Normative Grundlagen Sozialer Diagnostik

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11 Thesen zu den normativen Grundlagen
Sozialer Diagnostik
Vortrag gehalten auf der
6. Fachtagung Soziale Diagnostik 2016
an der HAW Hamburg
Prof. Dr. Martin Wallroth
Hüfferstraße 27
D-48149 Münster
fon +49 (0)251.83 65-811
fax +49 (0)251.83 65-702
[email protected]
These 1:
Der Begriff der ‚Sozialen Diagnostik‘ wird in mindestens drei verschiedenen
Bedeutungen verwendet:
Erstens kann er eine um soziale Aspekte erweiterte klinische Diagnostik
meinen, die letztlich am normativen Bezugspunkt der Gesundheit bzw.
Krankheit orientiert bleibt (sehr verbreitet in der klinischen Sozialarbeit).
Zweitens kann er sich auf eine Feststellung ‚sozialer Probleme‘ beziehen,
deren normativer Status nicht weiter geklärt wird (ein ‚soziales Problem‘ ist
das, was maßgebliche Personen oder Institutionen – wie immer bestimmt – so
nennen).
Drittens kann er sich auf den normativen Bezugspunkt der sozialen
Gerechtigkeit beziehen (‚Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession‘ als
paradigmatischer, aber keineswegs einzig möglicher Fall).
Ein sinnvoller argumentativer Austausch über Soziale Diagnostik macht es
notwendig, diese drei Bedeutungen genau zu unterscheiden, um den logischargumentativen Fehler der Äquivokation zu vermeiden
Martin Wallroth
Normative Grundlagen Sozialer Diagnostik
These 2:
Sowohl Bedeutungsvariante 1 (normativer Bezug auf Gesundheit) als auch
Bedeutungsvariante 3 (normativer Bezug auf soziale Gerechtigkeit) des
Begriffs ‚soziale Diagnostik‘ verschaffen der Sozialen Arbeit ein drittes,
professionseigenes Mandat, wobei die Bedeutungsvariante 1 ein
Konkurrenzverhältnis zu anderen Gesundheitsberufen erzeugt.
Bedeutungsvariante 2 (Bezug auf ‚Soziale Probleme‘) ist nicht geeignet, ein
solches Mandat zu erzeugen, da an die Stelle eines normativen
Bezugspunktes die Dezision eines Auftraggebers tritt.
Ein Korollar: Ein eigenständiges professionelles Mandat erfordert also nicht
zwingend einen Menschenrechtsbezug. Es genügt einerseits der Bezug auf
den Begriff der Gesundheit und es sind andererseits auch andere Fassungen
des normativen Bezugspunktes der sozialen Gerechtigkeit denkbar.
Martin Wallroth
Normative Grundlagen Sozialer Diagnostik
These 3:
Nicht nur in der ersten, sondern auch in der dritten Variante des Begriffes
‚Sozialer Diagnostik‘, also in beiden gängigen Begriffsvarianten, die einen
eigenständigen normativen Bezugspunkt und damit ein eigenes
professionelles Mandat Sozialer Arbeit postulieren, steht das einzelne
Individuum im normativen Fokus:
Sozialer Wandel in Richtung ‚gesunder‘ oder ‚sozial gerechter‘ Verhältnisse
und Strukturen ist kein Selbstzweck, sondern bezieht seinen Sinn aus der
Sicherstellung des Wohls des Individuums (wobei im ersten Fall durchaus eine
utilitaristische Position denkbar ist, die aber de facto nicht vertreten wird).
Diese normative Tatsache bedeutet keinesfalls eine methodologische
Vorentscheidung zugunsten von ‚Einzelfallarbeit‘ als primärem Ansatzpunkt
konkreter sozialarbeiterischer Maßnahmen. Zumindest im Fall der dritten
Bedeutungsvariante ist vielmehr tendenziell das Gegenteil der Fall.
Martin Wallroth
Normative Grundlagen Sozialer Diagnostik
These 4:
Der normative Bezugspunkt der sozialen Gerechtigkeit birgt gegenüber dem
normativen Bezugspunkt der Gesundheit mit Blick auf konkurrierende
Professionen das bessere Alleinstellungsmerkmal und außerdem das größere
innovative Potential (‚Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession‘ liefert das
schlagende Beispiel). Er soll deshalb im weiteren Verlauf im Vordergrund
stehen.
Eine interessante Frage ist, ob und in welchem Sinne sich der normative
Bezugspunkt der Gesundheit im Falle der klinischen Sozialarbeit noch einmal
im normativen Bezugspunkt der sozialen Gerechtigkeit als Spezifikum Sozialer
Arbeit allgemein ‚aufheben‘ lässt, um damit zugleich auch eine begriffliche
Abgrenzung zu anderen gesundheitsbezogenen Berufen zu erreichen.
