Haas: Gute Stücke?

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Thema
Gute Stücke?
Auf der Suche nach Beurteilungskriterien
Elisabeth Haas
Sollen wir an Bachs Inventionen denken und an Beethovens „Für Elise“? Oder
an den Beatles-Song „Yesterday“? Sind gute Stücke solche, die ausnehmend
gern am Instrument gespielt werden – so etwas wie Lieblingsstücke? Sind gut
komponierte Stücke gemeint oder solche, die optimal ihre Funktion erfüllen?
Befragt nach guten Stücken, wäre wohl
kaum jemand um eine spontane Antwort verlegen. Ebenso ist anzunehmen, dass jeder
Lehrende über einen Pool bevorzugter Kompositionen verfügt – Stücke, die sich schon
wiederholt im Unterricht bewährt haben,
oder solche, die der Lehrkraft selbst ans Herz
gewachsen sind. Im Vergleich mehrerer Violin-, Klavier- oder Trompetenklassen untereinander wird sich jedoch zeigen, dass die
SchülerInnen an jeweils unterschiedlicher Literatur lernen. Die Begründung der je getroffenen Auswahl wird aller Voraussicht nach
stets anders ausfallen – und das aus guten
Gründen.
Im Versuch zu bestimmen, was „Kunst“, was
„Musik“ sei, werden sich die Begriffsgrenzen
schon bald als brüchig herausstellen.1 Nicht
nur im 20. und 21. Jahrhundert fordert die
zeitgleiche Ausbildung unterschiedlicher Ästhetiken den Hörern Flexibilität und Offenheit
ab. Was als „schön“ zu gelten habe, ist stets
aus seiner Geschichte heraus zu deuten.
„Kunst“ und „Musik“ sind Begriffe, die verschiedene Bedeutungsvarianten in sich vereinen. Lassen sich angesichts dieser Vagheit
überhaupt Kriterien „guter Stücke“ beschreiben?
Ein verbindlicher Kriterienkatalog wird unter
solchen Voraussetzungen nicht zu erstellen
sein. Allerdings sei hier an ausgewählten
Stücken versucht, was im Großen nicht zu
leisten ist. Anhand dreier Kompositionen –
„Hits“ der Unterrichtsliteratur – möchte ich
auf Besonderheiten hinweisen, auf Facetten
der jeweiligen Werkindividualität. Die Stücke
sind zwar stilistisch verschieden, jedoch vergleichbarer Tradition und vergleichbarem
Kunstdenken verpflichtet. Innerhalb dieses
spezifischen historischen (wie auch sozialen
und funktionellen) Kontextes werden sich in
der Folge einige Qualitätskriterien ableiten
lassen. Diese sind allerdings nicht beliebig
übertragbar. Bestimmungen, ob es sich um
gute oder schlechte Musik handelt, werden
letztlich immer nur im Rahmen solcher Grenzen möglich sein. Denn was bei diesen Stücken auf deren Qualität verweist, mag bei anderer Musik keine Rolle spielen.2
BÉLA BARTÓK
„Tanzlied“ aus den
44 Duos für zwei Violinen
Der kleine Tanz aus Máramaros ist das 32.
der 44 Duos für zwei Violinen, die Béla Bartók auf Anregung des deutschen Musikpädagogen Erich Doflein schrieb. Erich und Elma
Doflein, Herausgeber des Geigenschulwerks,
waren in den späten 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts auf der Suche nach Musikstücken in neuer Tonsprache, spielbar
selbst für noch nicht allzu fortgeschrittene
SchülerInnen. Bei Bartók stießen sie mit ihrer Anfrage auf offene Ohren, hatte dieser
doch schon mehrfach Musik mit didaktischer
Intention komponiert.
Die Violinduos entstanden 1931/32 und basieren weitgehend auf Volksliedern und -tänzen. Sie gründen in Bartóks musikethnologischem Interesse und verdanken sich dem
Rückgriff auf nationale Musiktraditionen.
