Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg - bpb

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Dossier
Nationalsozialismus
und Zweiter
Weltkrieg
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Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
2
Einleitung
8. Mai 1945: Europa liegt in Trümmern. In den Krisen der Weimarer Republik war der
Nationalsozialismus in Deutschland zur Massenbewegung gewachsen. Während der zwölf Jahre
seiner Herrschaft wurden Juden, politische Gegner und andere Gruppen systematisch verfolgt,
vertrieben und ermordet. 1939 entfachte Deutschland einen Weltkrieg, der am Ende über 60 Millionen
Menschen das Leben kostete.
In sieben Kapiteln führt das Dossier durch die Geschichte von Nationalsozialismus und Zweitem
Weltkrieg in Deutschland. Und es fragt, wie die Deutschen sich an die nationalsozialistischen
Verbrechen erinnern, die bis heute ihr Verhältnis zu sich selbst und ihren Nachbarn bestimmen.
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Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
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Inhaltsverzeichnis
1.
Der Untergang der Weimarer Republik
6
1.1
Vom Kaiserreich zur Republik 1918/19
7
1.2
Kampf um die Republik 1919 - 1923
29
1.3
Zwischen Festigung und Gefährdung 1924-1929
48
1.4
Die nationalsozialistische Bewegung in der Weimarer Republik
70
1.5
Die nationalsozialistische Massenbewegung in der Staats- und Wirtschaftskrise
90
1.6
Zerstörung der Demokratie 1930 - 1932
104
1.7
Ursachen des Nationalsozialismus
125
1.8
Der Kampf gegen den Nationalsozialismus vor 1933
128
2.
NS-Staat
134
2.1
Die Zeit des Nationalsozialismus
135
2.2
Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft
138
2.3
Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft (Teil 2)
164
2.4
Beseitigung des Rechtsstaates
183
2.5
Ausbau des Führerstaates
187
2.6
Wirtschaft und Gesellschaft unterm Hakenkreuz
212
3.
Verfolgung und Widerstand
228
3.1
Shoa und Antisemitismus
229
3.2
Ein Tag in meinem Leben
239
3.3
Selbstbehauptung und Gegenwehr von Verfolgten
244
3.4
Jugend- und Studentenopposition
247
3.5
Verweigerung im Alltag und Widerstand im Krieg
253
3.6
Der militärische Widerstand
259
3.7
Stille Helden
264
3.8
Kommunen und NS-Verfolgungspolitik
272
3.9
Auf dem Weg zum 20. Juli 1944
280
3.10
Literatur und Presse
290
3.11
Literatur im Nationalsozialismus: Überblick Werke und Autoren
303
4.
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Krieg, Flucht und Vertreibung
308
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4
4.1
Der Weg in den Krieg
309
4.2
Der Zweite Weltkrieg
335
4.3
Der Zusammenbruch des Dritten Reiches
351
4.4
Kriegsziele der Alliierten
355
4.5
Erinnerungen an den Luftkrieg in Deutschland und Großbritannien
360
4.6
Die Vertreibung der Deutschen aus den Gebieten jenseits von Oder und Neiße
369
4.7
"Plötzlich war überall eine Feuerwand"
384
4.8
Durch den Bombenhagel zum Bunker
386
5.
Deutschland nach 1945
388
5.1
Neubeginn: "Alltag" in Nachkriegsdeutschland
389
5.2
Errichtung der Besatzungsherrschaft
392
5.3
Infrastruktur und Gesellschaft im zerstörten Deutschland
404
5.4
Bestrafung der Schuldigen
417
5.5
Demokratisierung durch Entnazifizierung und Erziehung
422
5.6
Soviel Anfang war nie
435
6.
Deutsche Teilung im Kalten Krieg
438
6.1
Der Beginn der Bipolarität
439
6.2
Die Deutschlandplanung der Sieger
455
6.3
Ost-West-Konflikt und deutsche Teilung
463
6.4
Ursachen und Entstehung des Kalten Krieges
470
6.5
Berlin - auf dem Weg zur geteilten Stadt
483
6.6
Zwei Staatsgründungen auf deutschem Boden
487
7.
Geschichte und Erinnerung
496
7.1
Video-Interview: Der 8. Mai als europäisches Datum
497
7.2
Video-Inteview: Rückblick auf die Holocaustforschung
500
7.3
Forschungskontroversen zum Nationalsozialismus
502
7.4
Der 20. Juli 1944 - mehr als ein Tag der Besinnung und Verpflichtung
510
7.5
Die Deutschen und ihr "Drittes Reich"
518
7.6
Kollektive Erinnerung im Wandel
527
7.7
Der jüngste Erinnerungsboom in der Kritik
543
7.8
Die Erinnerung an den Holocaust in Israel und Deutschland
552
7.9
Die schwierige deutsch-polnische Vergangenheitspolitik
561
7.10
"Nicht alle Deutschen haben ein Herz aus Stein"
565
7.11
Eine integrierte Geschichte des Holocaust
576
7.12
Deutsche Vereinigung und NS-Vergangenheit
584
7.13
Zwei deutsche Diktaturen im 20. Jahrhundert?*
591
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5
7.14
Keine gemeinsame Erinnerung
599
7.15
Regieren nach Auschwitz
607
8.
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Redaktion
613
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Der Untergang der Weimarer Republik
6.4.2005
Die Weimarer Republik war der erste praktische Versuch in der Geschichte, Deutschland eine
demokratische Staatsform zu geben. Doch sie hatte es von Anfang an schwer: Ihr fehlte es an Rückhalt
in der Bevölkerung, an Geschlossenheit und Unterstützung durch die exekutive Gewalt.
Massenarbeitslosigkeit, Kriegsschäden und Reparationsforderungen aus dem ersten Weltkrieg
lasteten schwer auf der jungen Demokratie. Europaweit erlangten antidemokratische Strömungen
Aufwind. In Deutschland wuchs mit dem Nationalsozialismus eine Massenbewegung, die vielen
Bürgerinnen und Bürgern ein Ende des politischen Chaos versprach.
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Vom Kaiserreich zur Republik 1918/19
Von Reinhard Sturm
23.12.2011
geboren 1950, studierte von 1971 bis 1978 Geschichte, Politikwissenschaft und Anglistik an der Georg-August-Universität Göttingen.
1973/74 war er ein Jahr als German Assistant an einer Schule in England tätig. Nach dem Vorbereitungsdienst 1978 bis 1980 in
Salzgitter arbeitete er als Gymnasiallehrer bis 1990 in Göttingen, seither in Hildesheim. Seit 1990 bildet er als Studiendirektor und
Fachleiter für Geschichte am Studienseminar Hildesheim für das Lehramt an Gymnasien angehende Geschichtslehrer/innen aus.
Er hat wissenschaftliche und didaktische Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung, zur Weimarer Republik, zum
Nationalsozialismus und zur deutschen Nachkriegsgeschichte sowie zur Geschichtsdidaktik veröffentlicht.
Kontakt: »[email protected]«
Die Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg war zugleich das Ende des Kaiserreichs:
Wilhelm II. dankte ab, in den Wirren der darauffolgenden Revolution wird die Republik
ausgerufen. Zunächst steht die Frage nach dem zukünftigen System – parlamentarische
Demokratie oder Rätesystem – zur Diskussion. Im August 1919 tritt die Weimarer Verfassung
in Kraft.
Einleitung
Der Anfang vom Ende des Deutschen Kaiserreichs lässt sich auf den 29. September 1918 datieren.
Denn an diesem Tag trat in Berlin der "Kronrat" zusammen, dem neben Kaiser Wilhelm II. der Chef
der Obersten Heeresleitung (OHL), Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg, seine rechte Hand,
General Erich Ludendorff, Reichskanzler Graf von Hertling und der Staatssekretär des Äußeren,
Admiral Paul von Hintze, angehörten. Dieses Gremium beriet über die Konsequenzen aus der Tatsache,
dass der Weltkrieg wegen der personellen und materiellen Übermacht der Gegner endgültig verloren
war, und beschloss einschneidende Maßnahmen.
Revolution von oben
Eine schnelle "Revolution von oben" – so berichtet Hintze – sollte ein "Chaos" und eine "Revolution
von unten" (wie in Russland) verhindern. Das bedeutete, dass erstmals eine vom Reichstag (dem
nach dem allgemeinen Männerwahlrecht gewählten Parlament) getragene Reichsregierung ins Auge
gefasst wurde. Ferner beschloss man die "sofortige" Übermittlung eines Waffenstillstandsangebotes
an die alliierten Kriegsgegner durch die neue Regierung.
Welche Hintergedanken vor allem die OHL dabei hegte, äußerte Ludendorff am 1. Oktober 1918
gegenüber seinen Stabsoffizieren: "Ich habe aber Seine Majestät gebeten, jetzt auch diejenigen Kreise
an die Regierung zu bringen, denen wir es in der Hauptsache zu verdanken haben, dass wir so weit
gekommen sind. [...] Die sollen nun den Frieden schließen, der jetzt geschlossen werden muss. Sie
sollen die Suppe jetzt essen, die sie uns eingebrockt haben."
Gemeint waren – nach der Spaltung der Sozialdemokratie in die linke "Unabhängige
Sozialdemokratische Partei Deutschlands" (USPD) und die gemäßigte "Mehrheitssozialdemokratische
Partei Deutschlands" (MSPD) 1916 – die MSPD, die linksliberale "Fortschrittliche Volkspartei" und die
katholische "Zentrumspartei", die im Reichstag eine oppositionelle Mehrheit bildeten
("Mehrheitsparteien"). Sie hatten seit vielen Jahren eine Demokratisierung des obrigkeitsstaatlichen
Kaiserreiches gefordert; den Krieg hatten sie mitgetragen, sich aber seit 1917 gemeinsam für einen
ehrenvollen "Verständigungsfrieden" ohne Gebietsverluste und Entschädigungen ausgesprochen.
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Anfänge der parlamentarischen Regierung
Der kaiserliche Parlamentarisierungserlass vom 30. September 1918 stieß bei den Mehrheitsparteien
auf ein positives Echo, zumal sie den designierten neuen Reichskanzler Prinz Max von Baden – ein
Cousin des Kaisers – wegen seiner sozialen und liberalen Gesinnung akzeptieren konnten. Am 1.
Oktober bekam Prinz Max, tags darauf auch die Führer der Reichstagsfraktionen einen
ungeschminkten militärischen Lagebericht. Sie waren entsetzt; die Regierungsbildung geriet
vorübergehend ins Stocken. Aber am 3. Oktober 1918 erhielt das Kaiserreich die erste
parlamentarische Regierung seiner Geschichte. MSPD und Fortschrittspartei stellten je zwei
Staatssekretäre, das Zentrum drei.
Waffenstillstandsgesuch
Noch am selben Tag musste Prinz Max in einer diplomatischen Note den amerikanischen Präsidenten
Woodrow Wilson bitten, alle kriegführenden Staaten zu Friedensverhandlungen einzuladen. Als
Grundlage sollten die "14 Punkte" dienen, ein Friedensprogramm, das Wilson seit Anfang des Jahres
immer wieder verkündet und weiterentwickelt hatte; es beruhte auf den Grundsätzen "Herrschaft des
Rechts und der Demokratie überall", "Selbstbestimmungsrecht der Völker" sowie "unparteiische
Gerechtigkeit und Gleichberechtigung" im Leben der Völker. Der entscheidende, kapitulationsähnliche
Satz der deutschen Note lautete: "Um weiteres Blutvergießen zu vermeiden, ersucht die deutsche
Regierung, den sofortigen Abschluss eines Waffenstillstandes zu Lande, zu Wasser und in der Luft
herbeizuführen." Damit hatte die OHL ihr Ziel, sich aus der Verantwortung für den verlorenen Krieg zu
stehlen, erreicht.
Schlagartig löste sich der von der kaiserlichen Propaganda unermüdlich versprochene "Siegfrieden"
in nichts auf. Mit der schmerzlichen Erkenntnis, dass alle Anstrengungen, Entbehrungen und Opfer
vergeblich gewesen waren, entstand aus der physischen und psychischen Kriegsmüdigkeit großer
Teile der Bevölkerung ein rasch um sich greifender Friedenswille. Anders als die zu zähen
Verhandlungen bereite Regierung kannten die friedensbewegten Massen nur ein Ziel: die sofortige
Beendigung des Krieges ohne weiteres Blutvergießen. Sie politisierten und radikalisierten sich, je
länger der ersehnte Friedensschluss auf sich warten ließ.
Denn zunächst kam es zu einem wochenlangen Notenwechsel mit Präsident Wilson. Dieser stellte
schließlich am 23. Oktober 1918 zwei Vorbedingungen: Entwaffnung (die Waffenruhe müsse "eine
Wiederaufnahme der Feindseligkeiten seitens Deutschlands unmöglich machen") und
Demokratisierung (der König von Preußen dürfe nicht mehr die Macht besitzen, "die Politik des Reiches
unter seiner Kontrolle zu halten"). Jetzt mischte sich die OHL doch wieder in die Politik ein: Wilsons
Forderungen seien unannehmbar, es gelte "Widerstand mit den äußersten Kräften" zu leisten – was
sie kurz zuvor noch für unmöglich erklärt hatte. Prinz Max sorgte dafür, dass Wilhelm II. Ludendorff
am 26. Oktober entließ und durch den politisch unauffälligen General Groener ersetzte; Hindenburg
blieb im Amt.
Durch die Wilson-Note vom 23. Oktober entstand der Eindruck, dass Wilhelm II. einem schnellen
Friedensschluss im Wege stand. "Der Kaiser muss weg!" lautete jetzt eine immer populärer werdende
öffentliche Forderung. Auch namhafte Unternehmer wie Robert Bosch, die eine revolutionäre Erhebung
fürchteten, sprachen sich nun dafür aus, den Monarchen, notfalls auch die Monarchie zu opfern.
Oktoberverfassung
In diesen kritischen Wochen versäumte es der Reichstag, sich zum Zentrum der politischen Diskussion
über Frieden und Demokratie zu machen – nach der Regierungserklärung des Prinzen Max am 5.
Oktober vertagte er sich und überließ dem Kanzler und seinen Staatssekretären alles Weitere. Erst
am 22. Oktober trat er wieder zusammen, um eine Verfassungsreform zu beraten. Die wichtigsten
Veränderungen lauteten:
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•
Kriegserklärungen und Friedensverträge bedurften der Zustimmung des Reichstages.
•
Regierungsmitglieder durften dem Reichstag angehören.
•
Der Reichskanzler und die Staatssekretäre benötigten das Vertrauen des Reichstages. Sie waren
dem Reichstag und dem Bundesrat (der Vertretung der Einzelstaaten, vor allem der Landesfürsten)
für ihre Amtsführung verantwortlich.
•
Der Reichskanzler trug die Verantwortung für alle politischen Handlungen des Kaisers.
Mit dem In-Kraft-Treten der Reform am 28. Oktober 1918 verwandelte sich die Verfassung des
Kaiserreichs, das die deutschen Fürsten "von Gottes Gnaden" ohne das Volk 1871 gegründet hatten,
von einer obrigkeitsstaatlichen in eine parlamentarisch-demokratische Monarchie. Die
Mehrheitsparteien waren mit dem Erreichten durchaus zufrieden. Sie wünschten jetzt eine ruhige
demokratische Entwicklung, um das Problem des Friedensschlusses zu lösen.
Revolution von unten
Dazu kam es jedoch nicht mehr – zum einen, weil die immer weiter anschwellende "Friedensbewegung"
bereits die Abdankung des Kaisers forderte; zum anderen, weil der Monarch und das Militär mit
provozierenden Aktionen demonstrierten, dass sie nicht gewillt waren, die neue demokratische
Ordnung zu respektieren und mit Regierung und Parlament loyal zusammenzuarbeiten. Am 29. Oktober
1918 reiste Wilhelm II. ohne Rücksprache mit dem Reichskanzler nach Spa ins Hauptquartier der
OHL. Dieser Schritt wirkte freilich wie eine Flucht aus Berlin und fügte dem Ansehen der
Hohenzollernmonarchie schweren Schaden zu.
Matrosenrevolte
Seit dem Beginn der Verfassungsberatungen im Reichstag am 22. Oktober bereitete die
Seekriegsleitung ohne Wissen der Reichsregierung einen Angriff auf die britische Flotte im Ärmelkanal
vor. "Wenn auch nicht zu erwarten ist, dass hierdurch der Lauf der Dinge eine entscheidende Wendung
erfährt, so ist es doch aus moralischen Gesichtspunkten Ehren- und Existenzfrage der Marine, im
letzten Kampf ihr Äußerstes getan zu haben," heißt es in der Eintragung im Kriegstagebuch der
Seekriegsleitung vom 25. Oktober 1918.
Die Matrosen erkannten rasch, dass sie von der Admiralität unmittelbar vor dem Ende des Krieges
noch auf eine sinnlose "Todesfahrt" geschickt werden sollten. Am 29./30. Oktober löschten sie auf
mehreren vor Wilhelmshaven liegenden Schlachtschiffen das Feuer unter den Kesseln und zerstörten
die Ankerlichtmaschinen. Die Seekriegsleitung musste ihren Angriffsplan fallen lassen. Als sie mehr
als 1000 Meuterer verhaften und in Wilhelmshavener und Kieler Militärgefängnisse bringen ließ, wo
ihnen das Kriegsgericht und die Todesstrafe drohten, eskalierte die Entwicklung.
Am Morgen des 4. November wählten die Mannschaften Soldatenräte, bewaffneten sich und
entwaffneten ihre Offiziere. Der Kieler Militärgouverneur wurde gezwungen, die gefangenen Meuterer
freizulassen. Matrosen und Marinesoldaten besetzten die wichtigsten militärischen und zivilen
Dienststellen. Als die Aufständischen am Abend bereits die ganze Stadt kontrollierten, erhielten sie
Unterstützung von den solidarisch in Streik getretenen Werft- und Industriearbeitern. Jetzt schalteten
sich die Kieler MSPD und die USPD ein. In der Nacht organisierten sie gemeinsam einen
"Provisorischen Zentralen Arbeiter- und Soldatenrat" als neues Machtzentrum. Aus Berlin traf der
MSPD-Abgeordnete Gustav Noske ein. Er wurde begeistert begrüßt und übernahm die politische und
militärische Leitung in Kiel.
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Aber die Angst, von heranrückenden Truppen eingeschlossen zu werden, und die Sorge um die in
Wilhelmshaven noch inhaftierten Kameraden trugen die Matrosenbewegung über Kiel hinaus.
Innerhalb weniger Tage lösten reisende Matrosengruppen in den militärischen Einrichtungen der
norddeutschen Hafenstädte und weiterer Städte des Binnenlandes eine revolutionäre Welle aus, die
sich von selbst und unwiderstehlich in alle Himmelsrichtungen fortpflanzte. Im Prinzip spielte sich
überall dasselbe ab wie in Kiel: "Die "Kaserne" revolutionierte die "Fabrik" (Ulrich Kluge), Soldatenräte
und Arbeiterräte übernahmen die Macht, MSPD und USPD setzten sich an die Spitze der
Rätebewegung, um sie in geordnete Bahnen zu lenken. Es gab kaum Blutvergießen – nur selten erhob
sich noch eine Stimme oder regte sich eine Hand für die Rettung der alten Ordnung. Die Monarchie
begann zu zerbrechen: Am späten Abend des 7. November rief der bayerische USPD-Führer Kurt
Eisner in München die Republik aus; am 8. dankte der Wittelsbacher König Ludwig III. ab. Ähnlich
erging es in den nächsten Tagen den übrigen Fürstenhäusern. Die Friedensbewegung hatte sich in
eine "Volksbewegung gegen den Militär- und Obrigkeitsstaat" (Helmut Heiber) verwandelt.
Revolution in Berlin
Vor diesem Hintergrund forderte die MSPD am 7. November ultimativ einen stärkeren Einfluss im
Kabinett, eine parlamentarische Regierung auch in Preußen und "den sofortigen Rücktritt des Kaisers
und Kronprinzen". "Jetzt heißt's, sich an die Spitze der Bewegung zu stellen, sonst gibt's doch
anarchische Zustände im Reich" – so beurteilte der MSPD-Fraktionsvorsitzende Philipp Scheidemann
die Lage.
Denn inzwischen bereiteten sich Berliner Linksradikale auf die Revolution vor: Teile des linken Flügels
der USPD, namentlich die "Spartakusgruppe" (in Berlin annähernd 100, reichsweit 2000 bis 3000
Anhänger der russischen Revolution, geführt von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht) sowie die "
Revolutionären Obleute" (80 bis 100 bei den Berliner Arbeitern angesehene linksradikale
Gewerkschaftsfunktionäre). Wie überall musste die Haltung der Soldaten den Ausschlag geben; aber
anders als in den übrigen Städten ging es in der Hauptstadt in erster Linie um die Kontrolle über die
Reichspolitik.
Am 9. November begann die Revolution mit einem Generalstreik der größeren Betriebe, ausgerufen
von den Revolutio-nären Obleuten und der Spartakusgruppe, mitgetragen von der MSPD und den ihr
nahestehenden Gewerkschaften, unterstützt von den zunehmend MSPD-orientierten Soldaten.
Arbeiter- und Soldatenräte wurden gebildet, das Polizeipräsidium und andere strategisch wichtige
Gebäude besetzt. Die Straßen der Innenstadt füllten sich mit endlosen Demonstrationszügen. Da die
MSPD jetzt fürchtete, ihren Einfluss auf die revolutionäre Bewegung zu verlieren, erklärte sie ihren
Austritt aus der Reichsregierung.
Abdankung der Hohenzollern
Zur selben Zeit versuchte Prinz Max die Monarchie zu retten. Vergeblich beschwor er den Kaiser in
Spa telefonisch und telegrafisch zur Übergabe des Throns an einen "Regenten" (das heißt einen
verfassungsmäßigen Vertreter), der Friedrich Ebert zum Reichskanzler ernennen und eine "
verfassunggebende deutsche Nationalversammlung" wählen lassen sollte. Gegen 11.30 Uhr sah der
Kanzler keine andere Möglichkeit mehr, als eigenmächtig den Verzicht von Kaiser und Kronprinz auf
den deutschen Kaiserthron und den preußischen Königsthron bekannt zu geben.
Gegen zwölf Uhr erschien die MSPD-Führung in der Reichskanzlei; der Parteivorsitzende Friedrich
Ebert forderte Prinz Max zur Übergabe der Regierungsgeschäfte auf. Nach einer kurzen
Kabinettsberatung "übertrug" der Kanzler sein Amt auf Ebert.
Der neue Regierungschef ließ die Oktoberregierung weitgehend unverändert, stellte aber dem
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preußischen Kriegsminister und dem für Berlin zuständigen Militärbefehlshaber sozialdemokratische
Kontrolleure an die Seite. Ebert wandte sich sogleich mit mehreren Aufrufen an die Öffentlichkeit, in
denen er versprach, eine "Volksregierung" zu bilden, Frieden zu schließen und die Freiheit zu sichern.
Er beschwor die Bürger, die Nahrungsmittelversorgung sicherzustellen, die Straßen zu verlassen und
für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Eine verfassunggebende Nationalversammlung sei zu wählen –
erstmals unter Beteiligung der Frauen. Die Soldaten sollten so rasch wie möglich zu ihrer Familie und
zur Erwerbsarbeit zurückkehren. Das Eigentum müsse vor "willkürlichen Eingriffen" geschützt werden.
Ausrufung der Republik
Aber die Massen erwarteten eine klarere politische Orientierung. Gegen zwei Uhr nachmittags wurde
Philipp Scheidemann von Parteifreunden genötigt, an ein Fenster des Reichstags zu treten und zu
der versammelten Menge zu sprechen. Er ließ sich spontan dazu hinreißen, nicht nur das Ende der
Hohenzollernherrschaft und des "Militarismus" zu verkünden, sondern auch die "deutsche Republik
" auszurufen. Reichskanzler Ebert werde eine Regierung aller sozialistischen Parteien bilden. Die
Menge reagierte begeistert, Ebert jedoch war entsetzt: "Du hast kein Recht, die Republik auszurufen!
Was aus Deutschland wird, ob Republik oder was sonst, entscheidet eine Konstituante
(verfassunggebende Nationalversammlung – Anm.d.Red.)!", schrie er seinen Parteifreund an.
Nur zwei Stunden später proklamierte der "Spartakus"-Führer Karl Liebknecht vom Balkon des Berliner
Stadtschlosses aus die "freie sozialistische Republik Deutschland". Er erklärte die "Herrschaft des
Kapitalismus" für gebrochen und propagierte eine "neue staatliche Ordnung des Proletariats" mit dem
Ziel der "Vollendung der Weltrevolution".
Um die Linksradikalen durch ein rasches Regierungsbündnis zwischen MSPD und USPD
auszumanövrieren, machte Ebert der USPD-Führung erhebliche Zugeständnisse: Grundsatzentscheidungen
sollte eine Vollversammlung der deutschen Arbeiter- und Soldatenräte treffen, die verfassunggebende
Nationalversammlung vorläufig zurückgestellt werden. Auf dieser Basis wurde am Vormittag des 10.
November ein neues, von beiden sozialdemokratischen Parteien paritätisch besetztes "
entscheidendes Kabinett" gebildet, dem die bisherigen Fachminister als "Gehilfen" unterstanden.
Am selben Morgen übertrug Kaiser Wilhelm II. in Spa Hindenburg das militärische Oberkommando
und reiste nach Holland ins Exil. Ludendorff floh, verkleidet und mit falschen Papieren, nach Schweden.
Rat der Volksbeauftragten
Am Nachmittag nahm eine Versammlung von 3000 in den Berliner Betrieben und Kasernen gewählten,
mehrheitlich MSPD-orientierten Vertretern der Arbeiter und Soldaten die Einigung zwischen USPD
und MSPD begeistert auf. Störversuche der Spartakusgruppe blieben erfolglos. Die neue Regierung
wurde "bestätigt" und "Rat der Volksbeauftragten" genannt. Die MSPD hielt die wichtigsten Ressorts –
vor allem Inneres und Militär (Ebert) – in ihren Händen. Zwar erreichte die USPD-Linke die Wahl eines "
Vollzugsrates des Arbeiter- und Soldatenrates Groß-Berlin", der die Volksbeauftragten kontrollieren
sollte. Die 24 Mitglieder standen jedoch mehrheitlich der MSPD nahe. Otto Wels (MSPD) wurde
Stadtkommandant, Emil Eichhorn (USPD) Polizeipräsident von Berlin.
Ausrufung der Republik durch Philipp Scheidemann ...
Das deutsche Volk hat auf der ganzen Linie gesiegt. Das alte Morsche ist zusammengebrochen; der
Militarismus ist erledigt! Die Hohenzollern haben abgedankt! Es lebe die deutsche Republik! Der
Abgeordnete Ebert ist zum Reichskanzler ausgerufen worden. Ebert ist damit beauftragt worden, eine
neue Re-gierung zusammenzustellen. Dieser Regierung werden alle sozialistischen Parteien
angehören. Jetzt besteht unsere Aufgabe darin, diesen glänzenden Sieg, diesen vollen Sieg des
deutschen Volkes, nicht beschmutzen zu lassen, und deshalb bitte ich Sie, sorgen Sie dafür, daß keine
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Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
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Störung der Sicherheit eintrete! Wir müssen stolz sein können, in alle Zukunft auf diesen Tag! Nichts
darf existieren, was man uns später wird vorwerfen können! Ruhe, Ordnung und Sicherheit, das ist
das, was wir jetzt brauchen! Dem Oberkommandierenden in den Marken und dem Kriegsminister
Scheüch werden je ein Beauftragter beigegeben. Der Abgeordnete Genosse Göhre wird alle
Verordnungen des Kriegsministers Scheüch gegenzeichnen. Also es gilt von jetzt ab, die Verfügungen,
die unterzeichnet sind von Ebert, und die Kundmachungen, die gezeichnet sind mit den Namen Göhre
und Scheüch, zu respektieren. Sorgen Sie dafür, daß die neue deutsche Republik, die wir errichten
werden, nicht durch irgend etwas gefährdet werde! Es lebe die deutsche Republik!
Von einem, der dabei war: Wie die deutsche Republik ausgerufen wurde,
in: Deutscher Revolutionsalmanach für das Jahr 1919 über die Ereignisse des Jahres 1918, Hoffmann
& Campe, Berlin 1919, S. 72
... und durch Karl Liebknecht
[...] der Tag der Freiheit ist angebrochen. Nie wieder wird ein Hohenzoller diesen Platz betreten. Vor
70 Jahren stand hier am selben Ort Friedrich Wilhelm IV. und mußte vor dem Zug der auf den Barrikaden
Berlins für die Sache der Freiheit Gefal- lenen, vor den fünfzig blutüberströmten Leichnamen, seine
Mütze abnehmen. Ein anderer Zug bewegt sich heute hier vorüber. Es sind die Geister der Millionen,
die für die heilige Sache des Proletariats ihr Leben gelassen haben. [...] Parteigenossen, ich proklamiere
die freie sozialistische Republik Deutschland, die alle Stämme umfassen soll, in der es keine Knechte
mehr geben wird, in der jeder ehrliche Arbeiter den ehrlichen Lohn seiner Arbeit finden wird. Die
Herrschaft des Kapitalismus, der Europa in ein Leichenfeld verwandelt hat, ist gebrochen. Wir rufen
unsere russischen Brüder zurück. Sie haben bei ihrem Abschied zu uns gesagt: Habt ihr in einem
Monat nicht das erreicht, was wir erreicht haben, so wenden wir uns von Euch ab. Und nun hat es
kaum vier Tage gedauert.
Wenn auch das Alte niedergerissen ist [...], dürfen wir doch nicht glauben, daß unsere Aufgabe getan
sei. Wir müssen alle Kräfte anspannen, um die Regierung der Arbeiter und Soldaten aufzubauen und
eine neue staatliche Ordnung des Proletariats zu schaffen, eine Ordnung des Friedens, des Glücks
und der Freiheit unserer deutschen Brüder und unserer Brüder in der ganzen Welt. Wir reichen ihnen
die Hände und rufen sie zur Vollendung der Weltrevolution auf. [...] Hoch die Freiheit und das Glück
und der Frieden!
Ausrufung der sozialistischen Republik durch Karl Liebknecht, 9.11.1918, in: Peter Longerich (Hg.),
Die Erste Republik. Dokumente zur Geschichte des Weimarer Staates, Piper, München 1992, S. 46 f.
Positionen im Kampf um die politische Neuordnung am 9./10. November 1918
Schreiben des Vorstandes der MSPD an den Vorstand der USPD, 9.11.1918
Von dem aufrichtigen Wunsche geleitet, zu einer Einigung zu gelangen, müssen wir Ihnen unsere
grundsätzliche Stellung zu Ihren Forderungen klarlegen. Sie fordern:
1. Deutschland soll eine soziale Republik sein.
[Antwort:] Diese Forderung ist das Ziel unserer eigenen Politik. Indessen hat darüber das Volk durch
die konstituierende Versammlung zu entscheiden.
2. In dieser Republik soll die gesamte exekutive, legislative und die jurisdiktionelle Macht ausschließlich
in den Händen von gewählten Vertrauensmännern der gesamten werktätigen Bevölkerung und der
Soldaten sein.
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[Antwort:] Ist mit diesem Verlangen die Diktatur eines Teils einer Klasse gemeint, hinter dem nicht die
Volksmehrheit steht, so müssen wir diese Forderung ablehnen, weil sie unseren demokratischen
Grundsätzen widerspricht.
3. Ausschluss aller bürgerlichen Mitglieder aus der Regierung.
[Antwort:] Diese Forderung müssen wir ablehnen, weil ihre Erfüllung die Volksernährung erheblich
gefährden, wenn nicht unmöglich machen würde. [...]
6. Gleichberechtigung der beiden Leiter des Kabinetts.
[Antwort:] Wir sind für die Gleichberechtigung aller Kabinettsmitglieder, indessen hat die
Konstituierende Versammlung darüber zu entscheiden.
Der Vorstand der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands.
Antwort des Vorstandes der USPD an den Vorstand der MSPD, 10.11.1918.
Auf Ihr Schreiben vom 9. November 1918 erwidern wir Folgendes: Die Unabhängige
Sozialdemokratische Partei ist bereit, um die revolutionären sozialistischen Errungenschaften zu
befestigen, in das Kabinett unter folgenden Bedingungen einzutreten:
Das Kabinett darf nur aus Sozialdemokraten zusammengesetzt sein, die als Volkskommissare
gleichberechtigt nebeneinanderstehen. [...]
Die politische Gewalt liegt in den Händen der Arbeiter- und Soldatenräte, die zu einer Vollversammlung
aus dem ganzen Reiche alsbald zusammenzuberufen sind.
Die Frage der Konstituierenden Versammlung wird erst bei einer Konsolidierung der durch die
Revolution geschaffenen Zustände aktuell und soll deshalb späteren Erörterungen vorbehalten bleiben.
Für den Fall der Annahme dieser Bedingungen, die von dem Wunsche eines geschlossenen Auftretens
des Proletariats diktiert sind, haben wir unsere Mitglieder Haase, Dittmann und Barth in das Kabinett
delegiert.
Der Vorstand der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei.
Aufruf der Spartakusgruppe, 10.11.1918
Sichert die von euch errungene Macht!
[...] Mit der Abdankung von ein paar Hohenzollern ist es nicht getan.
[...] Denn euer Ziel ist die sofortige Herbeiführung eines proletarisch-sozia-istischen Friedens, der sich
gegen den Imperialismus aller Länder wendet, und die Umwandlung der Gesellschaft in eine
sozialistische.
Zur Erlangung dieses Zieles ist es vor allem notwendig, [...] folgende Forderungen mit aller
Entschlossenheit und unbezähmbaren Kampfwillen zu verfolgen:
1. Entwaffnung der gesamten Polizei, sämtlicher Offiziere sowie der Soldaten, die nicht auf dem Boden
der neuen Ordnung stehen; Bewaffnung des Volkes; [...]
2. Übernahme sämtlicher militärischer und ziviler Behörden und Kommandostellen durch
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Vertrauensmänner des Arbeiter- und Soldatenrates.
3. Übergabe aller Waffen- und Munitionsbestände sowie aller Rüstungsbetriebe an den Arbeiter- und
Soldatenrat.
4. Kontrolle über alle Verkehrsmittel durch den Arbeiter- und Soldatenrat.
5. Abschaffung der Militärgerichtsbarkeit; Ersetzung des militärischen Kadavergehorsams durch
freiwillige Disziplin.
6. Beseitigung des Reichstages und aller Parlamente sowie der bestehenden Reichsregierung;
Übernahme der Regierung durch den Berliner Arbeiter- und Soldatenrat bis zur Errichtung eines ReichsArbeiter- und Soldatenrates.
7. Wahl von Arbeiter- und Soldatenräten in ganz Deutschland, in deren Hand ausschließlich
Gesetzgebung und Verwaltung liegen. [...]
8. Abschaffung aller Dynastien und Einzelstaaten; unsere Parole lautet: einheitliche sozialistische
Republik Deutschland.
9. Sofortige Aufnahme der Verbindung mit allen in Deutschland bestehenden Arbeiter- und
Soldatenräten und den sozialistischen Bruderparteien des Auslandes.
10. Sofortige Rückberufung der russischen Botschaft nach Berlin.
[...] Es darf kein "Scheidemann" mehr in der Regierung sitzen; es darf kein Sozialist in die Regierung
eintreten, solange ein Regierungssozialist noch in ihr sitzt. Es gibt keine Gemeinschaft mit denen, die
euch vier Jahre lang verraten haben.
Wolfgang Michalka / Gottfried Niedhart (Hg.), Die ungeliebte Republik. Dokumente zur Innen- und
Außenpolitik Weimars 1918-1933, dtv, München 1980, S. 27 ff.
Pro und Contra Rätesystem
Aus den Debatten des Reichsrätekongresses am 19. 12. 1918
Max Cohen-Reuß (MSPD)
Wie man auch über die Arbeiter- und Soldatenräte denken mag [...], in jedem Falle drücken die Arbeiterund Soldatenräte nur einen Teilwillen, niemals aber den Willen des ganzen deutschen Volkes aus.
Diesen festzustellen, darauf kommt es an. [...] Wenn wir eine sozialistische Mehrheit bekommen wollen,
müssen wir die Nationalversammlung so schnell wie möglich einberufen. [...] (Es) wird nicht mehr
Sozialismus durchführbar sein, als die Mehrheit des Volkes will. [...]
Parteigenossen, schätzen Sie wirklich [...] den Widerstand der bürgerlichen Kreise und der Intelligenz
so gering ein, dass wir, wenn wir sie politisch entrechten, gegen ihren Willen die Wirtschaft führen
können? [...]
Ernst Däumig (USPD)
[...] [Das] muss doch jedem Klardenkenden einleuchten, dass die jubelnde Zustimmung zur
Nationalversammlung gleichbedeutend ist mit einem Todesurteil [...] für das Rätesystem. [...]
Im Wirtschaftsleben werden mit Hilfe der Nationalversammlung und des Bürgertums die
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Gewerkschaften alten Stils natürlich die Arbeiterräte aus den Betrieben ganz schnell herausgedrängt
haben. [...] Die Diktatur ist zweifellos mit dem Rätesystem verbunden. Aber was sich in Russland durch
die historischen Gesetze aufzwang, braucht noch lange nicht in Deutschland der Fall zu sein. [...]
Allgemeiner Kongreß der Arbeiter- und Soldatenräte Deutschlands vom 16.-21. Dezember 1918 im
Abgeordnetenhaus zu Berlin. Stenografische Berichte, Berlin 1919, in : Gerhard A. Ritter / Susanne
Miller (Hg.), Die deutsche Revolution 1918-1919. Dokumente, Frankfurt/M. 2. Aufl. 1983, S. 372 ff.
Am Abend des 10. November hatte sich die breite Mehrheit der gemäßigten Sozialisten gegen die
linksradikale Minderheit durchgesetzt.
Waffenstillstandsunterzeichnung
Währenddessen leistete der Kern des deutschen Heeres an der zurückweichenden Westfront noch
immer zähen Widerstand. Am 5. November 1918 erklärten die Alliierten ihre Bereitschaft zu
Waffenstillstandsverhandlungen. Drei Tage später nahm die noch von Prinz Max entsandte, von
Staatssekretär Matthias Erzberger (Zentrum) geleitete deutsche Delegation im Hauptquartier des
alliierten Oberkommandierenden, Marschall Foch, im Wald von Compiègne nordöstlich von Paris die
harten Waffenstillstandsbedingungen entgegen:
•
Rückzug des Westheeres hinter den Rhein innerhalb von 15 Tagen,
•
Besetzung der linksrheinischen deutschen Gebiete sowie dreier Brückenköpfe bei Köln, Mainz
und Koblenz durch alliierte Truppen innerhalb von 25 Tagen,
•
Aufrechterhaltung der Seeblockade bis zum Friedensvertrag,
•
Übergabe des schweren Kriegsgerätes, der U-Boote und der Hochseeflotte,
•
Ablieferung von 5.000 Lokomotiven, 150.000 Waggons und 5.000 LKW als erste
Reparationsleistungen,
•
Freilassung der alliierten Kriegsgefangenen,
•
Aufhebung der Friedensverträge mit Rumänien und Russland,
•
Rückzug des Ostheeres auf Abruf hinter die deutsche Grenze von 1914; vorläufige Stationierung
deutscher Truppen im Baltikum, um die Ausbreitung des russischen Kommunismus zu verhindern.
Erzbergers Hoffnung, als demokratischer Zivilist und Friedenspolitiker könne er bessere Bedingungen
aushandeln als ein kaiserlicher General, wurde bitter enttäuscht. Marschall Foch gewährte lediglich
eine geringfügige Verlängerung der Rückzugsfrist. OHL-Chef Hindenburg riet dringend zur Annahme
des Waffenstillstandes.