(Ansatzpunkte dafür gibt es; die Ausführung steht aber aus und muss einer
anderen Gelegenheit vorbehalten bleiben.)
Martin Wallroth
Normative Grundlagen Sozialer Diagnostik
These 5:
Die Konzeption Sozialer Arbeit als ‚Menschenrechtsprofession‘ liefert das
zentrale Beispiel für eine Fundierung Sozialer Arbeit im normativen Leitbegriff
sozialer Gerechtigkeit. Ihr kommt das unstrittige Verdienst zu, eine solche
normative Fundierung überhaupt erst ‚erfunden‘ und etabliert zu haben.
Daher ist es nur folgerichtig und sehr erfolgversprechend, auf dem Boden
einer Sozialen Arbeit als Menschenrechtsprofession auch Soziale Diagnostik
als ‚menschenrechtsbasierte Diagnostik‘ zu etablieren.
Aus ethisch-philosophischer Sicht gibt es hier jedoch auch Bedenken, Tücken
und Fallstricke einer Engführung der an sozialer Gerechtigkeit orientierten
normativen Basis Sozialer Arbeit und Sozialer Diagnostik auf die Idee der
Menschenrechte. Von diesen sollen einige besonders zentrale und wichtige im
Folgenden skizziert werden, bevor mögliche Alternativen in den Blick
genommen werden.
Martin Wallroth
Normative Grundlagen Sozialer Diagnostik
These 6:
Die Erklärung der Prinzipien der IFSW und der IASSW suggeriert einen
lexikalischen Vorrang der Menschenrechte gegenüber sozialer Gerechtigkeit.
Die Umsetzung der Menschenrechte zeigt aber, dass diese als Verwirklichung
sozialer Gerechtigkeit auftreten und somit dem Begriff der sozialen
Gerechtigkeit untergeordnet sind. Beide (!) Begriffe verweisen im Hintergrund
auf den Begriff der Menschenwürde, der aber unterbestimmt bleibt, und
reduzieren dabei den ethischen Fokus zugleich auf Fragen der Gerechtigkeit.
Um einen weiteren Reduktionismus gleich an der ethischen Basis der
Sozialen Arbeit zu vermeiden, ist es zwingend notwendig, den Begriff der
sozialen Gerechtigkeit nicht hinter den Menschenrechten ‚verschwinden‘ zu
lassen: Nicht jede Forderung der Gerechtigkeit lässt sich in subjektive Rechte
umsetzen (es gibt moralische Pflichten ohne korrespondierende Rechte) und
nicht jedes moralische Recht lässt sich (wie im Falle der Menschenrechte
offensichtlich intendiert) in legales Recht überführen.
Martin Wallroth
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These 7:
Ein weiterer ethisch problematischer Reduktionismus bei der Fokussierung auf
Menschenrechte als normative Basis Sozialer Arbeit und sozialer Diagnostik
droht, wenn die begriffliche Grenze zwischen moralischen und juristischen
Rechten verwischt wird:
1. Auch für Menschenrechte gilt wie gesagt, dass möglicherweise nicht jedes
moralische Recht in juristisches Recht überführt werden kann (jedenfalls
nicht ohne ethisch zu bewertende Nebenfolgen und ‚Kollateralschäden‘).
2. Die Umsetzung von Menschenrechten in Gesetzgebung (Erklärungen,
Konventionen, etc.) wirft Fragen demokratischer Legitimation auf.
3. Die Umsetzung von Menschenrechten in Gesetzgebung wirft wie jede
Gesetzgebung die Frage nach der ‚Legitimität des Legalen‘ auf: Können
wir den ‚Geist‘ der Menschenrechte (in seinem Bezug auf die
Bedürftigkeit, Verletzlichkeit und zugleich Würde des Menschen und auf
würdige Formen menschlichen Zusammenlebens) im ‚Buchstaben‘ des
Gesetzes wiederfinden?
Martin Wallroth
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These 8:
Grundsätzlich gilt: Menschenrechtserklärungen und –konventionen sind (ebenso
wie professionsbezogene Ethikkodizes und Aufgabenbestimmungen!)
‚Menschenwerk‘ und als solches fehlbar und somit keinesfalls sakrosankt.
