. 305.
21
Ebd. - Norbert Bachleitner folgt ihm darin. Der Schwerpunkt von dessen Arbeit von 1993 liegt allerdings auf der
deutschen Rezeptionsgeschichte des französischen roman social bzw. der englischen industrial novel. Deutsche
Werke kommen in erster Linie unter diesem Gesichtspunkt in Betracht. Norbert Bachleitner: Der englische und
französische Sozialroman des 19. Jahrhunderts und seine Rezeption in Deutschland. Amsterdam, Atlanta, GA 1993.
22
Halter, Sozialroman (s. Anm. 7), S. 23.
23
Ebd., S. 27.
4
Vergesellschaftungsformen verstehbar machen. Welche Varianten sinnhafter Ordnungsvorstellungen
des Sozialen konstituieren sich im Erzählen? Ein Anliegen ist es dabei auch, die klassifizierende
Bezeichnung des sozialen Romans deutlicher und umfassender zu erarbeiten, als dies bisher
geschehen ist. Während etwa Erich Edler allein solche Romane, die explizit soziale Kämpfe zwischen
Arbeitern und Kapitalisten verhandeln, der Kategorie des sozialen Romans zuordnete,24 zeigt bereits
der Blick auf Gustav Freytags Soll und Haben, der das gesellschaftliche Spannungsfeld zwischen
Adel und sich etablierendem Bürgertum reflektiert, dem aber das „proletarische Element“25 ganz und
gar fehlt, dass dieses Konzept zu kurz greift. Andererseits wollen Literaturwissenschaftler wie Hans
Adler mit jenem Begriff solche Romane erfassen, die ganz allgemein Bilder des Sozialen liefern,26
wodurch die Kategorie des sozialen Romans eine gewisse Unschärfe erhält und sich die Menge an
Texten, die ihm zuzuordnen sind, ins Uferlose ausdehnt. Im Rahmen meiner Dissertation hingegen
sollen als soziale Romane solche Werke gelten, die den gesellschaftlichen Wandel, vor allem also die
Brüche und Diskontinuitäten, unmittelbar thematisieren.
Damit stehen diese Werke, wenn auch nicht in einem Gegensatz, so doch in einem
Spannungsverhältnis, zu denen des kanonisierten bürgerlichen Realismus, der die radikalen
Veränderungen innerhalb der Gesellschaft, nicht zuletzt die durch die Industrielle Revolution
herbeigeführten Umbrüche in der Arbeitswelt, für nicht literaturfähig erklärt: „Den Roman an die
Welt der Arbeit verweisen heißt ihn in seiner ganzen Natur aufheben; denn es ist gerade das Wesen
des Romans, die Wochentagexistenz des Menschen gleichsam beiseite liegen zu lassen und seinen
Sonntag zu erörtern.“27 In diesem Sinne behauptet auch Friedrich Theodor Vischer, die Literatur
könne – und solle –sich nur auf die „grünen Stellen“,28 d.h. auf die vom gesellschaftlichen Wandel
unberührten Lebensbereiche beziehen, während Theodor Fontane die „Läuterung“29 der Wirklichkeit
zum Wesen der Kunst erklärt und somit ebenfalls auf die Herstellung von Kontinuität dringt. In
welchem inhaltlichen Kontrastverhältnis der soziale Roman zu dem des bürgerlichen Realismus steht,
soll am Ende meiner Analyse genauer betrachtet werden.
Auch von der Literatur des Naturalismus lassen sich die sozialen Romane, die sich der literarischen
24
Edler, Anfänge (s. Anm. 6), S. 19.
Ebd.
26
Adler, Einleitung (s. Anm. 7), S. 3 f.
27
Karl Gutzkow: Der Roman und die Arbeit. In: Eberhart Lämmert. Hartmut Eggert, Karl-Heinz Hartmann, Gerhard
Hinzmann, Dietrich Scheunemann, Fritz Wahrenburg (Hg.): Romantheorie 1620-1880. Dokumentation ihrer
Geschichte in Deutschland, S. 328-331, S. 329.
28
Friedrich Theodor Vischer: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen. Stuttgart 1857, S. 1305. Zit. n.: Eberhart
Lämmert. Hartmut Eggert, Karl-Heinz Hartmann, Gerhard Hinzmann, Dietrich Scheunemann, Fritz Wahrenburg
(Hg.): Romantheorie 1620-1880. Dokumentation ihrer Geschichte in Deutschland. Frankfurt am Main 1988, S. 339.
25
29
Theodor Fontane: Unsere lyrische und epische Poesie seit 1848. In: Ders. Sämtliche Werke. Aufsätze, Kritiken,
Erinnerungen. Erster Band. Hg. v. Walter Keitel und Jürgen Kolbe. München 1969, S. 230-260, S. 240 f.