Als dieser am 11. November 1918 um 11 Uhr die Kampfhandlungen beendete, hatte der Erste Weltkrieg
insgesamt ca. zehn Millionen Tote und 20 Millionen Verwundete gefordert. Etwa 1,8 Millionen deutsche
Soldaten waren gefallen, 4,2 Millionen waren verwundet und oftmals verstümmelt worden, mehr als
600.000 befanden sich in Kriegsgefangenschaft.
Matthias Erzberger
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Als was sollte man die 66. Sitzung der Nationalversammlung am 25. Juli 1919 in Weimar beschreiben?
Als eine Art [...] Jüngstes Gericht? Oder als eine erste parlamentarische Sternstunde der jungen
Weimarer Republik? Noch den heutigen Leser des Protokolls überkommt ein kalter Schauer angesichts
der scharfen Abrechnung, die der Reichsfinanzminister Matthias Erzberger den Parteien der Rechten,
dem früheren kaiserlichen Regiment und der Führung der Reichswehr vorhielt. Zum ersten Mal erfuhren
die Deutschen an jenem Freitagnachmittag von dem größenwahnsinnigen Versagen der vormaligen
Reichsführung.
[...] Von ihr sei die Möglichkeit eines Verständigungsfriedens im Jahre 1917 sabotiert worden: "Durch
die Verblendung militärischer Machthaber, die für unsere politische Kraft und militärische Macht nicht
das richtige Augenmaß hatten, ist ein günstiger Moment für die Herbeiführung des Friedens versäumt
und verpaßt worden." [...] "Jeder Friedensvertrag", resümierte Erzberger am Ende seiner Rede, "ist
die Schlußrechnung eines Krieges. Wer den Krieg verliert, verliert den Frieden, und wer hat bei uns
den Krieg verloren? [...] [D]iejenigen, welche den handgreiflichen Möglichkeiten eines maßvollen und
würdigen Friedens immer wieder einen unvernünftigen, trotzigen und verbreche-rischen Eigensinn
entgegenstellten [...]. Dadurch, daß wir Ihren Waffenstillstand und Ihren Frieden unterzeichnen mußten,
haben wir für Ihre Schuld gebüßt. Diese Schuld werden Sie niemals los, [...] weder vor uns, noch vor
der Geschichte, noch vor Ihrem eigenen Gewissen." Das Protokoll verzeichnet: "Stürmischer Beifall
und Händeklatschen im Zentrum und bei den Sozialdemokraten. – Zischen rechts. [...]
In der Tat konnte man sich keinen größeren Gegensatz vorstellen: da die protestantische, teils
akademische, teils militärische, teils unternehmerische, zumeist adelige Elite des preußisch
dominierten Reiches – hier der württembergische Katholik Matthias Erzberger, ganz kleiner Leute
Kind, ohne universitäre Bildung, ohne militärischen Rang, weder Vermögen noch Titel geerbt und alles,
was er war, durch hohe Begabung und harten Fleiß erarbeitet. Erzberger hatte ihnen die Konsequenzen
ihres Versagens abgenommen – und genau das haben ihm die alten Eliten nie verziehen. Als er nahe
dem Kurort Bad Griesbach im Hochschwarzwald [...] am 26. August 1921 von zwei rechtsradikalen
Fememördern erschossen wurde, war die Freude unter den Feinden der jungen Weimarer Republik
kaum noch klammheimlich zu nennen. [...]
Im Kabinett des SPD-Kanzlers Philipp Scheidemann Minister ohne Ressort, [war] er [zuvor] am 21.
Juni 1919 im Kabinett Gustav Bauers (ebenfalls SPD) zum Finanzminister ernannt [worden]. In wenigen
Monaten setzte er [...] eine völlig neue Finanzverfassung für Deutschland durch, vor allem eine
einheitliche Finanzverwaltung. Auf diese Weise stellte er das Reich auf eigene fiskalische Beine und
schuf ein Steuersystem, das im Grundsatz bis heute Bestand hat und das die materiellen Privilegien
der Besitzbürger im Sinne der Leistungsgerechtigkeit stutzte. Allein diese enorme Tat müsste ihm
einen Ehrenplatz in der Geschichte unserer Republik sichern. [...] [B]is auf den heutigen Tag erinnert
im Straßenbild der Reichs- und Bundeshauptstadt Berlin kein einziges öffentliches Zeichen an diesen
Opfergänger unserer Demokratie.
Robert Leicht, "Patriot in der Gefahr", in: Die Zeit Nr. 34 vom 18. August 2011
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Rätesystem oder Parlamentarismus?
In ganz Deutschland hatte sich über private und staatliche Betriebe und über Regierungen,
Verwaltungen und Militärbehörden aller Ebenen ein locker geknüpftes Netz aus revolutionären Gremien
gelegt; es reichte vom Rat der Volksbeauftragten über die Revolutionsregierungen in den
Bundesstaaten bis zu den regionalen und lokalen Arbeiter- und Soldatenräten. Dieses revolutionäre
Netzwerk stützte sich auf die bewaffnete Macht der Soldaten, die Streikmacht der Arbeiter und die
Demonstrationsmacht der Massen.
In diesem provisorischen Gebilde aus alten und neuen Strukturen dominierte die MSPD. Hinter ihr
standen die meisten Arbeiterräte und fast alle Soldatenräte. Ihr Parteiapparat bildete in Verbindung
mit den Gewerkschaftsorganisationen ein eigenes, ausgedehntes Kommunikations- und
Kooperationsnetz. Durch die Zusammenarbeit mit der USPD – in ländlichen Städten auch mit
bürgerlichen Katholiken und Liberalen – hatte die MSPD die Linksradikalen fast völlig aus den Räten
heraushalten können. Außerdem hielt sie eine strategische Schlüsselstellung in Händen: "Durch das
Aufeinandertreffen der beiden Bewegungen – quasi-legale Machtüberleitung "von oben", revolutionäre
Machtbildung "von unten" – kam Friedrich Ebert, der Führer der Mehrheitssozialisten, in eine
Doppelstellung und -funktion hinein [...]. Er war noch ernannter Reichskanzler und damit von der alten
Ordnung beglaubigter Macht- und Entscheidungsträger, gewissermaßen eine Brücke der Legalität;
zugleich stützte er sich als Vorsitzender des Rats der Volksbeauftragten auf die revolutionäre Legitimität
und stand ihr gegenüber in Verantwortung." (Ernst-Wolfgang Böckenförde).
Der von Ebert geleitete Rat der Volksbeauftragten stand vor gewaltigen Aufgaben: Acht Millionen
Soldaten mussten demobilisiert und wieder in den Wirtschaftsprozess eingegliedert werden; davon
waren drei Millionen in kürzester Frist über den Rhein ins Reich zurückzuführen. In Anbetracht des
bevorstehenden Winters musste die Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln und
Heizmaterial (Kohle) gewährleistet werden. Und nicht zuletzt war ein Mindestmaß an innerer und
äußerer Sicherheit aufrechtzuerhalten und insbesondere die Einheit des Reiches in Süd- und
Westdeutschland gegen separatistische Tendenzen, im östlichen Grenzgebiet gegen polnische
Expansionsbestrebungen zu behaupten.
Vertagung der Sozialisierung
In Anbetracht der schwierigen Umstände wurden diese Pro-bleme erstaunlich gut gemeistert. Dies
war allerdings nur mit einem Heer qualifizierter Fachleute möglich, über das MSPD und USPD nicht
selbst verfügten. Die Volksbeauftragten waren daher auf die wilhelminischen Unternehmer und
Großagrarier, Offiziere, höheren Regierungs- und Verwaltungsbeamten, Richter, Staatsanwälte und
Polizeiführer angewiesen. Ebendiese monarchistischen Eliten hätte man jedoch enteignen bzw. aus
ihren Positionen entfernen müssen, um die Repu-blikanisierung und Demokratisierung dauerhaft
abzusichern. In diesem Dilemma gaben die regierenden Sozialdemokraten der Lösung der
dringendsten Aufgaben den Vorrang, zumal die Frage der Überführung von Schlüsselindustrien
(Bergbau, Eisen- und Stahlerzeugung, Energiewirtschaft) in Formen von Gemeineigentum
("Sozialisierung") zwischen ihnen umstritten war. Die MSPD-Volksbeauftragten sahen sich in erster
Linie als "Konkursverwalter" (Ebert) des Kaiserreiches; verfassungsrechtliche Entscheidungen –
Rätesystem oder parlamentarische Demokratie, Privatwirtschaft oder Sozialisierung – durften nach
ihrer Überzeugung nicht durch spontan gebildete Arbeiter- und Soldatenräte, sondern nur durch eine
vom Volk gewählte Nationalversammlung getroffen werden. Demgegenüber drängten die USPDVolksbeauftragten auf eine schnelle Sozialisierung; eine Nationalversammlung sollte nach ihren
Vorstellungen erst später gewählt und (auf noch zu klärende Weise) mit dem Rätesystem verbunden
werden. Beide Linksparteien waren sich jedoch einig, über die Frage der Nationalversammlung
möglichst bald einen Beschluss durch einen Reichskongress der Arbeiter- und Soldatenräte
herbeizuführen.
Machterhalt der wilhelminischen Eliten
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So bewirkte die Entwicklung zwischen November 1918 und Januar 1919 ein Abbremsen der
Revolution – die Umwälzung blieb letztlich auf den politischen Bereich beschränkt. Eine
Demokratisierung des öffentlichen Dienstes, der Wirtschaft und wichtiger gesellschaftlicher
Einrichtungen fand nicht statt. Seit Eberts Aufrufen vom 9. November arbeiteten die Regierungs-,
Verwaltungs- und Justizbehörden ohne wirksame Kontrolle weiter; selbst betont antidemokratische
Beamte wurden nicht entlassen. Gymnasien und Universitäten – Hochburgen des Monarchismus,
Nationalismus und Antisemitismus – blieben unreformiert. Allerdings mussten die evangelischen
Landeskirchen, deren Pfarrer sich (besonders in Preußen) überwiegend kritiklos mit Kaiser und Reich
identifiziert hatten, auf das landesherrliche Kirchenregiment (das heißt auf die Stellung des
Landesfürsten als Kirchenoberhaupt) verzichten, das dem Protestantismus eine privilegierte Stellung
gegenüber dem Katholizismus gesichert hatte.
Generalität und Offizierskorps behielten ihre Stellung. Noch am Abend des 10. November 1918
unterstellte sich die OHL in einem Telefongespräch (bekannt als "Ebert-Groener-Bündnis") dem Rat
der Volksbeauftragten, um ihrer Auflösung zu entgehen und ihre Autorität gegenüber den Soldaten zu
festigen. Zwar wurden die kaiserlichen Militärs für die Demobilisierung noch gebraucht, aber die
Volksbeauftragten versäumten es, der OHL gegenüber selbstbewusst aufzutreten und deren
Befugnisse auf das Nötigste zu beschränken. Der Versuch, das kaiserliche Militär durch eine "Freiwillige
Volkswehr" zu ersetzen, scheiterte, weil nur noch wenige republikanisch und demokratisch gesinnte
Weltkriegssoldaten zum Wehrdienst bereit waren. So blieb die alte Armee bestehen. Im Zuge der
Demobilisierung schmolz sie unter der Regie der OHL bis zum Sommer 1919 auf einen Kern von etwa
150000 Soldaten zusammen, die der Republik und der Demokratie fast ausnahmslos fern standen.
Auch die ostelbischen adligen und bürgerlichen Großgrundbesitzer, die im Kaiserreich den Großteil
des höheren Offizierskorps stellten und das Rückgrat der Monarchie bildeten, kamen ungeschoren
davon. Sie durch Enteignung zu entmachten, wurde von keiner gesellschaftlichen Gruppe gefordert.
Verzicht auf Sozialisierung – der Stinnes-Legien-Pakt
Schon früh wurden die Weichen so gestellt, dass die rheinisch-westfälischen Schwerindustriellen –
auch sie Säulen des kaiserlichen Obrigkeitsstaates – von Enteignungen verschont blieben. Am 15.
November 1918 schlossen der Vorsitzende der Unternehmerverbände Hugo Stinnes und der (der
MSPD angehörende) Gewerkschaftsvorsitzende Carl Legien ein Abkommen, in dem sie folgendes
vereinbarten:
•
die Anerkennung der Gewerkschaften als "berufene Vertretung der Arbeiterschaft" und das Prinzip
der kollektiven Tarifverträge,
•
den Acht-Stunden-Tag bei vollem Lohnausgleich,
•
Arbeiterausschüsse und paritätische Schlichtungsausschüsse in Betrieben mit mehr als 50
Beschäftigten,
•
die Wiedereinstellung der demobilisierten Soldaten,
•
sowie einen paritätisch besetzten "Zentralausschuss" (Zentralarbeitsgemeinschaft/ZAG) zur
Durchführung des Abkommens und zur "Entscheidung grundsätzlicher Fragen".
Erstmals wurden die Gewerkschaften von den Unternehmern als gleichberechtigte Vertragspartner
anerkannt. Auch war die damals geschaffene Tarifautonomie der Arbeitgeber- und
Arbeitnehmerorganisationen ein bedeutender sozialpolitischer Erfolg, der noch heute einen Eckpfeiler
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des Sozialstaates der Bundesrepublik bildet. Das geschickte Angebot der Unternehmer – "Sozialpolitik
gegen Verzicht auf Sozialisierung" (Eberhard Kolb) – stieß bei den Gewerkschaftsführern auf
Zustimmung, weil diese die spontane Rätebewegung in den Betrieben als lästige Konkurrenz
empfanden. Die Volksbeauftragten einigten sich zwar am 18. Dezember auf den Kompromiss,
Industriezweige, die dafür "reif" waren, zu sozialisieren, sobald eine Expertenkommission aus
Wirtschaftswissenschaftlern, Unternehmern und Arbeitervertretern die notwendigen Einzelheiten
ausgearbeitet hätte. Aber dieser Beschluss lief auf eine Vertagung der Sache hinaus.
Ebenfalls am 15. November 1918 beriefen die Volksbeauftragten Hugo Preuß, einen angesehenen
linksliberalen Staatsrechtslehrer und bekannten Kritiker des kaiserlichen Obrigkeitsstaates, zum
Staatssekretär des Innern und erteilten ihm den Auftrag, eine neue Reichsverfassung zu entwerfen.
Preuß Ernennung signalisierte, dass die MSPD ihre Zusammenarbeit mit dem liberalen Bürgertum
und dem politischen Katholizismus fortsetzen wollte.
Grundsatzentscheidungen im Reichsrätekongress
Vom 16. bis zum 21. Dezember 1918 tagte im preußischen Abgeordnetenhaus in Berlin der "Erste
Allgemeine Kongress der Arbeiter- und Soldatenräte Deutschlands". Reichsweit war auf je 200000
Einwohner bzw. je 100000 Soldaten ein Delegierter gewählt worden. Der Kongress führte eine
Grundsatzdebatte über die Vor- und Nachteile des Rätesystems und der parlamentarischen
Demokratie sowie über den richtigen Zeitpunkt der Wahl einer verfassunggebenden
Nationalversammlung. Er fasste – jeweils mit großer Mehrheit – richtungweisende Beschlüsse:
•
Abgelehnt wurde der Antrag der USPD, am "Rätesystem als Grundlage der Verfassung einer
sozialistischen Republik" festzuhalten und den Räten die "höchste gesetzgebende und
Vollzugsgewalt" zuzugestehen.
•
Angenommen wurde der Antrag der MSPD, bis zur Regelung durch die Nationalversammlung die
gesetzgebende und vollziehende Gewalt dem Rat der Volksbeauftragten zu übertragen und diesen
nicht mehr durch den Berliner Vollzugsrat, sondern durch einen vom Kongress zu wählenden
"Zentralrat der Deutschen Sozialistischen Republik" zu kontrollieren. In diesem Gremium war dann
nur die MSPD vertreten – die USPD boykottierte die Wahl, weil der Zentralrat keine
Gesetzgebungsbefugnis erhielt. Das Ende der Zusammenarbeit zwischen den beiden
Linksparteien kündigte sich an.
•
Die Wahlen zur verfassunggebenden Nationalversammlung wurden auf den frühestmöglichen
Termin (19. Januar 1919) festgesetzt.
Damit hatte sich erwartungsgemäß die politische Linie der MSPD durchgesetzt. Denn von den 514
Delegierten des Reichsrätekongresses stellte sie rund 300, die USPD etwa 100 (darunter 10
Spartakisten); die übrigen waren Linksliberale, Parteilose oder Vertreter unabhängiger revolutionärer
Gruppen.
Umso mehr überraschten zwei weitere Beschlüsse: Die Volksbeauftragten wurden angewiesen, "mit
der Sozialisierung aller hierzu reifen Industrien, insbesondere des Bergbaus, unverzüglich zu
beginnen". Auch sollten sie die militärische Kommandogewalt (unter der Kontrolle des Vollzugsrates)
selbst übernehmen und für die "Zertrümmerung des Militarismus" und die "Abschaffung des
Kadavergehorsams" sorgen. Offenbar existierte in der starken demokratisch-sozialistischen
Massenbewegung ein parteiübergreifender Konsens über eine sofortige (!) strukturelle
Demokratisierung von Heer, Verwaltung und Wirtschaft.
Doch die Mehrheitssozialdemokraten blieben ihrer Devise, dass man der Nationalversammlung nicht
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vorgreifen dürfe, treu und verschleppten die Reformbeschlüsse des Rätekongresses. Mit dieser Politik
enttäuschten sie Teile ihrer Anhängerschaft und brachten die radikale Linke noch mehr gegen sich
auf. Daher waren sie, um die Macht zu behaupten, immer stärker auf die alten Mächte angewiesen –
vor allem auf das Militär. In der Folge kam es zum Blutvergießen und zum Bruch zwischen USPD und
MSPD.
Weihnachtskämpfe
Seit Mitte Dezember schwelte ein Streit um die "Volksmarinedivision", die nach dem 9. November
1918 zum Schutz des Berliner Regierungsviertels aus etwa 1000 Kieler Matrosen aufgestellt und im
Schloss einquartiert worden war. Mittlerweile stand sie der USPD und dem "Spartakusbund" nahe. Da
sie sich nicht korrekt verhielt – im Schloss verschwanden Kunstschätze –, sollte die Volksmarinedivision
nach dem Willen der Volksbeauftragten ein neues Quartier beziehen. Die Matrosen ließen es auf eine
Machtprobe ankommen: Sie setzten am 23. Dezember die Volksbeauftragten in der Reichskanzlei
fest und entführten den Stadtkommandanten Otto Wels in den Marstall, wo er misshandelt wurde.
Daraufhin rief Friedrich Ebert über eine nicht überwachte Telefonleitung OHL-Truppen zu Hilfe, die
sich am nächsten Tag bei einem Feuergefecht mit der Volksmarinedivision als bürgerkriegsuntauglich
erwiesen: Als ihnen auch die Sicherheitswehr des Berliner Polizeipräsidenten Emil Eichhorn (USPD),
bewaffnete Arbeiter und eine unbewaffnete Volksmenge gegenüberstanden, zogen sie sich zurück.
Ebert erlitt eine Niederlage: Wels kam frei, musste aber als Stadtkommandant zurücktreten; Schloss
und Marstall wurden geräumt, aber die Volksmarinedivision blieb vorerst bestehen. Aus Protest gegen
den Militäreinsatz beendete die USPD am 29. Dezember 1918 ihre Zusammenarbeit mit der MSPD
und schied aus den Revolutionsregierungen aus. Im Rat der Volksbeauftragten wurden die USPDMitglieder durch Mehrheitssozialdemokraten (Militär: Gustav Noske, Arbeit und Soziales: Rudolf
Wissell) ersetzt. Die Weihnachtskämpfe und der Bruch zwischen den beiden Linksparteien
signalisierten den Eintritt der Revolution in eine zweite, weitaus radikalere Phase.
Bereits seit Mitte November hatte die OHL parallel zur Demobilisierung des Heeres die Bildung von
"Freikorps" durch ausgesuchte Offiziere gefördert. In diesen (meist von Großagrariern und Industriellen
finanzierten) militärischen Freiwilligenverbänden sammelten sich antirevolutionär, monarchistisch und
nationalistisch eingestellte Weltkriegssoldaten, die nur das Kriegshandwerk gelernt hatten, keinen
Rückweg in eine zivile Existenz mehr fanden und gegen den "Bolschewismus" kämpfen wollten. Als
Reaktion auf die Weihnachtskämpfe ließen jetzt auch die Volksbeauftragten, in Zusammenarbeit mit
der OHL, überall Freikorps anwerben. Sie waren nicht nur für die Sicherung der östlichen Grenzgebiete
und (entsprechend dem Waffenstillstandsabkommen) den Schutz des Baltikums vor der Roten Armee,
sondern auch für den Einsatz im Innern vorgesehen. Bis März 1919 entstanden etwa 100 Freikorps
unterschiedlicher Stärke mit einer Gesamtzahl von 250000 Mann. Die Freikorpssoldaten fühlten sich
jedoch nicht der Republik und der Demokratie, sondern allein ihren Kommandeuren und dem Staat
als solchem verpflichtet.
Gründung der KPD
Durch den Rätekongress und die Weihnachtskämpfe verschärften sich auch die Spannungen zwischen
den verschiedenen Flügeln der USPD. Am 30. Dezember 1918 gründete der "Spartakusbund"
zusammen mit Hamburger und Bremer Linksradikalen die "Kommunistische Partei Deutschlands"
(KPD), die von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht geführt wurde. Rosa Luxemburg versuchte die
KPD von Lenins Parteidiktatur in Russland abzugrenzen und auf eine Doppelstrategie einzuschwören:
"Der Sozialismus wird nicht gemacht und kann nicht gemacht werden durch Dekrete [...]. Der
Sozialismus muss durch die Massen, durch jeden Proletarier (das heißt besitzlosen Arbeiter – Anm.
d. Red.) gemacht werden. [...] Wir wollen innerhalb der Nationalversammlung ein siegreiches Zeichen
aufpflanzen, gestützt auf die Aktion von außen." Der Gründungsparteitag beschloss jedoch, die Wahl
der Nationalversammlung zu boykottieren – diese sei nur ein "Organ der Bourgeoisie" (das heißt des
kapitalbesitzenden Bürgertums).
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Januaraufstand
Den Weihnachtskämpfen folgte unausweichlich die nächste Machtprobe: Ein Berliner Polizeipräsident,
der Aufständischen half, statt die Regierung zu schützen, war nicht tragbar – am 4. Januar 1919 wurde
Eichhorn entlassen. USPD, Revolutionäre Obleute und KPD riefen sofort zu einer Protestdemonstration
auf, die am Folgetag großen Zulauf fand und unerwartet außer Kontrolle geriet. Bewaffnete
Demonstranten besetzten das Berliner Zeitungsviertel. In völliger Fehleinschätzung der Lage ließen
sich die Führer der drei linksradikalen Gruppen zu dem Beschluss hinreißen, den Aufstand bis zum
"Sturz der Regierung Ebert-Scheidemann" fortzusetzen – sie wollten die Wahl der
Nationalversammlung verhindern und die Revolution fortsetzen.
Die Volksbeauftragten hatten sich rechtzeitig an den Stadtrand zurückgezogen. Mit den Worten:
"Meinetwegen! Einer muss der Bluthund werden, ich scheue die Verantwortung nicht!" übernahm
Gustav Noske den Auftrag, in der Umgebung Berlins Freiwilligenverbände aufzustellen. Als
Verhandlungen mit den Aufständischen scheiterten, ließ er am 11./12. Januar das Berliner
Zeitungsviertel beschießen und stürmen. Es gab zahlreiche Tote und Verletzte. Obwohl die Ordnung
bereits am 13. Januar wiederhergestellt war, beorderte Noske zusätzliche Freikorps der OHL nach
Berlin. Zu diesen gehörte eine Gruppe von Offizieren um den Hauptmann Waldemar Pabst, die am
15. Januar 1919 Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht in ihre Gewalt brachte und brutal ermordete.
Die Täter gingen vor dem Militärgericht straffrei aus bzw. entzogen sich ihrer geringen Freiheitsstrafe
durch die Flucht.
Vom Verlust seiner beiden fähigsten Köpfe konnte sich der deutsche Kommunismus nie mehr erholen.
Die KPD machte die MSPD für die Bluttat politisch verantwortlich; umgekehrt warf die MSPD der KPD
vor, sie durch ihren sinnlosen Putschismus zum Militäreinsatz gezwungen zu haben. Aus Gegnerschaft
wurde erbitterte Feindschaft. Nach der blutigen Niederwerfung des Januaraufstandes radikalisierte
sich auch die USPD.
Die Revolution von 1918/19 im Urteil der Historiker
Die Revolution von 1918/19, aus der Weimar hervorgegangen ist, gehört zu den umstrittensten
Ereignissen der deutschen Geschichte. Manche Historiker meinen, dass die erste deutsche Demokratie
vielleicht nicht untergegangen und dann auch Hitler nicht an die Macht gekommen wäre, hätte es
damals einen gründlichen Bruch mit der obrigkeitsstaatlichen Vergangenheit gegeben. Tatsächlich war
der Handlungsspielraum der regierenden Mehrheitssozialdemokraten (also jenes Teils der alten SPD,
der dem Reich bis zuletzt Kriegskredite bewilligt und seit 1917 eng mit den Parteien der bürgerlichen
Mitte, dem katholischen Zentrum und den Linksliberalen, zusammengearbeitet hatte) in den
entscheidenden Wochen zwischen dem Sturz der Monarchie am 9. November 1918 und der Wahl der
Verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung am 19. Januar 1919 größer als die Akteure
mit Friedrich Ebert, dem Vorsitzenden des Rates der Volksbeauftragten, an der Spitze selbst meinten.
Sie hätten weniger bewahren müssen und mehr verändern können. Es wäre, mit anderen Worten,
möglich gewesen, in der revolutionären Übergangszeit erste Schritte zu tun auf dem Weg zu einer
Demokratisierung der Verwaltung, der Schaffung eines republikloyalen Militärwesens, der öffentlichen
Kontrolle der Macht – unter Umständen bis hin zu einer Vergesellschaftung des Bergbaus, einer
Forderung, die nach der Jahreswende 1918/19 zu einer zündenden Streikparole wurde. [...]
Gegen eine Mehrheit Politik zu machen war für die Sozialdemokraten unvorstellbar. Es hätte auch
dem bisherigen Gang der deutschen Verfassungsgeschichte widersprochen. [...] Deutschland war um
1918 bereits zu demokratisch, um sich eine revolutionäre Erziehungsdiktatur (sei es nach dem Vorbild
der französischen Jakobiner von 1793 oder, was aktueller war, nach dem der russischen Bolschewiki
von 1917) aufzwingen zu lassen.
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Deutschland war auch zu industrialisiert für einen völligen Umsturz der gesellschaftlichen Verhältnisse.
[...] Für hochindustrialisierte Gesellschaften aber ist ein starker Bedarf an der Aufrechterhaltung der
Dienstleistungen von Staat und Kommunen, das heißt an administrativer Kontinuität, kennzeichnend.
Beide Faktoren, der Grad der Demokratisierung und der Grad der Industrialisierung, wirkten objektiv
revolutionshemmend. Sie erklären, warum die deutsche Revolution von 1918/19 nicht zu den großen
Revolutionen der Geschichte gerechnet werden kann.
Heinrich August Winkler, Weimar: "Ein deutsches Menetekel". In: Ders. / Alexander Cammann (Hg.),
Weimar. Ein Lesebuch zur deutschen Geschichte 1918-1933. C. H. Beck, München 1997, S. 15 ff.
Ich will [...] nur auf die mir relativ der Wirklichkeit am nächsten kommende These von Heinrich August
Winkler eingehen [...].
Bisher wurde noch nie der Versuch unternommen, einmal stundenweise diese zehn Wochen (9.
November 1918 bis 19. Januar 1919 – Anm. d. Red.) zu untersuchen [...]. Dabei würde deutlich, dass
den Mitgliedern des Rates der Volksbeauftragten ein Übermaß an Kraft und Ideen abverlangt worden
ist. [...] Dennoch sind in diesen zehn Wochen über 130 Gesetze [...] geschaffen worden. [...]
Wenn man die zehn Wochen als Zeitbudget formal fasst, dann bleibt am Schluss eigentlich nur die
Zeit zwischen dem 9. November und den Weihnachtstagen 1918 übrig, auch hier schon unterbrochen
durch Rebellion von Kräften in Berlin, die sicherlich nicht bolschewistisch waren, [...] aber eine Lage
herbeiführen halfen, in der radikale Kräfte auf beiden Seiten sich in die Hände spielen konnten. Diese
"Weihnachtsunruhen" aber führten dann dazu, dass Ebert und Scheidemann, weil eben ein enormes
Machtvakuumbestand, sich die Unterstützung der unter dem Befehl der Obersten Heeresleitung
stehenden Freikorps sicherten, die allerdings ganz andere Ziele, nämlich solche der Rückeroberung
der Macht für die reaktionäre Rechte vertraten.
Hier liegt in der Tat der große Fehler, dass es nicht gelungen ist, wie etwa in Österreich, für diese
Regierung der Volksbeauftragten eine Truppe von mehreren tausend Mann zusammenzubringen, die
in der Lage gewesen wäre, Putschgelüste von rechts und Aufstandsversuche von links [...]
niederzuhalten oder [...] abschreckend zu wirken [...].Weshalb sage ich: nur bis Weihnachten 1918?
Nach dieser ersten Auseinandersetzung, bei der es zahlreiche Tote gab, kam es zum Rückzug der
USPD-Mitglieder aus dem Rat der Volksbeauftragten. Das heißt, das, was innerhalb der Regierung
an Druck von links her ausgeübt hätte werden können, entfiel. Der folgende "außerparlamentarische"
Druck der USPD führte im Grunde eher zur Verengung der Wahrnehmung und natürlich auch zur
Verengung des Aktionsradius von Ebert und den Seinen.
Hartmut Soell, "Von der Machterschleichung zur Machtergreifung: Überlegungen zum Ende der ersten
deutschen Republik".
In: Christoph Gradmann / Oliver von Mengersen (Hg.), Das Ende der Weimarer Republik und die
nationalsozialistische Machtergreifung, Manutius, Heidelberg 1994, S. 9 ff.
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Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
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Parlamentarische Demokratie
Am 19. Januar 1919 wurde die verfassunggebende Nationalversammlung gewählt. Nach dem reinen
Verhältniswahlrecht entfiel auf je 150.000 Stimmen ein Mandat. Durch Senkung des Wahlalters von
25 auf 20 Jahre und Einführung des Frauenwahlrechts stieg die Zahl der Wahlberechtigten auf 36,7
Millionen (mehr als doppelt so viele wie bei den letzten Reichstagswahlen 1912). Im Hinblick auf die
Verfassungsentwicklung war das Abschneiden der bürgerlichen Parteien, die sich im November/
Dezember 1918 neu formiert hatten, von besonderem Interesse. Zwischen den Parteien des
Kaiserreiches und der Republik gab es eine bemerkenswerte Kontinuität.
Bürgerliche Parteien
Im Lager des bürgerlichen Liberalismus setzte sich die überkommene Spaltung fort. Die "Deutsche
Demokratische Partei" (DDP) ging aus der "Fortschrittlichen Volkspartei" und dem linken Flügel der
"Nationalliberalen Partei" hervor. Sie wurde getragen von eher linksliberal eingestellten
Bildungsbürgern, leitenden Angestellten und Beamten, vorwiegend der Chemie- und der
Elektroindustrie zugehörigen Industriellen, Mittelständlern und liberalen Juden. Die DDP war für die
parlamentarisch-demokratische Republik und sagte deren "bolschewistischen" und "reaktionären"
Gegnern den Kampf an. Für Sozialisierungen zeigte sich nur ein Teil ihrer Mitglieder und Anhänger
aufgeschlossen. Dagegen führte die "Deutsche Volkspartei" (DVP) die Tradition des rechten Flügels
der Natio-nalliberalen fort. Sie vertrat vor allem die wirtschaftsliberal, monarchistisch und
antirevolutionär gesinnten Teile des Bildungsbürgertums, der Industrie (besonders der Schwerindustrie) und des Mittelstandes.
Die "Deutsche Zentrumspartei" blieb eine Konfessionspartei für die Katholiken aller
Gesellschaftsschichten, von adligen Großgrundbesitzern bis zu christlichen Gewerkschaftsangehörigen.
Die Zusammenarbeit mit der "atheistischen" MSPD und der liberalen DDP auf dem Boden der Republik
wurde besonders von dem durch die Revolution gestärkten Arbeitnehmerflügel des Zentrums getragen;
der monarchistische Flügel sah in der Kooperation nur das kleinere Übel im Vergleich zu einer
revolutionären Räterepublik. Die Sozialisierungsfrage war innerparteilich umstritten. Der bayerische
Landesverband machte sich im November 1918 als "Bayerische Volkspartei" (BVP) selbstständig. Sie
war dem Königshaus Wittelsbach verbunden, trat betont föderalistisch und antisozialistisch auf, bildete
aber auf Reichsebene eine Fraktionsgemeinschaft mit dem Zentrum.
In der "Deutschnationalen Volkspartei" (DNVP) sammelten sich Anhänger der "Deutschkonservativen
Partei", der "Reichspartei" und der 1917 gegründeten, 1918 gescheiterten imperialistischen
"Vaterlandspartei". In erster Linie waren es Offiziere, Beamte und Angestellte, Akademiker,
Mittelständler und Bauern; ostelbische Großagrarier und rheinisch-westfälische Schwerindustrielle
gaben den Ton an. Die nationalkonservative und antisemitische DNVP, deren rechter Flügel die Grenze
zum völkischen Rechtsradikalismus überschritt, lehnte Republik und Demokratie grundsätzlich ab. Ihr
Hauptziel war die Wiedererrichtung der Hohenzollernmonarchie über Preußen und das Deutsche
Reich.
Die Wahlbeteiligung betrug 83 Prozent, bei den Frauen sogar 90 Prozent. Von den 416 Abgeordneten
stellten die Frauen aber nur 37 (= 8,9 Prozent). Die Stimmen der weiblichen Wähler kamen nicht etwa
USPD und MSPD zugute, denen sie das Wahlrecht verdankten; vielmehr tendierten die Frauen in
überwiegend protestantischen Gegenden zu DDP und DNVP, in überwiegend katholischen zum
Zentrum bzw. zur BVP.
Eindeutige Wahlsieger waren die Mehrheitssozialdemokraten. MSPD, DDP und Zentrum brachten es
gemeinsam auf 76,1 Prozent der Wählerstimmen, was Republik und Demokratie ein solides Fundament
zu verleihen schien. Die beiden sozialdemokratischen Parteien blieben zusammen deutlich unter, die
bürgerlichen Parteien über 50 Prozent. Insgesamt bedeutete das Wahlergebnis einen großen Sieg für
die Anhänger der parlamentarischen Demokratie, eine klare Niederlage für deren linksradikale und
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Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
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monarchistische Gegner und eine bittere Enttäuschung für alle Anhänger tiefgreifender
Gesellschaftsreformen durch Sozialisierungen.
Nationalversammlung
Die Nationalversammlung trat am 6. Februar nicht im Berliner Reichstag, sondern im Weimarer
Nationaltheater zusammen – einerseits, um nach dem Berliner Januaraufstand ungestört zu beraten,
andererseits, um das republikanische Deutschland symbolisch mit den humanistischen,
aufklärerischen und klassischen Traditionen der deutschen Kultur zu verbinden. Am 11. Februar
wählten die Abgeordneten Friedrich Ebert zum ersten Reichspräsidenten; dieser beauftragte Philipp
Scheidemann mit der Regierungsbildung. Am 13. Februar wurde die erste, vom ganzen deutschen
Volk legitimierte, parlamentarisch-demokratische Regierung aus Ministern der "Weimarer Koalition"
(MSPD, DDP, Zentrum) vereidigt. Danach begannen die Verfassungsberatungen und die allgemeine
Gesetzgebung.
Frühjahrsunruhen
Nach den für die radikale Linke enttäuschenden Wahlen zur Nationalversammlung kam es zwischen
Februar und Mai 1919 vielerorts zu lokalen Aufständen, "wilden" Streiks (das heißt ohne Beteiligung
der Gewerkschaften) und Betriebsbesetzungen, letztere namentlich im mitteldeutschen Bergbau um
Halle und Merseburg und im Ruhrgebiet. Dabei ging es um den Erhalt und Ausbau des Rätesystems,
die Sozialisierung der Schlüsselindustrien und die Demokratisierung des Militärs sowie um höhere
Löhne und bessere Arbeitsbedingungen. Die Massenbewegung dieser zweiten Phase der Revolution
war im Umfang erheblich kleiner, aber in den Zielen bedeutend radikaler als die Volksbewegung vom
November 1918. Die Mehrheit der Industriearbeiter stand jetzt im Lager der USPD.
Anfang März 1919 fand in Berlin ein von Anhängern aller Linksparteien organisierter Generalstreik für
die Demokratisierung des Militärs statt. Die KPD betrieb jedoch die Umwandlung des Streiks in einen
Aufstand, was zur Verhängung des Ausnahmezustandes über Berlin führte. Aufgrund der
Falschmeldung, Kommunisten hätten 60 Polizisten ermordet, erließ Gustav Noske (inzwischen
Reichswehrminister) als Inhaber der vollziehenden Gewalt am 9. März den Befehl: "Jede Person, die
mit Waffen in der Hand gegen Regierungstruppen kämpfend angetroffen wird, ist sofort zu erschießen."
Freikorps und Polizei machten daraufhin rücksichtslos von der Schusswaffe Gebrauch. Die Berliner
Märzkämpfe kosteten rund 1.000 Menschen das Leben.
In Bayern löste am 21. Februar 1919 die Ermordung des Ministerpräsidenten Kurt Eisner (USPD)
durch einen monarchistischen Offizier große Empörung aus, die in linksradikale Versuche zur Gründung
einer Räterepublik mündeten. Schließlich übernahm die KPD am 13. April mit Hilfe einer von ihr
aufgestellten Miliz ("Rote Armee") in München die Macht. Daraufhin schickte Noske starke
Freikorpsverbände, die die kommunistische Herrschaft in harten Kämpfen niederschlugen. Unter den
insgesamt 606 Todesopfern befanden sich 335 Zivilisten.
Anfang Mai 1919 endete mit der Münchner Räterepublik, die die Kommunismusfurcht des Bürgertums
nachhaltig schürte, auch die Revolution von 1918/19. Schon seit Januar übernahmen demokratisch
gewählte Parlamente die Aufgaben der Arbeiter- und Soldatenräte. Die meisten Räte lösten sich im
Frühjahr und Sommer 1919 auf, die letzten im Herbst und Winter 1919/20.
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Weimarer Verfassung
Am 31. Juli 1919 nahm die Nationalversammlung mit überwältigender Mehrheit – gegen die Stimmen
von USPD, DVP und DNVP – die Weimarer Verfassung an, die nach ihrer Unterzeichnung durch den
Reichspräsidenten am 14. August in Kraft trat. Sie beruhte weitgehend auf dem Entwurf von Hugo
Preuß. Bei den Nationalsymbolen kam es zu einem Kompromiss: Schwarz-rot-gold, die Farben der
bürgerlich-demokratischen Nationalbewegung des 19. Jahrhunderts, wurden die Reichsfarben der
Republik. Die Handelsflagge behielt die schwarz-weiß-roten Farben des Kaiserreiches – mit einer
kleinen schwarz-rot-goldenen Gösch in der inneren oberen Ecke. 1922 erklärte der Reichspräsident
das "Lied der Deutschen" von Hoffmann von Fallersleben zur Nationalhymne.
