Ma.st.be H.6 - Physikalisch

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Wie
lang
Wie lange dauert die Gegenwart? Wie weit ist es vom Ende der Vergangenheit bis zum Anfang der Zukunft? Und kann man das messen? –
Stationen einer Suche.
ist
das Jetzt?
„Gegenwart, das ist jetzt. In diesem Augenblick“, sagen die Kinder. „Der
Moment ist zu Ende, wenn man das Wort ‚Augenblick‘ gesagt hat.“ Alex
meint: „Der Augenblick dauert eine Sekunde und bei Mama manchmal viel
länger.“ Und Bini definitiv: „Die Gegenwart ist vorbei, wenn es zu lange
gedauert hat.“
Warum ich das von ihnen wissen will? Vor einigen Tagen hat sich das Thema „Gegenwart“ in mein Hirn geschlichen und festgesetzt. Jetzt schiebt sie
sich von Zeit zu Zeit wieder in die Erinnerung, im Moment immer häufiger.
„Moment“ im Sinne von „dieser Tage“. Doch streng genommen ist der
Moment, sagt mir der Brockhaus, der „Augenblick, Zeitpunkt, eine sehr
kurze Zeitspanne“.
Punkt oder Spanne? Nimmt man als „Augenblick“ den Wimpernschlag,
dann wäre er messbar – doch ist er bei allen gleich lang? Das Thema hat es
in sich, und keiner kann so recht erklären, was Zeit eigentlich ist. Also
Experten befragen, die sich mit Zeit und Zeitgefühl auskennen. Aber wen?
Historiker? Philosophen? Physiker? Oder Hirnforscher?
Fotos (12): www.okerland-archiv.de
Physikalische Gegenwart
Für Physiker ist die Sache klar: Zeit kann man zwar nicht erklären, aber
man kann sie beschreiben, in Stücke teilen und messen. Die Zeit fließt unbeeinflusst vor sich hin. Zeit ist einfach da, genauso wie der Raum, sagt der
Physiker – mit dem Unterschied, dass man in der Zeit nur eine Richtung
nehmen kann. Die Gegenwart ist, physikalisch betrachtet, ein einzelner
Punkt, durch Uhrzeit und Datum exakt zu beschreiben.
Uhrzeit und Datum hingegen sind vom Menschen definiert, der für die
Zeitmessung irgendwelche regelmäßig wiederkehrenden Vorgänge nutzt –
etwa die Rotation der Erde oder das Schwingen eines Pendels. Mittlerweile
haben sich die Physiker die Quantensprünge von Cäsiumatomen untertan
gemacht. Wenn ich also „jetzt“ auf eine der Braunschweiger Atomuhren
schaue, kann ich den Moment auf die billiardstel Sekunde genau nennen –
nur ist er schon vorbei, bevor ich ans Nennen auch nur denken kann.
maßstäbe
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Subjektive Gegenwart
Doch mein persönliches „Jetzt“ ist ja noch da, wenn ich davon rede, ist erst
demnächst Vergangenheit. In diesem Moment, genau jetzt, bin ich mir bewusst, dass ich mich in der Gegenwart befinde, zwischen Vergangenheit und
Zukunft. Und im nächsten Moment schon wieder. Als wäre der Moment eine
Blase, die mich umgibt und die anderen beiden Zustände auf sichere Entfernung hält. Aber die Gegenwart kann doch nicht ein Leben lang dauern?
Um Dinge überhaupt in einer Abfolge wahrzunehmen, brauchen wir eine
innere Uhr. Das sagen Hirnforscher. Ein innerer Taktgeber gibt uns das zeitliche Gerüst vor, in dem sich Wahrnehmungen geordnet ablegen lassen.
Hirnverletzungen zeigen, dass es ohne Taktgeber nicht geht. Doch wo sitzt
er, wie funktioniert er, wie lang ist der Takt?