5
Herausforderung der Inszenierung des gewaltigen Umbruchs stellten, klar abgrenzen. Prominente
Vertreter des naturalistischen Dramas, wie Gerhart Hauptmann und Arno Holz, veranschaulichten in
ihren Werken bereits bestehende und durchgesetzte Deutungsmuster des Sozialen – primär solche,
die der sozial-darwinistischen Theorie verpflichtet waren. Die im Rahmen meiner Dissertation
behandelten sozialen Romane, die nur wenige Jahre zuvor entstanden, können hingegen als Beiträge
zu einem gesellschaftlichen Aushandlungsprozess über die gültige Interpretation desselben gelesen
werden. Wie genau die einzelnen Werke am Aushandlungsprozess teilnehmen und welche
unterschiedlichen Bilder sie über ihren Gegenstand erschaffen wird dabei genau zu analysieren sein.
4. Methodischer Zugang
Immer wieder wird in der neueren Literaturwissenschaft auf die literarischen oder poetischen
Bestandteile verschiedener Wissensformen hingewiesen. Insbesondere in Bezug auf die
Geschichtswissenschaften
ist
diese
Beobachtung
Ausgangspunkt
zahlreicher
innovativer
Forschungsprojekte geworden, die den Konstituenten und Konstitutionsbedingungen von Wissen mit
dem Ziel einer Poetologie des Wissens nachgehen.30 Seit mehreren Jahren stehen nun auch die
ökonomischen Wissenschaften sowie die Ökonomie selbst im Fokus des literaturwissenschaftlichen
Interesses: So wurde Joseph Vogls umfangreicher Essay Das Gespenst des Kapitals zu einem der
wichtigsten Beiträge zur Aufarbeitung der gegenwärtigen Krise.31 Vogl zeichnet darin den
ökonomischen Diskurs als „Oikodizee“, als einen der Theodizee vergleichbaren Diskurs, nach und
unternimmt damit den Versuch, die diskursiven Rechtfertigungsmechanismen der Ökonomie
angesichts verschärfter Krisensituationen und damit gesteigertem Wissensbedarf zu hinterfragen. Die
fiktionale Literatur betrachtet Vogl – wie es beispielsweise auch Jochen Hörisch in seiner Studie Kopf
oder Zahl: Die Poesie des Geldes32 und, expliziter noch, in Das Wissen der Literatur33 artikuliert –
als dem Diskurs ebenbürtig: sie gilt als ästhetisch transformiertes Wissen, das auf Grund seiner
epistemischen Orientierung dem Wissenschaftsdiskurs dabei gelegentlich auch weit voraus ist.
Meine Arbeit will einen Beitrag zu diesem methodischen Zugang zur fiktionalen Literatur leisten,
insofern sie analysiert, mittels welcher Verfahrensweisen der soziale Roman zur Zeit der Industriellen
Revolution die sich wandelnde Ökonomie erfasst und in das Verständnis einer sozialen Ordnung
überführt. Welche Bandbreite an Narrativen es gibt, welches Wissen diese produzieren und welche
von ihnen auch heute noch als Wissensbestände erhalten sind, diesen Fragen will sich meine Arbeit
ausführlich widmen. Dabei geht es mir nicht um die Erklärung der einzelnen Werke als Ergebnisse
30
Aber auch für andere Wissenschaften finden sich Beispiele: Wissen. Erzählen. Narrative der Humanwissenschaften.
Hg. v. Arne Höcker, Jeannie Moser u. Philippe Weber. Bielefeld 2006.
31
Josph Vogl: Das Gespenst des Kapitals. Zürich 2010.
32
Hörisch, Kopf oder Zahl (s. Anm. 2).
33
Jochen Hörisch: Das Wissen der Literatur. München 2007.
6
der Auseinandersetzungen im literarischen Feld im Sinne des literatursoziologischen Ansatzes von
Pierre Bourdieu34, sondern vielmehr um die Bestimmung der einzelnen Positionen, die in ihm
eingenommen werden. Die Narrative sollen außerdem, anders als in Vogls Essay, nicht im sich
zeitgleich etablierenden sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Diskurs aufgespürt werden,
sondern ihre ästhetische Entstehung selbst soll im Zentrum der Arbeit stehen.
