Demokratie und Elite - Die Rolle der Elite in der pluralistischen

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Demokratie und Elite
- Die Rolle der Elite in der pluralistischen
Gesellschaft*
Hans-Jochen Vogel
Das Thema, das ich unter dem Titel „Demokratie und Elite - Die Rolle der Elite in
der pluralistischen Gesellschaft“ gewählt habe, ist aktuell, aber auch vielschichtig
und komplex. Dabei wird von mir wohl kaum eine eher abstrakte Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Elitetheorien, sondern die Einschätzung eines
politischen Praktikers erwartet. Mit dieser Maßgabe will ich zunächst erläutern,
was ich unter Elite verstehe (1), dann auf das Verhältnis der Elite zur Demokratie
eingehen (2) und mich anschließend mit der realen Situation in der Bundesrepublik
beschäftigen (3). Daran werde ich noch eine Schlußbemerkung knüpfen (4).
1
Der Elite-Begriff
Das Wort und der Begriff Elite ist relativ neueren Datums. Es stammt aus dem
Französischen, in dem es „Auslese“ bedeutet und ist im 18. Jahrhundert als
Lehnwort ins Deutsche übernommen worden. Definitionen des Begriffs existieren
in großer Zahl, was eher zur Verwirrung als zur Klarheit beiträgt. Eliten gibt es
nach dem allgemeinen Sprachgebrauch in vielen Lebensbereichen, vom Sport über die Kunst bis zur Wissenschaft und der Politik. Im Zusammenhang mit dem
mir gestellten Thema verstehe ich allerdings unter Elite nur die jeweilige Summe
derer, die für das Gemeinwesen wesentliche Entscheidungen durchzusetzen oder
zu verhindern vermögen oder sonst auf die gesellschaftlichen Normen und auf die
Erhaltung oder Veränderung der Sozialstruktur des Gemeinwesens Einfluß neh* Hans-Jürgen Krupp hat unserem Gemeinwesen im Laufe seines bisherigen Lebens in
vielen Funktionen gedient. Dabei hat er nach meinem Verständnis dieses Begriffes stets
zur demokratischen Elite gehört, ohne je elitär zu sein. Zu seinem 65. Geburtstag widme
ich deshalb diesen Text, der aus einem schon etwas länger zurückliegenden Vortrag hervorgegangen ist.
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men. Das kann - muß aber nicht - mit Funktionen verbunden sein. Ich habe Minister erlebt, die während ihrer Amtszeit nicht eine einzige Entscheidung von Belang verwirklicht oder auch nur verhindert haben. Umgekehrt kennt jeder Männer
und Frauen, die auch ohne förmliche Funktion einfach Kraft ihrer Persönlichkeit
die Entwicklung unseres Gemeinwesens an bestimmten Stellen fühlbar beeinflußt
haben. Carl Friedrich von Weizsäcker und Marion Gräfin Dönhoff gehören in ihrer Art dazu.
Natürlich hat Elite im Sinne meiner Definition etwas mit Macht und Machtausübung zu tun. Macht aber - so hat Max Weber gesagt - ist die Chance, innerhalb
einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel, worauf diese Chance beruht (Weber 1976, S. 28). Macht kann
ebenso auf Wissen und sozialer Geschicklichkeit, auf persönlicher Überlegenheit
und Kraft - Weber nennt das Charisma (Weber 1976, S. 140) -, auf sozialem
Prestige oder auf traditionell und organisatorisch gesicherter Autorität wie auf
normierter Kompetenz beruhen und wird sich dann potenzieren, wenn in einer
Person mehrere dieser Voraussetzungen zusammentreffen. Ein Bundespräsident
beispielsweise kann auf diese Weise kompensieren, was seinem Amt an geschriebenen Befugnissen ermangelt. Die Einengung des Elitebegriffes auf die sogenannten Funktionseliten geht deshalb an der Wirklichkeit vorbei.
