Publikation in der Zeitschrift OTX World Nr. 96

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WISSEN UND WISSENSCHAF T
Sicherere Medikamente für Kinder
Illustration: © Sebastian Kaulitzki, Fotolia.com
Kaum ein Medizinsektor ist so schlecht untersucht wie der Arzneimittelbereich für Kinder. Die
Hälfte aller Verordnungen in Schweizer Kinderkliniken erfolgen off label. Oft fehlen für Kinder
geeignete Arzneiformen. Forschung tut not. Ethische Fragen, tiefe Patientenzahlen und zu
geringe Anreize für die Industrie sind die wichtigsten Hemmnisse.
Dr. med. Markus Meier
Besonderheiten des kindlichen Organismus
Körper allgemein
Der Wasseranteil des Körpers ist erhöht.
niedrigere Plasmakonzentration hydrophiler Substanzen
Lunge
Lungenaufbau und Lungenvolumen sind anders.
veränderte Aufnahme von inhalativen Arzneistoffen
Die Rezeptoren sind oft noch nicht vollständig ausgeprägt
oder in geringerer Anzahl vorhanden.
eingeschränkte Wirkung der Arzneistoffe
Leber
Die Aktivität der Leber-Enzyme entwickelt sich sehr
unterschiedlich (z.B. Cytochrom-P-450).
deutliche Unterschiede beim Abbau von Wirkstoffen
Magen
Niere
Der ph-Wert ist höher.
Ionisation oder Stabilität der Säure-instabilen Substanzen
wird beeinflusst
mehr oder auch weniger Wirkstoff ist aufnehmbar
Die Nieren reifen vor allem im 1. Lebensjahr.
verzögerte Ausscheidung von Wirksubstanzen und
auch von deren Abbauprodukten über die Niere
Darm
Die Darmflora muss zuerst aufgebaut werden und kann
sich verändern.
Einfluss auf die Resorption von Arzneimitteln
Nerven
Bis zum 2. Lebensjahr sind die Nerven noch
unvollständig myelinisiert.
empfindlichere Reaktion auf Lokalanästhetika
Blut
Die Plasmaproteine sind weniger stark gebunden.
mehr ungebundene Arzneisubstanz, die für die Wirkung
zur Verfügung steht (= grössere Wirkung)
Haut
Die Haut ist dünner.
grössere Stoffaufnahme bei kutaner Applikation
Das Verhältnis Körperoberfläche zu Körpergewicht ist erhöht.
über die Haut wird verhältnismässig mehr Substanz pro
Gewichtseinheit aufgenommen
Eine junge Frau gibt dem Apotheker ein Antibiotikum-Rezept für ihre zwölfmonatige Tochter und sagt: «Dasselbe Medikament musste
mein Grosser schon vor einer Woche nehmen.
Jetzt hat es die Kleine erwischt. Sie ist etwa halb
so schwer und muss wohl die halbe Dosis nehmen, oder?». Diese Szene aus dem Alltag zeigt,
dass es auch für Laien nachvollziehbar ist, dass
eine medikamentöse Therapie bei Säuglingen
anders verlaufen muss als bei Kleinkindern und
Erwachsenen. Entscheidend sind aber nicht nur
Grösse und Gewicht, sondern auch die komplexen Entwicklungsprozesse, die grossen Einfluss
auf die Wirkung von Arzneistoffen haben. Beispiele sind hier in einer frühen Lebensphase
noch unreife Rezeptoren oder das Cytochrom-
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OTX World | Nr. 96 | September 2013
Immunsystem
Die Immunabwehr ist noch nicht ausgereift.
Allergien können je nach Alter unterschiedlich auftreten
(teilweise mit zuerst negativen Allergie-Tests, wie z. B. Prick)
Impf-Plan muss darauf abgestimmt sein (1. Impfung im Alter
von zwei Monaten gemäss BAG; siehe www.bag.admin.ch)
P-450-Enzym, das erst später richtig funktioniert (siehe Grafik). So kann der Arzneistoffabbau bei Säuglingen und Kleinkindern ganz
anders verlaufen als bei Erwachsenen.
