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Die Revanche eines Dieners
Das Geheimnis um «La Clemenza di Tito»
Nanao Hayasaka
Herr Süssmayr 1 kam aus dem Kleiderschrank herausgesprungen und sagte:
„Mach mir mal einen Tee!” Als ich gewöhnlichen Kaffee machte, fing er jedoch an,
auch diesen ohne Murren zu trinken. Er sprach für eine Weile lobend über den
Gasherd: „Die Technik des einundzwanzigsten Jahrhunderts scheint großartig zu
sein!?” Danach zeigte er für das Stereo- und das DVD-Gerät Interesse. Gerade lief die
Oper «Titus», die ich bis dahin schon mehr als zehnmal gehört hatte. Die CD ließ ich,
seitdem ich mit der kleinen Aufgabe begonnen hatte, für die Broschüre der
Nikikai-Aufführung von Regisseur Peter Konwitschny einen Artikel ins Japanische zu
übersetzen, immer im Gerät. Grinsend sagte Herr Süssmayr: „Gefällt dir irgendein
Stück?”
„Hm … das Duett von Servilia und Annio (Nr.7) scheint mir nicht schlecht
geraten zu sein.” (Notenbeispiel 1)
„Nicht schlecht geraten? Aber das ist das Lied, in dem Servilia den Heiratsantrag
des Kaisers ablehnt! Es hätte doch viel ernster klingen sollen. Meinst du nicht auch?”
„Doch, vielleicht… Außerdem gefällt mir auch die Arie von Servilia (Nr.21).”
(Notenbeispiel 2)
„Wieder Servilia! Eigentlich kann man nur der zweiten Hälfte etwas abgewinnen.
Darüber hinaus ist es zu kurz!” – Herr Süssmayr widerspricht mir heftig. Ich weiß
nicht, warum.
Um die Wahrheit zu sagen, dachte auch ich, diese Oper enthalte keine
interessanten Stücke. Ich verheimlichte aber im allgemeinen meine Meinung. Denn für
wie unmusikalisch würde man mich halten, wenn ich über die Musik von Mozart
schlecht zu reden wagte!
„Stell’ dir zum Beispiel den sommerlichen Sankt-Markus-Platz in Venedig vor!
Eine Kapelle spielt auf. Enthält ihr Repertoire irgendein Stück aus dem «Titus»?
Nein!”
Der «Titus» ist jedoch eine Opera seria und somit nicht mit den lustigen
Gesängen in populären Operetten vergleichbar.
„Nun gut, dann sage ich ganz offen zu dir: Erinnere dich an die Arie von Vittelia,
in der sie schwört, den ermordeten Vater zu rächen. Wenn man sie mit der Arie der
1
Franz Xaver Süssmayr (1766-1803): Als Schüler von Wolfgang Amadeus Mozart
und Antonio Salieri lernte er von ihnen die Komposition der Bühnenmusik. Er wurde
1794 Kapellmeister der deutschen Oper am Wiener Nationaltheater. Er ist dafür
bekannt, das «Requiem» von Mozart vollendet zu haben.
-1-
«Königin der Nacht» vergleicht – übrigens ist mir nicht klar, worüber sich die Königin
eigentlich empört –, dann stellt sich sofort heraus, dass sie längst nicht so
wohlklingend ist. Wie kommt das? Auch die Arie von Titus kann man keineswegs mit
dem eindruckvollen Gesang von Sarastro vergleichen. Meinst du nicht auch?”
„Vielleicht haben Sie Recht, aber man könnte wohl auch folgendermaßen
urteilen: «Die Zauberflöte» ist mittlerweile zum berühmtesten Stück der
Musikgeschichte geworden, weshalb man ihre Melodien einfach als vertrauter und
angenehmer empfindet.
Herr Süssmayr, möchten Sie etwa sagen, dass die Stücke des «Titus» schlecht
komponiert sind? Was den «Titus» angeht, sagt man in der Tat, dass Mozart den
Auftrag nur widerwillig übernahm und oberflächlich arbeitete. “
„Wenn Wolfi…, nein, wenn Maestro Mozart hätte dahin arbeiten können, wie es
ihm beliebte, hätte er ein Meisterwerk geschaffen.“
„Wie meinen Sie das? Wollen Sie etwa sagen, dass Mozart mit Absicht ein
uninteressantes Werk erzeugt hätte?”