Aus eben diesem Grund mag für SchülerInnen anderer Kulturkreise, denen dieses musiksprachliche Idiom fremd ist, ein unmittelbarer Zugang zu diesen Stücken erschwert
sein. Beim Tanzlied liegt ein Anknüpfungspunkt jedoch in dessen vitalem Rhythmus:
Die beständige Wiederholung zweier Rhythmusmodelle, einander zu fast durchgängiger
Achtelbewegung ergänzend und dennoch
synkopische Kraft durch Akzentsetzung (sf )
entfaltend, lassen die Hörerin oder den Spieler geradezu in einen rhythmischen Taumel
geraten.
Doch die Kraft des Rhythmus ist nur ein bemerkenswertes Element in diesem Stück.
Bartók versteht es, gleichzeitig Zusammenhang zu stiften (indem er „bei der Idee
bleibt“, um ein Wort Mozarts aufzugreifen3)
und Abwechslung zu schaffen, sei es durch
unterschiedliche Artikulation in der oberen
Geigenstimme, sei es durch eine stets andere Begleitung bzw. Kontrapunktierung der
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Thema
Béla Bartók: „Tanzlied“ aus den 44 Duos für zwei Violinen
© 1933 by Universal Edition A. G., Wien/UE 10452 A/B
dass die Freude an der Bewegung auch spieltechnisch umgesetzt werden kann, muss
kaum betont werden. Dabei wird Instrumententypisches letztlich auch in musikalischen
Sinn umgewandelt, wie die einleitenden
Quinten zeigen.
ROBERT SCHUMANN
*** aus dem „Album für die
Jugend“ op. 68
Melodiestimme. Harmonisch bewegt sich
das Stück in zwei Sphären, D und A. Somit legitimiert sich der musikantische Anfang im
Sinn einer „Stimm-Geste“ – die Quinte d'-a' –
im Rückblick als harmonischer Keim.
Die Komposition ist im Ganzen gesehen auf
kontinuierliche Steigerung hin angelegt:
Nach zweistimmigem Beginn (beide Instrumente spielen den Doppelgriff d-a in identischer Lage) entwickelt sich der Satz zur Dreiund Vierstimmigkeit. Ein kanonartiger Abschnitt, gebildet aus dem synkopischen
Rhythmus-Motiv, verflüssigt die in sich geschlossene viertaktige Melodie-Struktur, die
mit Elementen des Öffnens und Schließens
an die klassische Periode gemahnt. Reprisenartig wird die Tanzmelodie wieder aufgenommen, allerdings mit veränderter Gegenstimme: Statt Synkopenrhythmus ist nun eine Kette nachschlagender Achtel gesetzt –
dem „festen“ Zustand der Melodie wird
durch eine drängende Begleitung gegengesteuert. Der Schlussabschnitt verdichtet sich
zur Fünfstimmigkeit, ein weiteres Mal erscheint das Synkopenmotiv als rhythmischer
Kanon. Im letzten Takt wird mit der halben
Note a' die sich ständig steigernde rhythmische Bewegung vehement angehalten, um
deren geballte Energie in der abschließenden Synkope zu entladen, in welcher – nach
dynamischer Zurücknahme im Reprisen- und
anschließenden Schluss-Teil – der kraftvolle
Ton des Anfangs wiederkehrt.