Andere Definitionen wollen die Zugehörigkeit zur Elite zusätzlich davon abhängig machen, daß der oder die Betreffende Macht und Einfluß aufgrund besonderer Eigenschaften oder Leistungen ausübt. Das vermengt meines Erachtens Sachverhalt und Wertung und geht deshalb zu weit. Einflußreiche können auch durchaus faul oder bösartig oder beides sein. Sie deshalb qua definitionem auszuschließen, könnte zu der Folgerung führen, Eliten seien stets positiv zu bewerten - und
damit keiner weiteren Beurteilung mehr zugänglich. Davor sollte schon der Umstand bewahren, daß das vom Hauptwort Elite abgeleitete Adjektiv „elitär“ in den
meisten Wörterbüchern mit dünkelhaft oder überheblich umschrieben wird.
Den Begriff Elite habe ich sowohl in der Einzahl als auch in der Mehrzahl gebraucht. In der Mehrzahl, weil sich nach dem Tätigkeitsbereich und der Art der
Einflußnahme durchaus Differenzierungen vornehmen lassen. So etwa zwischen
dem politischen Feld im engeren Sinne - und hier schließe ich die Streitkräfte ein,
weil erfreulicherweise eine sehr weitgehende Integration der Streitkräfte in das
demokratische Gefüge stattgefunden hat und folglich von eigenständigen MilitärEliten kaum mehr die Rede sein kann - dem Gebiet der Wirtschaft, der Verbände, der Wissenschaft, der Kunst und der Kultur, der Medien und der kirchlichen
Aktivitäten. Die Mehrzahl erscheint auch deshalb angebracht, weil es zwischen
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und auch innerhalb von Teileliten häufig zu Konkurrenzsituationen, ja zu ausgesprochenen Konfrontationen kommt. Die Einzahl soll demgegenüber deutlich machen, daß die wirkungsbezogenen Kriterien der Zugehörigkeit zur Elite umfassend
und auf das Gemeinwesen insgesamt, nicht nur auf Teilbereiche des Gemeinwesens abgestellt sind. Und gewiß hat so gesehen mancher Vorstandsvorsitzende,
mancher Chefredakteur, mancher Gewerkschaftsvorsitzende und mancher Verbandsgewaltige mehr Macht und Einfluß auf die gesellschaftlichen Normen, auf
die Sozialstruktur oder auf konkrete politische Entscheidungen, die für das Gemeinwesen wichtig sind, als mancher Minister und viele Abgeordnete.
2
Eliten in der Demokratie
Wie nun verhalten sich Demokratie und Elite zueinander? Lassen sich der Begriff
der Elite und ihr Vorhandensein ohne weiteres in das Prinzipiengefüge der Demokratie einordnen? Bei dem Begriff der Führung würde wohl kaum jemand zögern.
Auch Demokratie bedarf der Führung. Aber verträgt Demokratie Eliten? Oder
braucht sie sie sogar? Wer die letztgenannte Frage - wie ich - bejahen will, muß
zunächst einmal anerkennen, daß zwischen beiden Gegebenheiten Spannungsverhältnisse bestehen.
Einmal ist der Begriff Elite vorbelastet. Er erinnert an aristokratisch-hierarchische Ordnungen und Zeiten, in denen die Abstammung (Adel) oder der Besitz über die Zugehörigkeit zur Elite entschieden und diese Zugehörigkeit mit erheblichen, teilweise sogar exzessiven Privilegien verbunden war. Auch sind die
früheren Elitetheorien nicht zur Unterstützung des Demokratisierungsprozesses,
sondern ganz im Gegenteil zu seiner Abwehr entwickelt worden. Immerhin sind
Mosca und Pareto, die auf diesem Gebiet maßgebend tätig waren, nicht ohne
Grund vom Faschismus in Anspruch genommen worden. Auch Plato, der als erster die Idee von der Herrschaft der Besten vertrat, war bekanntlich alles andere
als ein Demokrat. Und man sollte auch nicht vergessen, daß deutsche Eliten in
diesem Jahrhundert wiederholt und in schlimmer Weise versagt haben.