Der ‚Profanierung‘ moralischer Menschenrechte zu rechtlichen Vorgaben muss
deshalb ein Einstellungswandel Rechnung tragen: vom hohen Pathos des
Menschenrechtsethos zum alltäglichen Umgang mit juristisch gültigen und
moralisch hinterfragbaren rechtlichen Vorgaben, die im Zweifelsfall der Revision
und Weiterentwicklung im Sinne des Menschenrechtsethos bedürfen
(vergleichbar dem Umgang mit Sozialgesetzbüchern).
Positivierte Menschenrechtskonventionen und die entsprechende Gesetzgebung
mit ‚den‘ Menschenrechten zu verwechseln, kann zu einem Kurzschluss
zwischen Bürokratie und Ethik führen und birgt die Gefahr, die Profession
Soziale Arbeit auf den Status einer ‚Menschenrechtspolizei‘ zu reduzieren.
Martin Wallroth
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These 9:
In Zeiten einer zunehmenden rechtlichen Umsetzung von Menschenrechten
und Menschenrechtsethos sollte eine als Menschenrechtsprofession (im Sinne
des Menschenrechtsethos!) konzipierte Soziale Arbeit ihre theoretischen
Einsichten und praktischen Erfahrungen zunehmend auch dazu nutzen, im
Sinne ‚positiver Rückmeldung und konstruktiver Kritik‘ über Erfolge und
Misserfolge, über intendierte Folgen und ausbleibende gewünschte Effekte,
aber auch über unerwünschte Nebenfolgen Auskunft zu geben,
entsprechenden Nachbesserungsbedarf zu formulieren und diesen in den
Prozess der politischen Willensbildung und Gesetzgebung einzubringen.
Vor allem aber sollte eine undogmatische Soziale Arbeit in ihrer normbasierten
Diagnostik sozialer Missstände das ganze Spektrum gerechtigkeitsbasierter
Ansätze offen halten und somit auch Alternativen zum Menschenrechtsbezug
Sozialer Arbeit zulassen und fördern. Eine solche Alternative neben anderen
bietet der Capabilites Approach von Martha Nussbaum und Amartya Sen.
Martin Wallroth
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These 10:
Ein entscheidender Vorteil des CA als normative Basis der Sozialen Arbeit und
Sozialer Diagnostik wäre, dass er die künstliche Trennung von ‚Fachlichkeit‘
und ‚ethischer Haltung‘ als Basis des dritten, professionellen Mandates der
Sozialen Arbeit auflöst. Der Schein einer solchen Trennung entsteht in der
Fassung der Sozialen Arbeit als Menschenrechtsprofession dadurch, dass die
Menschenrechte als nicht weiter fundierbare ethisch-moralische Letztgrößen
gefasst werden (der Bezug auf die Menschenwürde führt nämlich hier über
eine bloße rhetorische Geste nicht hinaus).
Der CA versucht – zumindest in der aristotelischen Fassung von Nussbaum –
in Grundzügen theoretisch auszubuchstabieren, was ein menschengerechtes
und damit menschenwürdiges Leben ausmacht und überwindet damit das
philosophische Dogma von der unüberbrückbaren ‚Sein-Sollen-Dichotomie‘
und vom ‚naturalistischen Trugschluss‘, das eine dem Gegenstand
angemessene praktische Wissenschaft vom Menschen verhindert.
Martin Wallroth
Normative Grundlagen Sozialer Diagnostik
These 11:
Ausgehend von einer auf Allgemeingültigkeit ausgerichteten philosophischen
Anthropologie, die typische menschliche Lebensbereiche und ihre
Gelingensbedingungen umrisshaft festlegt, betreibt der CA von vornherein
gerechtigkeitstheoretisch aufgeladene empirische Forschung. – Dagegen
steht aber der Vorwurf des Dogmatismus, Paternalismus und Perfektionismus.
Für die Widerlegung dieser Kritikpunkte gibt es bei Nussbaum plausible
Ansatzpunkte: empirische Offenheit für die ‚Entdeckung‘ neuer
Lebensbereiche kontra Dogmatismus, Sonderstellung der praktischen
Vernunft im Konzert der ‚Capabilities‘ kontra Paternalismus, Betonung von
bloßen ‚Schwellenwerten‘ kontra Perfektionismus, etc.
Damit solche Diskussionen und Weiterentwicklungen überhaupt stattfinden
können, brauchen wir aber eine lebendige Auseinandersetzung auch über
ethische Grundlagenfragen: Wir brauchen einen normativen Pluralismus.
Martin Wallroth
Normative Grundlagen Sozialer Diagnostik
Vielen Dank für Ihre
Aufmerksamkeit!
Prof. Dr. Martin Wallroth
Hüfferstraße 27
D-48149 Münster
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fax +49 (0)251.83 65-702
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