Dem beschriebenen kompositorischen Beziehungsreichtum entspricht eine Ausdrucksund Erlebnisintensität, der sich kaum jemand
zu entziehen vermag: unbändige Bewegungsenergie sowie Freude am spielerischen
Umgang mit Klang. Dass die gesamte Komposition auch geigentechnisch gut „liegt“,
Die Nummer 21 aus Schumanns Album für
die Jugend ist eines jener Stücke, in welchen
ein konkreter Titelhinweis ausgespart bleibt;
wofür die drei als Titel gesetzten Sterne stehen könnten, darüber schweigt selbst Clara
Schumann.4 Gemeinsam sind diesen Klavierstücken ein ruhiges Grundtempo und eine
verhaltene Lautstärke. Am Gesang orientierte Melodiestrukturen lassen an Lieder ohne
Worte denken. In der Tat erinnert der Anfang
der Nummer 21 an das Eingangslied aus
Schumanns Liederzyklus Dichterliebe, „Im
wunderschönen Monat Mai“. Bernhard Appel
dagegen sieht den Stückbeginn in einem Zusammenhang mit dem Terzett „Euch werde
Lohn in bessern Welten“ aus Beethovens Fidelio.5
Beherrschendes Thema ist eine kantable Melodie, die mehrfach beinahe unverändert
wiederkehrt. Sie spannt einen großen Bogen
über die ersten vier Takte; dabei zeigt das
aufstrebende Melodie-Motiv des Anfangs (a'h'-c'') öffnenden Charakter, der zweite Melodieteil (T. 3/4) – im Wesentlichen fallend –
führt zu melodischem Abschluss. In harmonischer Hinsicht erreicht man nach festgefügtem Anfang – die ersten beiden Takte ruhen,
getragen von einer Kadenz (II-V-I), in sich –
über einen Sekundakkord der II. Stufe die
Dominante. Wollte man die ersten vier Takte
im Sinn einer Periode deuten, wäre an dieser
Stelle von einem Halbschluss zu sprechen;
allerdings entzieht die weitere harmonische
Entwicklung dieser Deutung jeglichen Sinn.
Es ist insbesondere die Harmonik, die diesem Stück seinen Reiz und seine unverwechselbare Eigentümlichkeit gibt. Das lässt sich
in Takt 3 bereits einem winzigen Detail entnehmen: Überraschend mag hier das Auflösungszeichen vor f ' anmuten,6 war doch bislang der Ton f noch nie zu fis erhöht worden.
Dieser zweite Melodieteil trägt tatsächlich eine starke Tendenz zu einer Modulation nach
G in sich; der Sekundakkord als Dur-Klang
würde nach G-Dur führen. Dass Schumann
Thema
üben&musizieren 5 11
Robert Schumann: *** aus dem „Album für die Jugend“ op. 68
Epilog vorgesehen hatte, gebildet aus viermaliger Wiederholung des ersten Melodieteils.8 Dieses Nachspiel war sogar noch in
der Stichvorlage vorhanden. Schumann
könnte die Notwendigkeit eines solchen Epilogs aus der doch sehr starken Verkürzung
des mittleren Abschnitts abgeleitet haben.
Auffallend ist, dass der Melodieverlauf hier
zwar geringfügige Abweichungen aufweist,
die Schlüsse jedoch nicht wie auf vorhergehende Art in jeweils andere harmonische
Sphären führen. Dieses zwar souverän komponierte, jedoch nicht vollständig den Verlauf der Komposition erfüllende Ende wurde
von Schumann schließlich verworfen; wahrscheinlich wäre die Anfangsidee durch dieses Ende nachträglich relativiert worden.
CAMILLE SAINT-SAËNS
„Der Schwan“ aus
„Karneval der Tiere“
dieser Möglichkeit hier so starke Bedeutung
zumisst und ein Auflösungszeichen setzt, legitimiert sich aus dem Folgenden. An jeweils
vergleichbarer Stelle wird eine für diese Komposition wesentliche Entwicklung in Gang
gesetzt: Die Schlusswendungen werden
stets in neuem Sinn harmonisiert (a-Moll in
T. 6; E-Dur in T. 8). Fast traumwandlerisch gelangt man so in immer neue Klangsphären,
das Vertraute kann unter jeweils anderem
Blickwinkel wahrgenommen werden.7
In der Reprise (T. 13 ff.) wird diese Tendenz
noch verstärkt; der erste Melodieteil findet
zu keinem Tonikaschluss mehr, C – nunmehr
als dominantischer Quintsextakkord – strebt
zum Folgeklang F. Die Verbindung der beiden
Melodieteile wird gleichzeitig durch ein neu
eingeführtes (wenngleich aus Früherem ableitbares) chromatisches, rhythmisch prägnantes Dreiton-Motiv unterstrichen. Der vier-
taktige thematische Anfangsteil ist hier auf
sechs Takte gedehnt, die eingefügten Takte
lassen infolge ihrer kontrapunktischen Setzweise die Verlängerung in Dichte und Komprimierung umschlagen.