Gravierender noch erscheint die Spannung zwischen dem Gleichheitsprinzip
und der Vorstellung einer Minderheit, die zur Elite zählt, und einer Mehrheit, die
dem Einfluß - härter gesagt der Machtausübung - dieser Minderheit unterliegt.
Diese Spannung löst sich jedoch, wenn man bedenkt, daß Gleichheit nicht bedeutet, alle könnten alle Funktionen zur gleichen Zeit ausüben oder alle Chancen zur
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gleichen Zeit nutzen. Die Bedeutung von Elite in einer Demokratie hängt deshalb
von der Frage des Zugangs und der Auswahl ab, also von der Chancengleichheit
und der Kontrolle der Elite.
Die Frage des Zugangs ist zunächst eine Frage der Bildung - ich scheue auch
den Begriff der Erziehung nicht - und der Ausbildung. Die Bildungspolitiker streiten sich bis heute über das richtige Verhältnis zwischen Breitenförderung und
Hochbegabtenförderung. Ich halte beides für wichtig und auch für vereinbar - und
zwar auch im Rahmen einer Gesamtschule und großer Universitäten. Dabei muß
jeder schichtenspezifische Ansatz vermieden werden. Es würde demokratischen
Prinzipien zuwiderlaufen, zu Verkrustungen führen und vor allem die Entwicklungs- und Wachstumschancen von Eliten einschränken, wenn sich Eliten nur
aus sich selbst ergänzten.
Die Auswahlmechanismen und damit auch die Legitimation variieren für die
verschiedenen Teilbereiche. Demokratischen Maßstäben entspricht - jedenfalls im
Grundsatz - die Auswahl für die Inhaber öffentlicher Funktionen. Sie wird unmittelbar durch Wahlentscheid des jeweiligen Wahlvolkes oder - so bei Beamten,
Richtern, Offizieren und anderen Angehörigen des Öffentlichen Dienstes - von
demokratisch legitimierten Organen getroffen. Auf die Mängel und Defizite der
Praxis werde ich noch zurückkommen.
In anderen Bereichen folgt die Auswahl recht unterschiedlichen Prinzipien. Relativ demokratisch sind die Wahlverfahren der Gewerkschaften und - mit Einschränkungen - der Evangelischen Kirche. Die Wirtschaft und ihre Verbände, die
Medien und die katholische Kirche praktizieren eigene Verfahren. Ansätze zur
Mitbestimmung der unmittelbar Betroffenen gibt es bei größeren Unternehmen
nach Maßgabe des Mitbestimmungsgesetzes. Bei den Medien ist die Entwicklung
eher rückläufig. Regelungen, nach denen zumindest die Redakteure an der Auswahl der Chefredakteure oder der Ressortchefs mitwirken können, sind jedenfalls
die Ausnahme. Im Bereich der Kunst und der Kultur entscheidet über die Stellung
und den Einfluß des einzelnen letzten Endes das Maß der öffentlichen Zustimmung
und Anerkennung. In einzelnen Fällen - so bei Eigentümern sehr großer Vermögen - kann auch noch immer die Geburt als Kind eines solchen Eigentümers eine
Rolle spielen.
Bleibt das Problem der Kontrolle. In der Demokratie geht alle Staatsgewalt
vom Volke aus und unterliegt seiner Kontrolle. Das Volk muß deshalb in der Lage sein, Angehörige der Elite auch gegen ihren Willen aus ihren hervorgehobenen
Funktionen zu entfernen. Im politischen Bereich ist das im Wege der Nichtwiederwahl, gelegentlich der Abwahl oder der Versetzung in den einstweiligen Ruhe538
stand möglich. In der Wirtschaft und bei den Medien entscheidet darüber im allgemeinen der wirtschaftliche Erfolg, also die Bilanz oder die Auflage. Manche sagen, darin stecke Abstimmung durch Nachfrage. Weniger Optimistische sind der
Ansicht, daß die Kapitaleigner in beiden Bereichen über nahezu unbeschränkte
personelle Entscheidungmacht verfügen. Ich neige hier zu den weniger Optimistischen.