4. Korpus
Die Zahl der Romane, die den Umbruch thematisieren, ist riesig. Hier wird eine Auswahl
vorzunehmen sein, die den Zweck verfolgt, für die einzelnen Varianten der Deutungsmuster
möglichst repräsentative Werke zusammenzustellen. Neben Romanen von so unbekannten Autoren
wie Adolf von Tschabuschnigg, Gregor Kloth und Johannes Scherr, und neben den Klassikern des
vormärzlichen Sozialromans wie Ernst Adolf Willkomm, Robert Prutz und Alexander von UngernSternberg, kommen dabei auch Grenzfälle in Betracht, wie Gustav Freytags Soll und Haben, Otto
Ludwigs Zwischen Himmel und Erde sowie Wilhelm Raabes Chronik der Sperlingsgasse. Auch der
bereits naturalistische Züge tragende Roman Martin Salander von Gottfried Keller wird in dieser
Hinsicht zu prüfen sein. Unter denjenigen Werken, die den Umbruch in der Gesellschaft unmittelbar
thematisieren, bilden die Werke von Arbeiterschriftstellern eine Sonderform. Insofern diese von
vornherein parteiisch sind und ein politisches Interesse verfolgen,35 liegen sie quer zu meinem
Forschungsinteresse,
das
die
Werke
unter
dem
Gesichtspunkt
ihres
Beitrags
zur
Neukonzeptualisierung des Sozialen betrachtet. Sie werden daher nur exemplarisch in die
Untersuchung miteinbezogen.
5. Literatur
Primärliteratur (wesentliche Quellen)
Aston, Louise: Aus dem Leben einer Frau. Hamburg 1947.
Anonym: Aus einer Fabrikstadt. Schicksal und Erfahrungen eines Fabrikarbeiters. Hg. v. T. Leberecht. 1853.
Freytag, Gustav: Soll und Haben. Roman in sechs Büchern. Leipzig 1955.
Hackländer, Friedrich Wilhelm: Europäisches Sclavenleben. 4 Bde. Stuttgart 1954.
Hesekiel, Georg: Faust und Don Juan. Aus den weitesten Kreisen unserer Gesellschaft. 3 Tle. Altenburg 1846.
Keller, Gottfried: Sämtliche Werke. Historisch-Kritische Ausgabe. Bd. 8. Martin Salander. Hg. v. Thomas Binder, Karl Grob, Peter
Stocker, Walther Morgenthaler. Basel, Frankfurt am Main, Zürich 2004.
Klencke, Hermann: Das deutsche Gespenst. 3 Bde. Leipzig 1846.
Klencke, Hermann: Die Ritter der Industrie. Ein anonymer Roman in 6 Bdn. Leipzig 1858.
Kloth, Gregor: Der Fabrikherr. Eine Geschichte der jüngeren Zeit. Aachen 1852.
Ludwig, Otto: Zwischen Himmel und Erde. In: Ders. Sämtliche Werke. Bd. 3. Hg. von Paul Merker. München 1914, S. 1-204.
Oelckers, Theodor: Fürst und Proletarier. Ein Roman aus der Gegenwart. 2 Bde. Leipzig 1846.
Prutz, Robert: Das Engelchen. 3 Bde. Leipzig 1851.
Raabe, Wilhelm: Die Chronik der Sperlingsgasse. In: Ders. Sämtliche Werke. Bd. 1. Hg. v. Karl Hoppe u. Max Carstenn. Göttingen
1965, S. 9-171.
34
35
Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Übers. V. Bernd Schwibs u.
Achim Russer. Frankfurt am Main 2001.
Klaus-Michael Bogdal: Arbeiterbewegung und Literatur. In: Bürgerlicher Realismus und Gründerzeit. 1848-1890.
Hg. v. Edward McInnes u. Rolf Grimminger. München 1996, S. 144-175. (Hansers Sozialgeschichte der deutschen
Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Begr. von Rolf Grimminger, Bd. 6)
7
Renner, Franz Robert: Die Tochter des Fabrikanten und die Fabrikarbeiterin. Leipzig 1861.
Schrader, August: Am See, oder Die Speculanten. Ein Lebensbild aus der Gegenwart. 2 Bde. Leipzig 1859.
Scherr, Johannes: Michel. Geschichte eines Deutschen unserer Zeit. 4 Bde. Prag, Leipzig 1858.
Schirmer, Adolf: Fabrikanten und Arbeiter oder Der Weg zum Irrenhause. Sozialer Roman. 3 Tle. Prag, Wien 1862.
Spielhagen, Friedrich: In Reih' und Glied. 2 Tle. Friedrich Spielhagens sämmtliche Romane ; Bde. 6 und 7. Leipzig 1906. (Erstveröffentlichung 1867)
Spielhagen, Friedrich: Hammer und Amboß. 2 Tle. München 1976. (Erstveröffentlichung 1869)
Stein, Paul (Ps. v. Albertine Heinrich): Handwerk und Industrie. Glück, Reichthum und Arbeit. 2 Bde. Leipzig 1860.
Tschabuschnigg, Adolf Ritter von: Die Industriellen. Zwickau 1854. (2. Aufl. unter dem Titel 'Fabrikanten und Arbeiter'. Würzburg
1876).
Ungern-Sternberg, Alexander von: Paul. 2 Bde. Leipzig 1845.