Zwischen Anfangsteil und Reprise, beide in
sich fest gefügt, verflüssigt sich der Satz. Ein
aus den melodischen Strukturen des Themas
gewonnenes Motiv, geprägt durch das Intervall der Sexte, wird mehrfach sequenziert.
Die Sequenzen bleiben aber auf den Motivkopf beschränkt, der Ablauf ist an dieser
Stelle gerafft (darin liegt auch einer der Gründe des nun drängenden Charakters). Die Raffung allerdings bereitet die Dehnung des
nachfolgenden Teils vor – den Proportionen
wird durch solche Methoden ihr rechtes Maß
gegeben.
Es ist in diesem Zusammenhang interessant,
dass Schumann zunächst einen weitläufigen
Saint-Saëns’ zoologische Fantasie verdankt
ihre Ausarbeitung einer Faschingsveranstaltung des Jahres 1886, welcher diese 14 kleinen Stücke zugedacht waren. Nach einigen
Aufführungen distanzierte sich der Komponist allerdings von dieser Komposition und
verbot weitere öffentliche Darbietungen zu
seinen Lebzeiten. Einzig Der Schwan – bereits im Folgejahr der Uraufführung publiziert
– blieb von diesem Verdikt ausgenommen.
Die Beliebtheit dieses Stücks dauert bis heute ungebrochen fort; nicht nur Generationen
von jüngeren und älteren CellistInnen erprobten und erproben ihr Können an der weit
strömenden Melodie, die sich über fließender Harmonik ausbreitet, sondern ebenso
SpielerInnen anderer Instrumente, die auf eine stattliche Anzahl von Bearbeitungen zurückgreifen können. Wahrscheinlich ist das
Studium bearbeiteter Versionen sogar Standard: Ursprünglich für zwei Klaviere und Violoncello solo geschrieben, wird die Komposition im Musikschulalltag vermutlich nur selten in ihrer Originalfassung zu hören sein.
Dennoch sei hier zunächst vom Original ausgegangen.
Die im Karneval skizzierten Tiere scheinen einem „dicken Pinsel“ entsprungen zu sein:
Suggestiv in Klang umgesetzt, treten die im
Titel angekündigten Hühner und Hennen,
Kängurus und Esel geradezu bildhaft vor unsere Augen. Saint-Saëns’ Stücke stehen in einer Tradition von Capriccios und Fantasien,
die spätestens mit den musikalischen Tier-
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Thema
Camille Saint-Saëns: „Der Schwan“ aus „Karneval der Tiere“
imitationen Jean-Philippe Rameaus, François
Couperins oder Alessandro Pogliettis in Mode gekommen sind. Dass neben Cancan tanzenden Schildkröten auch Fossilien und Pianisten den Saint-Saëns’schen zoologischen
Garten bevölkern, zeugt von Humor, der einer Capriccio-Form durchaus entspricht.
Das Bild des Schwans, das Saint-Saëns
klanglich zeichnet, strahlt Ruhe, beinahe
Lautlosigkeit aus; mit majestätischer Gelassenheit zieht der edle Vogel seine Spur durch
die stille Wasseroberfläche. Wie gelingt es
Saint-Saëns, einer solchen Ruhe musikalisch
zu entsprechen? Durch ausgewogene Proportionen zwischen den einzelnen Stückteilen wird ein Zustand innerer Balance erreicht; die Musik weist eine klar strukturierte
Formung auf. Nach einem Einleitungstakt, in
welchem sich die Harmonie des TonikaKlangs fluktuierend ausbreitet, entfaltet sich
die Melodie in acht Takten, periodenhafte Züge aufweisend, in wesentlichen Punkten jedoch nicht einer Periode entsprechend (wie
beispielsweise ein Verhältnis von Öffnen und
Schließen nicht erfüllt ist). Sequenzierung
und (leicht variierte) Wiederholung bestimmen die folgenden acht Takte, bis in der Reprise die Form geringfügig gedehnt und die
Komposition zu ihrem Abschluss gebracht
wird.
