Status Quo und Herausforderungen am Beispiel des

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FORTBILDUNG
P P M MEDIC
Active Surveillance als Behandlungsoption
La surveillance active comme option thérapeutique
Status Quo und Herausforderungen
am Beispiel des Prostatakarzinoms
Statu quo et défis dans l’exemple du
carcinome prostatique
Niklas Pelzer, Agostino Mattei, André Baumgart, Luzern
―― Studien legen nahe, dass die Active Surveillance bei Tumoren mit
geringem Progressionsrisiko (Low-risk-Tumoren) eine Therapieoption
darstellt.
―― Das Behandlungsteam sollte auf der Grundlage bestehender Leitlinien
und aktueller Evidenzlage gemeinsam mit dem Patienten die Behandlungsstrategien festlegen.
―― Bei Active Surveillance ist die Nachverfolgung und regelmässige Kontrolle der Patienten ein entscheidender Faktor der Therapiestrategie.
―― Aufgrund von PSA-Messungen werden immer mehr Prostatakarzinome
diagnostiziert. Rund 90% dieser Tumoren sind lokal begrenzt.
―― Ein Grossteil der diagnostizierten Tumoren stellt für die betroffenen
Patienten keine Gefahr dar; das Risiko für Morbiditäten durch Interventionen ist für diese Patienten höher als Morbiditätsrisiko durch den
Tumor.
―― Des études suggèrent que la surveillance active dans les tumeurs à
faible risque de progression (tumeurs à bas risque) constitue une option
thérapeutique.
―― L’équipe soignante doit définir les stratégies de traitement conjointe­
ment avec le patient sur la base des recommandations existantes et
des données probantes actuelles.
―― Dans la surveillance active le suivi et un contrôle régulier des patients
est un facteur décisif dans la stratégie thérapeutique.
―― En raison des dosages du PSA, de plus en plus de carcinomes prostati­
ques sont diagnostiqués. Environ 90% de ces tumeurs sont localement
circonscrites.
―― Une grande proportion des tumeurs diagnostiquées ne représente aucun
danger pour les patients concernés; le risque de morbidités du fait des
interventions est plus élevé pour ces patients que le risque de morbidité
du fait de la tumeur.
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■■ Für die Behandlung des lokal begrenzten Low-riskProstatakarzinoms bestehen gemäss aktuellen Leitlinien (S3 Leitlinie DGU, EAU Guideline on Prostate
Cancer) verschiedene alternative Optionen: radikale
Prostatektomie, lokale Radiatio, Active Surveillance
und altersabhängig das Konzept des Watchful Waiting. Active Surveillance (AS) bedeutet die engmaschige Beobachtung von Personen mit einer diagnostizierten Erkrankung in deren Verlauf. Die AS muss
vom Watchful Waiting abgegrenzt werden. Dieses
umfasst symptomatische Behandlungsstratgien einer
Erkrankung in deren Verlauf ohne das Ziel, Patienten
in eine kurative Therapie zu überführen, zum Beispiel
wegen des fortgeschrittenen Alters und/oder schweren Komorbiditäten. Abzugrenzen ist die AS auch zur
Clinical-/Public health-Surveillance – bei dieser ist das
Ziel die Sammlung, Analyse und Interpretation von
gesundheitsbezogenen Daten in Bezug auf bestimmte
Populationen [1].
Active Surveillance bei Krebserkrankungen
mit niedrigem Risiko
Die Analyse und Interpretation von Krebsbehandlungen für ausgewählte onkologische Erkrankungen bei
Männern verfolgen in der jüngeren Vergangenheit
das Ziel, eine Überversorgung mit invasiven Therapieoptionen (overtreatment) zu vermeiden. Insbesondere für Prostata- und Hodenkrebs wurden Kriterien
entwickelt, die zu keiner unmittelbaren oder gar keiner Behandlung führen. Die Behandlungsrichtlinien
sehen bei beiden Entitäten vor, dass neben den etablierten Therapieoptionen (Prostatektomie, Radiotherapie, medikamentöse Tumortherapie, Hormonablation, Orchiektomie) auch die AS für Tumoren mit
geringem Risiko (low-risk disease) als weitere primäre
Behandlungsoption zur Verfügung steht [2, 3]. Der
Entscheid für oder gegen AS als Behandlungsstrategie wird durch die Klassifikation des Tumors als «lowrisk» determiniert.
Am Beispiel des Prostatakarzinoms sollen im Folgenden exemplarisch die praktischen Schwierigkeiten bei der Wahl der möglichen Behandlung aufzeigt
werden. Dass die Krebsklassifikation immer noch –
trotz langjähriger Forschung – durch eine sehr hetero-
FORTBILDUNG
Abbildungen: Luzerner Kantonsspital und Unterstützung der innoMedicus AG
InFo ONKOLOGIE & HÄMATOLOGIE 2015; Vol. 3, Nr. 5
Abb. 1: Gezielte Diagnostik und Active Surveillance durch MRT-Ultraschall-Biopsie-Verfahren.
gene Praxis geprägt ist, zeigt sich in aktuellen Studien
[4 –11]. So sank beispielsweise die Rate der Patienten
mit einem Low-risk-Tumor von 60% im Jahr 2004 auf
27% im Jahr 2013 – auf Basis der geänderten Defini­
tio­­nen für Low-risk-Tumoren [12].