Zentrale Verfassungsprinzipien waren die Volkssouveränität, die Gewaltenteilung und die Grundrechte,
darunter erstmals die staatsbürgerliche und familienrechtliche Gleichstellung der Frauen (Artikel 109,
119 und 128). Weitere Strukturelemente bildeten die repräsentative Demokratie mit einer dem
Parlament verantwortlichen Regierung, die plebiszitäre Demokratie mit Volksabstimmungen (nach
dem Vorbild der Schweiz) und die Präsidialdemokratie mit einem starken, direkt gewählten Präsidenten
(wie in den USA und in Frankreich). Der deutsche Föderalismus wurde etwas abgeschwächt: Man
erweiterte die Kompetenzen des Reiches und trennte das Amt des preußischen Ministerpräsidenten
vom Vorsitz des Reichsrates (der Ländervertretung) und vom Amt des Reichskanzlers. Die
Bismarcksche Sozialgesetzgebung wurde zum Sozialstaat ausgebaut. Die Mischung aus
repräsentativen, plebiszitären und autoritären Verfassungselementen ergab jedoch kein harmonisches
Ganzes.
Repräsentative, plebiszitäre und autoritäre Elemente
Die Grundrechte waren kein unmittelbares, die Gewalten (Legislative, Exekutive, Jurisdiktion)
bindendes Recht (wie im Grundgesetz von 1949); sie galten nur nach Maßgabe der Gesetze. Eine
dem heutigen Bundesverfassungsgericht vergleichbare Institution als Hüterin der Verfassung fehlte.
Zwar war die Gesetzgebung Sache des vom Volk für vier Jahre gewählten Reichstages; auch ließen
sich Einsprüche der Ländervertretung (anders als im Kaiserreich) mit einem Zweidrittelvotum des
Parlamentes überstimmen. Aber ein Volksbegehren von zehn Prozent der Wahlberechtigten konnte
den Reichstag dazu zwingen, einen ihm zugeleiteten Gesetzentwurf unverändert zu beschließen oder
einem Volksentscheid zu überlassen (Artikel 73). Fünf Prozent der Wahlberechtigten vermochten unter
bestimmten Bedingungen sogar einen Volksentscheid über ein vom Parlament bereits verabschiedetes
Gesetz zu erzwingen (Artikel 72). Diese Möglichkeiten direkter Demokratie stellten die Kompetenz
des Parlaments, mithin die repräsentative Demokratie als solche, infrage.
Der vom Volk für sieben Jahre direkt gewählte Reichspräsident besaß eine solche Machtfülle, dass
man ihn auch als "Ersatzkaiser" bezeichnet hat. Der Präsident konnte die Volksvertretung fast beliebig
("nur einmal aus dem gleichen Anlass") auflösen (Artikel 25). Jedes vom Reichstag verabschiedete
Gesetz, mit dem er nicht einverstanden war, durfte er einem Volksentscheid überantworten (Artikel
73) – eine nie praktizierte Regelung, die gleichwohl den Parlamentarismus latent bedrohte.
Der Reichspräsident ernannte und entließ den Reichskanzler und, auf dessen Vorschlag, die
Reichsminister (Artikel 53). Alle Kabinettsmitglieder bedurften des Vertrauens des Reichstages. Dieses
wurde vorausgesetzt, solange das Parlament kein Misstrauensvotum abgab, mit dem es den Kanzler
oder einen Minister stürzen konnte (Artikel 54). Eine Kanzlerwahl durch den Reichstag, die das
Parlament gegenüber der Regierung und beide zusammen gegenüber dem Reichspräsidenten
gestärkt hätte, war jedoch nicht vorgesehen.
Ferner vertrat der Reichspräsident das Reich völkerrechtlich (Artikel 45) und hatte den Oberbefehl
über die Streitkräfte (Artikel 47). Nach Artikel 48 Abs. 1 traf er allein Maßnahmen (notfalls auch
militärische) gegen ein Land, das die Verfassung oder Reichsgesetze verletzte (sog. Reichsexekution).
Vor allem entschied er über den "Ausnahmezustand": Stellte er fest, dass "die öffentliche Sicherheit
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Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
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und Ordnung erheblich gestört oder gefährdet" war, so durfte er gemäß Artikel 48 Abs. 2 quasi
diktatorisch die "nötigen Maßnahmen" treffen, das heißt das Militär im Innern einsetzen und sogar die
wichtigsten Grundrechte "vorübergehend" außer Kraft setzen, nämlich Freiheit der Person (Artikel
114), Unverletzlichkeit der Wohnung (Artikel 115), Postgeheimnis (Artikel 117), freie
Meinungsäußerung (Artikel 118), Versammlungsfreiheit (Artikel 123), Vereinsfreiheit (Artikel 124) und
Eigentumsrecht (Artikel 153). Zwar konnte der Reichstag mit einfacher Mehrheit die Aufhebung dieser
Maßnahmen verlangen (Artikel 48 Abs. 3). Aber das in Artikel 48 Abs. 5 vorgesehene
Ausführungsgesetz, das die Gefahr willkürlicher Machtausübung hätte verringern können, kam nie
zustande. Alle Anordnungen und Verfügungen des Reichspräsidenten bedurften der Gegenzeichnung
durch den Reichskanzler bzw. den zuständigen Reichsminister (Artikel 50); doch war auch dies kein
zuverlässiges Kontrollinstrument, da der Präsident erheblichen Einfluss auf die Regierungsbildung
besaß.
Gesellschaftspolitische Bestimmungen
Die Rätebewegung der Revolution fand in Artikel 165 einen gewissen Nachhall. Von Arbeitnehmern
und Arbeitgebern paritätisch besetzte Bezirkswirtschaftsräte und ein Reichswirtschaftsrat sollten in
erster Linie bei der Durchführung von Sozialisierungen mitwirken. Artikel 153 Abs. 2 erlaubte gesetzliche
Enteignungen "zum Wohle der Allgemeinheit" gegen eine "angemessene" Entschädigung, "soweit
nicht ein Reichsgesetz etwas anderes bestimmt". Da es für Sozialisierungen aber keine politischen
Mehrheiten gab, haben diese Räte nie etwas bewirkt.
Im Vergleich zum Kaiserreich machte der Sozialstaat beträchtliche Fortschritte. Artikel 159
gewährleistete die Koalitionsfreiheit (das heißt die soziale und wirtschaftliche Vereinigungsfreiheit) und
verlieh damit Gewerkschaften wie Unternehmerverbänden ein verfassungsmäßiges Existenz- und
Betätigungsrecht. Artikel 161 verankerte das von Bismarck begründete Sozialversicherungswesen in
der Verfassung. Darüber hinaus enthielt Artikel 163 einen Verfassungsauftrag zur Einrichtung einer
staatlichen Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung. Nicht zuletzt legte Artikel 146 erstmals
die noch heute existierende vierjährige "für alle gemeinsame Grundschule" als Basis des darauf
aufbauenden gegliederten Schulwesens fest – eine bildungspolitische Konstruktion, deren
Vereinheitlichungstendenz konservativen Kritikern zu weit, linken dagegen nicht weit genug ging.
Trotz ihrer strukturellen Probleme bildete die Weimarer Verfassung ein tragfähiges Fundament für den
Aufbau einer rechts- und sozialstaatlichen Demokratie. Welchen Belastungsproben sie ausgesetzt
sein würde und ob sie ihnen standhalten konnte, musste sich freilich erst noch erweisen.
Ausgewählte Verfassungsartikel
Artikel 25
Der Reichspräsident kann den Reichstag auflösen, jedoch nur einmal aus dem gleichen Anlass.
Die Neuwahl findet spätestens am sechzigsten Tag nach der Auflösung statt.
Artikel 48
Wenn ein Land die ihm nach der Reichsverfassung oder den Reichsgesetzen obliegenden Pflichten
nicht erfüllt, kann der Reichspräsident es dazu mit Hilfe der bewaffneten Macht anhalten.
Der Reichspräsident kann, wenn im Deutschen Reiche die öffentliche Sicherheit und Ordnung erheblich
gestört oder gefährdet wird, die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nötigen
Maßnahmen treffen, erforderlichenfalls mit Hilfe der bewaffneten Macht einschreiten. Zu diesem
Zwecke darf er vorübergehend die in den Artikeln 114, 115, 117, 118, 123, 124 und 153 festgesetzten
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Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
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Grundrechte ganz oder zum Teil außer Kraft setzen.
Von allen gemäß Absatz 1 oder Absatz 2 dieses Artikels getroffenen Maßnahmen hat der
Reichspräsident unverzüglich dem Reichstag Kenntnis zu geben. Die Maßnahmen sind auf Verlangen
des Reichstags außer Kraft zu setzen. [...]
Bei Gefahr im Verzuge kann die Landesregierung für ihr Gebiet einstweilige Maßnahmen der im Absatz
2 bezeichneten Art treffen. Die Maßnahmen sind auf Verlangen des Reichspräsidenten oder des
Reichstags außer Kraft zu setzen. Das Nähere bestimmt ein Reichsgesetz.
Artikel 53
Der Reichskanzler und auf seinen Vorschlag die Reichsminister werden vom Reichspräsidenten
ernannt und entlassen.
Artikel 54
Der Reichskanzler und die Reichsminister bedürfen zu ihrer Amtsführung des Vertrauens des
Reichstags. Jeder von ihnen muss zurücktreten, wenn ihm der Reichstag durch ausdrücklichen
Beschluss das Vertrauen entzieht.
Artikel 73
Ein vom Reichstag beschlossenes Gesetz ist vor seiner Verkündung zum Volksentscheid zu bringen,
wenn der Reichspräsident binnen eines Monats es bestimmt. Ein Gesetz, dessen Verkündung auf
Antrag von mindestens einem Drittel des Reichstags ausgesetzt ist, ist dem Volksentscheid zu
unterbreiten, wenn ein Zwanzigstel der Stimmberechtigten es beantragt.
Ein Volksentscheid ist ferner herbeizuführen, wenn ein Zehntel der Stimmberechtigten das Begehren
nach Vorlegung eines Gesetzentwurfs stellt. Dem Volksbegehren muss ein ausgearbeiteter
Gesetzentwurf zu Grunde liegen. Er ist von der Regierung unter Darlegung ihrer Stellungnahme dem
Reichstag zu unterbreiten. Der Volksentscheid findet nicht statt, wenn der begehrte Gesetzentwurf im
Reichstag unverändert angenommen worden ist. [...]
Artikel 153
Das Eigentum wird von der Verfassung gewährleistet. [...]
Eine Enteignung kann nur zum Wohle der Allgemeinheit und auf gesetzlicher Grundlage vorgenommen
werden. Sie erfolgt gegen angemessene Entschädigung, soweit nicht ein Reichsgesetz etwas anderes
bestimmt. [...]
Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich Dienst sein für das Gemeine Beste.
Artikel 156
Das Reich kann durch Gesetze, unbeschadet der Entschädigung, in sinngemäßer Anwendung der für
Enteignung geltenden Bestimmungen, für die Vergesellschaftung geeignete private wirtschaftliche
Unternehmungen in Gemeineigentum überführen. Es kann sich selbst, die Länder oder die Gemeinden
an der Verwaltung wirtschaftlicher Unternehmungen und Verbände beteiligen oder sich daran in
anderer Weise einen bestimmten Einfluss sichern. [...]
Artikel 165
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Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
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Die Arbeiter und Angestellten sind dazu berufen, gleichberechtigt in Gemeinschaft mit den
Unternehmern an der Regelung der Lohn- und Arbeitsbedingungen sowie an der gesamten
wirtschaftlichen Entwicklung der produktiven Kräfte mitzuwirken. Die beiderseitigen Organisationen
und ihre Vereinbarungen werden anerkannt.
Die Arbeiter und Angestellten erhalten zur Wahrnehmung ihrer sozialen und wirtschaftlichen Interessen
gesetzliche Vertretungen in Betriebsarbeiterräten sowie in nach Wirtschaftsgebieten gegliederten
Bezirksarbeiterräten und in einem Reichsarbeiterrat.
Die Bezirksarbeiterräte und der Reichsarbeiterrat treten zur Erfüllung der gesamten wirtschaftlichen
Aufgaben und zur Mitwirkung bei der Ausführung der Sozialisierungsgesetze mit den Vertretungen der
Unternehmer und sonst beteiligter Volkskreise zu Bezirkswirtschaftsräten und zu einem
Reichswirtschaftsrat zusammen. [...]
Sozialpolitische und wirtschaftspolitische Gesetzentwürfe von grundlegender Bedeutung sollen von
der Reichsregierung vor ihrer Einbringung dem Reichswirtschaftsrat zur Begutachtung vorgelegt
werden. Der Reichswirtschaftsrat hat das Recht, selbst solche Gesetzesvorlagen zu beantragen. [...]
Hermann Mosler (Hg.), Die Verfassung des deutschen Reichs vom 11. August 1919, Reclam, Stuttgart
1964, S. 18 ff.
Aus:
Informationen zur politischen Bildung (Heft 261) - Kampf um die Republik 1919-1923 (2011)
bpb.de
Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
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Kampf um die Republik 1919 - 1923
Von Reinhard Sturm
23.12.2011
geboren 1950, studierte von 1971 bis 1978 Geschichte, Politikwissenschaft und Anglistik an der Georg-August-Universität Göttingen.
1973/74 war er ein Jahr als German Assistant an einer Schule in England tätig. Nach dem Vorbereitungsdienst 1978 bis 1980 in
Salzgitter arbeitete er als Gymnasiallehrer bis 1990 in Göttingen, seither in Hildesheim. Seit 1990 bildet er als Studiendirektor und
Fachleiter für Geschichte am Studienseminar Hildesheim für das Lehramt an Gymnasien angehende Geschichtslehrer/innen aus.
Er hat wissenschaftliche und didaktische Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung, zur Weimarer Republik, zum
Nationalsozialismus und zur deutschen Nachkriegsgeschichte sowie zur Geschichtsdidaktik veröffentlicht.
Kontakt: »[email protected]«
Schon die ersten Jahre der Weimarer Republik erwiesen sich politisch als äußerst schwierig:
Die Last der Reparationszahlungen, die fehlende Akzeptanz der neuen Staatsform in der
Bevölkerung und ein aufkeimender Extremismus stellten die junge Demokratie vor eine
Zerreißprobe.
Einleitung
Noch vor der Verabschiedung der Verfassung musste sich die Nationalversammlung mit dem
Friedensvertrag befassen. Am 7. Mai 1919 erhielt die vom parteilosen Außenminister Ulrich Graf
Brockdorff-Rantzau geleitete deutsche Delegation den Entwurf, den die seit dem 18. Januar in Paris
tagende Konferenz der Siegermächte – ohne Beteiligung der Besiegten – erarbeitet hatte. Er war
letztlich das Werk der "Großen Drei": des US-Präsidenten Woodrow Wilson, des britischen
Premierministers Lloyd George und des französischen Ministerpräsidenten Georges Clemenceau.
Der Friedensvertrag von Versailles
Die vorgesehenen Gebietsverluste, Souveränitätsbeschränkungen, Reparationen und vor allem die
Zuweisung der Alleinschuld am Krieg lösten in ganz Deutschland, quer durch alle politischen Lager
und sozialen Schichten, einen Entrüstungssturm aus. Fast alle deutschen Änderungswünsche (bis
auf eine Abstimmung in Oberschlesien über die nationale bzw. staatliche Zugehörigkeit) wiesen die
Alliierten ab. Daraufhin trat das Kabinett Scheidemann am 20. Juni zurück; die DDP schied vorläufig
aus der Koalition aus (bis zum 3. Oktober 1919). Neuer Reichskanzler wurde Gustav Bauer (MSPD).
Am 23. Juni rief Reichspräsident Ebert bei der OHL in Kolberg an, um sich nach den Chancen eines
militärischen Widerstandes zu erkundigen. Hindenburg überließ es Groener, Ebert mitzuteilen: "Die
Wiederaufnahme des Kampfes ist [...] aussichtslos. Der Friede muss daher unter den vom Feinde
gestellten Bedingungen abgeschlossen werden."
Da es keine verantwortbare Alternative gab, beschloss die Nationalversammlung am Nachmittag des
23. Juni 1919 mit großer Mehrheit die Annahme des Friedensvertrages, gegen die Stimmen von DNVP,
DVP, der Mehrheit der DDP-Fraktion und einiger Zentrumsabgeordneter. Die Unterzeichnung fand am
28. Juni 1919 im Spiegelsaal des Schlosses zu Versailles statt – dem Ort, den die deutschen Fürsten
1871 gewählt hatten, um Wilhelm I. zum Kaiser auszurufen und gleichzeitig Frankreich zu demütigen.
Der Vertrag von Versailles trat nach der Ratifizierung durch die Unterzeichnerstaaten am 10. Januar
1920 in Kraft.
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Bestandteil des Vertrages war die Satzung des vor allem auf Betreiben Wilsons am 29. April 1919 in
Versailles gegründeten Völkerbundes, dem Deutschland vorläufig nicht angehören durfte. Der USKongress verweigerte jedoch im November 1919 seine Zustimmung, weil er künftige Verwicklungen
der USA in europäische Konflikte vermeiden wollte. Dadurch war der Völkerbund von vornherein
geschwächt. Ein deutsch-amerikanischer Friedensschluss erfolgte am 25. August 1921.
Die deutsche Delegation der bei den Verhandlungen zum Versailler Friedensvertrag. Lizenz: cc by-sa/3.0/de
(Bundesarchiv, Bild 183-R11112, Foto: o.A.)
Der Versailler Vertrag nahm Deutschland nicht nur sämtliche Kolonien, sondern auch 13 Prozent seines
Territoriums und zehn Prozent seiner Bevölkerung, damit verbunden 50 Prozent der
Eisenerzversorgung, 25 Prozent der Steinkohleförderung, 17 Prozent der Kartoffel- und 13 Prozent
der Weizenernte. Der Großteil dieser Gebiete fiel an den nach 123-jähriger Teilung wieder gegründeten
Staat Polen, den die Alliierten auch als Bollwerk gegen den russischen Bolschewismus betrachteten.
Die neue Grenzziehung im Osten führte wegen der dortigen gemischtnationalen Siedlungsweise
unvermeidlich zu neuen Minderheitsproblemen. Wo bisher Polen unter preußisch-deutscher Herrschaft
lebten und nationalistische Diskriminierungen erdulden mussten, kehrten sich diese Verhältnisse jetzt
um.
Im März 1918 hatte Deutschland dem Russischen Reich im "Diktatfrieden" von Brest-Litowsk
annähernd ein Viertel seines europäischen Territoriums – das freilich von nach Unabhängigkeit
strebenden Völkern bewohnt war – und damit ein Viertel seiner landwirtschaftlichen Nutzfläche sowie
drei Viertel seiner Schwerindustrie und Kohleproduktion entzogen. Nun wurde es selbst in Versailles
ähnlich hart behandelt. Gleichwohl blieb sein nationalstaatliches Gefüge weitgehend erhalten; auch
eine Rückkehr in den Kreis der Großmächte war keineswegs ausgeschlossen.
Bestimmungen des Versailler Vertrages
Gebietsabtretungen
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Elsass-Lothringen an Frankreich (ohne Abstimmung)
Saargebiet für 15 Jahre unter Völkerbundkontrolle, Kohlegruben an Frankreich, deutsches
Rückkaufrecht (1935 Abstimmung)
Eupen und Malmedy an Belgien (nach umstrittener Abstimmung)
Nordschleswig an Dänemark (nach umstrittener Abstimmung)
Posen und Westpreußen ("Korridor") an Polen (ohne Abstimmung)
Südliche Teile Ostpreußens an Polen (dazu kam es nicht, weil bei der Abstimmung über 90 Prozent
den Verbleib bei Deutschland wünschten)
Danzig mit Weichselmündung "Freie Stadt" unter Kontrolle des Völkerbundes, mit Sonderrechten für
die polnische Minderheit
Memelgebiet 1923 an Litauen (ohne Abstimmung)
Ostoberschlesien an Polen (trotz Abstimmung in Oberschlesien, bei der 60 Prozent den Verbleib bei
Deutschland wünschten)
Hultschiner Ländchen an die Tschechoslowakei (ohne Abstimmung)
Deutsche Kolonien als Mandatsgebiete an verschiedene alliierte Staaten
Souveränitätsbeschränkungen
Auslieferung des Kaisers als Kriegsverbrecher (von den Niederlanden abgelehnt)
Verbot der Vereinigung mit Deutsch-Österreich
Eingeschränkte Lufthoheit
Internationalisierung der Flüsse Rhein, Donau, Elbe, Oder und Memel
Verbot der allgemeinen Wehrpflicht, Beschränkung des Heeres auf 100000 Mann und der Marine auf
15000 Mann
Verbot aller schweren Waffen (Kanonen, Panzer, Kampfflugzeuge, U-Boote, Großkampfschiffe)
Kontrolle durch eine alliierte Kommission
Besetzung des linken Rheinufers und rechtsrheinischer Brückenköpfe auf 15 Jahre, 50 km breite
entmilitarisierte Zone rechts des Rheins
Reparationen
Als völkerrechtliche Grundlage aller Forderungen dient der Artikel 231 ("Kriegsschuldparagraph"):
"Die alliierten und assoziierten Regierungen erklären und Deutschland erkennt an, dass Deutschland
und seine Verbündeten als Urheber für alle Verluste und Schäden verantwortlich sind, die die alliierten
und assoziierten Regierungen und ihre Staatsangehörigen infolge des Krieges, der ihnen durch den
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Angriff Deutschlands und seiner Verbündeten aufgezwungen wurde, erlitten haben."
Gefordert werden:
umfangreiche Sachlieferungen
Ablieferung aller Handelsschiffe über 1600 Tonnen
Zahlungen in Goldmark (GM) in erst noch zu berechnender Höhe
Der Versailler Vertrag (Abriss)
Dennoch gelangte die deutsche Öffentlichkeit bei der Auseinandersetzung mit dem Vertrag von
Versailles über eine leidenschaftliche Verdammung nicht hinaus. Zu groß war die Enttäuschung
darüber, dass das von Wilson proklamierte Selbstbestimmungsrecht der Völker zwar auf andere
Nationen, aber kaum auf Deutschland angewandt wurde.
Finanzpolitik und Wirtschaftsentwicklung
Im Sommer 1919 waren die Umstellung der Kriegs- auf Friedenswirtschaft und die Wiedereingliederung
der Kriegsteilnehmer in den Arbeitsprozess noch nicht abgeschlossen; hinzu kamen Flüchtlinge und
Ausgewiesene aus den abgetrennten Ostgebieten. Die Binnenwirtschaftsbeziehungen zu diesen
Territorien wurden gekappt. Der Staat war mit 153 Milliarden Mark verschuldet, seine Finanzmittel
äußerst knapp. Die Reparationen – vorab bis zum 1. Mai 1921 Leistungen im Werte von 20 Milliarden
Goldmark (eine inflationssichere Verrechnungseinheit; 1 GM entsprach dem Wert von rund 0,36 Gramm
Feingold) – bedeuteten eine schwere Belastung. Da das Kaiserreich den Krieg von 1914 bis 1918
nicht nur mit Krediten finanziert hatte, sondern – bei rückläufigem Warenangebot – auch durch eine
Vervierfachung der umlaufenden Bargeldmenge und des Giralgeldes (Buchgeld für den bargeldlosen
Zahlungsverkehr), war eine erhebliche Nachkriegsinflation die Folge.
Für die Lösung dieser Probleme sowie den Aufbau des neuen Staates und seiner Sozialpolitik benötigte
die Republik enorme finanzielle Mittel. Reichsfinanzminister Erzberger reformierte daher 1919/20 die
Finanzverwaltung und das Steuersystem. 39 Prozent des gesamten Steueraufkommens erhielt künftig
das Reich, 23 Prozent die Länder, 38 Prozent die Gemeinden. Die neu eingeführte Erbschaftssteuer
sowie mehrere einmalige Abgaben für Vermögende sollten für mehr soziale Gerechtigkeit sorgen.
Trotz der schwierigen Ausgangslage nahm die wirtschaftliche Entwicklung bis 1922 einen relativ
günstigen Verlauf. Es kam zu einem Aufschwung der Friedensproduktion bei annähernder
Vollbeschäftigung. Durch die – vorläufig beherrschbare – Inflation und niedrige Löhne konnte die
Industrie kostengünstig produzieren und sich auf dem internationalen Markt Wettbewerbsvorteile
verschaffen. Ging die Industrieproduktion 1920/21 weltweit um 15 Prozent zurück, was damals als
starker Einbruch galt, so stieg sie in Deutschland um 20 Prozent an. Freilich erreichte sie 1921 erst
wieder 66 Prozent des Vorkriegsniveaus. Die Arbeitslosigkeit fiel bis 1922 unter zwei Prozent, während
sie im Ausland durchweg im zweistelligen Bereich lag.
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Dolchstoßlüge
Am 18. November 1919 verlas Hindenburg – seit Juni im Ruhestand – vor dem Ausschuss der
Nationalversammlung für die Schuldfragen des Weltkriegs eine Aussage über die "Ursachen des
deutschen Zusammenbruchs im Jahre 1918", die in der Öffentlichkeit ungeheures Aufsehen erregte.
Trotz der Überlegenheit des Feindes, so behauptete er, wäre der Krieg gewonnen worden, wenn "Heer
und Heimat" zusammengestanden hätten. Stattdessen habe eine "heimliche planmäßige Zersetzung
von Flotte und Heer" eingesetzt. "So mussten unsere Operationen misslingen, es musste der
Zusammenbruch kommen; die Revolution bildete nur den Schlussstein. Ein englischer General sagte
mit Recht: "Die deutsche Armee ist von hinten erdolcht worden."
Damit machte sich Hindenburg – unter fälschlicher Berufung auf einen ungenannten englischen
General – zum prominentesten Vertreter der sogenannten Dolchstoßlegende, treffender:
Dolchstoßlüge. Denn niemand wusste besser als die kaiserlichen Generäle, dass unter ihrer Führung
der Krieg bereits militärisch verloren war, bevor die Auflösungserscheinungen an der Westfront
begannen; dass diese auf permanente Überforderung der Soldaten zurückzuführen waren; dass die
OHL selbst ein sofortiges und deshalb kapitulationsähnliches Waffenstillstandsgesuch verlangt hatte;
und dass die Revolution erst ausgebrochen war, nachdem sich der jahrelang propagierte "Siegfrieden
" als bloße Illusion herausgestellt hatte.
Die republikanischen Parteien unterschätzten die politische Sprengkraft der Dolchstoßlüge. Sie
unterließen es, die deutsche Öffentlichkeit ständig darüber aufzuklären, dass das Kaiserreich den
Weltkrieg maßgeblich mitverschuldet hatte und allein das Regime Wilhelms II. für Kriegsniederlage
und Friedensbedingungen verantwortlich war.
Dieses Versäumnis hatte fatale Folgen: Vor dem Hintergrund des als hart und demütigend
empfundenen Versailler Vertrages, und während die regierungsoffizielle Propaganda aus Gründen der
Staatsräson jede Kriegsschuld bestritt, wurde von prominenten kaiserlichen Militärs und Politikern, mit
Unterstützung konservativer und rechtsradikaler Zeitungen, die Dolchstoßlüge unermüdlich verbreitet.
Sie traf in breiten nationalbewussten Bevölkerungskreisen, die sich mit der Sinnlosigkeit ihrer
Entbehrungen und Opfer im Krieg nicht abfinden mochten, auf Zustimmung. Dadurch wirkte sie
ihrerseits wie ein Dolchstoß in den Rücken der Republik.
Radikalisierung
Rechtsradikalismus
Im Zuge des Kriegsendes und der Revolution von 1918/19 entstand ein rechtsradikales Lager, das
sich aus zahlreichen konkurrierenden Parteien und Organisationen zusammensetzte. Die
ideologischen Grenzen zwischen diesem offenen Rechtsradikalismus und dem besonders manifesten
Natio-nalkonservatismus am rechten Rand der DNVP waren oft fließend.
Die Frühjahrsunruhen 1919 veranlassten überall in Deutschland Mittelständler und Bauern zur Bildung
lokaler antirevolutionärer Selbstschutzverbände. Der Schwerpunkt dieser milizartigen bewaffneten "
Einwohnerwehren" lag in Bayern, wo sie mehr als 350.000 Mitglieder hatten und zum Teil auch
überregional organisiert waren.
Den besonders militanten, extremen Flügel des Rechtsradikalismus bildeten diverse "deutschvölkische
" Geheimbünde, Gruppen, Kampfverbände und Parteien. Deren Mitgliederschaft bestand
hauptsächlich aus entlassenen Soldaten und Freikorpsleuten, die der Krieg sozial entwurzelt und
moralisch verwildert hatte. Zum vorläufigen Kristallisationskern entwickelte sich rasch – vor allem in
Bayern – der "Deutschvölkische Schutz- und Trutzbund" mit über 100.000 Mitgliedern. Aber auch die "
Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei" (NSDAP) unter ihrem rednerisch begabten
Vorsitzenden Adolf Hitler, einem österreichischen Gelegenheitsarbeiter und dekorierten Frontsoldaten,
erregte bald über München hinaus Aufmerksamkeit. Ende 1920 besaß sie bereits eine eigene Zeitung,
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Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
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den "Völkischen Beobachter", seit August 1921 auch einen eigenen Kampfverband, die "
Sturmabteilung" (SA). Ende 1922 hatte die NSDAP etwa 10.000 Mitglieder.
Aus der Sicht der deutschvölkischen Szene galt es KPD, USPD, MSPD, Gewerkschaften und
bürgerliche Demokraten mit allen Mitteln zu bekämpfen, da ihnen die Schuld an allen gesellschaftlichen
Übeln zugeschoben wurde. Der Krieg sei das Werk einer "jüdischen Weltverschwörung" gewesen,
Waffenstillstand und Friedensvertrag die Folge des "Dolchstoßes" und der Revolution. Die
parlamentarische Demokratie hielten die Deutschvölkischen für etwas "Undeutsches", von den Siegern
Aufgezwungenes. Die Weimarer Republik hieß bei ihnen nur verächtlich "das System", ihre
Repräsentanten beschimpften sie als "Novemberverbrecher". Sie erstrebten einen starken Staat, den
sich nur wenige noch als Monarchie, die meisten dagegen als "Führerstaat" nach dem Vorbild des
italienischen Faschismus unter Benito Mussolini vorstellten.
Antisemitismus
Der für die deutschvölkische Szene besonders charakteristische Judenhass (so wollte die NSDAP
schon seit 1920 die Juden ausbürgern) wurzelte in Deutschland – wie in anderen europäischen Ländern
auch – im jahrhundertealten christlichen Antijudaismus. Dieser hatte sich in der zweiten Hälfte des 19.
Jahrhunderts zum Antisemitismus entwickelt. In ihm verbanden sich politische Bestrebungen, die
Emanzipation der Juden (1869/71) rückgängig zu machen, und rückwärts gewandte Kritik an der
industriellen Moderne, für die wirtschaftlich erfolgreiche Juden sinnbildlich standen, mit international
verbreiteten pseudowissenschaftlichen Rassenlehren, in denen insbesondere die Juden zu einer
minderwertigen Rasse mit ausschließlich negativen Eigenschaften erklärt wurden. Der europäische
Antisemitismus steigerte sich bis zu der absurden Behauptung einer jüdischen Verschwörung zur
Erlangung der Weltherrschaft; den Beweis dafür sollten die 1919 (nicht nur) in deutscher Sprache
gedruckten "Protokolle der Weisen von Zion" liefern. Dabei handelt es sich zweifelsfrei um eine
antisemitische Fälschung, die gleichwohl in der deutschvölkischen Szene weite Verbreitung fand;
selbst heute noch wird ihr von Antisemiten Glauben geschenkt.
Linksradikalismus
Bei der politischen Linken trieb die Enttäuschung über die stecken gebliebene Revolution die
Radikalisierung voran. Unter der Dominanz ihres linken Flügels näherte sich die USPD der KPD an:
Im Dezember 1919 propagierte auch sie die "Diktatur des Proletariats" und beharrte auf dem
Rätesystem als Form der "Organisation der sozialistischen Gesellschaft". Durch diese
Fundamentalopposition gegen die Weimarer Republik blieb die Kluft zwischen USPD und MSPD
unüberbrückbar.
1920 drängte der linke Flügel der USPD auf den Beitritt zur "Kommunistischen Internationale
" (Komintern), dem von der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) gesteuerten
Dachverband der internationalen kommunistischen Parteien. Dadurch wurde eine Spaltung
unvermeidlich. Im Dezember 1920 vereinigte sich die USPD-Linke mit der KPD, deren Mitgliederzahl
dadurch sprunghaft anstieg. Im September 1922 schloss sich die Rumpf-USPD der MSPD an; die
vereinigte Partei nannte sich ab 1924 wieder SPD. Künftig war das linke Lager durch den Gegensatz
zwischen revolutionärer KPD und reformorientierter SPD geprägt.
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Aufstände und Putschversuche
Im Frühjahr 1920 musste die Weimarer Republik ihre erste große Existenzkrise überstehen, die durch
einen Rechtsputsch ausgelöst wurde, der einen Linksputsch nach sich zog.
Nach den Abrüstungsbestimmungen des Versailler Vertrages sollten bis zum 31. März – nach einer
Fristverlängerung bis zum Jahresende – das Heer auf 100.000, die Marine auf 15.000 Mann verkleinert
werden. Rund 300.000 Reichswehrangehörige und Freikorpsleute standen vor der Entlassung. Die
meisten klammerten sich an das Militär, das ihnen Halt gab. Zu den ersten Freikorps, deren Auflösung
Reichswehrminister Noske am 29. Februar verfügte, gehörte die in Döberitz stationierte, 6.000 Mann
starke, von dem Korvettenkapitän Hermann Ehrhardt geführte Marinebrigade II. Am 12. März
marschierte sie spätabends nach Berlin, um die Regierung zu stürzen.
Kapp-Lüttwitz-Putsch
Hinter diesem Putschversuch steckte die Verschwörergruppe "Nationale Vereinigung", die eine
Militärdiktatur anstrebte, um den Versailler Vertrag auszuhebeln. Zu ihr zählten Ludendorff, General
Walther von Lüttwitz, dem die mitteldeutschen und ostelbischen Reichswehrverbände sowie die
meisten Freikorps unterstanden, Hauptmann Waldemar Pabst, der die Ermordung Rosa Luxemburgs
und Karl Liebknechts zu verantworten hatte, Traugott von Jagow, der letzte kaiserliche Polizeipräsident
von Berlin, und Wolfgang Kapp, ostpreußischer Generallandschaftsdirektor und Mitglied der DNVP.
Noske beriet sofort mit der Reichswehrführung über Gegenmaßnahmen. Doch nur der Chef der
Heeresleitung, General Walther Reinhardt, forderte einen Truppeneinsatz gegen die Putschisten. Die
übrigen Generäle, die der Republik fernstanden, rieten davon ab – im Raum Berlin stünden nicht
genügend Soldaten zur Verfügung, und "Reichswehrtruppen (würden) niemals auf andere
Reichswehrtruppen schießen", wie General Hans von Seeckt äußerte.
Der Regierung blieb nur die Flucht nach Stuttgart. Inzwischen besetzte die Brigade Ehrhardt, unterstützt
von einem Reichswehrbataillon, das Berliner Regierungsviertel. Kapp rief sich selbst zum
Reichskanzler aus und ernannte von Lüttwitz zum Oberbefehlshaber der Reichswehr.
Gerettet wurde die Republik durch einen Generalstreikaufruf aus der Reichskanzlei, der von den
Gewerkschaften und der SPD sofort befolgt wurde. Die KPD, der die Weimarer Republik als "NoskeDemokratie" verhasst war, schloss sich nur zögerlich an. Vielerorts kam es zu bewaffneten Kämpfen
mit Kapp-Lüttwitz-Anhängern.
Zum Glück für die Republik war der Putsch schlecht vorbereitet. Wirklichen Rückhalt besaß er nur bei
den Großagrariern, Offizieren und Landräten östlich der Elbe. Am 17. März 1920 brach die Aktion
landesweit zusammen. Lüttwitz floh nach Ungarn, Kapp nach Schweden, Ehrhardt tauchte in Bayern
unter.
Tags darauf forderten die Arbeitnehmervertretungen – der "Allgemeine Deutsche Gewerkschaftsbund
" (ADGB), die ihm angeschlossene "Arbeitsgemeinschaft für Angestellte" (AfA-Bund) und der vor allem
die untere Beamtenschaft vertretende "Deutsche Beamtenbund" (DBB) – die Bildung einer MSPDUSPD-Regierung unter einem Reichskanzler Carl Legien. Diese sollte endlich durch strukturelle
Reformen die Demokratie wirkungsvoll schützen, u. a. durch Entlassung illoyaler Staatsdiener und
durch Sozialisierungen. Doch im Reichstag war nur eine neue Weimarer Koalitionsregierung unter
Hermann Müller (MSPD) durchsetzbar. Weil Noske, dessen Politik der Härte gegenüber dem Linksund Rechtsradikalismus an den Generälen gescheitert war, von Otto Geßler (DDP) abgelöst wurde,
trat der republiktreue General Reinhardt zurück. Neuer Chef der Heeresleitung wurde ausgerechnet
der zwar fähige, aber politisch unzuverlässige General von Seeckt. Unter seiner Amtsführung
entwickelte sich die Reichswehr in den folgenden Jahren erst recht zu einer Art "Staat im Staate".
Aufstand der "Roten Ruhrarmee"
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Noch während des Kapp-Lüttwitz-Putsches übernahmen in den größeren Orten des Ruhrgebietes
spontan entstandene lokale "Vollzugsräte" der USPD und der KPD die politische Macht. Sie
organisierten bewaffnete Arbeiterwehren, denen es in erbitterten Kämpfen gelang, die
einmarschierenden aufständischen Freikorps zum Rückzug zu zwingen. Ein Teil dieser Arbeiterwehren
formierte sich zu einer etwa 50.000 Mann starken revolutionären "Roten Ruhrarmee", die bis Ende
März das gesamte Ruhrgebiet unter ihre Kontrolle brachte.
Unterstützung erhielt sie durch den Streik von mehr als 300.000 Bergarbeitern (rund 75 Prozent der
Belegschaften). Der linksradikale Widerstand gegen den Kapp-Lüttwitz-Putsch verwandelte sich in
einen Kampf für die Wiederbelebung und Vollendung der sozialen Revolution und des Rätesystems.
Diese "Märzrevolution" war die größte bewaffnete Arbeiteraktion, die es in Deutschland je gab. Sie
nährte, wie schon die Münchner Räterepublik, die Angst des Bürgertums vor dem Bolschewismus,
zumal es, weil eine einheitliche, anerkannte Führung fehlte, örtlich immer wieder zu Ausschreitungen
gegen tatsächliche oder vermeintliche Kapp-Lüttwitz-Anhänger kam.
Die Reichsregierung versuchte vergeblich, durch die Zusage politischer Reformen und einer Amnestie
die Selbstauflösung der Roten Ruhrarmee zu erreichen. Schließlich erhielten Reichswehrtruppen und
Freikorps (darunter auch ehemalige Kapp-Lüttwitz-Putschisten) freie Hand, die Rote Ruhrarmee mit
allen Mitteln (auch mit standrechtlichen Erschießungen) zu bekämpfen. Diesmal ließ sich die
Reichswehr bereitwillig einsetzen, ging es doch gegen "Bolschewisten", nicht gegen "Kameraden".
Am Ende der Kämpfe hatten die Aufständischen weit mehr als 1000 Tote zu beklagen, Reichswehr
und Freikorps etwa 250.