„Ich werde es dir anhand einiger Beispiele erklären: Wie du schon weißt, beginnt
die Arie von Cherubino...” – er fing an, das Pianino laut zu spielen – „...mit einer
simplen Melodie. Das Stück moduliert dann nach und nach in je eine andere Tonart
und kehrt danach, ohne es uns merken zu lassen, in die ursprüngliche zurück. Ein
anderes Beispiel: Die Arie von Graf Almaviva und auch die der Gräfin verwandelt sich,
während sie sich steigert, in Allegro und endet dann mit hohem Tempo. Enthält der
«Titus» eine derartige Arie? Der Komponist dieser Oper ist aber derjenige, der in der
gleichen Periode auch das Meisterwerk «Die Zauberflöte» geschaffen hat! Kannst du
dir das vorstellen?”
„Ach was! Solche Stücke gibt es auch im «Titus»; das Rondo von Sesto (Nr.19)
zum Beispiel. Es steigert sich in Allegro und darauf beschleunigt sich das Tempo bis
Più Allegro. (Notenbeispiel 3) Es gibt noch weitere Beispiele.“
Darauf erwiderte Herr Süssmayr: „Sieh dir mal die Arie von Publio (Nr.16) an, in
der er den Täter Sesto kritisiert.” Er raschelte mit dem Klavierauszug der Ausgabe der
Edition Peters und schlug ihn auf. „Sie fängt mit einem simplen C-Dur an, transponiert
nur neun Takte ins G-Dur und kehrt danach wieder zu C-Dur zurück. Ihr fehlt jeder
Glanz und Reiz. Sie macht mir einen laienhaften Eindruck.” (Notenbeispiel 4)
„Ein Stück von derartigem Niveau steht vielleicht Publio, dem Inbegriff von
Ehrlichkeit, an. Was meinen Sie?”
„Und dann die Arie von Vitellia (Nr.23). Das Largetto, die erste Hälfte dieses
Stückes, ist zwar akzeptabel, aber das Allegro ist problematisch. Auf den ersten Blick
scheint es mir bewegt, aber die Bewegtheit erweist sich bald als befremdlich, denn der
Ton steigt auf a² und sinkt dann auf g. Die Tonspanne beträgt über zwei Oktaven.
Außerdem springt der Ton ab und zu von d² auf d¹ herab, von g bis zu d² hinauf. Mit
anderen Worten: Die Sängerin muss die niedrigen Töne mit ihrer natürlichen Stimme
-2-
und die hohen Töne mit Fistelstimme singen. Ihre Erscheinung hinterlässt dabei einen
hektischen und miserablen Eindruck. Es scheint, als ob sie von Mozart ganz nach
seinem Willen beliebig hinauf- und hinuntergezogen würde. Und was die Melodien
angeht, so besitzen sie keine Anziehungskraft.” (Notenbeispiel 5)
„Ist dies nicht auf Zeitdruck zurückzuführen? Mozart erhielt den Auftrag für den
«Titus» erst Mitte Juli und am sechsten September fand bereits die Uraufführung
statt.“
Herr Süssmayr antwortete daraufhin: „Der Maestro hat «Die Hochzeit des
Figaro» in nur knapp sechs Wochen komponiert. Um sich auf die vieraktige Oper zu
konzentrieren, verlegte er den Unterricht für seine Schüler auf den Nachmittag.
Hingegen enthält der «Titus» nur zwei Akte. Außerdem gab der Maestro im August
keinen Unterricht, weil er nach Prag reiste. Allerdings blieben ihm bis zur
Uraufführung nur acht Tage übrig, denn er war erst am 28. August in Prag
angekommen. Aber sieh her!” Er hielt mir die Noten vors Gesicht: Der «Titus» war
nur ein Viertel so dick wie der «Figaro».
Ich entgegnete: „Konwitschny hat den «Titus» sowohl in Hinsicht auf die
Phrasen der Rezitative als auch auf die der Klarinette hochgeschätzt.”
„Wirklich?” Herr Süssmayr, der ein freudiges Gesicht machte, blätterte die Noten
hastig um. Jedoch bemerkte er bald, dass es unmöglich war, die Phrasen der Rezitative
zu finden, weil die Ausgabe der Edition Peters die Secco-Rezitative nicht enthält. Mit
leichter Enttäuschung schloss er das Buch. Offenbar hatte er die Broschüre der
Aufführung an der Hamburgischen Staatsoper noch nicht gelesen.
Ich fragte ihn: „Herr Süssmayr, Sie haben die Rezitative des «Titus» komponiert,
so heißt es.”