Insgesamt komme ich demnach zu der These: Auch die Demokratie kann ohne
Eliten nicht funktionieren. Allerdings benötigt sie nicht irgendwelche Eliten, sondern Eliten, die ihren besonderen Ansprüchen gerecht werden. Und damit bin ich
bei der Frage, die ich bei der Begriffsbestimmung ausgeklammert habe: Was also
muß eine Demokratie von ihrer Elite fordern? Wer kann in einer Demokratie zur
Elite gezählt werden?
In meinem Katalog der Anforderungen stehen umfassendes Sachwissen, Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft, Aufnahmefähigkeit, Willenskraft, Entscheidungs- und Durchsetzungsfähigkeit sowie Überzeugungskraft - und dazu gehört Kommunikationsfähigkeit - ziemlich weit oben. Aber ebenso hoch veranschlage ich Kreativität, Phantasie, Lebenserfahrung und Menschenkenntnis. Und
höher noch rangiert bei mir die Orientierung an Werten und das Bewußtsein der
Verantwortung gegenüber den Mitmenschen und der Gemeinschaft. Macht, die
um ihrer selbst willen ausgeübt wird, die Menschen instrumentalisiert und die Mittel verwendet, die zu den Werten in Widerspruch stehen, die sie zu verwirklichen
vorgibt, ist böse. Macht muß dienen wollen. Diejenigen, die beanspruchen, zur Elite zu zählen, sollten zwei Sätze stets vor Augen haben. Nämlich den Satz aus
dem Evangelium:
„Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst.“
und den Satz Immanuel Kants:
„Handle so, daß die Maxime Deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen
Gesetzgebung gelten könnte.“
Der Satz aus dem Evangelium besagt übrigens, daß man sich durchaus auch selbst
etwas zugute tun kann - aber eben nur in dem Maße, in dem man es auch für andere tut. Und „anderer“ oder nächster ist nicht nur der, der unmittelbar im Umkreis lebt. Das ist auch der weiter entfernte. Auch der Fremde, der Ausländer
zum Beispiel.
Wichtig ist mir in diesem Zusammenhang die Fähigkeit und Entschlossenheit,
andere mehr durch das eigene Beispiel, durch Glaubwürdigkeit und die Fähigkeit
des Zuhören könnens als durch Reden zu überzeugen. Glaubwürdigkeit erwächst
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daraus, daß man selber tut, was man von anderen fordert. Vielleicht gehört dazu
sogar ein Stück Askese. Nicht unbedingt im mönchischem Sinne. Aber in dem
Sinne, daß man auch Unverbotenes unterläßt und auf eigene Vorteile bewußt verzichtet. Die Zukunft unseres Erdballs und der Menschheit insgesamt wird übrigens
ebenso stark von dem abhängen, was wir unterlassen, obwohl wir es tun können,
als von dem, was wir tun.
Ich weiß, mein Anforderungskatalog ist streng - ideal-typisch nennt man das
wohl. Aber die Lebenswirklichkeit relativiert ihn ohnehin und bleibt hinter den Anforderungen - auch den weniger strengen - stets ein Stück zurück. Und natürlich
gibt es auch einen Katalog typischer Gefährdungen. Machtbesessenheit nannte ich
schon. Selbstüberschätzung, Menschenverachtung, Egozentrik - gehören dazu.