Reichstagswahlen 1920
Der Putschversuch von rechts und der Revolutionsversuch von links veranlassten die regierende
Weimarer Koalition dazu, vorzeitig den ersten republikanischen Reichstag wählen und an die Stelle
der Nationalversammlung treten zu lassen. Nach einer Wahlrechtsänderung entfiel jetzt auf 60.000
Stimmen ein Mandat. Die Wahlen vom 6. Juni 1920 endeten für MSPD, DDP und Zentrum mit einem
Desaster: Zusammen rutschten sie unter die 50-Prozent-Marke. Dieses Bündnis zwischen
sozialdemokratischer Arbeiterschaft, liberalem Bürgertum und politischem Katholizismus vermochte
nie wieder eine Mehrheit zu erringen. Dagegen erzielten einerseits die USPD, andererseits DVP und
DNVP beträchtliche Gewinne. Die starken Einbußen der Weimarer Koalition erklären sich aus der seit
Sommer 1919 anhaltenden politischen Polarisierung, die – je nach Standort der Wähler – mit der
Enttäuschung über die stecken gebliebene Revolution und ihre gescheiterte Fortsetzung oder mit der
Empörung über den Versailler Vertrag und der Anziehungskraft der Dolchstoßlüge zusammenhing.
Tief enttäuscht wechselte die MSPD in die Opposition. Zentrum, DDP und DVP bildeten eine bürgerliche
Minderheitsregierung unter Reichskanzler Konstantin Fehrenbach (Zentrum). Reformen stand die
neue Regierung fern. Die Freikorps wurden jetzt aufgelöst, auf Druck der Alliierten auch die
Einwohnerwehren (in Bayern im Sommer 1921). Viele ihrer Mitglieder wandten sich den
deutschvölkischen Organisationen zu, darunter der NSDAP und der SA.
Zumindest in Preußen – hier regierte noch eine Weimarer Koalition – machte man jetzt ernst mit der
Demokratisierung des öffentlichen Dienstes und entfernte in den folgenden Jahren viele
republikfeindliche Beamte aus ihren Positionen. Preußen, das über 60 Prozent der Fläche und der
Bevölkerung der Weimarer Republik umfasste, galt Republikanern bald als "Bollwerk der Demokratie
", Rechtsstehenden als "rote Festung". Demgegenüber entwickelte sich Bayern, der zweitgrößte
Flächenstaat, in die entgegengesetzteRichtung. Die MSPD wurde schon während des Kapp-LüttwitzPutsches in die Opposition gedrängt; es etablierten sich rechtskonservative Regierungen, stets unter
Beteiligung der BVP. Bayern erwarb sich – je nach politischer Perspektive – den Ruf einer "
Ordnungszelle" bzw. eines "Hortes der Reaktion".
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Politische Justiz
Um den politischen Frieden wiederherzustellen, verabschiedete der Reichstag am 2. August 1920 ein
großzügiges Amnestiegesetz. Die Straftaten der am Kapp-Lüttwitz-Putsch oder am Aufstand im
Ruhrgebiet Beteiligten sollten nur geahndet werden, wenn sie aus "Rohheit" oder "Eigennutz
" begangen wurden. Lediglich die "Urheber" und "Führer" des Kapp-Lüttwitz-Putsches wollte man zur
Rechenschaft ziehen.
Reichswehr- und Freikorpssoldaten unterstanden der Militärgerichtsbarkeit. Von 775 Verfahren wurden
486 eingestellt. 48 Offiziere wurden ihres Dienstes enthoben, sechs nahmen ihren Abschied, die
übrigen erhielten geringfügige Disziplinarstrafen. Noch milder verfuhren die zivilen Gerichte. In 705
Verfahren kam es nur zu einer Verurteilung; die anderen Verfahren wurden aus vielerlei Gründen
eingestellt. Selbst hochgestellten Persönlichkeiten billigte man zu, keine "Urheber" oder "Führer
" gewesen zu sein, und amnestierte sie.
Demgegenüber verhängte die Justiz gegen die Mitglieder der "Roten Ruhrarmee" zahlreiche zum Teil
hohe Haftstrafen. Dies war kein Zufall: Die vom Kaiserreich übernommene zivile und militärische
Richterschaft neigte dazu, ihre Unabhängigkeit für politisch motivierte Urteile zu missbrauchen. Wie
schon die Berechnungen des Statistikers Emil Julius Gumbel 1923 zeigten, kamen vor Gericht bei
denselben Delikten rechte politische Straftäter im Durchschnitt mit viel geringeren Strafen davon als
linke.
Terrorismus
In den ersten Jahren der Republik wurden auf zahlreiche prominente Kommunisten, Sozialdemokraten,
liberale und katholische Demokraten politisch, zum Teil auch antisemitisch motivierte Mordanschläge
verübt. Die Täter waren fast ausnahmslos ehemalige oder aktive junge Reichswehroffiziere bzw.
Freikorpsleute und gehörten in der Regel zur deutschvölkischen Szene. Soweit sie gefasst werden
konnten, kamen sie meist mit verhältnismäßig milden Strafen davon. Spätestens 1933 wurden sie vom
NS-Regime amnestiert.
Zu den bekanntesten Todesopfern zählen Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht (KPD-Führer, Januar
1919); Kurt Eisner (bayerischer USPD-Ministerpräsident, Februar 1919); Matthias Erzberger (Zentrum,
Unterzeichner des Waffenstillstandes, früherer Reichsfinanzminister, August 1921); und Walther
Rathenau (DDP, Außenminister, Juni 1922). Rathenaus Ermordung löste reichsweit
Protestdemonstrationen aus.
Diese Attentatsserie war die extremste Folge der politischen Polarisierung. In der deutschvölkischen
Szene und am rechten Rand der DNVP sowie der dazugehörigen Presse war ein Hass- und
Gewaltklima entstanden, in dem die physische Vernichtung politischer Gegner sozusagen als
salonfähig galt.
Zumindest die Mordanschläge auf Erzberger und Rathenau waren erwiesenermaßen nicht das Werk
einzelner Fanatiker, sondern einer terroristischen Vereinigung. Die Täter hatten in der Marinebrigade
Ehrhardt gedient; jetzt gehörten sie der "Organisation Consul" (O. C.) an. Dort erhielten sie ihre Befehle
von ihrem alten und neuen Kommandeur: Kapitän Ehrhardt, der getarnt in Bayern lebte, wo er
ausgezeichnete Verbindungen besaß. Der Münchner Polizeipräsident Pöhner zum Beispiel, ein
NSDAP-Sympathisant, versorgte ihn mit falschen Pässen. In der Münchner Zentrale der O. C., deren
Netz sich über ganz Deutschland erstreckte, arbeiteten zeitweise bis zu dreißig hauptamtliche
Mitarbeiter. Nach dem Scheitern des Kapp-Lüttwitz-Putsches verfolgte Ehrhardt den abenteuerlichen
Plan, durch eine Attentatsserie die politische Linke zu einem großen Aufstand zu verleiten. Dessen
Niederschlagung durch Reichswehr, Polizei und deutschvölkische Kampfverbände sollte dann zur
Errichtung einer Rechtsdiktatur führen.
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Als Reaktion auf die Mordanschläge verabschiedete der Reichstag am 21. Juli 1922 das "
Republikschutzgesetz". Vereinigungen, die es unternahmen, Regierungsmitglieder zu töten oder die
republikanische Staatsordnung zu beseitigen, wurden mit hohen Strafen bedroht. Zuständig war ein
neuer (1926 wieder aufgelöster) "Staatsgerichtshof zum Schutze der Republik", der jedoch nur wenig
bewirkte. Im Oktober 1922 verurteilte er zwar 13 Personen wegen Beihilfe zur Ermordung Rathenaus
zu Freiheitsstrafen, erklärte jedoch eine Verschwörung für unbewiesen. Im Januar 1923 verbot er den
Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbund; aber dessen Mitglieder verteilten sich einfach auf andere
völkische Organisationen, darunter die NSDAP. Als Ende 1924 doch noch ein Prozess gegen Mitglieder
der O. C. stattfand, wurden diese "ehrenhaften, wahrheitsliebenden und unerschrockenen Männer
" (so der Oberreichsanwalt als Anklagevertreter) freigesprochen.
Der Mordfall Luxemburg/Liebknecht
[...] Die Revolution stirbt im Januar 1919: mit der Niederschlagung des sogenannten SpartakusAufstands. [...] Am 12. Januar sind die Kämpfe erloschen, befinden sich alle strategisch wichtigen
Punkte in der Hand regierungstreuer Truppen. Am 13. Januar marschieren Freikorps in die Stadt. Die
Rache beginnt.
Liebknecht und Luxemburg sind auf der Flucht und wechseln ständig das Quartier. Mit Glück erreichen
sie am 14. Januar in Berlin-Wilmersdorf ihr letztes Asyl: Mannheimer Straße 43, die Wohnung des
Kaufmanns Siegfried Marcusson, eines USPD-Mitglieds. Hier schreiben sie ihre letzten Artikel für die
Rote Fahne. Karl Liebknecht verfasst sein loderndes "Trotz alledem!", das die Niederlage als nötige
Lehre eingesteht. Die Zeit sei nicht reif gewesen zur Revolution. [...] Rosa Luxemburgs letzter Text,
geschichtsreligiös aufgeladen, schließt: "Ihr stumpfen Schergen! Eure Ordnung ist auf Sand gebaut.
Die Revolution wird sich morgen schon rasselnd wieder in die Höh´ richten und zu eurem Schrecken
mit Posaunenklang verkünden: Ich war, ich bin, ich werde sein!"
In den Abendstunden des 15. Januar 1919 dringt ein Trupp der neu gegründeten Wilmersdorfer
Bürgerwehr in die Wohnung ein. Liebknecht und Luxemburg werden verhaftet. [...] [M]an [...] schafft
die Inhaftierten ins Nobelhotel Eden, das Stabsquartier der Garde-Kavallerie-Schützen-Division. Diese
ursprünglich kaiserliche Elitetruppe untersteht dem Hauptmann Waldemar Pabst. Er befiehlt die Morde.
[...] Liebknecht wird im Eden bespuckt, bepöbelt, mit dem Gewehrkolben niedergeschlagen. Um 22.45
Uhr fährt ihn eine Marine-Eskadron unter Führung des Kapitänleutnants Horst von Pflugk-Hartung mit
einem offenen NSU in den Tiergarten. Am Neuen See täuscht man eine Panne vor und lässt Liebknecht
aussteigen. Pflugk-Hartung schießt ihm in den Hinterkopf, dann feuern die anderen. Die Mörder fahren
zurück und liefern den Leichnam um 23.15 Uhr in der Rettungswache am Zoo als "unbekannten Toten
" ab.
Rosa Luxemburg sitzt derweil bei Pabst in dessen "Arbeitszimmer" und näht ihren beim Abtransport
beschädigten Rocksaum. Sie liest in Goethes Faust, als der von Pabst zum Transportführer bestimmte
Oberleutnant a. D. Kurt Vogel sie abholt und durch die Hotelhalle zum Ausgang führt. Der Jäger Otto
Wilhelm Runge, der schon Liebknecht geschlagen hat, rammt auch ihr seinen Gewehrkolben ins
Gesicht. Stark blutend, wird sie ins Auto geworfen. Nach kurzer Fahrt springt der Leutnant zur See
Hermann Souchon aufs linke Trittbrett des offenen Phaeton und tötet Rosa Luxemburg durch einen
Schuss in den Kopf.
Pabst hat geplant, den Mord als spontanen Übergriff empörter Volksmassen auszugeben. Vogel handelt
weisungswidrig. Der Wagen fährt zum Landwehrkanal. An der Lichtensteinbrücke wirft Vogel die Leiche
ins Wasser. Die "amtliche Darstellung" der Garde-Kavallerie- Schützen-Division behauptet, eine zweite
erregte Menschenmenge habe Frau Luxemburg der Begleitmannschaft entrissen.
Ein riesiger Trauerzug geleitet am 25. Januar die Särge Liebknechts und Dutzender weiterer Opfer
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vom Bülow-, dem heutigen Rosa-Luxemburg-Platz, zum Friedhof nach Friedrichsfelde. Zwischenfälle
bleiben aus. Die Absperrung untersteht dem Befehl des Hauptmanns Pabst. Einer der mitgeführten
Särge ist leer. Erst viereinhalb Monate nach der Tat, am 31. Mai 1919, wird Rosa Luxemburgs stark
verweste Leiche von dem Schleusenarbeiter Knepel in der Landwehrkanal- Schleuse zwischen
Freiarchen- und S-Bahn- Brücke gefunden. [...]
Christoph Dieckmann, "Und ob wir dann noch leben werden...", in: Die Zeit Nr. 3 vom 10. Januar 2008
Reparationsprobleme
Nach langer Vorbereitung – ohne deutsche Beteiligung – entschieden die Alliierten am 29. Januar
1921 in Paris über die von Deutschland zu erbringenden Reparationen. Die deutsche Öffentlichkeit
zeigte sich über das Ergebnis schockiert; die Regierung Fehrenbach erklärte die Forderungen für
weder annehmbar noch erfüllbar. Denn ab 1. Mai 1921 sollten 226 Milliarden Goldmark (GM) gezahlt
werden, verteilt auf 42 Jahre, in Jahresraten von anfangs zwei, später sechs Milliarden GM. Darüber
hinaus waren im selben Zeitraum jährlich zwölf Prozent des Wertes der deutschen Ausfuhr (etwa 1-2
Milliarden GM) abzuführen. Frankreich sollte 52 Prozent, England 22 Prozent, Italien zehn Prozent
und Belgien acht Prozent der Reparationen erhalten; die restlichen acht Prozent verteilten sich auf
sonstige Kriegsgegner.
Die treibende Kraft hinter diesen harten Forderungen war der französische Vorsitzende der alliierten
Reparationskommission, Raymond Poincaré. Mit Hilfe der deutschen Zahlungen wollte vor allem
Frankreich seine Nachkriegskrise überwinden, Kriegsschulden bei amerikanischen Gläubigern
(Banken) begleichen und Deutschland dauerhaft schwächen, um es kriegsunfähig zu machen. Damit
verband sich auch die Idee einer territorialen Revision des Versailler Vertrages: Erfüllte Deutschland
die hohen Forderungen nicht, konnten vertraglich festgelegte Sanktionen verhängt werden, nämlich
die Besetzung von Teilen des Industriegebietes an Rhein und Ruhr durch alliierte bzw. französische
Truppen. Darin sah Poincaré die Chance, Frankreichs Ostgrenze bis an den Rhein vorzuschieben und
das Ruhrgebiet mit seiner Schwer- und Rüstungsindustrie zu kontrollieren.
Londoner Ultimatum
Auf der folgenden Londoner Reparationskonferenz unterbreitete Deutschland am 1. März 1921 ein
eigenes Angebot in Höhe von 50 Milliarden GM. Die Alliierten wiesen es jedoch zurück und beharrten
auf der Annahme ihres Pariser Zahlungsplans. Am 8. März erhöhten sie den Druck auf die
Reichsregierung durch die Besetzung der "Sanktionsstädte" Düsseldorf, Duisburg und Ruhrort.
In Deutschland kam es zu einer wochenlangen Regierungskrise, die die KPD zu einem Umsturzversuch
verführte. Ende März 1921 organisierte sie Arbeiteraufstände in Mitteldeutschland und in Hamburg,
die jedoch von der Polizei niedergeschlagen wurden. Auch polnische Freiwilligenverbände hielten die
Gelegenheit für günstig und rückten – mit Duldung der französischen Besatzungsmacht – am 2. Mai
1921 in Oberschlesien ein, das sich in einer Volksabstimmung am 20. März mit großer Mehrheit (60
Prozent) für den Verbleib bei Deutschland entschieden hatte. Sie wurden von deutschen Freiwilligen
vertrieben. Dennoch musste Ostoberschlesien aufgrund eines Beschlusses des Völkerbundrates an
Polen abgetreten werden, was in Deutschland neuerliche Verbitterung auslöste und dem Ansehen der
Republik schadete.
Da die DVP die Übernahme der Reparationsverpflichtungen nicht mitverantworten wollte, trat die
Regierung Fehrenbach am 4. Mai 1921 zurück. Am Tag darauf verlangten die Siegermächte die
Annahme ihrer Forderungen, die sie aber inzwischen fast auf die Hälfte verringert hatten: 132 Milliarden
GM, Jahreszahlungen für Zinsen und Tilgung in Höhe von etwa zwei Milliarden GM, ferner Abgabe
von 26 Prozent des jährlichen Exportwertes – anderenfalls werde ab 12. Mai das Ruhrgebiet besetzt.
Die am 10. Mai neu gebildete Weimarer (Minderheits-)Regierung unter Reichskanzler Joseph Wirth
(Zentrum) sah sich gezwungen, dieses "Londoner Ultimatum" anzunehmen.
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Die alliierten Reparationsbeschlüsse waren Wasser auf die Mühlen der konservativen und
rechtsradikalen Gegner der Weimarer Republik; sie gaben der Dolchstoßlegende und der
Kriegsunschuldspropaganda neue Nahrung. Aus der Sicht der Reichsregierung überforderten auch
die Londoner Beschlüsse bei weitem die Leistungsfähigkeit der deutschen Wirtschaft und die
Zahlungsfähigkeit des deutschen Staates. Daher rang die Regierung 1921/22 mit den Alliierten ständig
um Zahlungsaufschübe und um die Umwandlung von Geldzahlungen in Sachlieferungen, damit
Staatsverschuldung und Inflation nicht außer Kontrolle gerieten. Die französische Regierung
argwöhnte hinter diesen Bemühungen, dass Deutschland seine Zahlungsverpflichtungen zu umgehen
versuchte.
Deutsch-russisches Abkommen
Vom 10. April bis zum 19. Mai 1922 fand in Genua eine Weltwirtschaftskonferenz unter Beteiligung
Deutschlands statt. Die USA und die Türkei blieben ihr fern, unter anderem, weil das bolschewistische
Russland eingeladen war. Während die Konferenz ergebnislos endete, sorgten Deutschland und
Russland für eine Überraschung. Am 16. April schlossen ihre Delegationen in Rapallo einen Vertrag
über die Aufnahme diplomatischer Beziehungen, den gegenseitigen Verzicht auf die Erstattung von
Kriegsschäden und Kriegskosten, den deutschen Verzicht auf Entschädigungen für sozialisiertes
Eigentum in Russland und die Errichtung von Handelsbeziehungen nach dem Grundsatz der "
Meistbegünstigung" (das heißt, die Vertragspartner wollten sich gegenseitig die vorteilhaftesten
Handelsbedingungen einräumen, die sie bereits anderen Staaten gewährten).
Deutschland und die Sowjetunion überwanden in Rapallo ihre außenpolitische Isolation und
erweiterten – ungeachtet ihrer ideologischen Gegensätze – ihre wirtschaftlichen Beziehungen. Sogar
auf militärischem Gebiet kam es zu einer begrenzten (geheim gehaltenen) Zusammenarbeit: Beim
Aufbau ihrer Rüstungsindustrie und bei der Entwicklung moderner schwerer Waffen (Panzer,
Flugzeuge, Artillerie) konnte die Sowjetunion die Hilfe deutscher Experten in Anspruch nehmen. Im
Gegenzug fuhren Reichswehroffiziere nach Russland zur Ausbildung an diesen Waffen, die
Deutschland aufgrund des Versailler Vertrages weder besitzen noch herstellen durfte.
Die Reichsregierung versprach sich von der Verständigung mit Moskau auch eine Stärkung ihrer
Verhandlungsposition gegenüber den Westmächten. Doch "Rapallo" verhärtete eher die Fronten, denn
es stellte sich die Frage, ob das Abkommen eine allgemeine deutsche Option für den Osten und gegen
den Westen bedeutete – und womöglich eine Gefährdung Polens. Tatsächlich löste Rapallo in der
deutschen Rechten zum Teil abenteuerliche Spekulationen aus. General von Seeckt zielte in einer
geheimen Denkschrift vom 11. September 1922 bereits auf die Wiederherstellung Deutschlands und
Russlands "in den Grenzen von 1914", was eine neuerliche Aufteilung Polens bedeutet hätte. Mit Polen
werde zugleich auch die "stärkste Säule des Versailler Vertrages" fallen: die "Vormachtstellung
Frankreichs".
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Ruhrbesetzung
"Nun geht das Krisenjahr zu Ende. Die inneren und äußeren Gefahren waren so groß, dass sie
Deutschlands ganze Zukunft bedrohten", schrieb der britische Botschafter in Berlin, Viscount
d'Abernon, am 31. Dezember 1923 in sein Tagebuch. Tatsächlich wurde die Republik in jenem Jahr
heftiger denn je von einer ganzen Serie schwerer wirtschaftlicher und politischer Krisen geschüttelt.
Wegen der akuten wirtschaftlichen und finanziellen Probleme des Reiches (Verbrauch der Gold- und
Devisenvorräte für die Reparationen, Staatsverschuldung, Währungsverfall) verzichteten die Alliierten
im August 1922 vorläufig auf Geldleistungen. Zum Ausgleich verlangten sie eine Erhöhung der
Sachlieferungen, unter anderem von Holz (Telegrafenstangen) und Kohle.
Als das Reich die Holz- und Kohlelieferungen bis Ende 1922 nicht erfüllen konnte, stellte die alliierte
Reparationskommission mehrheitlich einen Verstoß gegen den Versailler Vertrag fest. Am 10. Januar
wurde der Reichsregierung eine französisch-belgisch-italienische Ingenieurkommission angekündigt,
die unter dem Schutz der dazu "erforderlichen Truppen" die Kohleproduktion kontrollieren werde. Tags
darauf begann der Einmarsch von fünf französischen Divisionen und einer belgischen Division in Essen
und Gelsenkirchen. Die Besetzung wurde über Bochum und Dortmund nach Osten ausgedehnt; die
Invasionstruppen erreichten im Laufe des Jahres eine Stärke von 100.000 Mann.
Ganz Deutschland wurde von einer nationalen Protestwelle erfasst. Sämtliche Reparationslieferungen
wurden eingestellt und die Beamten angewiesen, jede Zusammenarbeit mit den Besatzern zu
vermeiden. Reichspräsident Ebert rief am 13. Fe-bruar die Bevölkerung zum "passiven Widerstand
" auf.
Die Invasionstruppen überwachten den Abtransport von Holz und Kohle, fanden aber bald kein
mitarbeitsbereites Personal mehr. Daraufhin legten sie Zechen und Fabriken still, beschlagnahmten
öffentliche Kassen und Firmenkassen und wiesen 180.000 Personen aus der Region aus. Von den
Besatzern verursachte Gewaltakte und Unfälle forderten bis August 1924 137 Tote und 603 Verletzte.
Der volkswirtschaftliche Gesamtschaden der Ruhrbesetzung belief sich auf 3,5 bis vier Milliarden GM.
Entgegen den Appellen der Reichsregierung entwickelte sich auch ein aktiver Widerstand
rechtsradikaler Sabotagetrupps. Diese sprengten einige Kanalbrücken und Gleise, um den Abtransport
von Reparationsgütern zu verhindern; sie überfielen französische und belgische Posten und töteten
mindestens acht Kollaborateure. Zur Märtyrerfigur des gesamten Widerstandes gegen die
Ruhrbesetzung wurde der 29-jährige Albert Leo Schlageter, ehemaliger Freikorpssoldat, Mitglied der
NSDAP und anderer deutschvölkischer Verbände. Nach mehreren Sabotageakten verurteilte ihn ein
französisches Militärgericht zum Tode; trotz landesweiter und internationaler Proteste wurde er am 26.
Mai 1923 hingerichtet.
Hyperinflation
Die durch Zinszahlung und Schuldentilgung bereits angespannte Haushaltslage des Reiches wurde
durch die Produktions- und Steuerausfälle im Ruhrgebiet und durch die Unterstützung der
Ausgesperrten und Ausgewiesenen dramatisch verschärft. Diese Kostenlawine versuchte die
Regierung mit immer höheren Krediten der Reichsbank und durch immer häufigere Betätigung der
Notenpresse zu bewältigen.
Aus der bereits galoppierenden Inflation wurde im Juni 1923 eine Hyperinflation. Das Giralgeld und
das umlaufende Bargeld wuchsen je auf rund 500 Trillionen Mark an. Gemeinden und Großbetriebe
gaben zusätzlich "Notgeld" in Höhe von 200 Trillionen Mark aus. Reichsbanknoten mit astronomischen
Nennwerten zeugten vom Kaufkraftverfall der deutschen Währung; der Dollar-Kurs stieg steil an. Die
Flucht in den Dollar, in Sachwerte und Immobilien beschleunigte sich. Den Preissteigerungen in immer
kürzeren Abständen hinkten die Löhne hinterher. Schließlich traten Naturalien (beispielsweise
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Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
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Lebensmittel, Zigaretten, Kohle) als Zahlungsmittel an die Stelle des Bargeldes. Als der Einzelhandel
seine Waren zu horten begann, kam es zu Hungerdemonstrationen und Plünderungen. Im Berliner
Scheunenviertel, wo viele eingewanderte "Ostjuden" lebten, führte das Gerücht, die Brotversorgung
werde von Juden manipuliert, am 5./6. November zu antisemitischen Ausschreitungen.
Gewinner der Inflation waren die Schuldner – vor allem viele Bauern, die sich von ihren Schulden aus
der Vorkriegszeit befreiten, und der Staat, der seine Kriegsanleihen bei den Bürgern ablöste. Ferner
profitierten Mieter und Pächter, besonders aber Exportunternehmer, die bei sinkenden Kosten für ihre
Produkte im Ausland harte Dollars erhielten. Dem devisenstarken Großunternehmer und DVPReichstagsabgeordneten Hugo Stinnes war es schon 1920 bis 1922 gelungen, mit kreditfinanzierten
Eigentumsanteilen an mehr als 1600 Betrieben die "Siemens-Rheinelbe-Schuckert-Union" zu gründen
(nach seinem Tod 1924 löste sie sich wieder auf). Sein Geschäftspartner Friedrich Flick, ebenfalls
DVP-Mitglied, erwarb durch geschickte Börsenspekulationen Industrieanteile im Werte von 100
Millionen GM.
Verlierer waren die Gläubiger, die für "gutes" verliehenes Geld jetzt wertloses zurückerhielten, ebenso
die Bezieher fester Geldeinkommen (Arbeitnehmer, Rentner, Vermieter, Verpächter), mit denen man
immer weniger kaufen konnte, und die Besitzer von Sparguthaben. Viele Menschen waren sowohl
Gewinner als auch Verlierer – was überwog, zeigte erst ihre persönliche Bilanz.
Der Mittelstand erlebt die Inflation
Aus den Erinnerungen des Schriftstellers Rudolf Pörtner (geb. 1912)
Ich will nicht verschweigen, dass wir zunächst Nutznießer der fürchterlichen Geldvernichtung waren.
Das Ehepaar Pörtner hatte sich 1922 kurzfristig entschlossen, ein im Entstehen begriffenes Haus in
der Melberger Kronprinzenstraße, auf der Westseite von Bad Oeynhausen, zu kaufen. Kostenpunkt:
800000 Mark. Als wir am 1. April 1923 einzogen, war das ein Betrag, der selbst sensible Gemüter nicht
mehr zu beunruhigen vermochte. Ein Griff in die Westentasche genügte, alle Verbindlichkeiten
einschließlich der hypothekarischen Eintragungen aus der Welt zu schaffen.
Leider war das Haus erst halb fertig, als wir es übernahmen: halb fertig, miserabel gebaut, aus
Altmaterialien zusammengeschustert. Inzwischen arbeiteten die Handwerker nur noch gegen
Naturalien. Damit konnten wir natürlich nicht dienen, und dasGeld, das Vater ausbezahlt bekam, zuletzt
zweimal täglich, reichte gerade für das nackte Leben. Noch im hohen Alter hat er häufig von dem
defekten Ofenrohr in der Küche (also unserem Lebensraum) erzählt, aus dessen Löchern und Ritzen
ein bronchien- und schleimhautfeindlicher Rauch quoll, ohne dass wir die Möglichkeit gehabt hätten,
dem Übelstand abzuhelfen. Es gab ja keine Ofenknie und wenn, dann nicht für die lächerlichen
Milliardenscheine, die acht Tage nach Erscheinen nicht einmal mehr das Papier wert waren, aus dem
sie bestanden.
Was die Ablösung der homöopathisch ausgedünnten Währung durch die Rentenmark im November
1923 bedeutete, lässt sich heute nicht mehr ermessen. Es war, als wenn ein Ertrinkender, in einer
Springflut von Papiergeld fast schon versunken, plötzlich Boden unter den Füßen verspürt hätte. Als
mein Vater mit dem ersten wertbeständigen Zahlungsmittel heimkehrte, traten wir wie zur Besichtigung
einer säkularen Kostbarkeit an, und es verschlug uns fast den Atem, als wir die erste Rentenmark
zunächst beäugen, dann sogar wie eine wundertätige Reliquie in die Hand nehmen durften.
Die Stöße übrig gebliebenen Inflationsgeldes haben wir dann genutzt, die getünchten Wände unserer
wenig einladenden Toilettenanlage zu tapezieren, unseren Lokus, mit Verlaub zu sagen, in ein
Billionenkabinett zu verwandeln. Die Hauptattraktion war eine aus Millionenscheinen montierte Zahl
mit sechsunddreißig Nullen, die in Worten auszudrücken uns nie gelungen ist. Wir hätten schon einen
Astronomen zurate ziehen müssen.
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Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
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Rudolf Pörtner (Hg.), Alltag in der Weimarer Republik. Erinnerungen an eine unruhige Zeit, Econ,
Düsseldorf 1990, S. 360 f.
Aus den Erinnerungen des Buchautors Curt Riess (geb. 1902)
[...] Diejenigen aber, die alles verloren, waren in der großen Mehrheit. Was uns persönlich anging –
mein Vater begriff erst, woran er war, als er feststellen musste, dass die Rechnung für 3,20 Meter
Tuch, aus dem ein Anzug gemacht werden konnte, höher war als die Rechnung, die er einem Kunden
für den Anzug ausstellen konnte. Von diesem Tag an fertigte er nur noch Anzüge gegen Dollar an. So
blieb ihm sein Geschäft erhalten. Aber nicht jeder deutsche Kaufmann reagierte so schnell. Viele
gingen zugrunde.
Und wie stand es um die so genannten kleinen Leute, die Gehaltsempfänger? Sie mussten am Ende
des Monats feststellen, dass sie sich für den Lohn, den sie erhielten, so gut wie nichts mehr kaufen
konnten. Um diesem Desaster abzuhelfen, wurde es zur Regel, dass Angestellte und Arbeiter nicht
mehr monatlich bezahlt wurden, sondern wöchentlich, dann jeden dritten Tag, schließlich täglich. Dann
sausten sie mit Erlaubnis der Geschäftsleitung oder auch der Betriebsleitung in die nahen Geschäfte
und kauften ein. Und die Geschäftsinhaber brachten das eingenommene Geld so schnell wie möglich
auf die Bank und kauften dafür, wenn irgend möglich, fremde Währungen, vor allem Dollar, Pfund oder
Schweizer Franken.
Ich erinnere mich noch, wie grotesk die Zustände wurden, weil ich sie am eigenen Leib zu spüren
bekam. Ich war krank geworden, und ich sollte zur Erholung in den "Weißen Hirsch", den damals noch
feudalen Kurort oberhalb von Dresden. Mein Vater hatte mir für vierzehn Tage vierzehn Dollar
mitgegeben, in Scheinen, die man in Mark umwechseln konnte. Er hatte mir eingeschärft, jeden Tag
zu warten, bis der jeweils neue Dollarkurs verkündet wurde. Das war so um 15 Uhr.
Um 15 Uhr wechselte ich also einen Dollar und bekam dafür die entsprechende Marksumme und
konnte die tägliche Pensionsrechnung bezahlen, auch die Straßenbahn nach Dresden, eine Karte für
die Oper oder das Schauspielhaus und die Fahrt zurück. Und das alles für einen Dollar, wenn ich
überhaupt den ganzen Dollar, will sagen die Unsummen an Mark, innerhalb von 24 Stunden ausgeben
konnte.
[...] Natürlich erhöhte auch die Pension ihre Tagesrechnungen, die elektrische Straßenbahn ihre
Gebühren, natürlich musste man auch für einen Platz im Opernhaus im Laufe von zwei Wochen mehr
und mehr zahlen. Aber so schnell konnten die Behörden mit ihren Preisen gar nicht nachziehen, wie
die Mark stürzte.
Freilich, ich war in einer bevorzugten Position. Wer konnte schon von Dollarscheinen leben?
Curt Riess, "Weltbühne Berlin" in: Rudolf Pörtner (Hg.), Alltag in der Weimarer Republik. Erinnerungen
an eine unruhige Zeit, Econ, Düsseldorf 1990, S. 34 f.
Währungsreform
Die seit November 1922 amtierende DVP-Zentrum-DDP-Regierung unter dem parteilosen
Reichskanzler Wilhelm Cuno musste erkennen, dass der Kampf gegen die Ruhrbesetzung in den
wirtschaftlichen Ruin führte; am 12. August 1923 trat sie zurück. Gustav Stresemann (DVP) bildete
ein Kabinett der "Großen Koalition" (SPD – DDP – Z – DVP), verkündete am 26. September das Ende
des passiven Widerstandes und leitete eine Währungsreform ein. Die am 15. November
übergangsweise eingeführte "Rentenmark" (1 Rentenmark = 1 Billion Papiermark [das heißt
Inflationsgeld] bei 4,2 Rentenmark für den Dollar) wurde rasch als Zahlungs- und
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Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
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Wertaufbewahrungsmittel akzeptiert. Auch schuf sie die Voraussetzung für konstruktive
Reparationsverhandlungen, die zum Dawes-Plan führten. Am 30. August 1924 erfolgte die Ablösung
der Rentenmark durch die goldgedeckte, voll konvertierbare "Reichsmark".
Rechtsdiktatur in Bayern
Für einen politischen Schlag gegen die Weimarer Republik sorgte die rechtskonservative bayerische
Staatsregierung unter Ministerpräsident Eugen Ritter von Knilling. Um in Bayern eine Diktatur zu
errichten, berief sie sich am 26. September 1923 – ohne nachvollziehbare Voraussetzungen – auf
Artikel 48 Abs. 4 WV, der auch einer Landesregierung Notstandsmaßnahmen erlaubte. Sie verhängte
den Ausnahmezustand über Bayern, ernannte den Regierungspräsidenten von Oberbayern und
früheren Ministerpräsidenten Gustav Ritter von Kahr zum "besonderen Generalstaatskommissar" und
übertrug ihm die vollziehende Gewalt. Auf diesen offenkundigen Hochverrat reagierte Reichspräsident
Ebert mit der Verhängung des Ausnahmezustandes über ganz Deutschland. Er übertrug die
vollziehende Gewalt auf Reichswehrminister Geßler; de facto lag sie beim Chef der Heeresleitung,
General von Seeckt.
Der mit diktatorischen Vollmachten ausgestattete Kahr bildete mit dem bayerischen
Wehrkreiskommandeur, General Otto von Lossow, und dem Chef der bayerischen Landespolizei,
Oberst Hans von Seißer, eine Art "Triumvirat" (Drei-Männer-Bündnis). In den folgenden Wochen wurde
in Bayern unter anderem das Republikschutzgesetz außer Kraft gesetzt, linke Organisationen und
Zeitungen verboten und mehrere hundert jüdische Familien, die vor Jahrzehnten aus Osteuropa
eingewandert waren ("Ostjuden"), aus Bayern ausgewiesen. Das Triumvirat zielte auf eine reichsweite
Diktatur mit Hilfe eines "Marsches auf Berlin" (nach dem Vorbild des "Marsches auf Rom" der
italienischen Faschisten unter Benito Mussolini am 28. Oktober 1922); es hoffte dabei auf die
Unterstützung des Chefs der Heeresleitung. Seeckt hegte zwar Sympathien für die neuen Münchner
Machthaber und verhinderte eine Reichsexekution gegen das Land Bayern, getreu seiner Devise,
Reichswehr schieße nicht auf Reichswehr. Mehr aber unternahm er nicht, sondern hielt sich geschickt
im Hintergrund.
Kommunistische Umsturzversuche
Ende August 1923 beurteilte das Politbüro der KPdSU die krisenhafte Entwicklung in Deutschland als
revolutionäre Situation und beschloss, eine "Oktoberrevolution" der KPD (nach dem Vorbild Russlands
von 1917) mit allen Mitteln zu unterstützen. Es gab sogar Vorbereitungen für eine groß angelegte
militärische Intervention. Denn im Falle einer deutschen Revolution mit sowjetischer Hilfe erwartete
man einen Krieg zuerst mit dem Durchmarschland Polen, danach mit Frankreich, England und den
baltischen Ländern. Nach einem Sieg der KPD würde das hoch industrialisierte "Sowjetdeutschland
", so kalkulierte man in Moskau, den wirtschaftlichen Aufbau der noch überwiegend agrarischen
Sowjetunion unterstützen.
Im September begann die KPD mit der konkreten Vorbereitung revolutionärer Aktionen, die sie am 9.
November, dem symbolträchtigen Jahrestag der Revolution von 1918/19, auslösen wollte. Moskau
half mit Geld und Militärexperten bei der Aufstellung "Proletarischer Hundertschaften" (ca.
50.000-60.000 Mann, darunter auch Sozialdemokraten). Außerdem nutzte die KPD die Chance, durch
den Eintritt in SPD-geführte Landesregierungen am 10. Oktober in Dresden, am 16. in Weimar in
staatliche Machtpositionen zu gelangen. Von Sachsen und Thüringen sollte der "deutsche Oktober
" seinen Ausgang nehmen. Die zum linken Flügel der SPD zählenden sächsischen und thüringischen
Sozialdemokraten versprachen sich von einer Koalition mit den Kommunisten einerseits die
Überwindung der Feindschaft zwischen den beiden Arbeiterparteien; andererseits wollten sie mit Hilfe
der "Proletarischen Hundertschaften" den aus Bayern befürchteten "Marsch auf Berlin" stoppen. Die
revolutionären Absichten der KPD nahmen sie nicht wahr.
Anders als in Bayern handelte es sich in Sachsen und Thüringen um legitime parlamentarische
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Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
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Mehrheitsregierungen. Jedoch verstießen die "Proletarischen Hundertschaften" gegen den Versailler
Vertrag. Außerdem hielten Ebert und Stresemann Kommunisten in Staatsämtern für untragbar. Der
Reichspräsident ordnete daher am 29. Oktober 1923 gegen Sachsen, am 6. November gegen
Thüringen die Reichsexekution an. Reichswehrtruppen marschierten nach Dresden und Weimar; es
gab mehrere Dutzend Tote und Verletzte. Die "Proletarischen Hundertschaften" wurden aufgelöst, die
kommunistischen Minister entlassen (Sachsen), oder sie traten zurück (Thüringen).
Der "deutsche Oktober" war allerdings schon kurz vor den Reichsexekutionen wieder abgeblasen
worden. Anders als bei früheren Aufständen scheute die KPD diesmal das Risiko, mit einer isoliert
bleibenden Aktion zu scheitern. Daher versammelte sie am 21. Oktober in Chemnitz 450
Arbeiterdelegierte – Kommunisten, Gewerkschafter und einige Sozialdemokraten, hauptsächlich aus
Sachsen und Thüringen. Die Konferenzteilnehmer lehnten revolutionäre Aktionen mehrheitlich ab.
Trotzdem kam es noch zu einem Aufstand in Hamburg am 23. Oktober: Bewaffnete kommunistische
Trupps – rund 300 Mann – überfielen wie geplant 17 Polizeistationen und besetzten öffentliche
Gebäude. Die Hintergründe sind ungeklärt; entweder wollte die aktionistische Hamburger KPD-Leitung
die vorsichtigere Parteiführung in Berlin doch noch zum Losschlagen zwingen, oder sie wurde von
ihren Delegierten, die in Chemnitz erst nach der Konferenz eintrafen, irrtümlich falsch informiert. Die
Polizei schlug den Aufstand binnen weniger Tage nieder; 24 Kommunisten und 17 Polizisten kamen
bei den Kämpfen ums Leben.