Da sind zunächst mal die biochemischen und biophysikalischen Abläufe im
Hirn. Der Biochemiker Francis Crick, der einst die DNA-Struktur entschlüsseln half, sagt schlicht: „Die geistigen Aktivitäten des Menschen beruhen
komplett auf dem Verhalten von Nervenzellen, Gliazellen und den Atomen,
Ionen und Molekülen, aus denen sie bestehen.“
Weitere Hinweise auf den Taktgeber geben psychophysische Experimente.
Sie sollen klären, was „gleichzeitig“ und was „nacheinander“ bedeutet: Versuchspersonen bekommen zwei Sinnesreize dicht nacheinander vorgespielt
oder gezeigt. Um sie als getrennte Ereignisse zu erkennen, braucht das bei
Tönen einen Mindestabstand von zwei bis drei Millisekunden, sonst verschmelzen sie im Hirn zu einem einzigen Ton. Beim Tastsinn sind rund
10 Millisekunden Abstand nötig und bei Bildern sogar 20 bis 30 Millisekunden.
30-Millisekunden-Gegenwart
Wenn die Versuchsperson jetzt aber bewusst nennen soll, welcher Reiz
zuerst und welcher danach kam, scheint ein gemeinsamer Mechanismus
zu arbeiten. Alle drei Sinne benötigen in etwa dieselbe Zeit: rund 30 Millisekunden. Und diese Zeitspanne findet sich immer wieder. Ob die Augen
mit dieser Verzögerung einer Bewegung folgen, ob einzelne Nervenzellen
sich nach einem Reiz in Schwingungen entladen, ob beim Lernen ganz weit
voneinander entfernte Neuronen im Gleichtakt oszillieren oder ob das Kurzzeitgedächtnis nach Detailinformationen durchsucht wird – immer vergehen
rund 30 bis 40 Millisekunden, bevor etwas Neues beginnen kann.
Offenbar ist diese Periode der grundlegende Taktgeber im Hirn. Nur mit ihr
im Hintergrund kann ich den Schritt beschleunigen, beim Musizieren Takt
halten oder auf meine „innere Uhr“ hören. Was ich also um mich herum
wahrnehme, scheint nur, als würde es fließend ablaufen. In Wirklichkeit
sind es ultrakurze Momentaufnahmen, stroboskopartige Eindrücke auf allen
Sinneskanälen, die in Portionen verarbeitet werden.
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maßstäbe
3-Sekunden-Gegenwart
Doch im Hirn scheint es noch einen zweiten Takt zu geben, die „Inseln der
Gegenwart“ oder „3-Sekunden-Fenster“. Benannt hat sie erstmals der deutsche Neurologe Ernst Pöppel, um unterschiedlichste Versuchsergebnisse
vieler Jahrzehnte zusammenzufassen: „In vielen verschiedenen Bereichen
unseres Erlebens lässt sich immer wieder ein Zeitintervall von etwa drei
Sekunden aufspüren.“
Was ist der Unterschied zu dem anderen grundlegenden Takt? Der 30Millisekunden-Rhythmus lässt sich nur mit Hilfe von Elektroden am Kopf
(also per EEG) messen und ist offenbar für die unbewusste Zeitgliederung
zuständig. Dagegen bestimmt der 3-Sekunden-Rhythmus unser Bewusstsein. Er wird im Alltag sichtbar: Musikalische Motive dauern selten länger
als drei Sekunden, ebenso gedichtete Verse. Kulturforscher stellten erstaunt
fest, dass kurze Bewegungen wie Händeschütteln oder wütendes Stampfen
weltweit und kultur-unabhängig immer rund drei Sekunden dauern.
Auch die Aufmerksamkeit richtet sich nach diesem Rhythmus. Wie viele
Einzelinformationen, wie viele Taktschläge kann ich zu einem Gesamteindruck zusammenfassen, zu einer so genannten Wahrnehmungsgestalt? Nun,
wieviel auch immer auf mich einströmt, nach rund drei Sekunden ist
Schluss; danach beginnt der nächste Wahrnehmungs-Block.