Ebenso der Verlust der Sensibilität, des Zuhörenkönnens und das, was ich professionelle Deformation nenne. Also der Verlust der Kreativität durch ständige
Selbstüberforderung. Das Austrocknen aller Lebensbereiche, die nicht mit der
täglichen Arbeit in unmittelbarem Zusammenhang stehen. Auch der Opportunismus gehört zu den Gefährdungen. Die Neigung, jedem - insbesondere aber dem
Stärkeren - Recht zu geben, immer mit dem Strom zu schwimmen, sich stets so
auszudrücken, daß immer noch eine Hintertür bleibt. Allerdings gibt es Grenzbereiche, in denen Opportunismus, Höflichkeit, Diplomatie und das, was für politische Klugheit gehalten wird, ineinander übergehen.
3 Zur praktischen Relevanz der Elite in der Bundesrepublik
Deutschland
Was folgt aus all dem für die reale Situation in der Bundesrepublik?
Soziologische Untersuchungen aus dem Jahre 1995 kommen zu dem Schluß,
daß es in der Bundesrepublik knapp 4.000 Inhaber von Elite-Positionen gab, daß
77,5 % von ihnen einen Hochschulabschluß besaßen und ein Viertel ausgebildete
Juristen waren. Der Frauenanteil betrug danach kümmerliche 11,8 %, der Anteil
derer, die einer Partei angehören, über 50 % (Bürklin/Rebenstorf 1997). Andere
Untersuchungen wollen herausgefunden haben, daß die Akzeptanz demokratischer Grundprinzipien und der politischen Institutionen bei dem in Rede stehenden
Personenkreis hoch und er selbst wesentlich liberaler sei als der Bevölkerungsdurchschnitt (vgl. Steiner 1986; vgl. auch Kaina 1996).
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Ich lasse das dahingestellt, weil ich es nicht im einzelnen prüfen kann. Ich vermute jedoch, daß der Kreis derer, die hier einbezogen wurden, sehr eng gefaßt
ist. Eigens bedacht werden muß die Situation in den neuen Bundesländern. Hier
haben wir es gegenwärtig mit einem besonderen Vorgang zu tun - nämlich mit der
Notwendigkeit, die bis 1989 vorhandene nichtdemokratische Elite auszuwechseln. Das Verlangen vieler Menschen in den neuen Bundesländern nach der unverzüglichen Ablösung der alten Kader unterstreicht übrigens, daß die Demokratie Eliten braucht. Aber nicht irgendwelche Eliten, sondern Eliten, die den demokratischen Anforderungen entsprechen.
Meine folgenden Bemerkungen sind deshalb nicht allgemeiner Natur, sondern
geben einige konkrete Eindrücke wieder, die ich im Laufe der Zeit gewonnen habe. Dabei steht aus nahestehenden Gründen der politische Bereich im Vordergrund. Ich halte mich dabei an die Reihenfolge meiner bisherigen Gliederung.
Am Anfang stand mein Versuch, den Elitebegriff abzugrenzen. Dieser Versuch
schließt nur diejenigen ein, die selbst relevante Entscheidungen treffen können.
Darüber darf jedoch die sogenannte zweite Reihe nicht vergessen werden. Sie
umfaßt unter anderem persönliche Referenten, Redenschreiber, Assistenten, Geschäftsführer und Pressesprecher. Ihr Einfluß ist deutlich größer, als es die Öffentlichkeit in der Regel wahrnimmt. In konkreten Fällen kann das so weit gehen, daß
sie Entwicklungen stärker bestimmen, als der, dem sie nominell zuarbeiten. Dennoch halte ich an der Abgrenzung fest. Sonst müßte man gelegentlich auch die Ehepartner oder Lebensgefährten einschließen.