Hitlerputsch
Im Laufe des Jahres 1923 konnte die NSDAP von der krisenhaften Entwicklung stark profitieren. Ihre
Mitgliederzahl stieg sprunghaft auf 55000; sie hatte sich in Bayern zur aktivsten rechtsradikalen Kraft
entwickelt. Die SA gehörte zum "Deutschen Kampfbund", einem Zusammenschluss der drei radikalsten
(von Reichswehroffizieren ausgebildeten) Wehrverbände, der von Hitler und Ludendorff – inzwischen
die Galionsfigur des deutschvölkischen Lagers – geleitet wurde. Hitler verkehrte in den besten
Münchner Kreisen und galt in Bayern vielen bereits als "deutscher Mussolini", dem ein "Marsch auf
Berlin" gelingen konnte.
Hitler beschloss, die Initiative an sich zu reißen und am 9. November – für die Rechtsradikalen ein
Symbol der "nationalen Schmach" – den gegenrevolutionären Umsturz zu wagen. Vorher wollte er
Kahr, Lossow und Seißer, die am Abend des 8. November im Münchner Bürgerbräukeller eine politische
Versammlung abhielten, überrumpeln und mitreißen. Die SA umstellte das Lokal. Hitler ließ den Saal
mit einem Maschinengewehr in Schach halten und verschaffte sich mit einem Pistolenschuss in die
Decke Gehör. Er proklamierte die "nationale Revolution", erklärte die bayerische und die
Reichsregierung für abgesetzt und kündigte die Bildung einer "nationalen Regierung" an. Anschließend
beschworen in einem Nebenraum der NSDAP-Führer und der erst jetzt herbeigeholte Ludendorff das
Triumvirat, den "Marsch auf Berlin" mitzuorganisieren und in eine Regierung Hitler einzutreten –
scheinbar erfolgreich. Das Publikum bejubelte die Einigung; die SA nahm sicherheitshalber im Saal
noch einige prominente Geiseln; dann löste sich die Versammlung auf.
Noch in der Nacht trafen Kahr, Lossow und Seißer Maßnahmen zur Unterdrückung des Putsches. Am
Morgen des 9. November musste Hitler erkennen, dass sein Umsturzversuch isoliert bleiben würde.
Daran konnte auch ein eilig improvisierter Demonstrationsmarsch des "Deutschen Kampfbundes" um
die Mittagszeit nichts mehr ändern. An der Feldherrnhalle stieß der von Hitler und Ludendorff angeführte
Zug von mehreren tausend Personen auf eine Absperrung der bayerischen Landespolizei. Es kam zu
einem Handgemenge und zu einem kurzen Feuergefecht, bei dem 14 Demonstranten und drei
Polizisten starben. Die Menge stob auseinander; Hitler floh zu einem Freund und wurde dort einige
Tage später verhaftet. Der dilettantische Frühstart der NSDAP machte alle Pläne für einen "Marsch
auf Berlin" zunichte.
Der anschließende Hochverratsprozess gegen Hitler, Ludendorff und andere geriet zu einer Farce.
Die Angeklagten – in den Augen der Richter Männer von "rein vaterländischem Geist" und "edelstem
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Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
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selbstlosen Willen" – durften Propagandareden gegen die Republik und ihre Politiker halten; der
Ankläger agierte eher wie ein Verteidiger. Am 1. April 1924 erhielten Hitler und drei weitere Angeklagte
lediglich fünf Jahre (ehrenvolle) Festungshaft mit der Aussicht auf Begnadigung nach sechs Monaten;
die übrigen kamen mit noch geringeren Strafen davon. Ludendorff wurde sogar freigesprochen. Das
Gericht lehnte es ausdrücklich ab, auf "einen Mann, der so deutsch denkt und fühlt wie Hitler", die
Bestimmungen des Republikschutzgesetzes anzuwenden und ihn als wegen Hochverrats verurteilten
Ausländer nach Österreich abzuschieben.
Separatistenbewegungen
Seit Ende September 1923 verstärkten separatistische Bewegungen im preußischen Rheinland, in
der bayerischen Pfalz und in Rheinhessen mit Unterstützung der französischen und belgischen
Besatzungsmacht ihre Bestrebungen, diese Gebiete in selbstständige, eng mit Frankreich und Belgien
zusammenarbeitende Territorien zu verwandeln. Poincaré – seit 1922 französischer Ministerpräsident –
sah die Chance zur Schaffung eines unabhängigen rheinischen Staates und damit zur Abtrennung
des Ruhrgebietes vom Deutschen Reich. Die Separatisten versprachen sich wirtschaftliche und
politische Vorteile für die ausgegliederten Regionen. Am 21. Oktober riefen sie eine "Rheinische
Republik" aus, am 12. November eine "Autonome Pfalz". In Aachen, Koblenz, Bonn, Wiesbaden, Trier
und Mainz stürmten sie die Rathäuser. Die Reichsregierung war machtlos, da sie keine Truppen in die
entmilitarisierte Zone schicken durfte. Die separatistischen Bewegungen, denen sich auch kriminelle
Elemente anschlossen, scheiterten jedoch innerhalb weniger Monate einerseits am energischen
Widerstand der Bevölkerung. Andererseits lehnten Großbritannien und die USA eine Loslösung des
Ruhrgebietes von Deutschland wegen der unabsehbaren internationalen wirtschaftlichen und
politischen Risiken ab. Im Februar 1924 ließ Poincaré die separatistischen Bewegungen fallen und
besiegelte damit ihr Ende.
Sturz der Regierung
In der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion herrschte Empörung darüber, dass die (aufs Ganze
gesehen erfolgreiche) Regierung Stresemann gegen die Rechtsdiktatur des Triumvirates in Bayern
praktisch nichts unternahm, gegen die SPD-KPD-Regierungen in Sachsen und Thüringen dagegen
die Reichswehr einsetzte. Am 2. November 1923 schieden die SPD-Minister aus der Reichsregierung
aus. Als der Kanzler am 23. November bei der Abstimmung über die Vertrauensfrage eine Niederlage
erlitt, trat er zurück. Neuer Regierungschef einer bürgerlichen Minderheitsregierung (DDP, Zentrum/
BVP, DVP), der Stresemann als Außenminister angehörte, wurde der Zentrumsführer Wilhelm Marx.
Das Jahr 1923 markierte den Höhepunkt der krisenhaften Nachkriegsentwicklung in Deutschland. Die
Hauptkrisen dieses Jahres waren die Ruhrbesetzung und die durch den passiven Widerstand
verstärkte Währungszerrüttung. Sie wurden durch vernünftiges politisches Handeln gelöst: Frankreich
blieb mit seiner überharten Deutschlandpolitik im Kreise der Siegermächte isoliert und musste
schließlich einlenken. Die nach dem unvermeidlichen Abbruch des passiven Widerstandes
durchgeführte Währungsreform, die Sozialdemokraten wie Deutschnationale mittrugen, wurde rasch
zum Erfolg.
Bei den übrigen Gefahren handelte es sich um gezielt ausgelöste Nebenkrisen, die mehr oder weniger
aus denselben Gründen scheiterten: Der "deutsche Oktober" musste bereits in Sachsen und Thüringen
vorzeitig abgebrochen werden, der "Marsch auf Berlin" gelangte nicht einmal über München hinaus,
und der rheinische Separatismus brach kläglich zusammen, nicht nur weil die Akteure dilettantisch
vorgingen, sondern vor allem, weil eine "Diktatur des Proletariats" nach sowjetischem Muster, ein "
Führerstaat" nach italienischem Vorbild oder eine Zerstörung der Reichseinheit jeweils nur einer kleinen
Minderheit der Bevölkerung als erstrebenswert galt. Deshalb erreichten die Nachkriegskrisen 1923
mit ihrem Gipfel zugleich auch ihr Ende.
Aus:
bpb.de
Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
Informationen zur politischen Bildung (Heft 261) - Kampf um die Republik 1919-1923 (2011)
bpb.de
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Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
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Zwischen Festigung und Gefährdung 1924-1929
Von Reinhard Sturm
23.12.2011
geboren 1950, studierte von 1971 bis 1978 Geschichte, Politikwissenschaft und Anglistik an der Georg-August-Universität Göttingen.
1973/74 war er ein Jahr als German Assistant an einer Schule in England tätig. Nach dem Vorbereitungsdienst 1978 bis 1980 in
Salzgitter arbeitete er als Gymnasiallehrer bis 1990 in Göttingen, seither in Hildesheim. Seit 1990 bildet er als Studiendirektor und
Fachleiter für Geschichte am Studienseminar Hildesheim für das Lehramt an Gymnasien angehende Geschichtslehrer/innen aus.
Er hat wissenschaftliche und didaktische Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung, zur Weimarer Republik, zum
Nationalsozialismus und zur deutschen Nachkriegsgeschichte sowie zur Geschichtsdidaktik veröffentlicht.
Kontakt: »[email protected]«
Nach den ersten Krisenjahren der Republik zeichnete sich ab 1924 mit Erfolgen der Außen- und
Innenpolitik eine Wende zum Guten ab. Die Weimarer Republik schien sich konsolidiert zu
haben; Produktion, Konsum und Volkseinkommen nahmen in den Jahren 1924 bis 1929 stetig
zu.
Einleitung
Im Laufe des Jahres 1924 mehrten sich die Anzeichen für eine Stabilisierung der Weimarer Republik.
Tatsächlich war das folgende Jahrfünft durch außen- und reparationspolitische Erfolge, wirtschaftlichen
Aufschwung sowie gesellschafts- und sozialpolitische Fortschritte gekennzeichnet. Vor diesem
Hintergrund beruhigte sich die innenpolitische Lage, während Kunst und Kultur eine Blütezeit erlebten.
Diese erfreuliche Gesamtentwicklung wurde jedoch immer wieder durch gegenläufige Tendenzen
infrage gestellt.
Außenpolitische Erfolge
Eine erste Entspannung in der Reparationsfrage brachte der von der alliierten Reparationskommission
und Deutschland angenommene "Dawes-Plan". Seine wichtigsten, von dem US-Bankier Charles
Dawes entwickelten Grundsätze lauteten:
•
Die deutsche Wirtschaft sollte sich erholen, um die Reparationsleistungen an die Gläubiger zu
gewährleisten – nur so konnten diese ihre Kriegsschulden an die USA zurückzahlen. Politisch
motivierte Sanktionen wie die Ruhrbesetzung sollte es nicht mehr geben.
•
Die jährliche Belastung sollte 1924 eine Milliarde Reichsmark (RM) betragen und bis September
1928 auf die "Normalrate" von 2,5 Milliarden RM ansteigen. Besaß Deutschland nicht genügend
Devisen für die Umwandlung der Jahresrate in die Währungen der Empfängerländer, durfte die
Zahlung niedriger ausfallen ("Transferschutz"). Als Starthilfe wurde ein US-Kredit über 800
Millionen RM gewährt, sodass von der ersten Jahressumme nur 200 Millionen RM aus Eigenmitteln
aufgebracht werden mussten.
•
Ein alliierter Reparationsagent mit Sitz in Berlin, der US-Finanzexperte Parker Gilbert, übernahm
die Organisation der Reparationszahlungen.
Zeitliche Begrenzung und endgültige Höhe der Reparationen blieben weiterhin offen; dennoch waren
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Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
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die neuen Bedingungen wesentlich günstiger als die des Londoner Ultimatums vom Mai 1921. Am 1.
September 1924 trat der Dawes-Plan in Kraft; die Ruhrbesetzung wurde bis September 1925 wieder
aufgehoben.
Verträge von Locarno
Im Zuge der durch den Dawes-Plan bewirkten Verbesserung des politischen Klimas tagten vom 5. bis
16. Oktober 1925 in dem schweizerischen Kurort Locarno die Regierungschefs und Außenminister
Deutschlands, Großbritanniens, Frankreichs, Belgiens, Italiens, Polens und der Tschechoslowakei,
um Abkommen zur Stabilisierung des Friedens in Europa zu schließen – Voraussetzung für weitere
amerikanische Kredite. In einem "Garantiepakt" erklärten Deutschland, Frankreich und Belgien sowie
England und Italien (als Garantiemächte) die deutsche Westgrenze für "unverletzlich". Dafür war das
Reich künftig gegen territoriale Sanktionen geschützt. Die Locarno-Verträge waren weitgehend das
Werk der Außenminister Deutschlands und Frankreichs, Gustav Stresemann und Aristide Briand; sie
wurden dafür am 10. Dezember 1926 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet.
Freilich war Stresemann – wie andere europäische Staatsmänner seiner Zeit auch – stets beides: "
ein kühl kalkulierender Realpolitiker und ein nationaler Machtpolitiker" (Eberhard Kolb). Zwar
verpflichtete sich das Reich in Schiedsverträgen mit Polen und der Tschechoslowakei zum Verzicht
auf gewaltsame Grenzveränderungen, aber eine Grenzgarantie wie im Westen lehnte Stresemann
ausdrücklich ab. Ein "Ostlocarno" hätte seine Strategie gefährdet, Deutschland schrittweise wieder
zur Großmacht werden zu lassen und zu gegebener Zeit Polen durch wirtschaftlichen Druck zu
Grenzverhandlungen zu bewegen.
Locarno brachte eine spürbare Verbesserung der deutschen Position in der internationalen Politik.
Greifbarstes Ergebnis war, neben dem Abzug der britischen Besatzungstruppen aus der Kölner Zone
bis Januar 1926, die Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund (mit ständigem Ratssitz) am 10.
September 1926. Dennoch verweigerten Nationalkonservative und Rechtsradikale ebenso wie die
radikale Linke ihre Zustimmung zu den Locarno-Verträgen. Wetterten DNVP und NSDAP gegen die
Preisgabe deutscher Gebiete im Westen, so befürchtete die KPD die Einbeziehung Deutschlands in
eine gemeinsame Front der kapitalistischen Länder gegen die Sowjetunion. Nach dem Austritt der
DNVP aus der im Januar 1925 gebildeten "Bürgerblock"-Regierung Luther (Amtszeit: Januar 1925Mai 1926) konnten die Locarno-Verträge nur mit Hilfe der oppositionellen SPD ratifiziert werden.
Als Ergänzung bzw. Gegengewicht zum Locarno-Pakt schloss Deutschland mit der Sowjetunion am
24. April 1926 den "Berliner Vertrag" über gegenseitige Neutralität im Falle eines Krieges mit dritten
Staaten. Demzufolge durften bei einem russisch-polnischen Krieg französische Truppen Polen nicht
über deutsches Territorium zu Hilfe kommen.
Stresemanns außenpolitische Ziele
Vertraulicher Brief Stresemanns an Kronprinz Wilhelm vom 7. September 1925 (1932 bekannt
geworden).
[...] Die deutsche Außenpolitik hat nach meiner Auffassung für die nächste absehbare Zeit drei große
Aufgaben: Einmal die Lösung der Reparationsfrage in einem für Deutschland erträglichen Sinne und
die Sicherung des Friedens, die die Voraussetzung für eine Wiedererstarkung Deutschlands ist.
Zweitens rechne ich dazu den Schutz der Auslandsdeutschen, jener 10-12 Millionen
Stammesgenossen, die jetzt unter fremdem Joch in fremden Ländern leben.
Die dritte große Aufgabe ist die Korrektur der Ostgrenzen: die Wiedergewinnung von Danzig, vom
polnischen Korridor und eine Korrektur der Grenze in Oberschlesien.
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Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
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Im Hintergrund steht der Anschluss von Deutsch-Österreich [...]. Wollen wir diese Ziele erreichen, so
müssen wir uns aber auch auf diese Aufgaben konzentrieren. Daher der Sicherheitspakt, der uns
einmal den Frieden garantieren und England sowie, wenn Mussolini mitmacht, Italien als Garanten
der deutschen Westgrenze festlegen soll. Der Sicherheitspakt birgt andererseits in sich den Verzicht
auf [...] Rückgewinnung Elsass-Lothringens, [...] der aber insoweit nur theoretischen Charakter hat,
als keine Möglichkeit eines Krieges gegen Frankreich besteht. [...] Zudem sind alle Fragen, die dem
deutschen Volk auf dem Herzen brennen, [...] Angelegenheiten des Völkerbundes [...].
Die Frage des Optierens zwischen Osten und Westen erfolgt durch unseren Eintritt in den Völkerbund
nicht. [...] Ich warne vor einer Utopie, mit dem Bolschewismus zu kokettieren.
[...] Das Wichtigste ist [...] das Freiwerden deutschen Landes von fremder Besatzung. Wir müssen
den Würger erst vom Halse haben. [...] Deshalb wird die deutsche Politik [...] in dieser Beziehung
zunächst darin bestehen müssen, zu finassieren (Tricks anzuwenden – Anm. der Red.) und den großen
Entscheidungen auszuweichen.
Ich bitte E. K. H. (Eure Kaiserliche Hoheit – Anm. d. Red.), [...] diesen Brief selbst – den ich absichtlich
nicht unterzeichne, damit er nicht, auch nur aus Versehen, in fremde Hände fällt – freundlichst unter
dem Gesichtspunkt würdigen zu wollen, dass ich mir natürlich in allen meinen Äußerungen eine große
Zurückhaltung auferlegen muss. [...]
Gustav Stresemann, Vermächtnis, Bd. II, hg. von Henry Bernhard, Ullstein, Berlin 1932, S. 553 ff.
Young-Plan
Auf der Basis des Dawes-Plans und der Locarno-Verträge kam es in den folgenden Jahren zu weiteren
Verbesserungen des deutsch-französischen Verhältnisses, insbesondere der Handelsbeziehungen.
Auch nahm das internationale Ansehen Deutschlands nach seinem Eintritt in den Völkerbund zu. Der "
Briand-Kellogg-Pakt" – benannt nach den Außenministern Frankreichs und der USA – vom 27. August
1928 war auch Stresemanns Werk. Bis Ende 1929 traten bereits 54 Staaten diesem Abkommen zur
Kriegsächtung bei.
Als sich Ende 1928 abzeichnete, dass die Umstellung der jährlichen Reparationszahlungen auf die "
Normalrate" von 2,5 Milliarden RM die deutsche Zahlungsfähigkeit überforderte, drängte die seit Ende
Juni amtierende Regierung der Großen Koalition unter Reichskanzler Hermann Müller (SPD) auf eine
endgültige Regelung der Reparationsfrage zu erträglichen Bedingungen. Nach langen und schwierigen
Verhandlungen legte der US-Wirtschaftsexperte Owen D. Young einen Plan vor, der folgende
Neuerungen enthielt:
•
Die Begrenzung der Reparationsleistungen auf 112 Milliarden RM, zahlbar innerhalb von 59 Jahren
(das heißt bis 1988).
•
Die Herabsetzung der Jahresraten: Sie sollten in den ersten 37 Jahren allmählich von 1,7 auf 2,1
Milliarden RM ansteigen und danach den jährlichen Kriegsschulden-Rückzahlungen der Alliierten
an die USA angepasst werden. Grundsätzlich waren jährlich 600 Millionen RM in Devisen zu
zahlen – das heißt ohne "Transferschutz".
•
Die Abwicklung der Zahlungen in souveräner deutscher Verantwortung über eine "Bank für
internationalen Zahlungsausgleich" in Basel. Die alliierte Reparationskommission und der
Reparationsagent stellten ihre Tätigkeit ein.
bpb.de
Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
•
51
Die vorzeitige Räumung des Rheinlandes durch die Alliierten bis zum 30. Juni 1930 (statt 1935) –
ein außenpolitischer Triumph, den Stresemann nicht mehr erlebte.
Mochte die Aussicht auf Reparationszahlungen bis 1988 zunächst erschrecken, so konnte doch kein
Zweifel daran bestehen, dass der "Young-Plan" gegenüber allen bisherigen Regelungen eine weitere
deutliche Verbesserung darstellte.
Wirtschaftsentwicklung
Währungsreform, Dawes-Plan und ausländische Kredite bewirkten einen beträchtlichen
Wirtschaftsaufschwung. Produktion, Konsum und Volkseinkommen nahmen zwischen 1924 und 1929
stetig zu. Schwerindustrie (Bergbau, Eisen- und Stahlerzeugung), Maschinenbau und Textilindustrie,
vor allem aber elektrotechnische, chemische und optische Industrie sowie neue Industriezweige wie
Automobil- und Flugzeugbau, Messing-, Aluminium- und Kunstseideherstellung, Film und Rundfunk
konnten ihre Produktion erheblich steigern. Technische Großprojekte wie das Luftschiff "Graf Zeppelin
" oder das Verkehrsflugzeug "Dornier DO X" demonstrierten die Leistungsfähigkeit der deutschen
Industrie.
Bereits 1926 übertraf der Warenexport den von 1913. Da der Aufschwung den Verteilungsspielraum
erweiterte, kam er auch Arbeitern, Angestellten und Beamten zugute. Dabei half die 1923 eingeführte,
arbeitnehmerfreundlich gehandhabte staatliche Zwangsschlichtung als letzte Instanz bei
Tarifkonflikten. 1928/29 erreichten Industrieproduktion und Löhne insgesamt wieder das
Vorkriegsniveau – bei deutlich verringerter Wochenarbeitszeit. Der Reichshaushalt war, trotz der
Reparationsbelastungen, stets annähernd ausgeglichen.
Konzentrationsbewegung
Die Ursache der bald nach dem Kriegsende in der deutschen Eisenindustrie einsetzenden
Konzentrationsbewegung war Rohstoffmangel. Durch den Versailler Vertrag wurde mit einem
Federstrich eine Strukturänderung geschaffen, die der deutschen eisenschaffenden Industrie mit einem
Schlage ein anderes Gepräge gab: Die Verbindung der rheinisch-westfälischen Werke mit den
lothringischen Betrieben, die in dem gegenseitigen Austausch von Ruhrkohle und Koks gegen
lothringische Erze und Walzwerksprodukte zum Ausdruck kam, wurde aufgehoben; in Oberschlesien
erstreckten sich die Zerstörungen durch die neuen Grenzziehungen sogar auf das Betriebsverhältnis
der Werke, die in ihrer technischen Einheit auseinandergerissen wurden. [...]
Es mussten also neue Querverbindungen nach der Rohstoffseite wie nach der Seite der
weiterverarbeitenden Industrie geschaffen werden. [...] Auch die Verarbeitungs- und
Verfeinerungsindustrie, häufig sogar die Fertigungsindustrie, wurden in die Zusammenschlussbewegung
einbezogen. Das größte Beispiel dieser vertikalen Konzernbildung ist die unter Führung von Hugo
Stinnes erfolgte Gründung des Elektromontankonzerns, der Rhein-Elbe-Siemens-Schuckert-Union.
Unter dem Druck der Rohstoffknappheit wurde der –in seinen Anfängen bis in die Vorkriegszeit
zurückreichende – Typus des "gemischten Betriebes" in der Eisenindustrie vorherrschend. [...]
Während in den ersten Nachkriegsjahren Rohstoffsicherung die maßgebende Rolle bei der
Konzernbildung gespielt hatte, war jetzt Rohstoff reichlich vorhanden. Der immer drückender werdende
Absatzmangel forderte gebieterisch eine Verringerung der Gestehungskosten, um dem Weltmarkt
gegenüber konkurrenzfähig zu werden; [...]. Die mit größter Energie aufgenommene technische
Rationalisierung der einzelnen Betriebe erwies sich als nicht ausreichend [...]; aber auch der gewaltige
Kapitalbedarf, der durch die technische Umstellung der Betriebe hervorgerufen wurde, zwang zu einer
Verstärkung der Betriebsgrundlagen durch Zusammenfassung gleichartiger Produktionseinheiten, zu
horizontalen Zusammenschlüssen im Wege der Fusion. [...]
bpb.de
Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
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Die Angliederung gleichartiger Produktionsstätten gab den Großkonzernen die Möglichkeit, die
Erzeugung auf die günstigst gelegenen und bestgeeigneten Betriebe zusammenzulegen und dafür
weniger aussichtsreiche Betriebe durch Stilllegung aus dem Produktionsprozess auszuschalten. [...]
Wirtschaftsdienst, Heft 41 vom 10. Oktober 1930, S. 1746-1752 in: Werner Abelshauser/Anselm Faust/
Dietmar Petzina (Hg.), Deutsche Sozialgeschichte 1914-1945, C. H. Beck, München 1985, S. 25 ff.
Krisenanfälliger Aufschwung
Gleichwohl blieben die Wachstumsraten der Industrieproduktion und des Außenhandels hinter denen
anderer Industrieländer zurück. Außerdem gab es eine Reihe bedenklicher Trends:
•
Das Wirtschaftswachstum war ungleichmäßig verteilt; zum Beispiel konnte die Schwerindustrie
mit der Chemie- und Elektroindustrie nicht Schritt halten.
•
Die Wirtschaftskonzentration nahm weiter zu. Bereits 1926 entfielen auf 16 Prozent der
Aktiengesellschaften 66 Prozent des Aktienkapitals. Im Bergbau und in der Stahlindustrie
dominierten Konzerne. 1925 entstand der weltgrößte Chemiekonzern ("I. G. Farbenindustrie AG
"), 1926 der größte europäische Montankonzern ("Vereinigte Stahlwerke"). Monopolpreise für
Rohstoffe und Halbfabrikate machten der verarbeitenden Industrie zu schaffen.
•
Wettbewerbsbedingte Rationalisierungen wie die Einführung der Fließbandarbeit nach dem
Vorbild der Ford-Werke in den USA gefährdeten immer mehr Arbeitsplätze von Arbeitern und
zunehmend auch von kleinen und mittleren Angestellten. Schon vor der Weltwirtschaftskrise lag
die Zahl der Arbeitslosen durchschnittlich bei 1,4 Millionen (circa 6,5 Prozent).
•
Die Landwirtschaft arbeitete vielfach unrentabel und war nach ihrer inflationsbedingten
Entschuldung bald wieder verschuldet. Das galt sowohl für die Kleinbauern in Mittel-, Südwestund Süddeutschland als auch besonders für die ostelbischen Großagrarier. Ab 1927 befand sich
die Landwirtschaft infolge einer weltweiten Überproduktion, die mit einem anhaltenden Verfall der
Erzeugerpreise (besonders für Schweine und Roggen) einherging, in einer Dauerkrise.
•
Die Auslandsverschuldung (vor allem bei den USA) erreichte 1929 einen Gesamtumfang von 25
Milliarden RM; die kurzfristige Verschuldung betrug 12 Milliarden RM. Ein Abzug der kurzfristigen,
von den deutschen Banken aber oft langfristig weitervergebenen Auslandskredite konnte
verheerende Folgen haben.
•
Die expansive Kreditpolitik der Großbanken und ihre oft riskanten Spekulationen mit Wertpapieren
waren nicht ausreichend durch Eigenkapital und liquide Mittel abgesichert, denn private Haushalte
und Unternehmen verspürten nach der Inflationserfahrung von 1923 wenig Neigung zum Sparen
bzw. zur Kapitalbildung.
•
Die Zentralbank (Reichsbank) konnte damals nur mittels Diskontpolitik (Verteuerung bzw.
Verbilligung der Kredite, die sie den Privatbanken gewährte) das Wirtschaftsgeschehen
beeinflussen. Über die Mindestreservenpolitik (Erhöhung bzw. Senkung der Geldschöpfung und
Kreditgewährung der Geschäftsbanken) sowie die Offenmarktpolitik (An- und Verkauf von
Wertpapieren zur Beeinflussung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage) verfügte sie noch nicht.
•
Das Finanzgebaren der öffentlichen Hände gab Anlass zur Sorge. Von 1926 bis 1929 stiegen die
jährlichen Ausgaben von Reich, Ländern und Gemeinden zusammen von 17,9 auf 24,3 Milliarden
RM. Die Kommunen finanzierten bis zu zwei Drittel ihrer Infrastrukturmaßnahmen unsolide mit
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Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
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Hilfe der Auslandsanleihen.
Demnach fand eine fundamentale wirtschaftliche Stabilisierung in den Jahren 1924 bis 1929 nicht
statt; der Wirtschaftsaufschwung wurde mit einer erheblichen "hausgemachten" Krisenanfälligkeit
erkauft.
Gesellschaft im Wandel
Nach den Einschnitten durch Kriegseinwirkungen und Gebietsverluste erhöhte sich die
Bevölkerungszahl im Deutschen Reich zwischen 1925 und 1933 um etwa 2,8 Millionen, sodass sie
am Ende wieder den Vorkriegsstand von rund 65 Millionen erreichte. Davon waren knapp zwei Drittel
Protestanten und annähernd ein Drittel Katholiken; der Anteil der Juden sank von 0,9 auf 0,8 Prozent.
Im selben Zeitraum hielten die für hochindustrialisierte Gesellschaften typische Landflucht und
Verstädterung weiter an. Der Bevölkerungsanteil der Gemeinden mit weniger als 2.000 Einwohnern
nahm von 35,6 auf 32,9 Prozent ab, während der der Großstädte (über 100.000 Einwohner) von 26,8
auf 30,4 Prozent anstieg. Parallel dazu vollzog sich ein Rückgang der Erwerbspersonen in der
Landwirtschaft von 30,5 auf 28,9 Prozent, in Industrie und Handwerk von 42,1 auf 40,4 Prozent,
während der Dienstleistungsbereich von 27,4 auf 30,7 Prozent zunahm.
Die Weimarer Republik erbte vom Kaiserreich eine hochdifferenzierte, hierarchisch gegliederte
Industriegesellschaft mit ausgeprägten schicht-, geschlechts- und generationsspezifischen Strukturen
sozialer Ungleichheit hinsichtlich Einkommens- und Vermögensverteilung, Berufsbedingungen und
familiären Lebensverhältnissen. In manchen Bereichen vollzog sich jedoch in den 1920er Jahren ein
beträchtlicher Wandel.
Oberschichten
Zur alten Oberschicht gehörten adlige und bürgerliche Großagrarier, Wirtschaftsbürgertum (darunter
immer mehr angestellte "Manager" von Aktiengesellschaften), Bildungsbürgertum, (überwiegend
adliges) höheres Beamtentum und Offizierskorps. Sie hatte durch die Revolution von 1918/19 ihren
unmittelbaren Zugang zur politischen Macht weitgehend verloren. Unter dem aus ihren Reihen
stammenden Reichspräsidenten, dem Generalfeldmarschall a. D. Paul von Hindenburg, gewann sie
ihn nach 1925 allmählich zurück. Mit dem großagrarischen "Reichslandbund" und dem
schwerindustriell dominierten "Reichsverband der deutschen Industrie" (RDI) verfügte sie über die
beiden mächtigsten Interessenverbände. Politisch wurde der protestantische Teil der alten Oberschicht
hauptsächlich durch DNVP, DVP und (in geringerem Maße) DDP vertreten; der katholische Teil
orientierte sich am Zentrum.
Neben die traditionelle Elite schob sich eine durch die breite Einführung der parlamentarischen
Demokratie erzeugte "neue politische Oberschicht" (Hagen Schulze): Regierungsmitglieder und
Parlamentarier, von denen rund drei Viertel aus sozialen Aufsteigern vor allem aus den Mittel- und
Unterschichten bestanden – einer der Gründe für die Verachtung, die die alte Oberschicht dem
Parlamentarismus entgegenbrachte. Das bekannteste Beispiel ist Reichspräsident Friedrich Ebert,
ein gelernter Sattler, der sich bis zum Staatsoberhaupt hocharbeitete. Vor allem aus den Reihen von
SPD, DDP und Zentrum kam die neue politische Oberschicht.
Mittelschichten
Die Mittelschichten umfassten zum einen den "alten Mittelstand": selbstständige Handwerker und
Einzelhändler, kleine und mittlere Unternehmer, freie (akademische) Berufe und Bauern, nebst ihren
mithelfenden Familienangehörigen – überwiegend Kleinbetriebe mit weniger als fünf Beschäftigten.
Die eigentumsorientierten, statusbewussten selbstständigen Mittelständler fühlten sich stets zwischen
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Kapital und Arbeit eingeklemmt, weil sie im Wettbewerb mit Großunternehmen standen und sich
gleichzeitig von den Lohnforderungen der Gewerkschaften bedrängt sahen. Der Verlust ihrer
Ersparnisse durch die Inflation 1923 bedeutete für sie eine kollektive traumatische Erfahrung, die mehr
noch als Versailler Vertrag und Dolchstoßlegende ihr Vertrauen in den demokratischen Staat untergrub.
Zum anderen hatte sich bereits im Kaiserreich ein "neuer Mittelstand" – mittlere und kleine Angestellte
und Beamte – herausgebildet, der aufgrund der allgemeinen Bürokratisierungstendenz in Wirtschaft,
Gesellschaft und Staat zunahm. Die Berufssituation der Angestellten näherte sich im Gefolge der
Rationalisierungswelle in der deutschen Industrie in den 1920er Jahren hinsichtlich der
Arbeitsbedingungen (Großraumbüros) und der Arbeitsplatzsicherheit (wachsende Arbeitslosigkeit,
besonders bei älteren Angestellten) derjenigen der Arbeiter immer stärker an. Umso verbissener jedoch
grenzten sich die Angestellten von den Arbeitern ab, unter anderem durch eigene Versicherungen und
durch Verbände, deren politisches Spektrum vom SPD-nahen AfA-Bund ("Arbeitsgemeinschaft freier
Angestelltenverbände") bis zum "Deutschnationalen Handlungsgehilfenverband" (DNHV) reichte. Ihr
eher an den Arbeitgebern als an der Arbeiterschaft orientiertes berufsständisches Sonderbewusstsein
war in Deutschland ausgeprägter als in vergleichbaren Industrieländern.
Charakteristisch für alte und neue Mittelschichten war das breite Spektrum der von ihnen bevorzugten
Parteien. Traditionell bildeten sie den Kern des politischen Liberalismus (auch Katholizismus); man
wählte aber auch die Deutschnationalen, mittelständisch orientierte Kleinparteien oder regionale
Parteien. Diese politische "Heimatlosigkeit" führte zum allmählichen Niedergang der beiden liberalen
Kernparteien DDP und DVP.
Unterschichten
Zu den Unterschichten zählten Industrie- und Landarbeiter, Handwerksgesellen und Lehrlinge, Knechte
und Mägde, Hausangestellte, Arbeitslose, Rentner und Invaliden. Indus-triearbeiter stellten gut drei
Fünftel dieses Gesellschaftssegments. Katholische Arbeiter standen der Zentrumspartei und ihren
christlichen Gewerkschaften nahe. Die von der Revolution 1918/19 kaum berührten Landarbeiter
blieben eher konservativ orientiert. Die übrigen Unterschichten bildeten das soziale Fundament der
Sozialdemokratie und des Kommunismus. Ältere Arbeiter und Facharbeiter fühlten sich eher der SPD
und dem ihr nahe stehenden "Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund" (ADGB) verbunden,
Jungarbeiter, ungelernte Arbeiter und Arbeitslose eher der KPD. SPD, KPD und Zentrum vermochten
ihre Anhänger in ein dicht geknüpftes Netz aus Parteigliederungen, Selbsthilfeorganisationen, Sportund Freizeitvereinen, Gaststätten, Bildungseinrichtungen und ein eigenes Pressewesen einzubinden.
Sozialwissenschaftler sprechen daher von "sozialmoralischen Milieus" (Rainer M. Lepsius) oder
politischen "Solidargemeinschaften" (Peter Lösche), beim kommunistischen Milieu sogar von einem
abgedichteten "selbstständigen Lager innerhalb der Gesamtgesellschaft" mit einer ausgeprägten "
Lagermentalität" (Oskar Negt/Alexander Kluge).
Frauen
Schicht- bzw. milieuspezifische Unterschiede wurden teilweise von geschlechts- und
generationsspezifischen überlagert. Frauen blieben trotz Artikel 109 WV (staatsbürgerliche Gleichheit)
und 119 WV (eheliche Gleichberechtigung) benachteiligt, da die Gesetzgebung nicht angepasst wurde.
So durften verheiratete Frauen, wie schon im Kaiserreich, nur mit Genehmigung des Ehemannes einen
Beruf ausüben. Die Erwerbstätigkeit einer Frau galt allgemein als Übergangsstadium bis zur Ehe, in
der ihr dann die Hausarbeit und die Kindererziehung zufielen. 1925 waren nur 35,6 Prozent der Frauen
erwerbstätig (Männer 68 Prozent), davon jede Zehnte als Hausgehilfin ohne soziale Sicherung und
mit überlangen Arbeitszeiten. In der Industrie erhielten Hilfs- und Facharbeiterinnen im Durchschnitt
nur zwei Drittel der Männerlöhne; in Krisenzeiten wurden sie stets als erste entlassen.
Über diese traditionelle Rollenvorstellung wies das von der Werbung propagierte Bild der "neuen Frau
" – berufstätig, unabhängig, selbstbewusst, attraktiv, modisch gekleidet – bereits hinaus. Es bezog
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Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
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sich vor allem auf weibliche Angestellte, deren wachsender Anteil an der Angestelltenschaft 1925
bereits 12,6 Prozent betrug. Zwischen 1919 und 1932 stieg auch der Anteil der Studentinnen von
sieben auf 16 Prozent. Leitende Positionen blieben Frauen aber in der Regel verwehrt. Weder die
weiblichen Abgeordneten in den Parlamenten (durchweg weniger als zehn Prozent) noch die
bürgerliche oder proletarische Frauenbewegung erreichten in den zwanziger Jahren nennenswerte
Fortschritte.
Alltag einer Arbeiterin
Unter dem Motto "Mein Arbeitstag – Mein Wochenende" schrieb 1928 das Arbeiterinnensekretariat
des Deutschen Textilarbeiterinnenverbandes einen Literaturwettbewerb aus, der sich an alle
Verbandsmitglieder richtete. Authentisch und überzeugend sollten die Frauen ihren gewöhnlichen
Tagesablauf schildern, für die beste Arbeit standen 30 Mark als Preis bereit. Eine 48-jährige Arbeiterin:
"Durch Arbeitslosigkeit meines Mannes bin ich zu der Erwerbstätigkeit gezwungen. Um nicht in allzu
große Notlage zu geraten, muss ich zum Haushalt meiner Familie, welche aus meinem Mann, drei
Kindern im Alter von 3 bis 13 Jahren und mir besteht, beitragen. Mein Wohnort liegt im Kreise Zeitz,
die Arbeitsstelle ist eine Wollkämmerei, in welcher ich Putzerin bin. Da ich fast eine Stunde Bahnfahrt
habe, stehe ich früh um 4.30 Uhr auf. Der Zug fährt um 5.10 Uhr ab, kommt 5.55 Uhr am Arbeitsort
an. Da unsere Arbeitszeit um 6 Uhr beginnt, muss ich vom Bahnhof zur Fabrik einen Dauerlauf machen,
um zur rechten Zeit zur Stelle zu sein. Dort putze ich bis 14.15 Uhr Krempelmaschinen. Der Zug, mit
welchem ich fahren kann, fährt erst um 17.13 Uhr. Ich muss mich solange auf dem Bahnhof aufhalten
und bin um 18 Uhr zu Hause. Nun gibt es noch daheim zu schaffen. Das Essen fertig zu kochen, für
den nächsten Tag vorzubereiten, bei den Kindern die Sachen nachsehen, ob sie noch ganz und sauber
sind. Wenn man den ganzen Tag nicht da ist, wird noch ein bisschen mehr gebraucht, weil die kleinen
Schäden nicht so beachtet werden können. Am Abend ist man auch von der langen Zeit müde und
abgespannt und die Sachen, Wäsche und Strümpfe, müssen sonntags ausgebessert werden.