Täglicher Kampf mit
Kinderdosierungen
Die Arzneimitteltherapie bei Kindern stellt Arzt
und Apotheker jeden Tag vor grosse Herausforderungen. Oft existieren keine für Kinder geeigneten Arzneiformen wie orale Lösungen, Tropfen oder Suppositorien. Deshalb müssen viele
Arzneimittel importiert oder selber hergestellt
werden (Magistralrezepturen). Kein Wunder erfolgen ca. 50 Prozent aller Arzneimittelverordnungen in Schweizer Kinderspitälern nicht ge-
mäss behördlich genehmigter Fachinformation,
also off label. Und: Hospitalisierte Kinder sind
aufgrund von Medikationsfehlern dreimal häufiger von unerwünschten Arzneimittelwirkungen betroffen als Erwachsene.
Das Wissen über Dosierung, Wirksamkeit und
Nebenwirkungen ist häufig ungenügend. Vielfach
wird ein Pädiater zur Rate gezogen, um die «korrekte» Kinderdosierung eines Arzneimittels zu
evaluieren. Der Kinderarzt musste sich bis anhin
diese Informationen aus sicheren und weniger
guten Quellen zusammensuchen, bei denen nicht
klar war, welche Evidenz hinter einer Angabe
steckt. Diese Wissenslücken schliesst nun eine
Datenbank für Kinderdosierungen. Sie ging 2012
online und erhielt kürzlich einen begehrten Preis.
KO LU M N E
Swiss Quality Award 2013
Dieser Award wurde Mitte Juni anlässlich des
Nationalen Symposiums für Qualitätsmanagement in der Kategorie Patientensicherheit an
www.kinderdosierungen.ch vergeben. Der Swiss
Quality Award zeichnet herausragende Ideen
aus, welche die Qualität im Schweizer Gesundheitswesen verbessern. Hinter www.kinderdosierungen.ch steht der Pharmazeutische Dienst
des Kinderspitals Zürich. Er startete schon 2008
mit der Entwicklung einer KinderdosierungsDatenbank. 2009 gab das Kinderspital Zürich
dann ein Booklet heraus und aktualisierte es bis
in die 4. Auflage. Jetzt werde aber keine Neuauflage mehr gedruckt, wie auf der Homepage zu
lesen ist. Denn 2012 wurde die jetzt prämierte
Website www.kinderdosierungen.ch lanciert. Sie
wird 2014 auch noch eine für Smartphones
kompatible Internetversion erhalten.
Zielgruppe dieser Medikamenten- und Dosierungs-Datenbank sind Kinderspitäler, Pädiater,
andere Fachärzte sowie Apotheker. Ihnen allen
steht diese innovative Entwicklung kostenlos
zur Verfügung. Die Nutzer erhalten Informationen des Herstellers, neue Forschungserkenntnisse sowie Erfahrungen aus der klinischen Praxis des Kinderspitals Zürich. Und sie können die
Medikamentendosierungen für Kinder einfach
berechnen. Dazu dient ein elektronischer Kalkulator, der die spezifische Dosierung aufgrund
der individuellen Kinderdaten (z. B. Körpergewicht, Geburtsdatum und Körperoberfläche)
berechnet.
Beim Start Ende 2012 waren ca. 3000 Datensätze
zu 330 Wirkstoffen in der Datenbank integriert.
Diese Daten werden nun laufend aktualisiert und
erweitert, damit die Datenbank alle neuen Erkenntnisse der Forschung sowie die Erfahrungen
aus der klinischen Praxis beinhaltet.
Gute Zusammenarbeit zwischen Spitälern
und Industrie
Damit sich die offiziellen Medikamenten-Fachinformationen und Angaben aus www.kinderdosierungen.ch jeweils unmittelbar ergänzen,
kooperiert das Kinderspital Zürich mit Do­
cumed und e-mediat. Alle Einträge sind über
die «direct deep links» anwenderfreundlich
mit www.compendium.ch der Documed verbunden. Von einem Produkt in diesem Kompendium aus ist im Gegenzug ebenfalls ein
direkter Zugriff auf die Information desselben
Produktes auf www.kinderdosierungen.ch möglich. Und die Kinderspital-Daten werden über
die HospINDEX-Datenbank der e-mediat allen
Schweizer Spitälern und Kinderspitälern zur
Prozessintegration in ihre elektronische Verordnung bereitgestellt.
Bereits im Februar 2013 fand die Gründungsversammlung des Vereins SwissPedNet statt.
Seitdem bilden die Kinderkliniken in Aarau,
Basel, Bern, Genf, Lausanne, Luzern, St. Gallen
und Zürich ein Forschungsnetzwerk. Erster Präsident des Vorstandes ist Prof. Dr. med. David
Nadal vom Kinderspital Zürich.