Einschließen möchte ich hingegen Sprecher von Bürgerbewegungen, wenn
sowohl die Bewegung als auch der betreffende Sprecher für gewisse Dauer in Erscheinung treten und bundesweit wahrgenommen werden. Rudi Dutschke und
Bärbel Bohley - um nur zwei Beispiele zu nennen, bei denen die Voraussetzungen
erfüllt waren - haben jeweils zu ihrer Zeit auf das gesellschaftliche Bewußtsein beträchtlichen Einfluß genommen. Wie die Werdegänge von Daniel Cohn-Bendit
und Joschka Fischer zeigen, kann es dabei auch zu fließenden Übergängen von
informellen zu formellen Funktionen kommen. Für die Erneuerung der Eliten und
ihre Vitalisierung erscheint mir das durchaus begrüßenswert.
Was die Teileliten angeht, so sind sie in der Bundesrepublik stärker gegeneinander abgeschottet als in anderen Demokratien, insbesondere als in Großbritannien oder in den USA. Der Eintritt des Vorstandsvorsitzenden eines großen Unternehmens oder eines Chefredakteurs eines großen Blattes oder eines hervorragenden Wissenschaftlers in den Bundestag oder gar in eine Regierung ist ebenso
selten wie die umgekehrte Veränderung. Mehr als eine Handvoll Beispiele - dar541
unter Karl-Hermann Flach, Manfred Lahnstein, Philip Rosenthal, Detlev Karsten
Rohwedder und, wenn auch kennzeichnenderweise nur einige Wochen, Rudolf
Augstein - kämen wohl kaum zusammen. Als Gründe dafür werden im allgemeinen die finanziellen Einbußen genannt, die mit einem derartigen Übergang in die
Politik verbunden sind, und auch das geringere Ansehen und die Mühseligkeit der
politischen Tätigkeit im Vergleich zu anderen Bereichen. Das ist sicher von Belang. Es kommt meines Erachtens aber hinzu, daß nicht wenige Exponenten dieser
Bereiche, insbesondere der Wirtschaft und der Medien, glauben, von außen mehr
oder auch bequemer politischen Einfluß nehmen zu können als aus der Mitte eines
Parlamentes. Auch sind wir wohl von der Einschätzung, es sei selbstverständlich,
dem Gemeinwesen zumindest eine Zeitlang auch im öffentlichen, im demokratisch
kontrollierten Bereich zu dienen, noch ein großes Stück entfernt.
Die Ergebnisse der Auswahl der politischen Elite werden zunehmend kritisiert.
Soweit ich sehe, lauten die hauptsächlichen Vorwürfe:
− In den Bundestag und die Landtage gelangen mehr und mehr Kandidaten ohne
praktische Berufserfahrung. Insider-Laufbahnen innerhalb der Partei- und
Fraktionsapparate treten an die Stelle beruflicher Bewährung außerhalb der
Politik.
− Der Öffentliche Dienst ist über-, andere Bereiche sind unterrepräsentiert. Arbeiter sind fast gar nicht vertreten.
− Unterrepräsentiert sind nach wie vor die Frauen. Zwar hat die SPD-Bundestagsfraktion mit einer Steigerung des Frauenanteils von zuletzt 27,2 % auf jetzt
33,7 % gezeigt, daß sich das schrittweise ändern läßt. Insgesamt ist aber ein
durchschnittlicher Frauenanteil von 26,3 % im Bundestag völlig unbefriedigend.
− Ein Repräsentationsproblem gibt es übrigens auch bei der älteren Generation.
Die über 65jährigen machen 15,4 % der Gesamtbevölkerung, aber nur 3,3 %
der Bundestagsabgeordneten aus. Bei den unter 35jährigen sieht es nur geringfügig besser aus. Hier lauten die Zahlen 44,4 % und 4,5 %. Dabei ist allerdings
zu berücksichtigen, was ich eingangs über die Notwendigkeit einer hinlänglichen Lebens- und Berufserfahrung gesagt habe.
− Die Zugehörigkeit zum Bundestag und anderen Parlamenten dauert im Durchschnitt zu lang. Das führt zur Unbeweglichkeit.