Manchmal muss ich noch meinen Schlaf opfern, da ich Partei- und Arbeiterwohlfahrtsversammlungen
besuche und letztere sogar als Vorsitzende leiten muss. Am Sonnabend bin ich um dieselbe Zeit zu
Hause. Da gehe ich erst einmal in den Konsumverein einkaufen, um für die ganze Woche Lebensmittel
zu haben. Alle vier Wochen habe ich große Wäsche für meine Familie allein zu waschen. Am Abend
vorher mache ich dazu alles fertig, um Sonntagmorgen beizeiten anfangen zu können. Sonst beginnt
der Sonntag um 7 Uhr. Da gibt es zu tun mit dem Reinemachen der Wohnung und dem Ausbessern
der Kleidungsstücke. Dabei wird das Mittagessen bereitet. Um 14 Uhr beginnt dann für mich der
Sonntag. Er wird mit dem Besuch einer Arbeiterveranstaltung oder mit einem Spaziergang beendet [...]."
Kristine von Soden, "Frauen und Frauenbewegung in der Weimarer Republik", in: Die wilden Zwanziger.
Weimar und die Welt 1919-33, Espresso, Berlin 1986, S. 112 f.
Jugend
Seit der Jahrhundertwende gab es in der Jugend Ansätze zur Entwicklung von Zusammenschlüssen
mit eigenen Wertvorstellungen und Verhaltensweisen. Die naturverbundene bürgerliche "Wandervogel
"-Bewegung wurde nach dem Krieg weitgehend von der gesellschaftlich orientierten "bündischen
Jugend" abgelöst. In den 1920er Jahren bildeten erwerbslose Heranwachsende aus den
Unterschichten in den Großstädten zuweilen "wilde Cliquen", die ihren Protest gegen Armut und
Zukunftsunsicherheit "krass materialistisch und nicht selten jenseits der Legalität" (Heinrich August
Winkler) auslebten. Nach dem Reichsjugendwohlfahrtsgesetz von 1922 versuchte der Staat, durch
Einrichtungen der Jugendfürsorge und Angebote der Jugendpflege die Entwicklung der Jugendlichen
positiv zu beeinflussen. Doch blieb Unterschichtkindern der Zugang zu höheren Schulen – und damit
der soziale Aufstieg – wegen des weiterhin erhobenen Schulgeldes in der Regel versperrt.
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Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
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Anfang der 1930er Jahre gehörten von neun Millionen Jugendlichen knapp vier Millionen einer
Jugendorganisation an. Am beliebtesten waren Sportvereine (zwei Millionen) sowie katholische und
evangelische Jugendverbände (eine Million bzw. 600.000). Dahinter schob sich in weitem Abstand
die "Hitler-Jugend" (HJ) (100.000) vor die – an Mitgliederschwund leidende – SPD-nahe "Sozialistische
Arbeiterjugend" (SAJ) (90.000). Es folgten die "bündischen" Jugendgruppen (70.000) und der "
Kommunistische Jugendverband Deutschlands" (KJVD) (55.000).
Gleichwohl verbrachten die meisten jungen Leute ihre Freizeit vorzugsweise im Freundeskreis, gingen
auf Wanderfahrt und nutzten die Möglichkeiten der neuen "Massenkultur": Grammofon, Radio und
Kino, Gaststätten und Tanzlokale.
Die Jugendlichen bzw. jungen Erwachsenen der Jahrgänge 1897 bis 1917 waren – je nach
Geburtsjahr – durch einschneidende Erfahrungen geprägt: durch das seelisch verwüstende Kriegsbzw. Fronterlebnis ("verlorene Generation"), das vaterlose Aufwachsen und die Entbehrungen während
des Krieges, die Nachkriegskrisen (die eine hohe Jugendkriminalität erzeugten), die
Stabilisierungsjahre oder schließlich den unmittelbaren Übergang von der Schule oder der Universität
in die Arbeitslosigkeit infolge der Weltwirtschaftskrise ("überflüssige Generation").
Die soziale Unzufriedenheit vieler Jugendlicher äußerte sich nicht zuletzt in der Sehnsucht nach einem
sinnerfüllten Dasein und nach Überwindung der gesellschaftlichen und politischen Gegensätze. Von
der bürokratischen Politik in den Parlamenten und von den überalterten Parteien und ihren einflusslosen
Jugendorganisationen fühlten sich vor allem die außerhalb des katholischen und des Arbeitermilieus
stehenden Jugendlichen eher abgestoßen. Dies machte sich ab Beginn der Weltwirtschaftskrise 1929
die extreme Rechte mit wachsendem Erfolg zunutze: Hitler verstand es, die NSDAP als Partei der
Jugend und des Aufbruchs zu einer nationalen "Volksgemeinschaft" unter seiner Führung darzustellen.
Sozialpolitik
Viele Erscheinungsformen sozialer Ungleichheit wurden seit der Revolution von 1918/19 zwar nicht
beseitigt, aber wesentlich stärker als früher sozialpolitisch abgemildert. Das in den 1880er Jahren von
Bismarck eingeführte Sozialversicherungswesen (Kranken-, Unfall-, Invaliditäts- und Altersversicherung)
wurde in der Verfassung verankert (Artikel 161 WV), die Rentensätze erhöht. Außerdem sorgte eine
Vielzahl von größeren und kleineren Maßnahmen für mehr soziale Gerechtigkeit. Sie reichten von der
Anerkennung neuer Berufskrankheiten, die zum Bezug einer Invalidenrente berechtigten, über die
Steigerung der Zahl der Ärzte und der Krankenhausbetten bis zum sozialen Wohnungsbau: Zwischen
1925 und 1929 erhöhte sich die Zahl der jährlich fertiggestellten Wohnungen (in weiträumigen
Siedlungen oder mehrstöckigen Mietshäusern ohne Hinterhöfe) von 106.502 auf 317.682; davon wurde
jede zweite mit staatlichen Mitteln gefördert oder vom Staat selbst gebaut.
Arbeitslosenversicherung
Viele sozialpolitische Reformen waren, neben dem anhaltenden Druck der organisierten
Arbeitnehmerschaft, dem tatkräftigen Reichsarbeitsminister Heinrich Brauns (Zentrum) zu verdanken.
Sein bedeutendstes Werk war das Gesetz über die Arbeitslosenvermittlung und
Arbeitslosenversicherung vom 1. Oktober 1927, von der "Bürgerblock"-Regierung (Zentrum – BVP –
DVP – DNVP) unter Reichskanzler Wilhelm Marx (Zentrum) eingebracht und vom Reichstag mit großer
Mehrheit verabschiedet. Künftig übernahmen eine Reichsanstalt sowie regionale und lokale
Arbeitsämter die Arbeitsvermittlung. Anspruchsberechtigte Arbeitslose konnten bis zu 39 Wochen ihren
Unterhalt aus einer Versicherung beziehen, die zu gleichen Teilen durch Beiträge der Arbeitnehmer
und der Arbeitgeber finanziert wurde. Der Staat sollte im Notfall mit Darlehen einspringen. Somit wurde
bei der sozialen Absicherung der Arbeitslosen das bisherige entwürdigende Fürsorgeprinzip durch das
Versicherungsprinzip abgelöst. Weil Teile der Unternehmerschaft schon im Vorfeld heftig über die
Erhöhung ihrer Soziallasten klagten, wurde die Beitragshöhe niedrig (auf drei Prozent des Grundlohns)
angesetzt. Daher reichten die Finanzmittel vorläufig nur für etwa 700.000 Arbeitslose.
bpb.de
Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
Der Ausbau des Weimarer Sozialstaates
1918
Abschaffung der Gesindeordnung
Einführung des Frauenwahlrechts
Zulassung von Frauen zum Hochschullehrerberuf
Erwerbslosenfürsorge für entlassene Soldaten
1919
Grundrechte der Frauen auf staatsbürgerliche Gleichstellung und Gleichberechtigung in der Ehe
Grundrechte der Jugend auf Erziehung, Bildung, Schutz, Fürsorge und Pflege
Koalitionsfreiheit und Tarifautonomie für Gewerkschaften und Unternehmerverbände
Verankerung des Sozialversicherungssystems in der Verfassung
1920
Betriebsrätegesetz
Grundschulgesetz
Versorgungsregelung für 1,5 Millionen Kriegsbeschädigte und 2,5 Millionen Hinterbliebene
1922
Jugendwohlfahrtsgesetz
Zulassung von Frauen zum Richteramt
Mietpreisbindung
Arbeitsnachweisgesetz (Ablösung der gewerblichen durch eine kommunale Arbeitsvermittlung)
Entsendung von Betriebsratsmitgliedern in die Aufsichtsräte
1923
Jugendgerichte
Gesetz über Mindestlöhne für Heimarbeiter
Förderung der Einstellung von Schwerbeschädigten
Mieterschutz gegen willkürliche Kündigungen
bpb.de
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Knappschaftsgesetz (soziale Sicherung der Bergleute)
Staatliche Zwangsschlichtung von Tarifstreitigkeiten
1924
Einheitliche staatliche Fürsorge (statt kommunaler Armenpflege)
1925
Wöchnerinnen- und Mutterschutz als Pflichtleistung der Krankenkassen
1926
Landesarbeitsgerichte, Reichsarbeitsgericht
1927
Besonderer Arbeits- und Kündigungsschutz für werdende und stillende Mütter
Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung
Mehrarbeitszuschläge für Überstunden
1928
Krankenversicherungspflicht für Seeleute
Zerwürfnis der Tarifvertragsparteien
1928 vertiefte sich die Kluft zwischen RDI und ADGB. Zunächst gingen die Gewerkschaften im
September mit einem Programm für "Wirtschaftsdemokratie" in die Offensive. Ihre Forderungen
lauteten:
•
Ausbau des Arbeitsrechts, der Sozialpolitik und der innerbetrieblichen Mitbestimmungsrechte,
•
Erleichterung des Bildungszugangs für Arbeiter,
•
Vermehrung der "gemeinwirtschaftlichen" (das heißt der staatlichen und genossenschaftlichen)
Betriebe,
•
paritätische Besetzung der Handels-, Handwerks- und Landwirtschaftskammern,
•
Kontrolle der Großunternehmen durch Kartellämter und durch Arbeitnehmervertreter in den
Geschäftsleitungen.
Die Arbeitgeberverbände begriffen die "Wirtschaftsdemokratie" nicht zu Unrecht als Kampfansage an
die freie Unternehmerinitiative; vor allem der RDI reagierte mit heftiger Kritik. Mehr noch: Beim "
Ruhreisenstreit" im Oktober 1928, dem größten Arbeitskampf in der Geschichte der Weimarer Republik,
lehnte die Arbeitgeberseite den eher maßvollen Schiedsspruch des staatlichen Schlichters ab, sperrte
mehr als 230.000 Metallarbeiter aus, ließ es auf ein Arbeitsgerichtsverfahren ankommen und begann
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eine Kampagne gegen die staatliche Zwangsschlichtung bei Tarifkonflikten. Der Druck der
Unternehmer führte am Ende zu einem zweiten, für sie günstigeren Schiedsspruch. Mit seiner Offensive
gegen Gewerkschaften und Zwangsschlichtung signalisierte der RDI, dass er die Flächentarifverträge
durch betriebliche Einzelvereinbarungen zwischen Unternehmensleitung und Belegschaft (ohne
gewerkschaftliche und staatliche Beteiligung) ersetzen wollte. So standen sich Ende 1928
Unternehmerverbände und Gewerkschaften unversöhnlich gegenüber – der Stinnes-Legien-Pakt vom
November 1918, die "Sozialverfassung der Republik" (Hagen Schulze), war zerbrochen.
Innenpolitische Entspannung
Zwischen 1924 und 1929 blieb die innenpolitische Lage weitgehend stabil. Die Kommunisten
konzentrierten sich wieder auf die legalen Formen der Parteiarbeit. Da sie bedingungslos der von der
KPdSU vorgegebenen ideologischen und politischen Linie folgten, sprechen Historiker von einer "
Stalinisierung" der KPD. Die radikale Rechte wirkte politisch gelähmt. Hitler saß bis Dezember 1924
in Festungshaft und schrieb sein Buch "Mein Kampf"; dem Zerfall der NSDAP musste er tatenlos
zusehen. In Bayern führte ein erfolgreiches Volksbegehren für Landtagsneuwahlen im Februar 1924
zur Ablösung des regierenden Triumvirats Kahr – Lossow – Seißer und zur Wiederherstellung
verfassungsmäßiger Verhältnisse.
Reichstagswahlen von 1924
Nach Ablauf der vierjährigen Legislaturperiode wurde der Reichstag am 4. Mai 1924 neu gewählt. Das
Wahlergebnis war vom Krisenjahr 1923 und der aktuellen Diskussion über den Dawes-Plan geprägt.
Mit Ausnahme von Zentrum und BVP mussten alle seit 1920 regierenden Parteien – SPD, DDP, DVP –
zum Teil herbe Verluste hinnehmen. Demgegenüber verzeichneten die DNVP und die Splitterparteien
beträchtliche Gewinne. Die von Reichskanzler Marx gebildete Minderheitsregierung (Zentrum – DDP –
DVP) scheiterte, weil das Parlament Steuererhöhungen zum Ausgleich des Staatshaushalts ablehnte.
Reichspräsident Ebert löste den Reichstag am 20. Oktober wieder auf.
Die Neuwahl vom 7. Dezember 1924 stand im Zeichen der allgemeinen Stabilisierung. Klare
Wahlsiegerin wurde die SPD, gefolgt von der DNVP. Die bürgerlichen Mittelparteien konnten wieder
leichte Gewinne verbuchen. Eindeutige Verlierer waren die KPD, Ludendorffs "Nationalsozialistische
Freiheitsbewegung" und die Splitterparteien. Dieses Gesamtbild signalisierte den Beginn einer
politischen Normalisierung, zumal sich die ehemals strikt nationalliberal-monarchistische DVP unter
dem Einfluss ihres angesehenen Vorsitzenden, des früheren Reichskanzlers und jetzigen
Außenministers Gustav Stresemann, zu einer Partei der "Vernunftrepublikaner" entwickelte. Das heißt,
sie akzeptierte die von der Revolution 1918/19 geschaffenen Realitäten.
Wechselnde Mehrheiten
Die politischen Parteien taten sich jedoch weiterhin schwer mit der parlamentarisch-demokratischen
Regierungsweise, das heißt mit der Bildung stabiler Koalitionsregierungen, der Bereitschaft zum
politischen Kompromiss und dem Mut zu unpopulären Entscheidungen. Unter dem Einfluss ihres linken
Flügels, der Koalitionen prinzipiell ablehnte, blieb die SPD in der Opposition. Die linksliberale DDP
und die monarchistische DNVP waren nicht miteinander koalitionsfähig. Auch führten Spannungen
zwischen den beiden katholischen Parteien dazu, dass die BVP nicht, wie die Zentrumspartei, allen,
sondern nur einigen Regierungen der Weimarer Republik angehörte.
Vor diesem Hintergrund besaßen die Reichsregierungen der Jahre 1924 bis 1928 trotz mehrfacher
Umbildungen keine oder nur eine unsichere Mehrheit. Denn mit Ausnahme der im Oktober 1925
gescheiterten breiten "Bürgerblock"-Regierung (von der DDP bis zur DNVP) amtierten entweder
•
Minderheitsregierungen der bürgerlichen Mittelparteien (DDP – Zentrum – ggs. BVP – DVP), die
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auf Tolerierung in innenpolitischen Fragen meist von rechts, in außenpolitischen von links
angewiesen waren, oder
•
"Bürgerblock"-Regierungen vom Zentrum bis zur DNVP, die zwar in der Innenpolitik weitgehend
übereinstimmten, nicht aber in der Außenpolitik.
Diese Regierungen arbeiteten häufig mit wechselnden Mehrheiten, weshalb zwischen
Regierungsfraktionen und Kabinett ein distanziertes Verhältnis bestand. Die SPD geriet dabei in eine
politische Zwitterstellung: Obwohl linke Oppositionspartei, musste sie den bürgerlichen Regierungen
immer wieder zur Mehrheit verhelfen, um wichtige außenpolitische Projekte wie Dawes-Plan, LocarnoVerträge oder Völkerbundsbeitritt nicht am "Nein" der DNVP scheitern zu lassen.
Der "Normalfall" einer klaren Minderheitsopposition und einer dauerhaften Mehrheitsregierung stellte
sich nicht ein. Unter diesen Umständen blieb der Parlamentarismus instabil.
Reichspräsidentenwechsel
Am 28. Februar 1925 starb Reichspräsident Ebert überraschend im Alter von nur 54 Jahren. Er hatte
eine nötige Operation zu lange aufgeschoben, um sich in einem langwierigen Gerichtsverfahren gegen
die Verleumdung eines deutschvölkischen Journalisten zu wehren. Dieser hatte im Sinne der
Dolchstoßlegende behauptet, Ebert habe im Januar 1918 als Mitorganisator mehrtägiger Streiks in
Berlin und anderen Großstädten "Landesverrat" begangen. (Tatsächlich hatte sich Ebert mit anderen
MSPD-Führern in die Leitung eines "wilden" – das heißt ohne Gewerkschaft begonnenen – Streiks
wählen lassen, um diesen so schnell wie möglich zu beenden; Linksradikale warfen ihm daraufhin "
Arbeiterverrat" vor). Friedrich Eberts früher Tod bedeutete einen herben Verlust für die Weimarer
Republik. Seine Hauptverdienste bestanden in der Vermittlung des Konsenses zwischen
sozialdemokratischer Arbeiterschaft, linksliberalem Bürgertum und politischem Katholizismus über die
Gründung der Weimarer Republik sowie in seiner untadeligen verfassungstreuen und überparteilichen
Amtsführung, die auch von seriösen politischen Gegnern anerkannt wurde. Jedoch hatte er sich durch
sein unkritisches Vertrauen auf die "Fachleute" – konservative Generäle und Beamte – und durch
seine Härte gegenüber Linksradikalen seiner eigenen Partei zunehmend entfremdet.
Bei der ersten Volkswahl des Reichspräsidenten lag nach dem ersten Wahlgang am 29. März 1925
Reichsinnenminister Karl Jarres (DVP), den auch die DNVP unterstützte, klar vor dem preußischen
Ministerpräsidenten Otto Braun (SPD) und den abgeschlagenen übrigen Bewerbern; er verfehlte
jedoch die erforderliche absolute Mehrheit.
Vor dem zweiten Wahlgang, in dem die relative Mehrheit genügte, bildeten sich der "Reichsblock
" (DVP, BVP, DNVP, Deutschvölkische) und der "Volksblock" (SPD, DDP, Zentrum), die jeweils einen
Kandidaten unterstützten. Im Volksblock konnte die Zentrumspartei ihr Führungsmitglied Wilhelm Marx
durchsetzen, was die SPD aus Sorge um die Weimarer Koalition in Preußen hinnahm. Der Reichsblock
präsentierte überraschend den 77-jährigen Paul von Hindenburg, der das breite Spektrum der rechts
stehenden Wähler hinter sich bringen sollte. Bevor er die Kandidatur annahm, holte er heimlich die
Zustimmung "seines" Kaisers in Doorn ein. Politisch unerfahren, aber geschickt beraten, gab er sich
im Wahlkampf ebenso vaterländisch wie verfassungstreu.
Am 26. April 1925 entschied Hindenburg den zweiten Wahlgang knapp für sich.
Der ehemalige OHL-Chef, prominente Monarchist und Miturheber der Dolchstoßlegende im höchsten
Staatsamt der Republik – das war ein schwerer Schlag für die Demokratie. Was die begeisterte Rechte
von Hindenburg erwartete, äußerte der DNVP-Fraktionsvorsitzende Kuno Graf Westarp unverblümt
am 19. Mai 1925 im Reichstag: "Die 14,6 Millionen, die am 26. April unserer Parole gefolgt sind, haben
damit ein Bekenntnis abgelegt, ein Bekenntnis zu dem Gedanken der Führerpersönlichkeit, ein
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Bekenntnis zu jener Vergangenheit, die vor 1918 lag."
Hindenburg und die Monarchie
Aus einem Interview Hindenburgs mit einem US-Journalisten vom 21. April 1925
Frage: Im Ausland hat man den Gedanken aufgeworfen, ob durch Ihre Reichspräsidentschaft [...] eine
Beunruhigung Europas eintreten könnte?
Antwort: Soweit dabei an militärische Dinge gedacht ist, kann ich versichern, dass mir als altem Soldaten
die militärische Ohnmacht Deutschlands viel zu genau bekannt ist, als dass ich kriegerische Abenteuer
irgendwie befürworten kann. [...]
Frage: Ihre Kandidatur wird vielfach als eine monarchistische aufgefasst. Wie denken Sie darüber?
Antwort: Einen plötzlichen Wandel der verfassungsmäßigen Grundlagen des Deutschen Reiches halte
ich weder für möglich, noch für erwünscht; denn die dabei unvermeidliche Fehde würde dem Programm
der inneren Eintracht widersprechen. Meine Herkunft aus einer monarchistischen Welt verleugne ich
ebenso wenig, wie Herr Ebert seine Herkunft aus der alten sozialdemokratischen Kampf-atmosphäre
verleugnet hat. Ein Reichspräsident, der allen Ständen und Gliedern des Volkes dienen muss, darf
aber nicht Vertreter des Kampfgedankens irgendwelcher Klassen sein. Es ist völlig unwahr, dass ich
mich mit Doorn über die Annahme meiner Kandidatur verständigt habe. Ich habe in dieser Frage keine
Fühlung mit dem Hause Hohenzollern gehabt.
Aus einem Brief Hindenburgs an Wilhelm II. vom 27. November 1927
"Euer Majestät lege ich die inständige Bitte zu Füßen, davon überzeugt sein zu wollen, dass ich wie
immer, so auch in den damaligen unglücklichen Tagen lediglich bemüht gewesen bin, Schaden und
Nachteil vom Haupte meines Kaisers und Königs abzuwenden. Nur aus diesem Grunde musste ich
nach gewissenhafter Prüfung schweren Herzens wohlgemeinten, aber nach Lage der Dinge
unausführbaren Ratschlägen Anderer widersprechen und einen, wie ich glaubte, vorübergehenden
Aufenthalt in Holland als bestes Mittel für oben erwähnten Zweck empfehlen. Von Euer Majestät
missverstanden zu werden, ist mir altem Soldaten der größte Schmerz. Darum bitte ich vorbeugend
daran erinnern zu dürfen, dass ich mein jetziges dornenvolles Amt nach langem Sträuben erst
übernommen habe, nachdem man mich bei der Ehre fasste, und ich mich der Einwilligung Eurer
Majestät versichert hatte. So verbleibe ich bis in ein nicht mehr fernes Grab in Treue und Ehrgefühl
als Euer Kaiserlichen und Königlichen Majestät alleruntertänigster v. Hindenburg,
Generalfeldmarschall."
Walther Hubatsch (Hg.), Hindenburg und der Staat, Musterschmidt, Göttingen 1965, S. 188 und 46
Hindenburgs Amtsführung
Die von manchen gehegte Hoffnung, der neue Reichspräsident werde zur Festigung der Demokratie
beitragen, denn er könne wie kein anderer die Monarchisten mit der Republik versöhnen, erfüllte sich
nicht. Im Gegensatz zu Stresemann war und wurde Hindenburg kein "Vernunftrepublikaner". Vielmehr
verstand er sich als Statthalter und Interessenvertreter der Hohenzollernmonarchie. Dieses
Selbstverständnis – zu dem er sich freilich nur im Kreise seiner Vertrauten bekannte – erschließt sich
aus vielen Verhaltensweisen und Amtshandlungen. Drei Beispiele:
•
Noch 1925 brachte Hindenburg einen Gesetzentwurf der SPD zur Beschränkung der Ansprüche
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der 1918 abgesetzten, aber nicht enteigneten Fürstenhäuser auf Rückgabe ihres Vermögens bzw.
Entschädigung zu Fall, indem er das Gesetz für verfassungsändernd erklärte. Tatsächlich erlaubte
Artikel 153 Abs. 2 WV auch entschädigungslose Enteignungen zum Wohle der Allgemeinheit
mittels einfacher Gesetze.
•
Ein Volksbegehren der KPD zur entschädigungslosen Enteignung der Fürsten, dem sich SPD und
Gewerkschaften anschlossen und das in der Bevölkerung auf große Resonanz stieß, nannte der
Reichspräsident einen "bedenklichen Verstoß [...] gegen die Grundlagen der Moral und des Rechts
" und duldete die Verwendung dieses Zitats auf den Plakaten der Gegner des Volksbegehrens
(DNVP, BVP, DVP, Zentrum und Kirchen), was einem Amtsmissbrauch gleichkam. Dennoch
stimmten beim Volksentscheid am 20. Juni 1926 14,5 Millionen Bürger für die Fürstenenteignung.
Die erforderlichen 21 Millionen Stimmen wurden aber nicht erreicht.
•
Ende 1926 verhinderte Hindenburg ein Ausführungsgesetz zum Artikel 48 WV, das seine
Diktaturvollmachten einschränken sollte. Gerade im Notfall, so schrieb er am 26. November an
Reichskanzler Marx, sei es geboten, dem Reichspräsidenten "freie Hand zu lassen in der Wahl
und in der Durchführung der [...] Abwehrmaßnahmen". Indem er vor "schweren Kämpfen im
Reichstag" warnte, drohte er mit der Mobilisierung aller konservativ gesinnten Abgeordneten gegen
den Gesetzentwurf.
Wenn Hindenburg es nicht für seine Aufgabe hielt, vorbehaltlos für die parlamentarisch-demokratische
Republik einzutreten, so wurde er darin von seinen engsten Beratern bestärkt. Zu dieser "Kamarilla
" gehörten u. a. Otto Meissner, Staatssekretär im Reichspräsidentenpalais, Elard von OldenburgJanuschau, ein prominenter ostpreußischer Gutsbesitzer, und Hindenburgs Sohn Oskar, ein
Reichswehroberst. Diese Präsidentenberater verfolgten gemeinsame politische Ziele: Überwindung
des Versailler Vertrages (vor allem der Entwaffnungs- und Reparationsvorschriften), Wiederherstellung
Deutschlands mindestens in den Grenzen von 1914, Beseitigung der Demokratie und des Einflusses
der politischen Linken, Rückkehr zur Monarchie.
Dennoch schien die politische Stabilisierung weitere Fortschritte zu machen. So bekannte sich der
angesehene Braunkohlen-Industrielle und stellvertretende Vorsitzende des RDI, Paul Silverberg, am
6. September 1926 in einer Aufsehen erregenden Rede auf einer RDI-Tagung klar zur Republik und
empfahl sogar eine Regierungsbeteiligung der SPD.
Als aber der amtsmüde gewordene Reichswehrminister Geßler am 14. Januar 1928 zurücktrat, erlitt
die Demokratie wieder einen Rückschlag: Als Nachfolger akzeptierte die amtierende BürgerblockRegierung Hindenburgs Wunschkandidaten, den parteilosen Generalquartiermeister a. D. Wilhelm
Groener. Von jetzt an befanden sich das Reichspräsidentenamt und das Reichswehrministerium
sozusagen in der Hand der letzten kaiserlichen Obersten Heeresleitung. Durch die Förderung seines
alten und neuen Chefs Groener stieg der frühere Major im Hauptquartier der OHL, Oberst Kurt von
Schleicher, innerhalb weniger Jahre militärisch zum Generalleutnant und Leiter des Ministeramts auf;
politisch wurde er als Vertrauter Hindenburgs der strategische Kopf der "Kamarilla".
Reichstagswahl 1928
Bei den Reichstagswahlen vom 20. Mai 1928 errangen die Sozialdemokraten einen klaren Wahlsieg,
während die Deutschnationalen herbe Verluste erlitten. Dass die SPD als stärkste demokratische
Partei in die Regierungsverantwortung zurückkehrte, während die stärkste republikfeindliche Partei,
die DNVP, in die Opposition wechselte, schien die Republik zu festigen. Beunruhigend wirkten jedoch
die beträchtlichen Einbußen der Mittelparteien, während die KPD und die Splitterparteien Mandate
hinzugewannen. Die NSDAP, deren Parteiapparat Hitler nach seiner vorzeitigen Haftentlassung im
Dezember 1924 wieder aufgebaut und reichsweit ausgedehnt hatte, erhielt nur zwölf Parlamentssitze.
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Nach langwierigen Verhandlungen bildete der neue Reichskanzler Hermann Müller (SPD) eine "Große
Koalition" (SPD, Zentrum/BVP, DDP, DVP). Zwar verfügte sie im Reichstag über eine breite Mehrheit,
aber in die Zusammenarbeit der Regierungsparteien waren quasi mehrere "Soll-Bruchstellen
" eingebaut:
•
Die SPD-Minister hatten in ihrer eigenen Partei keinen leichten Stand. Im Kabinett beschlossen
sie den von ihren Koalitionspartnern verlangten Bau des neuen Panzerkreuzers A mit; im Reichstag
mussten sie am 16. November 1928 mit ihrer Fraktion sowie der KPD dagegen stimmen. (Der
Bau wurde mit den Stimmen aller Mittel- und Rechtsparteien von der DDP bis zur NSDAP
beschlossen.) Hinzu kamen immer heftigere Angriffe der Kommunisten: Seit 1929 versuchte die
KPD, den ADGB durch eine "Revolutionäre Gewerkschafts-Opposition" (RGO) zu spalten;
außerdem beschimpfte sie die in Preußen und im Reich regierenden Sozialdemokraten als "
Sozialfaschisten" und erklärte sie zu ihrem "Hauptfeind". So geriet die SPD unter einen
Rechtfertigungs- und Erfolgszwang; sie musste klar erkennbar die Interessen der Arbeitnehmer
vertreten.
•
Demgegenüber fühlte sich die DVP vorrangig den Interessen der Großindustrie verpflichtet – zum
Leidwesen ihres Vorsitzenden Gustav Stresemann, der auf sozialen Ausgleich bedacht war. Nur
mit großer Mühe hatte er die Widerstände in seiner Partei gegen eine Koalition mit der SPD
überwunden. Als der überarbeitete und gesundheitlich angeschlagene Stresemann am 3. Oktober
1929 im Alter von nur 51 Jahren starb und Anfang Dezember der industrienahe Ernst Scholz an
die Spitze der Partei rückte, verschärfte sich sogleich der wirtschafts- und sozialpolitische Streit
im Kabinett.
•
Auch im Zentrum hatte in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre ein Rechtstrend eingesetzt, durch
den der SPD-freundliche Arbeitnehmerflügel an Einfluss verlor. Deshalb konnte sich bei der
Neuwahl des Parteivorsitzenden im Dezember 1928 der erzkonservative Prälat Ludwig Kaas
gegen den christlichen Gewerkschafter Adam Stegerwald durchsetzen.
•
Unauffälliger verlief das allmähliche Abdriften der DDP nach rechts, mit dem die Partei unter ihrem
langjährigen Vorsitzenden Erich Koch-Weser auf ihren schleichenden Niedergang reagierte. Das
Ausmaß der Rechtsentwicklung in der DDP wurde erst 1930 voll erkennbar.
Kampagne gegen den Young-Plan
Im Herbst 1929 entfesselte die deutsche Rechte, die die außenpolitischen Erfolge der Republik
beharrlich ignorierte, gegen den Young-Plan die größte politische Propagandaaktion in der Geschichte
der Weimarer Republik. Erstmals arbeitete dabei die seit Ende Oktober 1928 von dem Großverleger
Alfred Hugenberg geführte DNVP mit Hitlers NSDAP zusammen. Hugenberg ließ seine
auflagenstarken Zeitungen fast täglich Hetzartikel gegen den Young-Plan drucken – und immer öfter
wohlwollende Berichte über die Nationalsozialisten. Auch finanzierte er den von DNVP, "Stahlhelm
" (Bund der Frontsoldaten) und NSDAP gegründeten "Reichsausschuss" für ein Volksbegehren gegen
den Young-Plan, der einen Entwurf für ein "Gesetz gegen die Versklavung Deutschlands" vorlegte.
Die erforderliche Unterschriftenzahl wurde knapp erreicht; beim Volksentscheid vom 22. Dezember
1929 stimmten dann nur 5,8 Millionen Wähler (statt der erforderlichen 21 Millionen) dafür. Die große
Mehrheit der Bevölkerung sah infolge des wirtschaftlichen Aufschwungs seit 1924 die Reparationsfrage
mittlerweile gelassen. Am 12. März 1930 wurden die Young-Plan-Gesetze – trotz anhaltender Kritik
von rechts, die im demonstrativen Rücktritt des Reichsbankpräsidenten Hjalmar Schacht gipfelte –
von der Großen Koalition (mit Ausnahme der BVP) im Reichstag beschlossen.
Als Hauptnutznießerin der fehlgeschlagenen Anti-Young-Plan-Kampagne erwies sich die NSDAP. Mit
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Hugenbergs Hilfe hatte Hitler es verstanden, sich reichsweit ins Gespräch zu bringen und nationalistisch
zu profilieren. Auch außerhalb Bayerns besaßen die NSDAP-Führer jetzt Zutritt zu den "besseren
Kreisen".
Kulturelle Blütezeit
Das Kriegs- und Revolutionserlebnis, der Durchbruch der Demokratie, aber auch der technische
Fortschritt und nicht zuletzt amerikanische Einflüsse (Jazz-Musik, Filmkunst) gaben der kulturellen
Entwicklung kräftige Impulse. Die Weimarer Republik setzte in der kurzen Zeit ihrer Existenz in
beispielloser Weise künstlerische Energie und Kreativität frei. Kunsthistoriker zählen die Jahre
zwischen 1918 und 1933 zur "Klassischen Moderne", denn die Vielfalt und Modernität ihrer Kunstund Kulturformen – zwischenzeitlich vom NS-Regime unterdrückt – wirkten nach dem Zweiten
Weltkrieg und bis in die Gegenwart hinein inhaltlich und formal anregend oder sogar prägend.
Die Weimarer Kultur blieb – bei fließenden Grenzen – stets mehrfach gespalten: in anspruchsvolle
Kultur und Massenkultur, in avantgardistische und traditionalistische Strömungen, in proletarischrevolutionäre, linksliberale, konservative und völkische bzw. nationalsozialistische Richtungen.
Demzufolge wurden die politischen Auseinandersetzungen auch mit den Mitteln der Kunst
ausgetragen.
Anspruchsvolle Kultur ereignete sich hauptsächlich auf den Feuilletonseiten der angesehenen
liberalen, überregio-nalen Tageszeitungen ("Vossische Zeitung", "Frankfurter Zeitung"), in literarischpolitischen Zeitschriften ("Die Weltbühne", "Neue Rundschau", "Die Linkskurve"), in Malerei und
Architektur, Sprech- und Musiktheater, Konzert, Revue und Kabarett, Romanen und Gedichten.
Expressionismus und Neue Sachlichkeit, aber auch klassische Traditionen und proletarischrevolutionäre Kunst fanden dort ihr Publikum. Massenkultur fand vor allem im lokalen und regionalen
Zeitungswesen, in Fortsetzungs- und "Groschenromanen", in den Fotoreportagen der neuartigen
Illustrierten, in Schlager, Film und Rundfunk und in sportlichen Großveranstaltungen statt.
Den strahlenden Mittelpunkt des kulturellen Lebens bildete die Reichs- und preußische
Landeshauptstadt Berlin, wo das Preußische Ministerium für Erziehung und Wissenschaft und die
Preußische Akademie der Künste mit Kompetenz und Geld die moderne Kunst förderten.
Massenmedien
Unter den sich rasant entfaltenden Massenmedien behielt die Presse ihre Spitzenstellung: 1928
erschienen 3356 Tageszeitungen, davon 147 in Berlin. Nur 26 erreichten eine Auflage von mehr als
100.000 Exemplaren, die "Berliner Illustrierte Zeitung" ("B. I. Z.") dagegen 1930 fast 1,9 Millionen.
In der Herstellung und Verbreitung von Filmen aller Art wurde Deutschland in Europa führend.
Zahlreiche deutsche Produktionen erlangten internationale Anerkennung. Das Kinopublikum bestand
zum größten Teil aus Jugendlichen, Arbeitern und kleinen Angestellten. Bereits 1925 kauften täglich
zwei Millionen Menschen eine Kinokarte. Im Zuge der Umstellung auf den Tonfilm ab 1929 gewannen
die im Beiprogramm gezeigten "Wochenschauen" an Attraktivität.
Wirtschaftskonzentration und steigende Kosten spiegelten sich auch in der Filmproduktion wieder: Die
Zahl der Filmgesellschaften ging von 1922 bis 1929/30 von 360 auf drei (Ufa, Tobis, Terra) zurück, die
der jährlich gedrehten Filme von 646 auf etwa 120. Anders als Rundfunk und Printmedien unterlag
der Film einer staatlichen Zensur (Reichslichtspielgesetz vom 12. Mai 1920); viele Weimarer Politiker
misstrauten den suggestiven Wirkungen dieses Mediums.
Der Rundfunk brachte die Kultur sogar direkt ins Haus. Anfang 1924 gab es erst 10.000
Rundfunkteilnehmer, 1932 bereits über vier Millionen (etwa ein Viertel der Haushalte), denen die
Sender der 1926 gegründeten "Reichs-Rundfunk-Gesellschaft" Musikprogramme, Vorträge,
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Reportagen und Dichterlesungen anboten. Hier entstand auch das Hörspiel als neue literarische
Gattung, durch die zahlreiche Schriftsteller des 20. Jahrhunderts erstmals bekannt wurden.
Neue Sachlichkeit
Neue Sachlichkeit war eine für die zweite Hälfte der 1920er Jahre besonders typische Kunstrichtung,
die – beeinflusst von der Massenkultur und den neuen technischen Medien Film und Rundfunk – das
damalige Lebensgefühl der Menschen, ihr nüchternes Streben nach Bewältigung des Alltags,
auszudrücken versuchte. Der Begriff geht auf eine Ausstellung moderner Malerei in Mannheim 1925
zurück. Künstler wie Max Beckmann, George Grosz, Otto Dix und andere präsentierten dort
richtungweisende neue Arbeiten: gegenständliche Malerei mit alltäglichen Themen (oft Stillleben und
Porträts). Darin zeigte sich eine Abkehr vom Expressionismus mit seinen Traum- und Phantasiewelten,
verzerrten Formen und realitätsfernen Farbgebungen.
Da es zwischen den verschiedenen Sparten der Kunst strukturelle Entsprechungen – gemeinsame
Wahrnehmungs- und Ausdrucksformen – gibt, wurde Neue Sachlichkeit bald zum allgemeinen Begriff
für eine konkrete, distanzierte künstlerische Auseinandersetzung mit der "greifbaren Wirklichkeit", die
dem Inhalt den Vorrang vor der Form einräumte und das Schlichte gegenüber dem Ornamentalen
bevorzugte.
Bauhaus
Zur führenden neusachlichen Künstlerschule wurde das 1919 in Weimar gegründete, 1925 nach
Dessau umgezogene "Bauhaus". Es strebte eine Zusammenführung von Architektur, Malerei und
angewandter handwerklicher Kunst an. Neben Architekten (Walter Gropius, Hannes Meyer, Ludwig
Mies van der Rohe) gehörten ihm daher auch Maler (Wassily Kandinsky, Paul Klee, Lyonel Feininger)
und Gebrauchsdesigner (Marcel Breuer, Marianne Brandt) an; der Komponist Paul Hindemith und
andere Dozenten hielten Gastvorlesungen. Bauhaus-Architektur zeichnete sich durch schlichte,
funktionale Form, Stahl und Beton, offenes Skelett und große Glasflächen aus. Beispiele sind der
Bauhaustrakt in Dessau, die Weißenhofsiedlung in Stuttgart und die Hufeisensiedlung in Berlin-Britz.
Bauhauskünstler entwarfen moderne, formschöne und funktionale Einrichtungs- und
Gebrauchsgegenstände (zum Beispiel Sessel, Lampen, Küchenmöbel). Neusachliche Mode befreite
die Frauen von Dutt, Korsett und fußlangen Röcken, die Männer von Stehkragen ("Vatermörder"),
gestärkter Hemdbrust und Bart.
Theater und Literatur
Im Theater begann 1925 die Abkehr von expressionistischer Wirklichkeitsverzerrung und
Sprachverstümmelung mit Carl Zuckmayers gefeiertem Volksstück "Der fröhliche Weinberg" (1925).