Forschungsnetz im Dienste der Kinder
SwissPedNet soll die im Vergleich zur Erwachsenenmedizin bisher ungenügend ausgebaute
klinische Forschung in der Pädiatrie unterstützen. Dazu bauen die Kinderspitäler Clinical
­Pediatric Hubs (Plattformen) auf, um multizentrische Studien durchzuführen. Diese Hubs gliedern sich an die bereits bestehenden klinischen
Studienzentren in den Universitätsspitälern und
am Kantonsspital St. Gallen an. Sie sind eine
Anlaufstelle für Forschende und helfen bei der
Planung, Durchführung und Auswertung von
Studien nach verbindlichen nationalen und internationalen Richtlinien.
Die pädiatrische Forschung ist im Vergleich zur
Forschung in der Erwachsenenmedizin benachteiligt: Die Patientenzahl ist kleiner, Krankheiten treten je nach Alter unterschiedlich auf und
es existieren viele seltene angeborene Erkrankungen. Im Weiteren gibt es ethische, soziale,
psychologische und organisatorische Schwierigkeiten bei der Planung und Durchführung von
Studien. Deshalb sind die Datengrundlagen,
speziell für die Pharmakotherapie im Kindesalter, immer noch mangelhaft.
Das SwissPedNet muss als Non-Profit-Organisation hart um seine Finanzierung kämpfen. Der
Schweizerische Nationalfonds (SNF) unterstützt
den Verein, indem er die Stelle einer nationalen
Koordinatorin bezahlt, die bei der Swiss Clinical Trial Organisation in Basel angesiedelt ist.
Ebenfalls zum Patronatskomitee gehört die
Schweizerische Akademie der Medizinischen
Wissenschaften (SAMW).
Was passiert politisch?
Die ganze Welt unternimmt Anstrengungen, damit mehr kindergerechte Arzneimittel auf den
Markt kommen. 2007 trat die EU-Verordnung
über Kinderarzneimittel in Kraft. Die EU hatte
schon damals erkannt, dass zur Verbesserung der
Situation ein System nötig ist, das sowohl Verpflichtungen als auch Anreize umfasst.
Die Schweiz legte 2010 mit einem Verfassungsartikel über die Forschung am Menschen und
dem neuen, am 1. Januar 2014 in Kraft tretenden Humanforschungsgesetz (HFG) wichtige
Grundlagen für die Forschung – auch mit Kindern. Die Zukunft wird es zeigen, wie viel unsere Jüngsten davon profitieren.
Gesundheit will gelernt sein
Wenn wir uns Monat für Monat mit der
Zukunft des Gesundheitswesens befassen, darf dabei ein Gedanke an diejenigen, die unsere Zukunft am meisten interessiert, nicht fehlen: unsere Kinder und
die Jugendlichen. Was sie heute lernen,
werden sie morgen anwenden. Im Guten
und im Schlechten wird dies einen Einfluss haben auf die Gesundheit dieser
Kinder und auf die künftige Volksgesundheit insgesamt. Erstaunlich, dass wir trotz
dieser banalen Erkenntnis noch kein Primarschulfach Gesundheit kennen. Es ist
zwar anzuerkennen, dass das eine oder
andere in die Fächer einfliesst, doch bei
den ganz Kleinen fehlt der Umgang mit
dem Thema fast vollständig. Da ist es
nicht getan, dass man mehr oder weni­ger fragwürdige Sexualkundethemen (was
irgendwie auch zur Gesundheit gehört)
eingeführt hat. Und mit dem Verbot von
Schoggi auf dem Pausenplatz und dem
Moralfinger, es seien nur ganz, ganz gesunde Znünis erlaubt, ist es auch noch
nicht getan. Auch nicht mit der Laustante
und dem Zahnbürstenonkel. Anstatt stundenlang mathematische Banalitäten hinunterzuleiern und mittelmässig Englisch
sprechende Lehrer auf die armen Kinder
loszulassen, könnte man die eine oder
andere Stunde für Gesundheitsausbildung investieren, was vom Verständnis
für den menschlichen Körper, über die
Ernährung bis hin zu praktischen Erlebnissen wie dem Besuch eines Alters- oder
Pflegeheims reichen könnte. Utopisch?
Die Zukunft würde es uns auf jeden Fall
danken, wenn wir auch beim Thema Gesundheit auf «früh übt sich» setzen würden. Das Schulheft zum Thema könnte
man dann ja «OTX World-li» nennen.
Daniel M. Späni
OTX World | Nr. 96 | September 2013
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