Weerth, Georg: Fragment eines Romans. Hg. v. Siegfried Unseld. Frankfurt 1965.
Wichert, Ernst: Der Arbeiter. Bielefeld, Leipzig 1873.
Willkomm, Ernst Adolf: Eisen, Gold und Geist. Ein tragikomischer Roman. 3 Tle. Leipzig 1843.
Willkomm, Ernst Adolf: Weisse Sclaven oder Die Leiden des Volkes. 5 Tle. Leipzig 1845.
Sekundärliteratur
Adler, Hans: Soziale Romane im Vormärz. Literatursemiotische Studie. München 1980.
Adler, Hans: Einleitung. In: Ders. (Hg.): Der deutsche soziale Roman des 18. und 19. Jahrhunderts. Darmstadt 1990, S. 1-14.
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soziale Roman des 18. und 19. Jahrhunderts. Darmstadt 1990, S. 280-309.
Adler, Hans: Der soziale Roman. In: Bürgerlicher Realismus und Gründerzeit 1848 – 1890. Hg. v. Edward McInnes und Rolf Grimminger. München u.a. 1996, S. 195.209. (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart.
Begr. von Rolf Grimminger, Bd. 6)
Bachleitner, Norbert: Der englische und französische Sozialroman des 19. Jahrhunderts und seine Rezeption in Deutschland. Amsterdam, Atlanta, GA 1993.
Bogdal, Klaus-Michael: Arbeiterbewegung und Literatur. In: Bürgerlicher Realismus und Gründerzeit. 1848-1890. Hg. v. Edward
McInnes u. Rolf Grimminger. München 1996, S. 144-175. (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert
bis zur Gegenwart. Begr. von Rolf Grimminger, Bd. 6)
Bourdieu, Pierre: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Übers. V. Bernd Schwibs u. Achim Russer.
Frankfurt am Main 2001.
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Dresch, Jean: Le roman social en Allemagne de 1850 à 1900. Paris 1912.
Edler, Erich: Ernst Dronke und die Anfänge des deutschen sozialen Romans. In: Euphorion 56 (1926), S. 48-68. Wiederveröffentlicht in: Der deutsche soziale Roman des 18. und 19. Jahrhunderts. Hg. v. Hans Adler. Darmstadt 1990, S. 228-258.
Edler, Erich: Die Anfänge des sozialen Romans und der sozialen Novelle in Deutschland. Frankfurt am Main 1977.
Frobenius, Volkmar: Die Behandlung von Technik und Industrie in der deutschen Dichtung von Goethe bis zur Gegenwart. Heidelberg 1935.
Gafert, Karin: Die soziale Frage in Literatur und Kunst des 19. Jahrhunderts. Ästhetische Politisierung des Weberstoffes. 2 Bde.
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Gutzkow, Karl: Der Roman und die Arbeit. In: Eberhart Lämmert. Hartmut Eggert, Karl-Heinz Hartmann, Gerhard Hinzmann, Dietrich Scheunemann, Fritz Wahrenburg (Hg.): Romantheorie 1620-1880. Dokumentation ihrer Geschichte in Deutschland, S. 328-331.
Halter, Martin: Arbeit und Arbeiter im deutschen Sozialroman zwischen 1840 und 1880. Frankfurt am Main, Bern 1983.
Hoffmann, Henriette: Eine Untersuchung über Kapital, Industrie und Maschine von Goethe bis Immermann. Wien 1942.
Höcker Arne, Jeannie Moser u. Philippe Weber (Hg.): Wissen. Erzählen. Narrative der Humanwissenschaften. Bielefeld 2006.
Hörisch, Jochen: Das Wissen der Literatur. München 2007.
Hörisch, Jochen: Kopf oder Zahl. Die Poesie des Geldes. Frankfurt/Main 1996.
Kirchner-Klemperer, Hadwig: Der deutsche soziale Roman der vierziger Jahre des vorigen Jahrhunderts. In: Wissenschaftliche Zeitschrift der Humboldt Universität zu Berlin. Gesellschafts- und Sprachwissenschaftliche Reihe 11 (1962), S. 241-280.
Kistenmacher, Hans Werner: Maschine und Dichtung. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Literatur im 19. Jahrhundert. Diss.
München 1914.
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Liptzin, Solomon: The Weavers in German Literature. Göttingen, Baltimore 1926.
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Milkereit, Gertrud: Das Unternehmerbild im zeitkritischen Roman des Vormärz. Köln 1970.
Rarisch, Ilselore: Das Unternehmerbild in der deutschen Erzählliteratur der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Rezeption der frühen Industrialisierung in der belletristischen Literatur. Berlin 1977.
Sagave, Pierre-Paul: Recherches sur le roman social en Allemagne. Aix-en-Provence 1960.
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