Die Harmonie entwickelt sich zunächst über
einem Orgelpunkt (als probatem Mittel des
Beharrens und Auf-der-Stelle-Tretens), wobei
in den ersten Takten eine Kadenz (I-II-V7-I)
das Stück, kaum dass es begonnen hat,
gleich wieder zu seinem Ende zu bringen
droht. Wäre in der Melodiestimme in Takt 5/6
der Leitton fis in den Grundton und nicht –
wie bei Saint-Saëns – in die Terz weitergeführt, wäre es wohl schwer, überhaupt Bewegung in das musikalische Geschehen zu bringen. Dass dieser Anfang enge Berührungspunkte mit dem berühmten C-Dur-Praeludium Johann Sebastians Bachs aufweist, ist
wohl kein Zufall. Vielleicht war es sogar Charles Gounods 1853 erfolgte Umformung dieses Praeludiums zum Welthit Ave Maria, die
einen Initialimpuls zu Saint-Saëns’ Komposition gab.9 Saint-Saëns’ Melodie ist jedoch
kleinräumiger artikuliert und beansprucht
kaum einen vergleichbar großen Raum wie
Gounods Méditation.
In klanglicher Hinsicht zieht sich ein Bogen
über das gesamte Stück: Stückbeginn und
-ende sind – die Lage betreffend – identisch.
In der Melodiestimme wiederum herrscht ein
Streben nach Gleichgewicht in den Bewegungsrichtungen vor. Tonleiterstrukturen lie-
Thema
üben&musizieren 5 11
gen modellhaft der Melodie zugrunde; in den
ersten beiden Takten befinden sich die Bewegungsrichtungen im Ausgleich: Einem fallenden Tetrachord ( g'-fis'-e'-d', T. 2) wird mit einem steigenden Tetrachord geantwortet ( ga-h-c', T. 2/3). Insgesamt bleiben allerdings
im ersten Teil (bis T. 9) die steigenden Tendenzen in der Überzahl. Anders in der Reprise: Hier gewinnen die fallenden Tendenzen
breiteren Raum, steigende und fallende Kräfte gleichen einander fast vollständig aus.10
Ist es die Funktion des Anfangs, die Komposition in Bewegung zu bringen – in melodischer, harmonischer und rhythmischer Hinsicht (auf das Steigen der Melodie in die Terz
h' in T. 5 als Bewegungsimpuls wurde zuvor
schon hingewiesen; harmonisch bewegt sich
der Anfangsteil nach h-Moll, das sich allerdings nicht längerfristig als neue Tonika
etablieren kann) –, so ist dem nachfolgenden
Teil Instabilität angemessen. Der zweite Teil
bleibt ohne konkreten harmonisch-tonalen
Bezug: Zunächst sind durch Sequenzierung
festgefügte harmonische Zustände aufgegeben; schließlich reduziert sich die Musik – in
bloßem harmonischen Schwanken – auf den
Wechsel zwischen D und A, in stets anderem
Licht ausgeleuchtet (T. 14-17). Erneute Stabilisierung zu schaffen, steht dem Schlussteil
zu. Über fünf Takte breitet sich am Ende die
Tonika G aus, unter kurzer Berührung der Dominante, mit e als Sixte ajoutée angereichert. In rhythmischer Hinsicht erreicht die
Melodie in Takt 4 durch kleinere Notenwerte
größere Beweglichkeit; dieser Teil bleibt ab
Takt 22 ausgespart.