Selbst das Kurzzeitgedächtnis, das darauf beruht, dass „synchron feuernde
Neuronen für einige Zeit biochemische und elektrische Spuren hinterlassen“
(so der kalifornische Neurobiologe Christof Koch), benutzt die „3-Sekunden-Fenster“. Verbietet man jemandem, eine neue Information nach drei
Sekunden zu wiederholen, so verschwindet sie aus seinem Gedächtnis. Die
Spuren auf den Nervenzellen verlieren sich; die Tafel ist gewischt und
erwartet neue Inhalte: ein nächstes 3-Sekunden-Fenster. Ein neues Jetzt.
DÖRTE SASSE
Das Jetzt im Hirn messen
Wie funktionieren die Zeitfenster? Das wüssten die Neurologen auch gerne.
Bislang fehlt ihnen die perfekte Technik. Aber Stück für Stück tasten sie sich
näher an die Sache heran: Mit Verhaltenstests ermitteln sie Reaktionen. Mit
dem EEG messen sie elektrische Potenziale von Nervenzellen. Und mit der
funktionellen Magnetresonanztomografie (fMRT) erfahren sie, welche Hirnregionen erhöhten Energiebedarf haben, also aktiv sind – nur leider nicht in
Echtzeit; die Messung hinkt immer ein paar Sekunden hinterher. Vielleicht
werden die ganz neuen technischen Verfahren helfen: etwa die Magnetenzephalographie (MEG), die millisekundengenau sichtbar macht, wie sich Magnetfelder um elektrisch aktive Neuronengruppen herum ändern, die MultiplePhotonen-Mikroskopie, funktionelle Farbstoffe oder molekulargenetische
Methoden. Im Laufe der kommenden zehn Jahre erwarten die Forscher
wesentlich bessere Einblicke in die Natur des 3-Sekunden-Taktes.
ds
maßstäbe
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Ansprechpartner in der PTB
Folgende Mitarbeiter der PTB sind in den
Beiträgen dieses Heftes namentlich erwähnt:
S. 30–33: Energieniveaus, Fontänen und Atomfallen
Die Atomuhren-Mannschaft ([email protected]):
Rolf Augustin
Dr. Andreas Bauch ([email protected])
Jürgen Becker
Dieter Griebsch
Thomas Leder
Dr. Ekkehard Peik ([email protected])
Dr. Dirk Piester
Thomas Polewka
Christof Richter
Tobias Schneider
Roland Schröder
Dr. Christian Tamm
Dr. Stefan Weyers
Dr. Robert Wynands ([email protected])
Arbeitsgruppen: „Zeitnormale”, „Zeitübertragung”,
„Optische Uhren”
S. 39–41: Meine Zeitreise mit C9
Dr. Peter Hetzel (im Ruhestand)
Lothar Rohbeck (im Ruhestand)
ehemals: Arbeitsgruppe „Zeitübertragung”
S. 42–44: Die Radio-Uhr
Dr. Herbert Janßen ([email protected])
Fachbereich „Radioaktivität”
Dr. Karsten Kossert ([email protected])
Arbeitsgruppe „Aktivitätseinheit”
S. 51–53: Zeit für die Masse
Dr. Michael Gläser ([email protected])
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Physikalisch-Technische Bundesanstalt
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Nicole Geffert, Andrea Hoferichter (ah), Ute Kehse,
Jan Oliver Löfken (jol) , Brigitte Röthlein (rö),
Dörte Saße (ds), Rainer Scharf, Axel Tillemans (at)
Layout: Jörn-Uwe Barz
Grafik: Björn Helge Wysfeld (wysi)
Fact checker: Bernd Warnke
Redaktionsassistenz: Cornelia Land
Druck
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Auszüge der „maßstäbe” im Internet unter www.ptb.de
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Braunschweig, September 2005
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