„Nicht doch. Der «Titus» ist und bleibt das Werk des Maestros. Allerdings: Auf
Stanzis… nein, Frau Mozarts Geheiß habe ich beigetragen, das «Requiem» zu
vervollständigen.”
„Wenn ich das offen sagen darf, so scheint mir das Secco eindrucksvoller als das
Accompagnato. Viele der obligaten Melodien des Bassethorns werden übrigens auf die
Klavierbegleitung übertragen, nicht wahr?”
„Seit sechs Jahren hatte der Maestro mit Herrn Stadler auch in der Freimaurerloge
Umgang. 2 Wenn man einmal jene wunderbaren obligaten Solostimmen, die das
Bassethorn spielt, gehört hat, führt man es nie mehr auf seine schlechte körperliche
2
Anton Paul Stadler (1753-1812): Er und sein jüngerer Bruder Johann waren die
ersten ständig angestellten Klarinettisten im Orchester des Wiener Burgtheaters.
Stadler und Mozart waren Kollegen nicht nur als Musiker, sondern auch als Freimaurer,
und sie waren eng miteinander befreundet. Als Stadler am 27. September 1785 in die
Loge „Zum Palmbaum” eintrat, war auch Mozart vermutlich bei der Zeremonie
anwesend. Nach allgemeiner Ansicht hat Mozart die Obligaten durch Klarinette und
Bassethorn im «Titus» für ihn komponiert.
-3-
Kondition zurück, dass der Maestro nicht in der Lage gewesen war, den «Titus» als
Ganzes besser zu schaffen.”
„Hm. Dann sind es also weder Zeitmangel noch Krankheit, die dazu führten, dass
Mozart den «Titus» langweilig machte. Was war es aber dann? Hatte Mozart vielleicht
etwas gegen Leopold II.?“ 3
„Weißt du nicht, was bei der Krönungsfeier in Frankfurt am Main geschah? Im
Oktober 1790 übernahm dort Leopold II. von seinem älteren Bruder Joseph II. den
Thron des Heiligen Römischen Reichs. Mehr als zehn Wiener Komponisten nahmen
an der Feier teil, aber der Maestro war nicht dazu eingeladen und nicht in den Kreis
der mehr als zehn prominenten Komponisten aufgenommen worden, obgleich Lorenzo
da Ponte ihn für einen der beiden wichtigsten Komponisten in Wien hielt! Dem armen
Maestro blieb keine andere Wahl, als auf eigene Kosten nach Frankfurt zu fahren.
Trotzdem gab man ihm dort keine Arbeit, so dass er unter großen Verlusten nach Wien
zurückkehren musste. Es steht außer Zweifel, dass ihn jemand verleumdet hat, um
seinen Ruf zu schädigen.”
„Ist dieser Jemand etwa Antonio Salieri?” Auf meine Frage hin nannte Herr
Süssmayr auf der Stelle etwa ein halbes Dutzend weiterer Namen. „Hm! Überall gibt
es Menschen, die denjenigen Glauben schenken, die nichts mit ihrer Zeit anzufangen
wissen und aufgrund ihrer eigenen Unfähigkeit schlecht von anderen zu reden
pflegen.” Mit leichter Überraschung betrachtete Herr Süssmayr mich.
Er sagte: „Nein, Joseph II., der Bruder Leopolds, gehörte nicht zu dieser Gattung
von Mensch. Vielmehr hat er den Maestro immer wieder unterstützt. Auf jeden Fall
verfügte er über die Fähigkeit, Intrigen intuitiv wahrzunehmen und die wahre Sachlage
herauszufinden. Auch Kaiser Titus will den wahren Sachverhalt ergründen, als er zu
Sextus sagt, «Öffne Titus dein Herz» 4. Diese Partie hätte der Maestro sicher betonen
wollen.“
„Leopold II. war also als Herrscher seinem älteren Bruder nicht ebenbürtig?”
„Natürlich nicht. Der Maestro hatte recht, als er die von Voltaire gepriesene
zweite Stelle 5 in seiner Bearbeitung strich. Leopold II. reichte offensichtlich an dessen
3
Der «Titus» sollte am 6. September 1791 in Prag zur Krönung des österreichischen
Kaisers Leopold II. zum König von Böhmen vor ausgewähltem Prager Bürgertum und
internationaler Aristokratie aufgeführt werden. Leopold II. ist der jüngere Bruder von
Joseph II. und der ältere Bruder von Marie Antoinette d'Autriche.