Es entwickelte sich das neusachliche Zeit- oder Gesellschaftsstück, zum Beispiel Zuckmayers
berühmte antimilitaristische Tragikomödie "Der Hauptmann von Köpenick" (1930).
Neusachliche Romane griffen historische Themen auf (Lion Feuchtwangers "Jud Süß" 1925),
verarbeiteten kritisch das Weltkriegserlebnis (Erich Maria Remarques "Im Westen nichts Neues" 1929)
oder spiegelten soziale Probleme (Hans Falladas "Kleiner Mann, was nun?" 1932) wider. Auch Erich
Kästners heiter-ernste Kinderbücher ("Emil und die Detektive" 1929, "Pünktchen und Anton" 1931)
lassen sich hier anführen. In Alfred Döblins Großstadtroman "Berlin Alexanderplatz" vermischten sich
Einflüsse des Expressionismus, der Neuen Sachlichkeit, amerikanischer Autoren (Upton Sinclair, John
Dos Passos) und des Films (Schnitttechnik). Döblin nutzte beispielhaft alle Vermarktungsmöglichkeiten:
1929 erschien das Buch, 1930 das Hörspiel, 1931 der Film.
Die Lyrik der Neuen Sachlichkeit war vor allem "Gebrauchslyrik" (Kurt Tucholsky): Humorvolle,
satirische Verse über Liebe, Alltag und Politik von Bertolt Brecht, Kästner, Walter Mehring, Joachim
Ringelnatz, Kurt Tucholsky, Mascha Kaléko
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und Werner Finck; als Gedichte oder Lieder, Bänkelsänge oder Balladen, insbesondere für das
Kabarett, das sich großer Beliebtheit erfreute.
Musik und Film
Entsprechend handelte es sich bei neusachlicher Musik um "Gebrauchsmusik" (Hindemith):
Antiromantisch, nüchtern bis verspielt, klar strukturiert, vom amerikanischen Jazz beeinflusst, meist
geschrieben für Varieté, Kabarett, Kino und Revue. Besonders berühmt wurde die "Dreigroschenoper
" (1928) von Bertolt Brecht (Text) und Kurt Weill (Musik). Im Bereich der musikalischen Massenkultur
entstand der deutsche Schlager – zum Teil mit witzigen Nonsenstexten –, durch den besonders die
seit 1928 auftretende Gesangsgruppe "Comedian Harmonists" ("Veronika, der Lenz ist da", "
Wochenend´ und Sonnenschein") rasch populär wurde. Von den Kapellen und Grammofonen in Cafés,
Tanzlokalen und Nachtklubs hörte man zunehmend Jazz-Musik; man tanzte Shimmy und Charleston.
Auch im Film vollzog sich ein Wandel von den düsteren Visionen und schrillen Kulissen des
Expressionismus (wie im "Kabinett des Dr. Caligari" von Robert Wiene 1919/20) zur Neuen Sachlichkeit.
Deren wichtigster Regisseur wurde Georg Wilhelm Pabst: "Die freudlose Gasse" (1925) schilderte den
moralischen Verfall von Menschen durch das Inflationselend.
Proletarisch-revolutionäre Kunst
Eine linksradikale Variante der Neuen Sachlichkeit verkörperte die proletarisch-revolutionäre Kunst.
Sie entstand vor allem im 1928 gegründeten KPD-nahen "Bund proletarisch-revolutionärer
Schriftsteller Deutschlands", der die Literaturzeitschrift "Die Linkskurve" herausgab. Ihm gehörten
Brecht, Johannes R. Becher (später DDR-Kulturminister), Anna Seghers, Friedrich Wolf, Theodor
Plivier und andere Autoren an. Neben reinen Propagandawerken zur Verherrlichung des
Kommunismus entstanden künstlerisch beachtliche sozialkritische Werke, wie Seghers´ Erzählung "
Aufstand der Fischer von St. Barbara" (1928) oder Pliviers Roman "Der Kaiser ging, die Generäle
blieben" (1932). Brechts kapitalismuskritischer Film "Kuhle Wampe" (1932) wurde 1933 von den
Nationalsozialisten sogleich verboten.
Konservativer Antimodernismus
Wie Nationalkonservative und Rechtsradikale die Weimarer Demokratie als "undeutsches", von den
Siegermächten aufgezwungenes politisches System hassten und bekämpften, so lehnten sie die
moderne Kunst als "Amerikanismus" ab oder brandmarkten sie gar als "Kulturbolschewismus". 1928
gründete die NSDAP einen "Kampfbund für deutsche Kultur", der eine Rückbesinnung auf deutsche
Klassik, Heimatkunst und Volksmusik forderte. Wo Hitlers Partei an Landesregierungen beteiligt wurde,
führte sie sogleich einen Kulturkampf. In Thüringen ließ sie Ende 1930 siebzig Werke der modernen
Malerei aus dem Weimarer Schloss entfernen. In Anhalt vertrieb sie im September 1932 das Bauhaus
aus Dessau; nach Berlin umgesiedelt, musste es sich 1933 selbst auflösen.
Konservative Intellektuelle traten mit einflussreichen antidemokratischen Schriften hervor. In Ernst
Jüngers viel gelesenem Kriegstagebuch "In Stahlgewittern" (1920) wurde das Soldatentum als wahre
Berufung des Mannes, der Krieg als schicksalhafte Prüfung eines Volkes hingestellt. Oswald Spenglers
geschichtsphilosophisches Werk "Der Untergang des Abendlandes" (1918/1922), das in den meisten
bildungsbürgerlichen Haushalten stand, deutete Kulturen als "höchste Lebewesen", zwischen denen
es "immer nur um das Leben, den Triumph des Willens zur Macht" gegangen sei. Der prominente
Staatsrechtler und Gegner des Parlamentarismus Carl Schmitt definierte Politik als kompromisslosen
Kampf zwischen "Freund" und "Feind" ("Der Begriff des Politischen" 1927). Hans Grimms Roman "
Volk ohne Raum" (1926) prägte und propagierte bereits mit seinem Titel nationalistisches und
nationalsozialistisches Gedankengut. "Jungkonservative" Theoretiker entwickelten die Idee einer "
konservativen Revolution": Da die Weimarer "Demoplutokratie" (Edgar Jung) die ewigen Werte des
Zusammenhangs zwischen Mensch, Natur und Gott zerstört habe, müsse der Konservatismus selbst
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revolutionär werden, um eine bewahrenswerte Ordnung erst wiederherzustellen. Die ideologische
Schnittmenge zwischen Rechtsintellektuellen, Jungkonservativen und Nationalsozialisten bestand vor
allem in den gemeinsamen Zielbegriffen der ständisch gegliederten "Volksgemeinschaft", des
autoritären politischen "Führers" und des nichtmarxistischen "nationalen Sozialismus". Solches
Ideengut erreichte einen beträchtlichen Teil der konservativen Oberschicht in Militär, Bürokratie,
Hochschulen und Wirtschaft, der unter anderem im "Deutschen Herrenklub" organisiert war.
Zweifellos schlugen dem parlamentarisch-demokratischen System der Weimarer Republik und seinen
Repräsentanten auch von links Abneigung und Hass entgegen. Priesen die Theoretiker und
Propagandisten der KPD unermüdlich das Vorbild der Sowjetunion, so reimte man auf dem linken
Flügel der SPD: "Die Republik, das ist nicht viel – der Sozialismus bleibt das Ziel!" Unabhängige
Linksintellektuelle, namentlich der Kreis um die von Carl von Ossietzky herausgegebene Zeitschrift "
Die Weltbühne", übten ätzende Kritik an politischen Missständen, persönlichen Unzulänglichkeiten
einzelner Politiker und am demokratischen Kompromiss. Ihr Beitrag zur Destabilisierung der Republik
war jedoch wesentlich geringer, da sie im Gegensatz zum Rechtsintellektualismus nicht das politische
Denken derjenigen Kräfte beeinflussten, die ab 1930 die Regierungsgewalt zur Zerstörung der
Demokratie missbrauchten.
Massenwirksamer als das Schrifttum der politischen Rechten wurden auffällige Veränderungen in der
Filmkultur seit 1930. Zwar traten manche Filme nach wie vor für humane Werte ein, etwa "M – eine
Stadt sucht einen Mörder" von Fritz Lang (1930/31) oder die (von der Zensur verbotene) deutsche
Fassung der amerikanischen Remarque-Verfilmung "Im Westen nichts Neues" (1932). Aber zum einen
wurden zunehmend reine Unterhaltungsfilme gedreht, allen voran "Der Blaue Engel" von Josef von
Sternberg (1930), der Marlene Dietrich zum Weltstar machte. Zum anderen leisteten manche populäre
Filme durch bestimmte Tendenzen dem Nationalsozialismus Vorschub: "Das Flötenkonzert von
Sanssouci" (1930) und "Barberina, die Tänzerin von Sanssouci" (1931) verherrlichten den Krieg und
den patriarchalischen Staatslenker. "Morgenrot" (1932/33), eine dramatische U-Boot-Episode aus dem
Ersten Weltkrieg, feierte den soldatischen Heldentod.
Juden in Kultur und Wissenschaft
Das kulturelle Leben der Weimarer Republik war den von antisemitischen Ressentiments erfüllten
Nationalkonservativen und Nationalsozialisten schon deshalb verhasst, weil es ihnen als von Juden
beherrscht erschien. Richtig ist, dass sich die herausragenden Beiträge jüdischer Deutscher aus der
Weimarer Kultur nicht wegdenken lassen. Josef von Sternberg, drei der sechs "Comedian Harmonists
", Arnold Schönberg und Kurt Weill, Alfred Döblin, Lion Feuchtwanger, Anna Seghers, Kurt Tucholsky
und Carl Zuckmayer sind nur die prominentesten Namen. Auch in der Wissenschaft spielten sie eine
große Rolle. Fünf von 15 deutschen Nobelpreisträgern waren Juden: Die Physiker Albert Einstein
(1921), James Franck (1925) und Gustav Hertz (1925) sowie die Mediziner Otto Meyerhof (1922) und
Otto H. Warburg (1931). Indem das NS-Regime fast alle jüdischen Künstler und Wissenschaftler – wie
auch viele ihrer links stehenden nichtjüdischen Kollegen – ins Exil trieb, aus dem die meisten von
ihnen nicht mehr zurückkehrten, fügte es der deutschen Kultur einen unermesslichen Verlust zu.
Republikferne des Bürgertums
Wir lebten im Widerspruch, ohne besondere Zuneigung zu der immer wieder gedemütigten Republik,
aber voller Sehnsucht nach Würde, Größe und Lebenssinn. [...] Die Versuchung zum Selbstbetrug,
zur Flucht ins Illusionäre war groß.
[...] Es war nicht leicht, sich in jenen chaotischen Jahren nach 1918 zu orientieren, einen verlässlichen
Halt zu finden. Man war nicht mehr Untertan SM (Seiner Majestät – Anm. d. Red.), man war Bürger
einer Republik. Der Pflichtmensch, der in unverbrüchlichem Gehorsam, in streng geregelter
militärischer und ziviler Disziplin nach einem sakrosankten moralischen Kodex unter dem Doppelgestirn
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von Thron und Altar sein Lebenspensum absolvierte – dieser "Pflichtmensch" sah sich mit einem Mal
einer Freiheit ausgesetzt, die ihm aus Willkür, Unordnung, Sittenlosigkeit zu bestehen schien.
Das bis dahin in einem übersichtlichen sozialen Raster gegliederte Volk, das im Wesentlichen aus
Herrschaften und "Leuten", aus Standespersonen und Dienstpersonal, aus privilegierten
Befehlshabern und abhängigem Proletariat bestand, hatte sich in eine anscheinend diffuse Masse
von "Stimmberechtigten" verwandelt, die nach dem Verständnis der "besseren" Gesellschaft doch
nur "Stimmvieh" waren, nach wie vor unmündig, der Führung bedürftig. Aber wo waren die zur Führung
Legitimierten, die Garanten einer restaurierten gesellschaftlichen und sittlichen Ordnung? SM, soviel
man auch an ihm auszusetzen hatte, war immerhin "von Gottes Gnaden" gewesen. Wer von den
neuen Männern hatte die "Gnade"? [...]
Man liebäugelte aber auch mit den aus dem Kriege übrig gebliebenen Freikorps und befreundete sich
schließlich mit den neuen militanten Formationen der NSDAP. Auch die Putschisten im Stile von Kapp
durften auf Wohlwollen in der bürgerlichen Gesellschaft rechnen. Man war primär an der Ordnung, am
formalen Recht interessiert; Gerechtigkeit rangierte an zweiter Stelle und wurde zumeist als
Gleichmacherei missverstanden, als Nivellierung, als Niedergang der bürgerlichen Kultur.
Ich selbst, gespeist von der geistigen Tradition der vorrevolutionären bürgerlichen Gesellschaft, ließ
mich in jenen turbulenten Jahren allzu leicht bezaubern von formaler Größe, ästhetischer Ordnung,
moralischer Disziplin. Von daher erklärt es sich wohl, dass ich, vorübergehend, vom Glanz des
Stahlgewitters Ernst Jüngers geblendet und von seinen Mythologimena betört wurde. Ein Schulfreund
hatte mich angesteckt. Wir schwafelten viel vom "Heldischen", vom "Heroischen". Der Krieg, die
Niederlage wurde von uns nicht reflektiert, sondern als "nibelungischer" Untergang mythologisiert. Wir
träumten vom verborgenen Reich und einem heimlichen geistigen Führer, der auf seine Stunde wartete.
[...]
Mein politisches Interesse war unterentwickelt. In der Zeitung, der nationalliberalen Täglichen
Rundschau, die damals zweimal am Tage erschien, interessierte mich ausschließlich der kulturelle
Teil, das Feuilleton. Auch meinem Freundeskreis fehlte das politische Organ. Wir waren, unserer
Herkunft nach, selbstverständlich "national", aber ohne bewusst staatsbürgerliche Gesinnung; zu fein
für die banale Demokratie. Wir verkannten, um nicht zu sagen verachteten, die sich im Alltagsgeschäft
beschmutzenden Demokraten. Man konnte damals wahrlich keinen Ruhm und nur wenig Ehre im
Existenzkampf der von allen Seiten, von den radikalen Rechten wie von den extrem Linken, befehdeten
Republik gewinnen. [...]
Heinz Flügel, "Wir träumten vom verborgenen Reich", in: Rudolf Pörtner (Hg.), Alltag in der Weimarer
Republik. Erinnerungen an eine unruhige Zeit, Econ, Düsseldorf 1990, S. 175 ff.
Krieg als Bewährungsprobe?
Noch wuchtet der Schatten des Ungeheuren über uns. Der gewaltigste der Kriege ist uns noch zu
nahe, als daß wir ihn ganz überblicken, geschweige denn seinen Geist sichtbar auskristallisieren
können. Eins hebt sich indes immer klarer aus der Flut der Erscheinungen: Die überragende Bedeutung
der Materie. Der Krieg gipfelte in der Materialschlacht; Maschinen, Eisen und Sprengstoff waren seine
Faktoren. Selbst der Mensch wurde als Material gewertet. Die Verbände wurden wieder und wieder
an den Brennpunkten der Front zur Schlacke zerglüht, zurückgezogen und einem schematischen
Gesundungsprozeß unterworfen. "Die Division ist reif für den Großkampf."
Das Bild des Krieges war nüchtern, grau und rot seine Farben; das Schlachtfeld eine Wüste des
Irrsinns, in der sich das Leben kümmerlich unter Tage fristete. Nachts wälzten sich müde Kolonnen
auf zermahlenen Straßen dem brandigen Horizont entgegen. "Licht aus!" Ruinen und Kreuze säumten
den Weg. Kein Lied erscholl, nur leise Kommandoworte und Flüche unterbrachen das Knirschen der
Riemen, das Klappern von Gewehr und Schanzzeug. Verschwommene Schatten tauchten aus den
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Rändern zerstampfter Dörfer in endlose Laufgräben.
Nicht wie früher umrauschte Regimentsmusik ins Gefecht ziehende Kompagnien. Das wäre Hohn
gewesen. Keine Fahnen schwammen wie einst im Pulverdampf über zerhackten Karrees, das
Morgenrot leuchtete keinem fröhlichen Reitertage, nicht ritterlichem Fechten und Sterben. Selten
umwand der Lorbeer die Stirn des Würdigen.
Und doch hat auch dieser Krieg seine Männer und seine Romantik gehabt! Helden, wenn das Wort
nicht wohlfeil geworden wäre. Draufgänger, unbekannte, eherne Gesellen, denen es nicht vergönnt
war, vor aller Augen sich an der eigenen Kühnheit zu berauschen. Einsam standen sie im Gewitter
der Schlacht, wenn der Tod als roter Ritter mit Flammenhufen durch wallende Nebel galoppierte. Ihr
Horizont war der Rand eines Trichters, ihre Stütze das Gefühl der Pflicht, der Ehre und des inneren
Wertes. Sie waren Überwinder der Furcht; selten ward ihnen die Erlösung, dem Feinde in die Augen
blicken zu können, nachdem alles Schreckliche sich zum letzten Gipfel getürmt und ihnen die Welt in
blutrote Schleier gehüllt hatte. Dann ragten sie empor zu brutaler Größe, geschmeidige Tiger der
Gräben, Meister des Sprengstoffs. Dann wüteten ihre Urtriebe mit kompliziertesten Mitteln der
Vernichtung.
Doch auch wenn die Mühle des Krieges ruhiger lief, waren sie bewundernswert. Ihre Tage verbrachten
sie in den Eingeweiden der Erde, vom Schimmel umwest, gefoltert vom ewigen Uhrwerk fallender
Tropfen. Wenn die Sonne hinter gezackten Schattenrissen von Ruinen versank, entklirrten sie dem
Pesthauch schwarzer Höhlen, nahmen ihre Wühlarbeit wieder auf oder standen, eiserne Pfeiler,
nächtelang hinter den Wällen der Gräben und starrten in das kalte Silber zischender Leuchtkugeln.
Oder sie schlichen als Jäger über klickenden Draht in die Öde des Niemandslandes. Oft zerrissen
jähe Blitze das Dunkel, Schüsse knallten, und ein Schrei verwehte ins Unbekannte. So arbeiteten und
kämpften sie, schlecht verpflegt und bekleidet, als geduldige, eisenbeladene Tagelöhner des Todes. [...]
In Stahlgewittern. Vorwort, Hannover 1920, in: Ernst Jünger. Politische Publizistik 1919-1933. Hg.,
kommentiert und mit einem Nachwort von Sven Olaf Berggötz, Klett-Cotta, Stuttgart 2001, S. 9 f.
Aus:
Informationen zur politischen Bildung (Heft 261) - Kampf um die Republik 1919-1923 (2011)
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Die nationalsozialistische Bewegung in der
Weimarer Republik
Von Hans-Ulrich Thamer
6.4.2005
geb. 1943, ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Münster. Seine Forschungsschwerpunkte sind der
Nationalsozialismus und der europäische Faschismus.
Veröffentlichungen u.a.:Verführung und Gewalt. Deutschland 1933-1945, (Die Deutschen und ihre Nation, Bd. 5), Berlin 1986; Der
Nationalsozialismus, Stuttgart 2002.
In vielen Ländern Europas entwickelten sich infolge des Ersten Weltkrieges, durch das
italienische Vorbild bestärkt, faschistische Bewegungen. Auch die Keimzeit der NSDAP fällt in
diese Phase. Der krisenhafte Charakter der jungen Republik verhalf ihr zum Aufstieg.
Einleitung
Aufstieg und Herrschaft des Nationalsozialismus standen ebenso in einem nationalgeschichtlichen
wie in einem europäischen Zusammenhang. Zunächst war der Nationalsozialismus ein Produkt der
deutschen Geschichte. Er war eine Folge der politischen und sozialen Spannungen im verspäteten
deutschen Nationalstaat des Kaiserreichs, die dann durch Verlauf und Folgen des Ersten Weltkriegs
entscheidend verschärft wurden. Diese Spannungen wurden zur Erblast der Weimarer Republik und
gehörten zu den Voraussetzungen für den Aufstieg der antidemokratischen, nationalsozialistischen
Massenbewegung und ihres Bündnisses mit den konservativen Machteliten. Geprägt durch das
Kaiserreich wollten sie keinen Frieden mit der neuen parlamentarischen Demokratie.
Das deutsche Kaiserreich war "Schauplatz des klassischen Modernisierungsdilemmas" (Hans-Ulrich
Wehler): Einem rasanten industriewirtschaftlichen und -gesellschaftlichen Entwicklungsprozeß
standen starke soziale und politische Beharrungskräfte gegenüber. Solche Gegensätze gab es zwar
anderswo auch, doch nirgends traten sie so massiv und auf den kurzen Zeitraum eines halben
Jahrhunderts zusammengedrängt auf. Der 1871 unter monarchischen und militärischen Vorzeichen
im Vergleich zu anderen Ländern verspätet gegründete deutsche Nationalstaat stand gleich vor
mehreren Aufgaben und Belastungsproben. Neben dem Ausbau einer Reichsverwaltung standen vor
allem die Begründung und Weiterführung einer demokratisch-parlamentarischen Verfassungsordnung
an, die die politische Mitwirkung der Gesellschaft und damit auch deren Integration in den neuen
Nationalstaat herstellen mußte, damit dieser auch ein Staat der Bürger würde. Diese
Parlamentarisierung ist bekanntlich gescheitert und mit ihr auch der politische Liberalismus, der
eigentliche Träger der Verfassungsbewegung. Er unterlag einem mehrfachen Druck von außen:
•
Durch den populären Reichskanzler Otto von Bismarck, der Reichstag und Parteien durch
Massenmobilisierung und Staatsstreichdrohung ausschaltete;
•
durch die Arbeiterbewegung, die zu einer Massenbewegung wurde und die soziale Frage zu einem
Instrument ihrer Fundamentalopposition machte und
•
durch die ökonomische Depression der siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts. Diese führte zu
einem System des Protektionismus und einer Sammlungspolitik von Großlandwirtschaft und
Großindustrie, die einer starren Politik des Machterhaltes den Vorrang vor möglichen Öffnungen
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und gesellschaftlichen Reformen gab.
So war Deutschland zwar um die Jahrhundertwende zur führenden Industriemacht geworden mit einem
beträchtlichen wirtschaftlichen Wachstum und einer schrittweisen Verbesserung der materiellen
Situation auch der Industriearbeiterschaft. Aber dieser Aufschwung vollzog sich im Gehäuse des
überkommenen preußisch-deutschen Obrigkeitsstaates, der kaum reformfähig war.
Auch wenn das Bürgertum auf kommunalpolitischer Ebene, in Wirtschaft und Kultur großen Einfluß
hatte, Erfolge erzielte und bürgerliche Normen und Maßstäbe durchsetzen konnte, gaben weiterhin
die alten Gruppen den Ton im politisch-sozialen Herrschaftsbereich an: Der Hofadel und der
grundbesitzende Adel, der auch das Militär dominierte, sowie eine machtbewußte Bürokratie; dazu
kleine Gruppen des Besitz- und Bildungsbürgertums, Industrielle, Bankiers und Professoren, die sich
zunehmend der Lebensweise des Adels annäherten. Einig war man sich in der Abwehr des
Emanzipationsanspruches der Arbeiterschaft, deren politische Vertretung in Gestalt der
sozialdemokratischen Arbeiterbewegung Demokratie und Sozialstaat weiter entwickeln wollte. Einig
war man sich bei den traditionellen Eliten und in den erwähnten Gruppen des Bürgertums darum auch
in der Blockade weiterer Parlamentarisierung und Demokratisierung, um nicht den Sozialdemokraten
und Linksliberalen zuviel Raum zu geben.
So konnte sich im kaiserlichen Deutschland weder eine gefestigte liberal-demokratische politische
Kultur entfalten noch ein demokratischer Nationalismus. Vielmehr behaupteten sich hier Reste älteren
Bewußtseins, die in einem Sozialideal gipfelten, das der Schriftsteller Thomas Mann einmal ironisch
mit dem Titel "General Dr. von Staat" charakterisiert hat. Mehr noch, der deutsche Nationalismus
übernahm aggressive, imperialistische und militaristische Züge, die von einer Ausgrenzungsstrategie
gegen die sogenannten "Reichsfeinde" bestimmt waren und aus der Einkreisungsangst der Mittellage
in Europa die Forderung nach einem starken Staat inmitten einer Welt von vermeintlichen Feinden
ableiteten. Zu den "Reichsfeinden" gehörten aus der Sicht dieses Nationalismus anfänglich nur
Katholiken, dann vor allem Polen und Sozialdemokraten und später zunehmend auch deutsche Juden.
Folgen des Weltkrieges
Als sich der Erste Weltkrieg in den Schützengräben festgefressen hatte, erlebte die deutsche
Gesellschaft im Inneren nicht nur schwere materielle Bedrückungen, sondern verschärfte soziale
Konflikte, neue Formen der staatlichen Intervention und der organisierten Kriegswirtschaft. Vor allem
aber vollzog sich der Eintritt breiter Schichten in das politische Leben unter den Vorzeichen eines
militanten Nationalismus, einer verschärften politischen Polarisierung, die das Freund-Feind-Denken
der Weimarer Republik vorwegnahm und zu einer Brutalisierung des politischen Verhaltens führte.
Der Schock über die unerwartete militärische Niederlage des Deutschen Kaiserreichs und den damit
verbundenen Zusammenbruch der Monarchie im November 1918 führte nicht zu einem Abbau
autoritärer Verhaltensweisen und langfristig nicht zu einem Mentalitätswandel, der zu einer Befestigung
der jungen Demokratie hätte beitragen können. Im Gegenteil, bei der Mehrheit der Deutschen bewirkten
Krieg und Niederlage, Zusammenbruch und Revolutioeine Radikalisierung älterer Einstellungen und
verstärkten die Suche nach Sündenböcken.
Mit der sogenannten Dolchstoßlegende bot sich eine propagandistisch wirksame Erklärung für die
nationale Demütigung an. Nach dieser Legende ist ein Teil der von der politischen Linken angeblich
aufgehetzten Heimatbevölkerung dem im Felde unbesiegten Frontheer in den Rücken gefallen und
hat damit die Niederlage verursacht. Mit derartigen Erklärungen konnten die alten Eliten und die
deutsche Rechte leicht von den eigentlichen Ursachen des deutschen Zusammenbruchs ablenken,
die primär im politisch-sozialen System lagen. Es war verhängnisvoll für die weitere politische
Entwicklung, daß die Empörung über den als Diktat empfundenen Versailler Vertrag in der öffentlichen
Diskussion in Deutschland die fällige Selbstkritik an der wilhelminischen imperialistischen Politik der
Vorkriegs- und Kriegsjahre weitgehend verdrängte. All das belastete die ungeliebte Republik von
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Weimar. Hinzu kam, daß die Republik selbst politisch und materiell wenig Glanz, dafür um so mehr
Krisen und Elend zu bieten hatte.
Die Krise der Weimarer Demokratie, die schließlich in die Staats- und Wirtschaftskrise der Jahre 1930
bis 1932 und zur nationalsozialistischen Machtergreifung führen sollte, hatte zugleich eine europäische
Dimension. Überall stellte der Erste Weltkrieg, die "Urkatastrophe unseres Jahrhunderts" (George
Kennan), die europäischen Staaten und Gesellschaften vor schwere materielle und soziale
Belastungen und führte zu einer politischen Mobilisierung und Radikalisierung. Auf den politischen
Flügeln entstanden radikale Parteien. Sie waren radikal nationalistisch dort, wo man die Ergebnisse
der Friedenskonferenzen von Versailles und den anderen Pariser Vororten nicht hinnehmen wollte.
Daneben wurden vor allem aber in vielen Staaten Europas linkssozialistische und kommunistische
Bewegungen gegründet, die zur sozialen Revolution aufriefen. Die Mobilisierung durch den
industriellen Großkrieg und die sozialen und materiellen Folgen der Demobilisierung nach dem Krieg
führten überall zu Massenprotesten, mitunter zu sozialvolutionären Umverteilungsaktionen bis hin zu
Land- und Fabrikbesetzungen wie beispielsweise in Norditalien.
Die politische Mobilisierung erfaßte soziale Gruppen, die bislang am politischen Leben kaum beteiligt
waren und nun auf Teilhabe drängten. Das stellte sowohl die Parteien als auch die Verfassungsordnung
vor neue Herausforderungen. Die Ausweitung bzw. Veränderung des Wahlrechts 1918 (z.B.
Abschaffung des preußischen Dreiklassenwahlrechts und Einführung des Frauenwahlrechts) zwang
die alte politische Klasse, sich an neue Gesichter, neue politische Auswahlverfahren bzw. an einen
neuen politischen Stil anzupassen. Politische Entscheidungen konnten nicht länger nur in den
Kabinetten oder in den bislang von bürgerlichen Eliten beherrschten Parlamenten getroffen werden,
sondern gerieten unter den Druck der Agitation auf der Straße und von paramilitärischen Verbänden.
Hinzu kam die Bedrohung durch die kommunistische Revolution, die mit der Forderung nach einer
Diktatur des Proletariats die bürgerlichen Ordnungen Westeuropas herausforderte und auch die
reformistischen sozialistischen Parteien in Bedrängnis brachte soe zur verhängnisvollen Spaltung der
Arbeiterbewegung führte.
Faschistische Bewegungen in Europa
Die revolutionäre Nachkriegskrise führte in vielen europäischen Staaten zur Bildung von extrem
nationalistischen, faschistischen Protest- und Kampfbewegungen, die sich durch eine militante
antiliberale, antimarxistische und teilweise auch antibürgerliche Haltung hervortaten. Sie propagierten
jenseits der parlamentarischen Debatte politischen Kampf und Gehorsam, terroristische
Einschüchterung und politische Gewalt als Inhalt von Politik und praktizierten sie mit ihren nach der
Hemdfarbe ihrer Uniformen benannten Parteiarmeen der Schwarz-, Braun- oder Grünhemden.
Ihr Vorbild war die italienische faschistische Bewegung von Benito Mussolini, der seine "Fasci di
combattimento" 1919 gegründet und mit den faschistischen Sturmtruppen (Squadren) seit 1920/21 im
Norden des Landes durch politischen Terror zunehmend eine Art Nebenregierung errichtet hatte. Mit
seinem "Marsch auf Rom", der mehr ein inszeniertes Propaganda- und Drohmanöver als eine wirkliche
Putschaktion darstellte, war er schon 1922 als Chef einer konservativen Koalitionsregierung an die
Macht gekommen, die er bis 1925 zu einer faschistischen Führerdiktatur ausbaute. Auch die frühe
Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) orientierte sich am politischen Stil des
italienisches Vorbildes, bis nach Hitlers Machtergreifung 1933 der Nationalsozialismus zum neuen
Zentrum autoritärer und faschistischer Bewegungen bzw. Regime der dreißiger Jahre werden sollte.
Vergleicht man die Erfolgschancen der faschistischen Bewegungen und Grüppchen, die sich in
Frankreich ebenso finden wie in Spanien, Rumänien, Ungarn, Jugoslawien oder in England, dann
lassen sich wichtige Voraussetzungen für den Durchbruch zur Massenbewegung bis hin zur
Regierungsbeteiligung der europäischen Faschismusbewegungen bestimmen: Massenwirksamkeit
und politische Erfolge erreichten sie dort, wo das überkommene bürgerlich-liberale Parteiensystem
nicht mehr zur stabilen Mehrheitsbildung fähig war und eine starke Linksbewegung das bürgerliche
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Lager verunsichert hatte.
Erfolgreich waren sie auch dort, wo zu den politisch-sozialen Krisen noch Belastungen der nationalen
Identität durch die Niederlage im Ersten Weltkrieg und eine Friedensregelung hinzukamen, die als
nationale Schmach und als Herausforderung zu einer radikalen Revisionspolitik empfunden wurde.
Hier boten sich die faschistischen Bewegungen als militante Hilfstruppen dem verunsicherten
bürgerlichen Lager an und versuchten dieses dann durch die Dynamik der eigenen Massenbewegung
zu überspielen.
Diese Bündelung verschiedener Problemkonstellationen finden wir vor allem in Italien und Deutschland,
zwei spät gebildeten Nationen mit starken inneren Spannungen. Nur hier konnten die faschistischnationalsozialistischen Bewegungen zu einer Massenbewegung anschwellen und zu einem
eigenständigen politischen Machtfaktor werden, der ihnen dann im Bündnis mit konservativen Parteien
und Gruppen den Weg zur Macht öffnete.
In anderen westeuropäischen Ländern blieben die faschistischen Bewegungen Splitterparteien, da
sich die liberale Verfassungsordnung als stabil erwies. In den südosteuropäischen Regionen war die
allgemeine politische Mobilisierung noch nicht so weit vorangeschritten, daß sich die traditionellen
Eliten verunsichert fühlten und nach einem Bündnis mit der jeweiligen radikalen faschistischen
Bewegung ihres Landes Ausschau hielten.
Demgegenüber war der Erfolg von Mussolini und Hitler mit ihren Parteien Folge von langfristigen
Strukturveränderungen, die zwar unterschiedlich ausgeprägt waren, aber in beiden Ländern nicht mehr
durch ein gestärktes nationales Selbstwertgefühl kompensiert werden konnten. Fühlte man sich in
Italien nach 1919 um den Sieg betrogen, so richteten sich in Deutschland die Kampagnen, die unter
dem Schlagwort des "Dolchstoßes" gegen die sogenannten "Novemberverbrecher" wie gegen die
Weimarer Republik geführt wurden, deren "Erfüllungspolitik" man als Verrat "nationaler Interessen
" und als politische Schwäche bekämpfte.
Belastungen der Weimarer Republik
Die Weimarer Republik hatte es schwer, als neue politische und gesellschaftliche Ordnung von der
Mehrheit der Deutschen anerkannt zu werden. Zu schwer wogen die Erblasten, die sie vom Kaiserreich
übernehmen mußte und die sie in der kurzen Zeit ihrer Existenz kaum abbauen konnte: Ein
obrigkeitsstaatliches Politikverständnis und eine autoritär geprägte politische Kultur, dazu ein
zunehmend militantes antidemokratisches Denken, das auch das zivile Leben mehr und mehr prägte;
ferner mangelnde Erfahrung mit demokratisch-parlamentarischen Entscheidungsprozessen und eine
scharfe Abneigung gegen politische Kompromisse und Koalitionen unter den Parteien; die Orientierung
der Parteien an den Weltanschauungsgeboten, die ihrer Kompromißbereitschaft enge Grenzen zogen.
Das alles förderte die Neigung zu einer überparteilichen bürokratischen Form der Politik, die man lieber
Fachleuten und Beamten anvertraute als den ungeliebten Parteien.
Schließlich förderten die materiellen und sozialen Belastungen durch fast permanente ökonomische
Krisen eine Polarisierung der überkommenen Klassengesellschaft. Tiefe Gräben trennten darum die
politischen Lager der Weimarer Republik, und sie wurden im Verlauf ihrer Geschichte noch tiefer. Das
Freund-Feind-Denken wurde zu einem vorherrschenden politischen Schema. Die Weimarer Republik
wurde zu jedermanns "Vorbehaltsrepublik": Für die einen trug sie den Makel einer Geburt aus
Niederlage und Revolution. Das machte sie reaktionären und restaurativen Kräften in Politik, Wirtschaft,
Militär und Verwaltung verhaßt. Strebten die traditionelleren Gruppen, die vor allem in der
Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) ihre politische Heimat fanden, darum zurück zur Monarchie,
so bot die Republik der militanten neuen Rechten einen Vorwand zur Agitation für eine nationale
Diktatur. Für die andern, die politische Linke, waren die Strukturreformen, zu der die Republik anfangs
noch die Kraft hatte, nicht weit genug gegangen, wadem Radikalismus von links in der Unabhängige
Sozialdemokratischen Partei (USPD) 1919 und später in der Kommunistischen Partei Deutschlands
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(KPD) verstärkten Zulauf aus dem Lager der Enttäuschten sicherte.
Die Weimarer Republik hatte am Anfang durchaus Chancen. Das beweisen die Wahlergebnisse zur
Nationalversammlung vom Januar 1919, bei denen 76,1 Prozent der Wähler sich für demokratische
Parteien entschieden. Aber die neue Verfassungsordnung hätte Zeit gebraucht, um eine demokratische
politische Kultur zu befestigen. Und sie hätte günstige ökonomische und politische
Rahmenbedingungen gebraucht, um die Folgen von Krieg und Inflation zu überwinden. Beides aber
hatte die Weimarer Republik nicht. So blieben viele Reformen und Leistungen im sozialpolitischen
Bereich, aber auch in der Außen- und Wirtschaftspolitik stecken und kurzfristig ohne Wirkung.
Als aber der wirtschafts- und sozialpolitische Ausgleich, den die Republik 1919 ansatzweise realisiert
hatte, bald vollends zerbrach und vor allem einflußreiche Kräfte der Großlandwirtschaft sowie Teile
der Großindustrie die ersten schweren innen- und außenpolitischen Krisenjahre nutzten, um gegen
die Wirtschafts- und Sozialpolitik der Weimarer Koalition Sturm zu laufen, waren die Chancen verspielt.
Nun schlugen die antiparlamentarischen Vorbehalte in antidemokratische Politik um. Unter den
ungünstigen Bedingungen, mit denen die Republik vor allem in ihren Anfangs- und Schlußjahren von
1919 bis 1923 und dann von 1929 bis 1933 zu ringen hatte, wurden die langfristigen politischen und
sozialen Belastungen zu einer Bürde, an denen die pluralistische Demokratie zerbrach.
Verschärft wurde die innenpolitische Polarisierung von Anfang an durch die außenpolitischen
Belastungen, die mit dem Namen Versailles verbunden sind. Auch wenn die tatsächlichen
außenpolitischen und außenwirtschaftlichen Auflagen und Verluste gemessen an den viel
weitergehenden Forderungen einiger Siegermächte noch moderat waren und sich mittelfristig mit einer
klugen Politik durchaus hätte korrigieren lassen, so lagen die eigentlichen Belastungen mehr im
kollektivpsychologischen Bereich, in dem verbreiteten Gefühl nationaler Demütigung. Denn die
deutsche Großmachtposition war in ihrer Substanz noch erhalten und die internationalen Verhältnisse
boten die Chancen zu einer friedlichen, aber eben auch zu einer aggressiven Politik der Revision der
internationalen Nachkriegsordnung und der dort diktierten deutschen Gebietsabtrennungen vor allem
an Polen und Frankreich.
Für sich genommen wäre jeder Belastungsfaktor erträglich gewesen. Erst ihre Bündelung wurde zu
einer Gefahr für die Republik, die sich seit der Wahl des populären Weltkriegsgenerals Paul von
Hindenburg zum Reichspräsidenten 1925 stärker nach rechts bewegte. Das gab jenen Kräften Auftrieb,
die einen Verfassungswandel weg von Parlamentarismus und Sozialstaat hin zu einem autoritären
Verwaltungsstaat anstrebten. Verstärkt wurden solche Bemühungen durch die Krise des
Parteiensystems selbst, das immer weniger zu notwendigen Kompromissen und Kursänderungen im
Bereich der Finanz- und Sozialpolitik fähig war. Die Rede war von einem "Hindenburg-Kabinett", das
ohne die Sozialdemokraten mit den Mitteln des Notstandsartikels 48 der Weimarer Verfassung einen
Schritt in Richtung eines neuen starken Staates gehen sollte.
Weltwirtschaftskrise
Im Winter 1929/30 wurde Deutschland von den Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise erfaßt. Ab
September 1929 stieg die Zahl der Arbeitslosen innerhalb eines Jahres von 1,3 auf 3 Millionen. Im
September 1932 lag die Zahl bei 5,1 Millionen und überstieg Anfang 1933 die Sechs-Millionen-Grenze.