Mit Ausnahme des letzten Punktes - die durchschnittliche Zugehörigkeit zum
Bundestag beträgt zur Zeit nur knapp neun Jahre - halte ich die Kritik im Kern für
berechtigt. Ich sehe aber keine andere Abhilfemöglichkeit als die kontinuierliche
Schärfung des allgemeinen Bewußtseins. Nicht im Sinne einer generellen Politik542
oder Politikerbeschimpfung, sondern im Sinne einer Überzeugungsarbeit, die
Schritt für Schritt zu Korrekturen bisherigen Auswahlgepflogenheiten führt. Von
den immer wieder vorgeschlagenen Änderungen der Auswahlverfahren verspreche ich mir wenig.
Es würde zu weit führen, wenn ich mich auch zu den Auswahlergebnissen in
den übrigen Bereichen äußern wollte. Nur als Fußnote sozusagen merke ich an,
daß mir der Einfluß der Parteien auf personelle Entscheidungen in einigen Bereichen - so im Öffentlichen Dienst, in den öffentlich-rechtlichen Medienanstalten
und in manchen Verbänden - entschieden zu weit geht. Natürlich wird dabei jeder
zunächst an die anderen Parteien und dann erst an die eigene Partei denken. Aber
gelegentlich darf man schon daran erinnern, daß die Parteien nach dem Artikel 21
des Grundgesetzes an der Willensbildung mitwirken, nicht aber ganze Bereiche
mehr oder weniger planmäßig penetrieren und unter sich aufteilen sollen.
Bleibt mein Anforderungskatalog. Auch hier beschränke ich mich auf den politischen Bereich und auf die Punkte, die mir besonders wichtig erscheinen.
Wichtig ist mir, daß die Politik das Zuhören nicht verlernt und den Kontakt mit
der Lebenswirklichkeit und den täglichen Sorgen der Menschen nicht verliert.
Deshalb kann ich mich an dem Spott über die Abgeordneten, die ihre Wahlkreisarbeit ernst nehmen, die an Veranstaltungen, bei denen sich Menschen aus unterschiedlichsten Anlässen zusammenfinden, teilnehmen oder die ganz einfach Bürgern helfen, mit einem konkreten Problem zurechtzukommen, nicht beteiligen. Im
Gegenteil: Wer das für überflüssig hält, muß sich fragen lassen, was er eigentlich
unter dem Begriff des Volksvertreters versteht. Und ob er sich nicht „elitär“ benimmt. Das aber sollte gerade der, der sich zur Elite zählt, nicht.
Wichtig ist mir weiter ein vernünftiges Verhältnis zwischen Detailkenntnissen
und der Fähigkeit zur allgemeinen Orientierung. Wer nicht auf einem bestimmten
Gebiet mehr weiß als andere und nicht gleichzeitig über allgemeine Kenntnisse und
vor allem über allgemeine Orientierung verfügt, wird auf die Dauer nicht bestehen
und auch sein Selbstbewußtsein nicht behaupten können. Und wer als Spezialist
von weniger und weniger mehr und mehr weiß, bis er schließlich von nichts alles
weiß, ist ebenso untauglich wie der Generalist, der von mehr und mehr weniger
und weniger weiß, bis er endlich von allem nichts mehr weiß.
Von Machtmißbrauch sprach ich schon. Er äußert sich darin, daß Menschen
als Mittel zum Zweck instrumentalisiert werden. Mißbrauch ist aber auch, wenn
Probleme instrumentalisiert werden. Wenn es nicht mehr darum geht, ein Problem
zu lösen, sondern mit ihm so zu hantieren, daß der politische Gegner ein Höchst-
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maß an Schaden erleidet. Die Asyldebatte hat dafür einiges Anschauungsmaterial
geliefert.