4
Vgl. Voltaire: Abhandlung über die Antike und die moderne Tragödie (1748). „…ich
möchte von dieser Szene sprechen, wo Titus zu Sextus diese Worte sagt: Wir sind
allein: dein Kaiser / ist nicht da. Öffne Titus dein Herz, / Vertrau dich dem Freund an;
ich verspreche dir, / dass der Erhabene es nicht erfahren wird.”
5
„Diese Leute mögen den folgenden Monolog wieder lesen, wo Titus jene Worte sagt,
die allen Königen eine ewige Lehre sein und alle Menschen bezaubern sollten: Einem
anderen das Leben zu nehmen, / Ist allgemein möglich / Noch dem Niedrigsten auf der
Erde; es zu schenken ist nur / Sache der Götter und der Regierenden.”
-4-
Niveau nicht heran. Ferner müssen wir auch die Pillnitzer Deklaration 6 in Betracht
ziehen.”
„Aber zwischen der Pillnitzer Deklaration und der Uraufführung des «Titus» gab
es nur knapp zehn Tage. Hätte sie denn auf den Inhalt der Oper irgendeinen Einfluss
ausüben können?”
„In zehn Tagen kann man alles machen, was man will. Aber der Maestro hätte
sein Werk gar nicht verändern müssen, denn die Stücke waren von Anfang an so. Die
Gesänge von Annio, Servilia und Sesto sind zwar erträglich, man kann aber auf keinen
Fall eine der Arien von Vittelia und Titus positiv beurteilen. Sieh her! Sieh her!” rief er
und zeigte mir den Schluss der Arie von Titus (Nr.20). “Titus singt «Nehmt mir meine
Krone oder nehmt mir dies Menschenherz!» Aber die Melodie entspricht dem Text
keineswegs! Diese Diskrepanz verursacht einen schlechten Eindruck.” (Notenbeispiel
6)
„Stimmt, und Konwitschny kommentiert sie folgendermaßen: «Diesem mit
verzweifelter Geste vorgetragenen Anspruch ist aber keinerlei Wille zur Tat – sprich
Abdankung – beigegeben. Es bleibt also alles beim Alten.» Auf dieser eigenen Ansicht
aufbauend hat er bei der Nikikai-Aufführung, nachdem Titus ins Koma fiel, eine
Krankenschwester sagen lassen: Sollte sich unter Ihnen ein Arzt befinden, so melden
Sie sich bitte!”
„Dann meinen Sie etwa, dass Mozart ausgerechnet mit Hilfe von der für die
Krönungsfeier bestimmten Oper vor dem Publikum dem Kaiser die Botschaft mitteilen
wollte? -- «Leopold, Sie sind nicht mehr als ein mittelmäßiger Herrscher!»”
„Ich würde mir lieber die Zunge abbeißen, als so etwas zu sagen! Wie kann man
überhaupt für eine derartig verborgene Absicht eines Künstlers einen Beweis
erbringen? Darf man denn die Motivation dafür schlichtweg in dem festgestellten
Mangel an musikalischem Leben im «Titus» sehen? Wie kann man irgendjemanden
objektiv davon überzeugen, dass in einer Partie eines Stückes die böse Absicht eines
Komponisten verborgen ist? Übrigens wurde nur 26 Tage nach der Uraufführung des
«Titus» «Die Zauberflöte» erstmals auf die Bühne gebracht. Das Publikum des
einundzwanzigsten Jahrhunderts ist dank der fortgeschrittenen Technik in der Lage,
beide Werke an einem Tag zu genießen, nicht wahr? Wer Ohren hat zu hören, der
höre!”
„Einer Überlieferung zufolge soll die Kaiserin Maria Ludovica die Oper «una
porcheria tedesca»(eine deutsche Schweinerei) genannt haben. Aber Ihrer Meinung
6
Am 25. August 1791verabschiedeten Kaiser Leopold II. und König Friedrich
Wilhelm III. von Preußen die Pillnitzer Erklärung. Sie drohten damit den
revolutionären Mächten in Frankreich mit Gewaltanwendung und nahmen den König
von Frankreich in Schutz. Ziel der Erklärung war die Koalition der europäischen
Mächte zur Zerschlagung der Französischen Revolution. In Frankreich wurde die
Deklaration als Kriegserklärung aufgefasst.
-5-
nach zielte die Schmähung der Kaiserin eher auf die Art und Weise des Maestros ab,
der trotz des stattlichen Eindrucks, den die Opera seria vermittelt, in Wirklichkeit
absichtlich – jedoch unauffällig – eine oberflächliche Arbeit geschaffen hatte, als auf
den «Titus» schlechthin, oder etwa nicht?”