Epidemiologie und Ätiologie
Prostatakrebs ist in der Schweiz die häufigste Krebs­
erkrankung bei Männern [13]. Es zeigt sich eine unterschiedliche Inzidenz bei unterschiedlichen Populationen: In den USA sind Dunkelhäutige häufiger betroffen
als Weisse und diese häufiger als Asiaten. Dies lässt
auf eine genetische Prädisposition der Karzinomentstehung schliessen [9]. Vermutlich wird die genetische Prädisposition auch durch soziodemographische
Faktoren beeinflusst und modifiziert [14–16]. So steigt
beispielsweise die Inzidenz des Prostatakarzinoms bei
Asiaten, die in die USA immigrieren. Die Inzidenz der
klinisch nicht signifikanten Prostata­karzi­nome ist auf
der ganzen Welt vergleichbar, während aber Unterschiede bei klinisch relevantem Prostatakrebs bestehen. Männer mit einem erstgradigen Verwandten mit
Prostatakarzinom haben ein doppelt so hohes Risiko,
dass sie ebenfalls an Prostatakrebs erkranken. Bei
mehreren erkrankten erstgradigen Verwandten steigt
das Risiko auf das Fünf- bis Elffache [10,17].
Die Mehrzahl aller Prostatakarzinome entsteht
wahrscheinlich aufgrund von mehreren genetischen
Polymorphismen [10]. Testosteron gilt aktuell nicht
als präkanzerogen, sondern spielt wahrscheinlich eine
Rolle als Tumorpromotor bei bereits progredienten
Tumoren. Nahrungsbestandteile wirken sich auf das
Prostatakarzinom vielfältig aus [18]. Tierische Proteine scheinen das Risiko für die Entwicklung eines fortgeschrittenen Prostatakarzinoms zu begünstigen. Das
Spurenelement Selen wurde längere Zeit im Hinblick
auf einen möglichen protektiven Nutzen diskutiert.
Die SELECT-Studie konnte einen solchen Nutzen
aber nicht belegen und wurde deshalb im Jahr 2008
vorzeitig beendet. Tabakrauchen zum Zeitpunkt der
Erstdiagnose erhöht das Risiko für einen fortgeschrittenen Tumor, ein Rezidiv (38 vs. 26%) sowie für Tod
bedingt durch das Karzinom (15,3 vs. 9,6 / 1000 Personenjahre) [15]. Auch das metabolische Syndrom
erhöht das Prostatakarzinom-Risiko. Ein Zusammenhang zwischen Prostatakrebs-Risiko und Alkoholkonsum konnte bisher nicht dargestellt werden.
Hoher Anteil von Überbehandlungen
Seit über 30 Jahren gilt die radikale Prostatektomie
als Standardtherapie zur kurativen Behandlung des
Prostatakarzinoms; rund 70% der Patienten unter 70
3
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Jahre werden prostatektomiert [8,12]. Diese Strategie wird unter der Annahme verfolgt, dass der Patient
nach der Intervention geheilt ist. Diese Überlegungen
sind zunehmend zu relativieren: Bei schätzungsweise
30% der operierten Männer kommt es im Verlauf zum
PSA-Progress. Ein Teil der Patienten hat Tumoren,
die nicht zwingend mit einer Intervention behandelt
werden müssen; diese Patienten würden auch ohne
Operation oder Bestrahlung nicht am Tumor sterben.
Die Möglichkeiten, die individuelle Tumorbiologie
abzuschätzen, sind heute aber noch begrenzt. Daher
wird vom Behandlungsteam und vom Patienten oft der
Weg der Intervention gewählt, häufig aus Sorge, der
Tumor könnte sich durch eine rasche Progression in
ein nicht mehr kurativ behandelbares Stadium weiterentwickeln.
Eine regelhafte aktive Beobachtung von Patienten
mit klinisch unauffälligen Low-risk-Karzinomen, die
sich für die AS eignen, kann therapiebedingte Morbiditäten (erektile Dysfunktion, Inkontinenz, operationsbedingte und strahlenbedingte Komplikationen
etc.) und so eine Übertherapie verhindern und gilt in
diesem Rahmen als sicher. Auch die psychische Belastung von Patient und Partnerin/Partner unter der
Führung eines erfahrenen Urologen gilt als angemessen [6,18]. Die ERSPC-Studie zeigte einen Anteil von
Überbehandlungen von 54%. Diesen Männern die
Morbiditäten durch eine interventionelle Therapie zu
ersparen, ist Sinn der AS [5].