Von zentraler Bedeutung erscheint mir schließlich das persönliche Beispiel und
die Glaubwürdigkeit. Die Öffentlichkeit beschäftigt sich unter diesen Stichworten
immer wieder mit den Diäten und der Kostenpauschale. Die Kritik an den Erhöhungen mag populär sein, berechtigt ist sie - jedenfalls in bezug auf den Bundestag
- nicht. Die Erhöhungen halten sich dort vielmehr im Rahmen der allgemeinen Erhöhungen aller Löhne, Gehälter und Vergütungen, ja blieben lange eher hinter ihnen zurück. Außerdem gibt es kaum eine vergleichbare Gruppe, die sieben Jahre
lang - von 1977 bis 1983 - auf jede Erhöhung ihres Einkommens verzichtet hat.
Ernsthaft sollte noch einmal geprüft werden, ob nicht gut wäre, in die Verfassung eine Bestimmung aufzunehmen, die es den Parlamentariern erlaubt, die Bemessung der Abgeordnetenvergütung und -entschädigung einem Gremium außerhalb der Legislative zu übertragen.
Das mag einigen als nebensächlich erscheinen. Für das Ansehen der Politik
und der Politiker sind solche Dinge jedoch nach meiner Erfahrung von größtem
Gewicht. Wer es bezweifelt, möge sich daran erinnern, wie lange Spendenpraktiken der Parteien oder die Mißbräuche in der Gemeinwirtschaft in der Beurteilung
der Parteien oder der Gewerkschaft nachgewirkt haben. Die Politikverdrossenheit und die Wahlmüdigkeit haben hier eine ihrer wesentlichen Wurzeln.
4
Schlußbemerkung
Mein Thema hieß „Demokratie und Elite“. Ich wiederhole zum Schluß: Unsere
Demokratie braucht eine Elite. Sie braucht nicht unbedingt das Wort, aber sie
braucht das, was damit gemeint ist. Also Persönlichkeiten, die sich nicht besser
dünken als andere, die keine Vorrechte verlangen und die sich der demokratischen Kontrolle ohne jede Einschränkung unterwerfen. Aber die an sich selbst zusätzliche Anforderungen stellen, und das einfach deshalb, weil von ihren Entscheidungen, ihrem Verhalten, ihrem Tun und Unterlassen nicht nur ihr eigenes Wohlergehen, sondern das Wohlergehen der vielen abhängt, die in unserer Demokratie, in unserem Gemeinwesen zusammenleben. Und nicht nur dieser!
Unsere Republik braucht eine so verstandene Elite umso dringender, als die
Herausforderungen, die wir zu bewältigen haben, größer sind denn je. Nach innen
die Vollendung der deutschen Einheit, die Überwindung der Arbeitslosigkeit und
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die ökologische Erneuerung unserer Strukturen. Und nach außen die Mitwirkung
an der Einigung Europas, an der Stabilisierung Osteuropas und an der Lösung der
Probleme, von deren Bewältigung das ökologische, ökonomische und soziale
Überleben der Menschheit abhängt. Bei alledem ist unsere Verantwortung durch
den Zusammenbruch des Kommunismus nicht geringer geworden, sondern noch
gewachsen.
Literatur
Bürklin, Wilhelm und Hilke Rebenstorf (1997), Zirkulation und Integration der Führungsschicht im vereinten Deutschland. Potsdamer Elitestudie 1995.
Kaina, Victoria (1996), Wertorientierung im Eliten-Bevölkerungsvergleich: Avantgarde vs.
Kollektivismus, in: Bürklin, Wilhelm: Kontinuität und Wandel der deutschen Führungsschicht. Ergebnisse der Potsdamer Elitestudie 1995. Zusammenstellung der Vorträge
des Symposiums vom 11. Oktober 1996 an der Universität Potsdam.
Steiner, Jürg (1986), European Democracies. New York.
Weber, Max (1976), Wirtschaft und Gesellschaft - Grundriß der verstehenden Soziologie.
Tübingen.
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