„Und was wäre denn dabei, selbst wenn es sich so verhalten sollte? Der Maestro
hat immer gesagt, dass er ein Diener ist. 7 Seiner Ansicht nach macht ein Diener seinen
Herrscher glücklich, indem er ihm das gibt, was er braucht. In diesem Sinne sei es eine
achtungswürdige Arbeit, jemandem zu dienen. Allerdings: nur gegen eine
angemessene Entlohnung! Der berühmte Friedrich der Große hat einst gesagt: «Der
Herrscher ist der erste Diener des Staates.» Weißt du, was er anschließend sagte? «Er
wird gut besoldet, damit er die Würde seiner Stellung aufrecht erhalte.» Wie viel
Entlohnung hat unser Maestro übrigens erhalten? Zwar wurde er zum k.u.k.
Kammermusikus ernannt, erhielt aber ein Jahresgehalt von nur 800 Gulden, während
seine Vorgänger und Nachfolger jährlich ein Gehalt in Höhe von 2000 Gulden
bezogen.“
„Das mag ja sein, aber ist es nicht so, dass man die Konsequenzen tragen muss,
wenn man versucht, sich gegen die Herrschenden zu erheben?”
„In der Regel gab der Kaiser selbst die Komposition eines musikalischen Stückes
in Auftrag und war somit auch derjenige, der den Komponisten für seine Arbeit nach
der Aufführung des Stückes entlohnte. Bei der Entstehung des «Figaro» verhielt es
sich zum Beispiel so. Aber beim «Titus» war es anders, denn der entstand im Auftrag
der böhmischen Stände, und die Höhe der finanziellen Entlohnung für den
Komponisten war von Anfang an festgelegt. Zumindest in Hinsicht auf diese Oper war
der Maestro also in der Lage zu arbeiten, wie es ihm beliebte, weil Guardasoni die
Rolle des Vermittlers übernommen hatte. Joseph II. war im Jahr zuvor im Alter von 49
Jahren verstorben, der 44jährige Leopold II. war auch schon, zumindest nach dem
damaligen Gefühl, ein alter Mensch und starb in der Tat im darauffolgenden Jahr.
Deshalb hatte der Maestro nicht viel von ihnen zu befürchten. Das Problem bestand
vielmehr in der Krönungsfeier. Nach der Schlacht am Weißen Berg war Böhmen als
erbliches Lehen an die Habsburger gegeben worden und Leopold II. beherrschte das
Land als König. Die Situation mag für die Böhmen ähnlich gewesen sein, als wenn
Douglas MacArthur 8 persönlich im japanischen Parlament erschienen wäre, um Japan
nach seinem Willen zu regieren! Verstehst du das? Wenn der Maestro der politischen
Situation ungeachtet allzu auffällige Stücke wie „Es lebe Sarastro, der göttliche
Weise!“ komponiert hätte, wären sie denn nicht schlecht von den Einheimischen
7
„Ich wuste nicht daß ich kammerdiener wäre, und das brach mir den hals.”(Brief an
den Vater. Mitte Mai 1781)
8
Douglas MacArthur (1880-1964): General der Streitkräfte der Vereinigten Staaten.
Nach dem Ende des Pazifikkriegs hatte er von 1945 – 51 den Oberbefehl über die
Besatzungstruppen in Japan inne.
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aufgenommen worden? Eine derartige Undankbarkeit konnte er den Freunden und
Adligen in Prag, die ihm mehr Freundlichkeit als die Leute in Wien entgegengebracht
hatten, nicht antun. Gerade aus diesem Grund hat d e r «Titus» in Prag allgemeinen
Beifall gefunden. Allerdings soll sich bei Hof niemand den «Titus» zweimal
angesehen haben.“
Herr Süssmayr trank mit einem Zug den kalten Kaffee aus, sagte mir „Adieu!”
und machte sich daran, wieder in den Kleiderschrank zu steigen. Er machte ein etwas
saures Gesicht, als ich ihm nachrief: „Ach, schicken Sie mir zum nächsten Mal doch
Herrn Nissen 9 her!” Habe ich ihn möglicherweise gekränkt?
Der Maestro Mozart persönlich dürfte wohl leider zur Zeit wegen verschiedener
Gastaufenthalte zu beschäftigt sein, als dass er zu mir kommen könnte. Schließlich
haben wir jetzt das Mozartjahr…!
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Georg Nikolaus Nissen (1761-1826): Der Ehemann von Mozarts Witwe Konstanze
verfasste die «Biographie W. A. Mozarts».
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