Die beiden Klavierstimmen der Originalfassung beschränken sich weitgehend auf die
Ausbreitung eines klanglichen Gewebes.
Durch die raschere Aufeinanderfolge der Töne der arpeggierten Klänge des zweiten Klaviers – zum Teil die Mittellage des ersten
Parts übersteigend – funkeln in der gleichmäßig fließenden Begleitung Blitzlichter auf,
gleich plötzlichen Reflexionen des Lichts auf
der Wasseroberfläche. Im Mittelteil reduziert
sich die Stimme des zweiten Klaviers im Wesentlichen auf bloße Tonwiederholungen in
Oktaven, zunehmend durch mehr Pausen unterbrochen. Schließlich verdichtet sich der
Satz in beiden Klavieren vorübergehend (T.
22), wodurch sich das Fluktuieren im Inneren
eines (halbtaktig) stehenden Klangs verstärkt. Diese Verdichtung bereitet den zum
Abschluss führenden Wiedereinsatz der Tonika vor.
In bearbeiteter Fassung für Klavier und Violoncello ist der Klavierpart zumeist auf die
erste Klavierstimme beschränkt. Dadurch
bleiben der harmonische Ablauf und der musikalische Fluss zwar gewahrt, allerdings gehen aufhellende, kolorierende Details verloren. Problematischer als der Verzicht auf die
zweite Klavierstimme ist jedoch eine Bearbeitung für andere, die Lage des Violoncellos
übersteigende Instrumente. Die Melodie, im
Original tonhöhenmäßig in die Begleitung
eingewoben, überlagert diese nun. Ein solcher Eingriff verändert den klanglichen Eindruck wesentlich. Ebenso prekär ist der abgeänderte Tempohinweis, wie er in der Ausgabe für Violine oder Flöte und Klavier der
Edition Durand gedruckt steht: Im Notentext
findet sich die Vorschrift „Adagio“ statt des
originalen „Andantino grazioso“. Ist der anmutig gleitende Schwan hier ins PathetischSentimentale gekippt?
QUALITÄT IM JEWEILIGEN
KONTEXT
Musik artikuliert sich auf unterschiedliche
Art und Weise: Differenzierende Beurteilung
ist daher notwendig. Schon die letzten Hinweise zeigen, wie Veränderungen die Stimmigkeit einer Komposition gefährden können. Sofort wird spürbar, dass ein kompositorisch vollkommener Zustand in einen weniger vollkommenen übergeht. Zweifellos lässt
sich daran ein Qualitätsverlust erkennen. Insofern kommen wir dem Versuch, Qualität zu
bestimmen, einen Schritt näher. Aber auch
positiv lassen sich Qualitätsmerkmale formulieren: In allen drei Stücken bleibt die Folgerichtigkeit des inneren musikalischen Sinns
vom Beginn bis zum Ende gewahrt, tragen
Details der Komposition zu deren stimmigem
Ganzen bei. Bei allem Streben nach Zusammenhang wird jedoch auch gleichzeitig Abwechslung durch variativen Umgang mit Einzelheiten geschaffen. Proportionen werden
gewahrt, Funktionen der einzelnen Abschnitte erfüllt. Die eingesetzten kompositorischen
Mittel entsprechen dem intendierten Ausdruck; oder besser gesagt: Sie machen Ausdruck überhaupt erst möglich. Stücke wie
diese sind komplexe, keine eindimensionalen Gebilde.
Was hier bei Kompositionen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts – artifizieller Musik mit
ästhetischem Anspruch – Gültigkeit besitzt,
wird selbst bei Musik aus eben dieser Zeit,
wenn sie jedoch anderen Bedürfnissen,
Funktionen oder Zwecken zu entsprechen
hat, völlig oder zumindest zum Teil ohne Relevanz sein.11 Gute Stücke? Sie sind be-
schreibbar, allerdings nur unter Berücksichtigung jenes spezifischen Kontexts, in welchem die Musik jeweils steht.