Kriterien für eine Active Surveillance
Die aktuelle S3-Leitlinie zur Früherkennung, Diagnostik und Therapie der verschiedenen Stadien des
Prostatakarzinoms beinhaltet die AS als Behandlungsstrategie für definierte Low-risk-Karzinome, die
bestimmte Kriterien erfüllen (Tab. 1). In der Leitlinie
sind die folgenden relevanten Entscheidungskriterien
definiert:
–– Patienten mit einem lokal begrenzten Prostata­
karzi­nom, die für eine lokale kurative Behandlung
in Frage kommen, sollen nicht nur über Behandlungsverfahren wie radikale Prostatektomie, Strahlentherapie und Brachytherapie, sondern auch über
AS informiert werden.
–– Bei Patienten mit lokal begrenztem Prostatakarzinom, die für eine kurative Behandlung in Frage
kommen, sollen die unerwünschten Wirkungen und
Therapiefolgen von radikaler Prostatektomie, perkutaner Strahlentherapie und Brachytherapie gegen
das Risiko einer verzögerten Behandlung im Fall
einer AS-Strategie abgewogen werden.
Tab. 1: Tumorkriterien, die eine Active
Surveillance ermöglichen
–– PSA-Wert ≤10 ng/ml
–– Gleason-Score ≤6
–– Stadien T1c und T2a
–– Tumor in ≤2 Stanzen
–– ≤50% Tumor in einer Stanze
4
–– Der Tumor soll in den ersten beiden Jahren nach
der Diagnose alle drei Monate mittels PSA-Bestimmung und digitaler rektaler Untersuchung kontrolliert werden. Bleibt der PSA-Wert stabil, ist danach
sechsmonatlich zu kontrollieren. Biopsien sollen alle
12–18 Monate vorgenommen werden. Aktuell werden neue Verfahren zur Steigerung der Aussagekraft von Prostatabiopsien untersucht (Abb. 1).
–– Die AS soll verlassen werden, wenn sich die PSAVerdoppelungszeit auf weniger als drei Jahre verkürzt oder sich der Malignitätsgrad auf einen Gleason-Score über 6 verschlechtert.
Inwiefern im individuellen Verlauf die Behandlung
angepasst werden sollte (z.B. radikale Prostatektomie oder lokale Bestrahlung) hängt unmittelbar von
der individuellen Dynamik der Krebserkrankung ab.
Jedem Patienten wird unter Aufklärung über alle
Therapieoptionen primär ein Vorgehen angeboten,
das es ermöglicht, zunächst weitere Lebensjahre möglichst ohne therapiebedingte Beeinträchtigungen und
mit hoher Lebensqualität zu verbringen. Zertifizierte
onkologische Zentren helfen nachweisbar, die Versorgungsqualität zu sichern.
Fazit für die Praxis
–– Aktuell wird in der Schweiz eine erstmalige Baseline-PSA-Bestimmung im Alter zwischen 40 und 45
Jahren empfohlen.
–– Liegt der PSA-Wert <1 ng/ml, wird eine PSABestimmung alle drei Jahre empfohlen, bei PSA
≥1 bis <2 ng/ml alle zwei Jahre und bei PSA ≥2 bis
<3 ng/ml jährlich. Der Patient ist vorgängig eingehend aufzuklären.
–– Übermässige PSA-Messungen provozieren die Diagnose einer steigenden Zahl von Prostatakarzinomen,
die an­sons­ten bei gegebener Alterskonstellation, Komor­biditäten und/oder günstiger Tumorbiologie für
die Patienten ein Leben lang unerkannt geblieben
wären.
–– Rund 90% der in den letzten Jahren diagnostizierten Patienten haben ein lokal begrenztes Prostatakarzinom.
–– Studien legen nahe, dass die AS bei Tumoren mit
geringem Progressionsrisiko (Low-risk-Tumoren)
eine Therapieoption darstellt. Patienten sollten über
alle Therapieoptionen aufgeklärt werden.
–– Das Behandlungsteam (Hausärzte, Urologen, Ra­dio­onkologen, Onkologen) hat aufgrund bestehender
Leitlinien und aktueller Evidenzlage gemeinsam mit
dem Patienten und seinen Angehörigen die Behandlungsstrategien, insbesondere bei möglicher AS,
festzulegen und nachzuverfolgen.
–– Die Schweizerische Gesellschaft für Urologie hat
zur Erfassung eine Datenbank Active Surveillance
angelegt (SIP-CAS), um die Evidenzlage stetig zu
sichern und auszubauen.
FORTBILDUNG
InFo ONKOLOGIE & HÄMATOLOGIE 2015; Vol. 3, Nr. 5
Niklas Pelzer
Funktionsoberarzt
Klinik für Urologie
Stv. Koordinator Uro-Onkologie
Tumorzentrum
Luzerner Kantonsspital, 6003 Luzern
[email protected]
www.luks.ch
PD Dr. med. Agostino Mattei
Chefarzt Klinik für Urologie
Leiter Kompetenzzentrum Roboterchirurgie
Luzerner Kantonsspital, 6003 Luzern
[email protected]
www.luks.ch
Dr. André Baumgart
Leiter Unternehmensentwicklung
Luzerner Kantonsspital, 6003 Luzern
[email protected]
www.luks.ch
Literatur:
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www.who.int/topics/public_health_surveillance/en/.
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