1 Zur Problematik der Bestimmung ästhetischer Grundbegriffe siehe u. a. Ulrich Pothast: „Krise der ästhetischen Grundbegriffe? Bemerkungen zu einem nur
scheinbar neuen Problem“, in: Marie-Agnes Dittrich/
Reinhard Kapp: Anklaenge 2010. Wiener Jahrbuch für
Musikwissenschaft, Wien 2011, S. 181-189.
2 Grundsätzliche Überlegungen zur Problematik der Abgrenzung zwischen guter und schlechter Musik siehe:
Hans Heinrich Eggebrecht: „Gute und schlechte Musik“
sowie Carl Dahlhaus: „Gute und schlechte Musik“, in:
dies.: Was ist Musik?, Wilhelmshaven 1985, S. 79-87
und S. 88-100.
3 Wolfgang Amadeus Mozart, Brief an seinen Vater vom
14. Mai 1778, in: Mozarts Briefe, nach den Originalen
hg. von Ludwig Nohl, Salzburg 1865, S. 155-158; zit.
nach www.zeno.org/nid/20007764758 (18.7.2011).
4 Zu Robert Schumanns Album für die Jugend siehe
Bernhard R. Appel: Robert Schumanns „Album für die
Jugend“. Einführung und Kommentar, Zürich/Mainz
1998; zur Nummer 21 siehe S. 131-133.
5 ebd., S. 132.
6 Das Auflösungszeichen findet sich in der zweiten Auflage der Erstausgabe von 1850, die – von Schumann
durchgesehen und korrigiert – als Endfassung gilt. Zur
Bedeutung der Druckfassung von 1850 als Quelle siehe
Ernst Herttrich: „Bemerkungen“ (= Kritischer Kommentar) zu Robert Schumanns Album für die Jugend op. 68,
München 2007, S. 84 f.
7 Das Verfahren, stets neue Schlusswendungen bei
(nahezu) identischer Melodie herbeizuführen, wandte
Schumann z. B. auch in der Träumerei aus Opus 15 an.
8 s. Appel, S. 132.
9 Die erste Fassung von Gounods Méditation sur le 1er
prélude de piano de J. S. Bach ist für Klavier, Violine/
Violoncello und Orgel/Violoncello ad libitum gesetzt.
Die Textunterlegung und Umarbeitung zur Vokalfassung
erfolgte erst 1859. Die Erstfassung könnte in Anlage und
Instrumentation unmittelbaren Einfluss auf die Komposition des Schwans genommen haben – dies umso
mehr, als der Karneval der Tiere vermutlich bereits auf
die Zeit von Saint-Saëns’ Tätigkeit als Klavierlehrer an
der École Niedermeyer (1861-65) zurückgeht, somit also
in zeitlicher Nähe zur Entstehung der Méditation steht.
Immerhin ist Gounods Einfluss auf den Opernkomponisten Saint-Saëns belegt. Siehe dazu auch Peter Jost: Art.
Saint-Saëns, (Charles-)Camille, in: Musik in Geschichte
und Gegenwart, Personenteil Bd. 14, Sp. 804 und 816
sowie Manuela Jahrmärker, Art. Gounod, Charles François, in: Musik in Geschichte und Gegenwart, Personenteil Bd. 7, Sp. 1434.
10 Gleichwohl schließt die Melodie in einem (schematisch gesehen) stufenweisen Anstieg zum Grundton. Auf
diese Weise wird die Klanglichkeit des Anfangs erreicht.
Die aus den höchsten Klavierlagen absteigende Begleitstimme bringt das Stück jedoch in einem Gestus des
Schließens zu Ende.
11 vgl. beispielsweise Überlegungen zur Qualität von
Salonmusik im 19. Jahrhundert, in: Eggebrecht, S. 82-85.
Dr. Elisabeth Haas
ist Leiterin einer Wiener Musikschule, Autorin und Herausgeberin von Unterrichtsliteratur sowie Lehrbeauftragte an der Universität für Musik und darstellende Kunst
Wien.
11
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