Damit war jeder dritte deutsche Arbeitnehmer arbeitslos. Diese Krise und die ungelösten
Finanzprobleme des Deutschen Reiches eröffneten die Chance zu einer Verformung der Verfassung
im autoritären Sinne. Fast alle Parteien, vor allem auch die der bürgerlichen Mitte, rückten ein Stück
weit nach rechts. Das kam in Führungswechseln, aber vor allem in ihrem politischen Stil zum Ausdruck.
In der Zentrumspartei bedeutete die Wahl von Prälat Ludwig Kaas bereits 1928 einen solchen
Rechtsruck. Nach dem Tode von Gustav Stresemann 1929 erhielten in der Deutschen Volkspartei
(DVP) Interessen der Schwerindustrie das alleinige Sagen. In der DNVP dominierten nun die Kreise,
die mit der Wahl des nationalistischen Großverlegers Alfred Hugberg zum Parteivorsitzenden gegen
die vorübergehende Annäherung an die bürgerliche Regierungsmehrheit und für die Rückkehr zu
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einem scharfen Oppositionskurs gegen die Republik eintraten.
Die Parteien organisierten sich zusätzlich in Kampfbünden, die auf der Straße agitierten und ihre
militante Bereitschaft zu Entschlossenheit und Kampf demonstrieren sollten, sei es für oder gegen die
Republik. Das reichte bis zur republikanischen Wehrorganisation "Reichbanner Schwarz-Rot-Gold
" und dem "Jungdeutschen Orden", dem sich die linksliberale Deutsche Demokratische Partei (DDP)
anschloß. Auf der Rechten gab es schon längst die zahlreichen Wehrverbände und Kampfbünde, unter
denen der "Stahlhelm" eine große Nähe zum politischen Establishment aufwies und die SA als
paramilitärische Einrichtung der NSDAP vor allem in den zunehmenden Straßenkämpfen mit dem
kommunistischen "Rotfrontkämpferbund" die spektakulärsten Auftritte inszenierte. Es war eine
schleichende Militarisierung des politischen Lebens, in dem die Verfassungsnormen einer
parlamentarischen Demokratie immer mehr durch Muster eines gewaltbereiten Aktionismus ersetzt
wurden. Die Militanz der SA fiel allenfalls noch durch ihre besondere Radikalität auf, ansonsten aber
war bereits eine gewisse Gewöhnung an einen veränderten politischen Stil eingetreten.
Nun erwies sich der Notstandsartikel 48 der Weimarer Verfassung, der dem demokratischen
Reichspräsidenten Friedrich Ebert bis 1925 zur Stabilisierung der parlamentarischen Verfassung
gedient hatte, als Hebel für eine Verfassungsrevision. Reichskanzler Heinrich Brüning vom Zentrum
(1930 bis 1932), der selbst den Parlamentarismus beschneiden wollte und mit einer Rückkehr zur
Monarchie liebäugelte, konnte sich noch auf die Tolerierung durch die Mehrheit im Reichstag stützen.
Diese sah in einer Präsidialregierung angesichts der drohenden Polarisierung von den politischen
Flügeln her und vor allem angesichts der nationalsozialistischen erdrutschartigen Wahlerfolge vom
September 1930 immer noch das kleinere Übel. Brüning begab sich aber immer mehr in Abhängigkeit
vom Reichspräsidenten und von den Machtgruppen vorwiegend aus Reichswehr und Großagrariern,
die unmittelbaren Einfluß auf den "alten Herrn", Reichspräsident Hindenburg, hatten. Damit wurde
Brüning zum "ersten Kanzler der Auflösung der Weimarer Republik" (rl Dietrich Bracher), dem mit
Franz von Papen und Kurt von Schleicher Exponenten eines entschieden autoritären Kurses folgten,
die Parteien und Parlament gänzlich ausschalten wollten.
Präsidialregierungen
Mit der Wende zum autoritären Staat, die mit der Regierung Brüning 1930 ihren Ausgang nahm und
unter dem Nachfolger Franz von Papen 1932 ihren Höhepunkt erlebte, verband sich die Geschichte
der NSDAP und die Auflösung der Weimarer Republik. Die autoritäre Verformung der Verfassung, die
durch die mangelnde Konsensfähigkeit der verfassungstreuen Parteien begünstigt wurde, ging dem
Aufstieg des Nationalsozialismus voraus. Sie war keineswegs eine bloße Abwehr- und Notreaktion
auf die zunehmende antidemokratische Massenagitation sowie die schwere ökonomische Krise mit
der dramatischen Zunahme der Arbeitslosigkeit. Die Krise wurde von den Trägern der "HindenburgKabinette" vielmehr für ihre politischen Absichten genutzt. Die Weimarer Republik war im Kern bereits
gescheitert, als der Durchbruch der NSDAP zur Massenbewegung im September 1930 die politische
Landschaft veränderte. Nicht Hitlers Wahlerfolge und die Massenarbeitslosigkeit verursachten die
Krise des parlamentarischen Systems, sondern die beiden Faktorenonnten, indem sie sich
wechselseitig verstärkten, ihre Wirkung erst entfalten, als die Auflösung der Weimarer Demokratie
bereits im Gange war.
Schon bei den Verhandlungen, die zur Bildung der Präsidialregierung Brüning hinter den Kulissen
geführt worden waren, hatten sich die Strukturprobleme der künftig "halbparlamentarischen,
halbpräsidialen Regierung" (Martin Broszat) abgezeichnet: Sie sollte nicht mehr von den Parteien
abhängig sein, sondern stattdessen von einem als Vertrauensmann des Reichspräsidenten
handelnden Fachmann gebildet werden. Aber sie war weiterhin auf die Duldung im Reichstag
angewiesen, weil dieser nach wie vor das verfassungsmäßige Recht hatte, auch Notverordnungen
des Reichspräsidenten nach Artikel 48 wieder aufzuheben. Umgekehrt war es ein verführerischer
Gedanke, den die Verfassung zudem nahelegte, den Reichstag durch Vertagung oder Auflösung zu
umgehen. Dies hatte Brüning bereits bei der Vorlage seiner ersten Notverordnung im Juni/Juli 1930
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ausgenutzt und den widerspenstigen Reichstag ohne Not aufgelöst.
Als bei den Septemberwahlen 1930 die NSDAP ihre sensationellen, aber durchaus vorhersehbaren
Erfolge erzielte, schrumpften die Handlungsspielräume sowohl der Regierung als auch der anderen
Parteien. Der abschüssige Weg zu einer schrittweisen, am Ende von den konservativ-autoritären
Kreisen aus Politik, Reichswehr, Bürokratie und Großwirtschaft durchaus gewollten Auflösung der
demokratischen Verfassungsordnung war beschritten. Die Bildung der Regierung Papen 1932 konnte
dann von Hindenburg zufrieden als eine Regierung ohne republikanische Minister begrüßt werden.
Denn die Regierung wurde von der einstigen nationalen Opposition gebildet, die nun meinte, sich bei
der Etablierung eines "hochkonservativ-autoritären Regiments" (Broszat) auf die Nationalsozialisten
gleichsam als Fußtruppen stützen zu können, was die revolutionäre Dynamik der
nationalsozialistischen Massenbewegung und den diktatorischen Herrschaftsanspruch ihrer Führer
dramatisch unterschätzte.
Mit den weiteren Wahlerfolgen der extremen Parteien einher ging die Bereitschaft von Repräsentanten
des neuen Kurses, sich auch mit Hitlers Massenpartei einzulassen und diese durch Vorleistungen
einzufangen sowie dann durch Koalitionen, zunächst auf Länderebene, in ihr Machtkonzept
einzubinden und dadurch zu "zähmen". Durch diese Politik der versuchten "Zähmung" blieb bald nur
noch die Alternative zwischen einer autoritären Regierung gestützt auf die Verfügung des
Reichspräsidenten über das Notverordnungsrecht und notfalls auch auf die Macht der Reichswehr
einerseits und einer faschistischen Lösung andererseits, das heißt einer Machtübertragung an die
Nationalsozialisten, die sich allenfalls noch in einer nationalen Koalitionsregierung unter Hitler
einbinden ließen.
Stellung des Reichspräsidenten in der Weimarer Verfassung
Artikel 43
Amtsdauer, Absetzung
Das Amt des Reichspräsidenten dauert sieben Jahre.Wiederwahl ist zulässig.
Vor Ablauf der Frist kann der Reichspräsident auf Antrag des Reichstags durch Volksabstimmung
abgesetzt werden. Der Beschluß des Reichstags erfordert Zweidrittelmehrheit. Durch den Beschluß
ist der Reichspräsident an der ferneren Ausübung des Amtes verhindert. Die Ablehnung der Absetzung
durch die Volksabstimmung gilt als neue Wahl und hat die Auflösung des Reichstags zur Folge.
Der Reichspräsident kann ohne Zustimmung des Reichstags nicht strafrechtlich verfolgt werden.
Artikel 46
Ernennungs- und Entlassungsrecht
Der Reichspräsident ernennt und entläßt die Reichsbeamten und die Offiziere, soweit nicht durch
Gesetz etwas anderes bestimmt ist. Er kann das Ernennungs- und Entlassungsrecht durch andere
Behörden ausüben lassen.
Artikel 47
Oberbefehl
Der Reichspräsident hat den Oberbefehl über die gesamte Wehrmacht des Reichs.
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Artikel 48
Maßnahmen bei Störung von Sicherheit und Ordnung
Wenn ein Land die ihm nach der Reichsverfassung oder den Reichsgesetzen obliegenden Pflichten
nicht erfüllt, kann der Reichspräsident es dazu mit Hilfe der bewaffneten Macht anhalten.
Der Reichspräsident kann, wenn im Deutschen Reich die öffentliche Sicherheit und Ordnung erheblich
gestört oder gefährdet wird, die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nötigen
Maßnahmen treffen, erforderlichenfalls mit Hilfe der bewaffneten Macht einschreiten. Zu diesem
Zwecke darf er vorübergehend die in den Artikeln 114, 115, 117, 118, 123, 124 und 153 festgesetzten
Grundrechte ganz oder zum Teil außer Kraft setzen.
Von allen gemäß Abs. 1 oder Abs. 2 dieses Artikels getroffenen Maßnahmen hat der Reichspräsident
unverzüglich dem Reichstag Kenntnis zu geben. Die Maßnahmen sind auf Verlangen des Reichstags
außer Kraft zu setzen.
Bei Gefahr im Verzuge kann die Landesregierung für ihr Gebiet einstweilige Maßnahmen der in Abs.
2 bezeichneten Art treffen. Die Maßnahmen sind auf Verlangen des Reichspräsidenten oder des
Reichstags außer Kraft zu setzen. []
Aufstieg der NSDAP 1919 bis 1929
Der Nationalsozialismus war ein Kind der Krisen. Seine Entstehung fiel in die krisenhaften, von
Revolution und Gegenrevolution geprägten Anfangsjahre der Weimarer Republik, sein Aufstieg zur
Massenpartei seit den Wahlen von 1930 war eng verbunden mit der Staats- und Wirtschaftskrise der
Weimarer Republik. Während die erste Phase noch mit der Selbstbehauptung der von allen Seiten
bekämpften parlamentarischen Ordnung der jungen Republik einerseits und dem fehlgeschlagenen
Putsch der NSDAP vom 9. November 1923 andererseits endete, mündete die große Krise der dreißiger
Jahre und der erneute Ansturm von rechts auf die Republik in der Etablierung der Diktatur. Dazwischen
lagen die wenigen Jahre der Stabilisierung der Weimarer Republik, die für die NSDAP die bescheidene
Existenz einer Splitterpartei bedeuteten, die sich dann 1928/29 im Augenblick neuer Wahlerfolge mitten
in der organisatorischen Umgestaltung befand.
Frühgeschichte
Begonnen hatte die NSDAP als eine unter vielen Protestgruppen im völkisch-antisemitischen Milieu
Münchens, wo die Nachkriegswirren noch durch die Münchener Räterepublik und die anschließende
Gegenrevolution verschärft wurden. Aus dem "Alldeutschen Verband", dem mächtigsten
nationalistischen und antisemitischen Agitationsverband der Vorkriegs- und Kriegszeit, hatten sich
verschiedene völkisch-nationale Organisationen herausgebildet, unter ihnen auch die "ThuleGesellschaft", ein "Germanenorden" mit geheimen, okkultistischen Ritualen, dessen Mitglieder
vorwiegend aus dem bürgerlichen Milieu stammten. In ihrem Kampf gegen die politische Linke
versuchte diese Gruppierung auch, Arbeiterzirkel zu bilden, was zur Gründung der Deutschen
Arbeiterpartei (DAP) durch den Eisenbahnschlosser Anton Drexler zusammen mit dem Journalisten
Karl Harrer am 5. Januar 1919 führte. Die DAP blieb zunächst eine unter vielen völkischen
Splittergruppen, die sich ohne besonderes programmatisches Profil zunächst in Stammtischgesprächen
echöpfte und durch einige zugkräftige Redner und Werbeveranstaltungen in den Münchner Bierhallen
Aufsehen zu erregen versuchte.
Ein anderer Ableger des Alldeutschen Verbandes war die zunächst erfolgreichere antisemitische
Sammlungsbewegung, der "Deutschvölkische Schutz- und Trutzbund". Er unterhielt zahlreiche
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Querverbindungen zu Freikorps und rechtsstehenden Kreisen der Reichswehr bzw.
Soldatenverbänden, bald aber auch zur jungen DAP/NSDAP, deren Funktionäre anfangs ebenfalls
Mitglieder des Schutz- und Trutzbundes waren. Als dieser nach inneren Zerwürfnissen zerfiel und nach
dem von Angehörigen der rechtsextremen völkisch-nationalistischen Organisation "Consul" an
Außenminister Walther Rathenau begangenen Mord (24. Juni 1922) schließlich verboten wurde, trat
die NSDAP deren Nachfolge an, die sich unter der Führung Adolf Hitlers mittlerweile zur lautstärksten
Gruppe der völkischen Bewegung entwickelt hatte.
Am 12. September 1919 hatte der Reichswehragent Adolf Hitler im dienstlichen Auftrag eine
Versammlung der DAP besucht. Das Bayerische Reichswehrgruppenkommando hatte ihn nach der
Absolvierung politischer "Aufklärungskurse" abkommandiert, um Parteiversammlungen im Münchener
Raum zu beobachten und unter Soldaten politisch zu agitieren. Ein Diskussionsbeitrag Hitlers bewog
Parteigründer Drexler, diesen zum Eintritt in den Parteiausschuß der DAP einzuladen. Bald darauf
schloß er sich der Splittergruppe an, da er hier nach seiner drohenden Entlassung aus der Reichswehr
eine politische Betätigung und Heimat zu finden hoffte, die es ihm erlaubte, als Werbeobmann seine
demagogischen Fähigkeiten einzusetzen. Binnen kurzem wurde er zum Hauptredner und "Trommler
" des Grüppchens aus heimatlosen Soldaten und völkischen Weltverbesserern und machte sich für
seine Partei zunehmend unentbehrlich.
Die politischen Ansichten, die er unermüdlich vortrug, waren im völkisch-nationalen Milieu nicht
ungewöhnlich: Er rief zum Kampf gegen den als "Schanddiktat" gebrandmarkten Friedensvertrag von
Versailles und zur Verfolgung aller als "Novemberverbrecher" denunzierten Repräsentanten der
demokratischen Parteien auf, die er bezichtigte, für den "Dolchstoß" aus der Heimat in den Rücken
der kaiserlichen Armee an der Front verantwortlich gewesen zu sein. Solche und andere maßlosen,
von Haßtiraden geprägten Attacken richteten sich meist gegen Juden, Marxisten, Pazifisten und
Demokraten. Auffallend war der Fanatismus, mit dem er seine Parolen vortrug, und die Unbedingtheit,
mit der er sich diesen fast bis zur physischen Erschöpfung leidenschaftlich vorgetragenen
Schlagworten und Appellen selbst verschrieb.
Auch das 25-Punkte-Parteiprogramm, das von Drexler und Hitler zusammengestellt worden war und
aus Anlaß der Umbenennung in "Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei" (NSDAP) am 24.
Februar 1920 vorgestellt wurde, stellte einen Querschnitt des damaligen rassistisch-nationalistischen
Ideengemenges vermischt mit antikapitalistischen Tönen dar: Die Forderung nach dem Anschluß
Österreichs und dem Rückerwerb der Kolonien, nach Wiederherstellung deutscher Großmachtstellung;
nach Durchführung einer Bodenreform und der Verstaatlichung der Großunternehmen. Ferner wurde
unermüdlich von dem völkischen Weltverbesserer und selbsternannten "Wirtschaftstheoretiker" der
Partei, Gottfried Feder, die Forderung nach der "Brechung der Zinsknechtschaft" vorgetragen, die in
der Politik der Banken und Börsen das Grundübel sah und deren Verstaatlichung verlangte. Schließlich
propagierte man die Forderung nach der Einziehung der Kriegsgewinne sowie der Ausbürgerung der
Juden aus dem Deutschen Reich.
Auch wenn dieses aus bereits Vorhandenem zusammengetragene Parteiprogramm 1926 sogar noch
für "unabänderlich" erklärt wurde, kümmerte es Hitler wenig. Es sagt weder etwas über das politischideologische Profil Hitlers und der NSDAP noch über deren spätere Attraktivität aus. Hitler benutzte
das Parteiprogramm nur, um sich als "Hüter der nationalsozialistischen Idee" darzustellen und zu
rechtfertigen.
Die Anziehungskraft, die die Partei zunächst auf das völkisch-antisemitische Lager ausübte, hatte ihre
Ursachen zum einen in der Radikalität, mit der die Partei die Vernichtung des Judentums aus dem
deutschen "Volkskörper" als Voraussetzung für eine "nationale Gesundung" forderte, und zum anderen
in der propagandistisch-rhetorischen Wirkungskraft, mit der Hitler diese Parolen vortrug und bündelte.
Er nutzte den Antisemitismus vor allem in der Entstehungs- und Aufstiegsphase der NSDAP als
Integrationsideologie, um die in sich zerstrittenen völkischen Gruppen zu einer "Bewegung
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Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
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" zusammenzuschweißen und die diffusen völkisch-antisemitischen Vorstellungen zu bündeln. Denn
mittlerweile war die Saat des Antisemitismus, die im wilhelminischen Deutschland gesät worden war,
durch die politische Ideologisierung und Polarisierung im Ersten Weltkrieg aufgegangen. In der
Weimarer Republik war sie dann von zahlreichen antisemitischen Organisationen in unterschiedlicher
Ausprägung verbreitet worden - einmal schrill und primitiv, dann wieder gemäßigt und mit dem "Anstrich
von Wissenschaft" (Uwe Lohalm) versehen.
Das Vordringen antisemitischer Einstellungen läßt sich vor allem an der Einführung des "
Arierparagraphen" in den Satzungen zahlreicher Vereine und Verbände ablesen, die die Mitgliedschaft
von Juden ausschlossen. Ihr Spektrum reichte von den Soldatenverbänden über den mitgliederstarken
und einflußreichen "Deutschnationalen Handlungsgehilfenverband", den "Reichslandbund" bis hin zu
Jugendbünden und Studentenschaften. Das zeigt, daß das antisemitische Vorurteil vor allem in
mittelständischen Bevölkerungsschichten auf einen fruchtbaren Boden fiel, die sich durch Statusverlust
und Existenzgefährdung bedroht fühlten und nach einem Sündenbock suchten. Dieses große Wählerund Mitgliederreservoir suchte der Antisemit und Rassist Adolf Hitler mit Erfolg hinter sich zu vereinigen,
indem seine eigenen antisemitischen Ressentiments sich mit denen seiner Zuhörer trafen. Das setzte
einerseits möglichst allgemeine und vage Formulierungen voraus, um zwischen den zerstrittenen
Strömungen vermitteln zu können. Andererseits bedurfte es jener vordergründigen Glaubwürdigkeit
und Hingabebereitschaft, die der Agitator Hitler wirkungsvoll verkörperte.
Hitlers Kindheit und Jugend
Wann und wie er sich dieses rassistische und antisemitische Weltbild angeeignet hat, läßt sich nicht
mit Sicherheit feststellen. Entscheidender ist ohnehin die Wirkung, die davon ausging. Hitler war bis
zu dem Zeitpunkt seines "Eintritts in die Politik" ein politischer und sozialer Niemand, der 30 Jahre
seines Lebens am Rande der Gesellschaft, ohne Berufsausbildung und ohne politische Erfahrungen
bzw. Aktivitäten zugebracht hatte. Offenbar wurde in dieser Zeit im Wien der Vorkriegszeit sein "Weltbild
" in den Grundzügen geprägt. Sein eigentlicher weltanschaulicher Formierungs- und politischer
Lernprozeß vollzog sich dann in der relativ kurzen Zeit zwischen 1919 und 1925 in München.
Vieles von dem, was er später in seiner Rechtfertigungs- und Propagandaschrift "Mein Kampf" über
seine Kindheit und Jugend geschrieben hat, ist stilisiert oder nur halbwahr. Alles deutete in den frühen
Jahren auf eine bescheidene, aber unbedeutende Zukunft, nichts auf eine politische Karriere, die
einmal die Welt in Faszination und Schrecken versetzen sollte.
Adolf Hitler wurde am 20. April 1889 in der österreichischen Grenzstadt Braunau als Sohn eines kleinen
Zollbeamten geboren, der auf Aufstieg und Respektabilität bedacht war. Die Familie bot ihm auch nach
dem Tod des Vaters (1903) durchaus materielle Sicherheit und Geborgenheit. Das galt ebenfalls für
die Zeit, als er nach dem 9. Schuljahr seinen Schulbesuch abbrach und in tatenloser Muße zunächst
bei der Mutter in Linz (1905 bis 1907) und dann in Wien (1907 bis 1913) zubrachte. Nach zwei
vergeblichen Anläufen, in die Wiener Kunstakademie aufgenommen zu werden, führte er ohne
Ausbildung ein unstetes Leben, in dem er sich "Kunststudent" oder "Schriftsteller" nannte. Tatsächlich
lebte er von dem Verkauf selbstgefertigter Architektur-Ansichtskarten und vertrieb sich seine Zeit mit
Aushilfsarbeiten, Theaterbesuchen und Zeichnen.
Aus dieser Zeit stammen auch einige Elemente seiner völkisch-antisemitischen Weltanschauung, die
er sich aus wahlloser Lektüre und der Beobachtung des politischen Geschehens aneignete. Eindruck
auf ihn machten die wüsten antisemitischen und rassistischen Ausfälle des verkrachten Mönches Lanz
von Liebenfels, der in seiner Zeitschrift, den "Ostara"-Heften, in trivialster Form reproduzierte, was
sich im Wien der Jahrhundertwende an völkischen Wunschträumen und antisemitischen
Ressentiments angestaut hatte. Auch die antisemitische und antisozialistische Demagogie des
christlich-sozialen Wiener Oberbürgermeisters Karl Lueger verfehlte ihre Wirkung auf den jungen Hitler
ebensowenig wie der österreichisch-großdeutsche Nationalismus des Alldeutschen Georg von
Schönerer. Hier begegnete Hitler der gleichen zwanghaften Neigung, mit der er später selber alles
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Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
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Böse dieser Welt auf die Juden zurückführte. Hier fand er die gleiche Radikalität in der Kampfansage
gegen die Kräfte der "Zersetzung", die später den Kern der eigen Weltanschauung ausmachten. Schon
in der Wiener Zeit war für Hitler der Antisemitismus offenbar "das ideologische Passepartout" (Wendt),
mit dem er für sich die Welt und das eigene private Schicksal der drohenden sozialen Deklassierung
erklären konnte.
Kriegserlebnis
Einen entscheidenden und prägenden Abschnitt stellte für Hitler, der sich 1913 vor einem drohenden
Einberufungsbefehl nach München abgesetzt hatte, das Kriegserlebnis 1914 bis 1918 dar. Ein Foto
zeigt ihn mit begeistertem Gesicht in der jubelnden Menge auf dem Odeonsplatz in München am 2.
August 1914, dem Tag nach der deutschen Kriegserklärung an Rußland. Die allgemeine Begeisterung
des August 1914 ergriff den Außenseiter um so mehr, als er nun aus seinem ziel- und nutzlosen Dasein
befreit schien. Hier eröffnete sich ihm eine feste Ordnung, die jene nationalen und sozialen Erwartungen
und Einstellungen befriedigte, von denen er bisher nur geträumt hatte. Der Krieg befreite ihn von allen
Zurückweisungen einer Gesellschaft, in der er bisher nicht hatte Fuß fassen können.
Am 3. August 1914 richtete Hitler ein Gesuch an den bayerischen König, um als Österreicher in ein
bayerisches Regiment aufgenommen zu werden, was ihm bereits einen Tag später gewährt wurde.
Als Meldegänger zwischen dem Regimentsstab und vorgeschobenen Stellungen zeichnete er sich
durch seine Tapferkeit aus. Einzelgänger blieb Hitler auch als Gefreiter, der nach dem Urteil seiner
Vorgesetzten keine "Führungseigenschaften" besaß. Das Fronterlebnis prägte Hitlers starres
Festhalten an militärischen Befehls- und Werthierarchien, die später zum bestimmenden Prinzip der
Organisationsstruktur der NSDAP und der von den Nationalsozialisten propagierten "nationalen
Volksgemeinschaft" werden sollten. Für Hitler war das Regiment, wie ein ehemaliger Vorgesetzter
später bestätigte, "Heimat". Schließlich verstärkte das Kriegserlebnis seine Vorurteile, seine vagen
völkisch-nationalistischen Wunsch- und Zielvorstellungen. So meinte er zu wissen, daß man nach dem
Krieg den "inneren Internationalismus" zerbrechen müsse, und entwickelte einen Haß auf alles Fremde,
verbunden mit einer Furcht vor dem inneren und äußeren Feind. Später schrieb er, daß der Krieg für
ihn die "unvergeßlichste" und "größte" Zeit seines Lebens gewesen sei.
Um so schockierender mußte auf jemanden, der im Krieg zu sich "gefunden" hatte, die Nachricht von
der Niederlage vom November 1918 wirken, von der er nach einer Augenverwundung durch
Gasbeschuß im Lazarett erfuhr. Nun gewann der Kampf um die nationale Sache für ihn eine existentielle
Dimension. Das war die Quelle der "fanatischen Energie, mit der nun Hitler den Krieg in Permanenz
zu seinem Leitbild erhob" (Bracher). Die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln sollte zum ersten
und wichtigsten politischen Anliegen Hitlers werden. Sie wurde auch zur Voraussetzung seines
politischen Wirkens, denn damit traf er die Gefühle großer Teile der Frontgeneration.
Eintritt in die Politik
Hitlers Eintritt in die Politik vollzog sich wesentlich undramatischer, als er dies später behauptet hat.
Wieder waren es der Zufall und seine Sorge um ein bescheidenes Auskommen wie um mentale
Geborgenheit, die ihn aus Furcht vor der Demobilisierung zurück zu seinem alten Regiment nach
München trieb. Nach Niederschlagung der Münchener Räterepublik im April 1919 stellte er sich einer
Untersuchungskommission zur politischen Säuberung der Truppe von "revolutionären Elementen" zur
Verfügung und begann damit nach eigenem Urteil seine "erste mehr oder weniger rein politische aktive
Tätigkeit". Da er seine Aufgabe mit großem "nationalen Eifer" zur Zufriedenheit seiner Vorgesetzten
erfüllte, schickte man ihn im Juni 1919 zu einem politischen Schulungskurs. Für Hitler war das vor
allem die Gelegenheit, auf sich aufmerksam zu machen, bis er als "Verbindungsmann" der Reichswehr
einem "Aufklärungskommando" zugewiesen wurde und zur Zufriedenheit seiner Auftraggeber
politische Agitation betrieb, als "ein geborener Volksredner, der durch seinen Fanatismus und sein
populäres Auftreten die Zuhörer unbedingt zur Aufmerksamkeit und zum Mitdenken zwingt."
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Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
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Wie sehr sich seine antisemitischen Vorstellungen zu diesem Zeitpunkt schon zu radikalen Postulaten
verfestigt hatten, zeigt ein Antwortschreiben, das Hitler im Auftrag seines Hauptmanns an einen anderen
Verbindungsmann über die "Gefahren des Judentums" verfaßte, seine erste überlieferte politische
Äußerung. Dort war von einem "Antisemitismus der Vernunft" die Rede, der "zur planmäßigen
gesetzlichen Bekämpfung und Beseitigung der Vorrechte der Juden" führen müsse. Das letzte Ziel
aber, so Hitler in diesem Brief weiter, "muß unverrückbar die Entfernung der Juden überhaupt sein." Das
waren ideologische Glaubenssätze, die bis zu Hitlers Ende im Berliner Bunker für ihn Gültigkeit
behielten, die aber trotz ihrer erschreckenden Kontinuität noch nicht erklären, warum aus diesen
antisemitischen Tiraden, die Hitlers Eintritt in die Politik begleiteten, einmal politische Realität werden
sollte. Als Verbindungsmann der Reichswehr kam Hitler dann auch zur Deutschen Arbeiterpartei (DAP),
einer von etwa 70 rechtsextremen Splittergruppen, die in der ersten Nachkriegszeit überall im Reich
entstanden waren. In ihr fand er eine politische Gruppierung, die ähnliche nationalistische und
antisemitische Parolen vortrug wie er selbst. Hier fand er nach seiner Entlassung aus der Reichswehr
im Mai 1920 eine neue Betätigung.
Führungsclique
Schon bevor Hitler als Bierkeller-Agitator von sich reden machte, war im politischen Lager der
nationalen Rechten der zwanziger Jahre die Sehnsucht nach einem großen Führer verbreitet. Er selbst
hatte sich anfangs auch nur als "Trommler" für eine nationale Erlösergestalt verstanden, bis er sich
schließlich selbst als Anwärter für eine solche charismatische Führergestalt anpreisen konnte. Dies
war erst möglich, nachdem er die inzwischen in Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei
(NSDAP) umbenannte völkische Gruppierung übernommen und zu einer Führerpartei umorganisiert
hatte.
Zudem verstand Hitler es, zunehmend Männer seiner Wahl in den Parteivorstand zu schleusen und
damit seine Position zu sichern. Dazu gehörte einmal die Gruppe der völkischen Ideologen, die aus
der Thule-Gesellschaft stammten: Der antisemitische Schriftsteller Dietrich Eckart, der auf Hitlers
politisch-ideologischen Bildungsprozeß einen nicht unerheblichen Einfluß hatte; ferner der
Baltendeutsche Alfred Rosenberg, dessen Erfahrungen in Rußland ihn zu einem entschiedenen
Antibolschewismus gebracht hatten, den Hitler mit antisemitischen Ideen zur Vorstellung einer "
russisch-jüdischen Revolution" verschmolz. Schließlich auch Gottfried Feder, der das Schlagwort von
der "Brechung der Zinsknechtschaft" in Umlauf gebracht hatte.
Einflußreicher wurden bald die Militärs: Der Hauptmann Ernst Röhm, der sich zum Verbindungsmann
zur Reichswehr und zum Waffenbeschaffer der nationalsozialistischen Parteiarmee entwickeln sollte;
der hochdekorierte Jagdflieger des Weltkrieges Hermann Göring, der 1923 das Kommando der SA
übernahm; schließlich Oberstleutnant Hermann Kriebel, der über enge Kontakte zu den völkischen
Wehrverbänden verfügte.
Darüberhinaus fanden auch einige akademisch gebildete Ex-Offiziere ihre Heimat in der NSDAP: Der
fanatische Hitler-Anhänger Rudolf Heß, ferner Max Amann, der den Parteiverlag der NSDAP gründete,
schließlich Walter Buch, der später das Parteigericht der NSDAP leiten sollte. Außerdem gehörten zu
Hitlers Umgebung die beiden fanatischen Antisemiten Hermann Esser und Julius Streicher. Sie alle
unterstützten Hitler in seinem Aufstieg zur Parteiführung und bei seiner Kontaktaufnahme mit Gönnern
in Reichswehr und Münchener Bürgertum. So war es auch Ernst Röhm, der die 60000 Reichsmark
vermittelte, die für den Ankauf des Parteiblattes "Völkischer Beobachter" erforderlich waren.
Im Zentrum von Hitlers Aktivitäten standen nun weniger programmatische Aussagen als
Propagandakampagnen zur Werbung von Mitgliedern und Wählern. Was er von Parteitrupps
wirkungsvoll untermauert an antisemitischen, antisozialistischen, völkisch-nationalistischen und
antidemokratischen Parolen vortrug, fand auf dem Hintergrund des verlorenen Krieges und der
Revolution, des Bewußtseins sozialer Statusbedrohung, aber auch dem Bedürfnis nach Erlösung und
politischer Orientierung zunehmend Aufmerksamkeit und Zustimmung. Hitler wurde bald zum Medium
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vielfacher Ressentiments und Erwartungen. Nicht seine Persönlichkeitsmerkmale und die Originalität
seiner politischen Ideen verschafften ihm eine wachsende Aufmerksamkeit und Anziehungskraft, die
ihm schließlich auch über die bayerischen Grenzen hinaus den Nimbus eines omnipotenten Führers
verlieh, sondern der neuartige politische Stil, der die NSDAP aus dem Gefecht völkischer Verbände
heraushob.
Erst die Verbindung von Weltanschauung und Organisation bzw. Propaganda machte die NSDAP
unverwechselbar und charakterisierte Hitlers Politikverständnis. Eine "einheitlich organisierte und
geleitete Weltanschauung" erklärte Hitler, bedürfe einer "sturmabteilungsmäßig organisierten
politischen Partei." Die Weltanschauung könne in knappen Formeln zusammengefaßt werden und
müsse nicht in einem wortreichen Programm ihren Ausdruck finden. Endlose weltanschauliche
Debatten hielt er für abträglich; sie schadeten der Massenwirksamkeit wie der eigenen Machtposition.
Stattdessen müsse die Organisation darauf ausgerichtet sein, die politische Propaganda wirkungsvoll
zu verbreiten und der Entschlossenheit der Partei symbolisch Ausdruck zu verleihen.
Wichtigste Elemente der Propaganda, wie sie von Hitler entwickelt und praktiziert wurde, waren die
Rede, die Einfachheit der dort vorgetragenen dualistischen Weltsicht und die Gewißheit, mit der Hitler
seine Glaubenssätze verkündete; seine Fähigkeit, die eigenen Ängste und Visionen zu einer
persönlichen Weltanschauung zu bündeln und sich dabei zum Medium all derer zu machen, die sich
von ähnlichen Erfahrungen und Erwartungen bestimmt sahen.
Hitlers Weltanschauung
Gleichwohl kommt Hitlers Weltanschauung für sein Selbstbewußtsein wie für seinen Machtanspruch
in der Partei und später im Regime große Bedeutung zu. Das Gefühl über ein festes Gedankengebäude
zu verfügen, in das sich scheinbar alle Erfahrungen und Wahrnehmungen einbetten ließen, gab dem
Außenseiter und Autodidakten Sicherheit. Die Behauptung, er allein verfüge über ein gültiges, in sich
geschlossenes System der Welt- und Politikerklärung festigte seine diktatorische Machtfülle im
Nationalsozialismus. Schließlich sollten die Entscheidungen über Krieg und Rassenpolitik, die beiden
zentralen Dimensionen der nationalsozialistischen Politik, auf Hitlers weltanschaulichen Willen
zurückgehen. Doch daß Hitlers Weltanschauung schließlich Staatsdoktrin wurde, setzte einen langen
und komplizierten Prozeß der Umsetzung einer Ideologie voraus, die sich zuerst aus individuellen
Erfahrungen und Einflüssen bildete.
Die Außenwirkung einer solchen Ideologie, die über ihre Politik und Konsensfähigkeit entscheiden
sollte, hing ganz wesentlich davon ab, daß viele der ideologischen Formeln vertraut klangen, zugleich
griffig und populistisch formuliert wurden und scheinbar eine einfache Antwort auf eine komplizierte
und bedrohliche Wirklichkeit boten. Sie mußten dem Bedürfnis nach Sündenböcken eine klare Richtung
für die Kanalisierung der kollektiven Frustrationen und Haßgefühle geben. Dazu war es notwendig,
daß viele der Hitlerschen Weltanschauungs- und Propagandaangebote schon verbreitet und der Boden
für ihre Politisierung und Organisation schon vorbereitet war. Eine solche Politikfähigkeit setzt nicht
unbedingt denkerische Originalität voraus, denn die hatte Hitlers Weltanschauung ganz gewiß nicht.
Sie war keine eigenständige Erfindung, sondern stammte aus dem "Ideenschutt" (Joachim C. Fest)
des 19. Jahrhunderts.
Bis zur Mitte der zwanziger Jahre hatte Hitler aus den verschiedenen Versatzstücken der völkischantisemitischen, rassenbiologistischen und sozialdarwinistischen, nationalistischen und imperialistischen,
antidemokratischen und antimarxistischen Vorstellungen sein persönliches Weltbild zusammengetragen,
das von zwei Ideensträngen zusammengehalten wurde: von einem radikalen, universalen
Rassenantisemitismus und von der Lebensraumdoktrin. Verbunden war dieser ideologische Kern mit
dem Glauben, die Geschichte sei von einem permanenten "Kampf der Völker um Lebensraum
" bestimmt, der nur dann siegreich geführt werden könne, wenn die "Rassereinheit" gewahrt bliebe
bzw. hergestellt würde. Dieses sozialdarwinistische Geschichtsbild und die beiden damit verbundenen
Ideenstränge des Rassenantisemitismus und der imperialistischen Lebensraumdoktrin waren
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anderswo schon vielfach vorgetragen worden und durch entsprechende politische Bewegungen in der
Weimarer Republik einem größeren Publikum vertraut.
Ideologische Wurzeln
Rassismus und Antisemitismus wurden seit dem späten 19. Jahrhundert in kleinen Zirkeln ideologisch
miteinander verbunden und durch die Agitation antisemitischer Gruppierungen seit den achtziger
Jahren des 19. Jahrhunderts populär gemacht. Eine wichtige Rolle bei der Verbreitung und Vermittlung
rassistischer und antisemitischer Vorstellungen spielte der Wagner-Kreis in Bayreuth, der den Mythos
von "Ariern" und Germanen durch Bühnenweihespiele für ein gebildetes Publikum hoffähig machte.
Nicht nur, daß Richard Wagner, den Hitler zutiefst verehrte, selbst Antisemit und Rassist war; durch
seinen Kreis wurden zudem die Werke des wichtigsten "Rassetheoretikers", des französischen Grafen
Arthur de Gobineau, ins Deutsche übersetzt, während der andere "Klassiker des Rassismus", der
britische Publizist Houston Stewart Chamberlain, seit Anfang 1880 selbst zum Bayreuther Kreis
gehörte. In seinem 1855 erschienenen Buch "Versuch über die Ungleichheit der menschlichen Rassen
" hatte Gobineau die Menschheitsgeschichte nach rsischen Gesichtspunkten gedeutet.
Der Graf behauptete den Vorrang der "weißen Rasse" vor allen "anderen Rassen" und sah im "Arier
" das eigentlich kreative Element, den Schöpfer jeder höheren Kultur, während die "niederen Rassen
" allein zur Knechtschaft taugten. Die politisch-ideologische Absicht solcher abstruser Geschichtsbilder
war klar: Es ging um die Rechtfertigung einer überkommenen, europäisch beherrschten Gesellschaftsund Weltordnung. Dahinter standen soziale Ängste und Abwehrmechanismen, die auch in der Furcht
vor der "rassischen Degeneration" zum Ausdruck kamen. Gobineau sah die "Arier" vom "Rassetod
" bedroht und prophezeite deren Niederlage im Kampf zwischen den "niederen" und "höheren" Rassen.
Nur wenn sich die "höheren Rassen reinhielten", könnten sie diesem Untergang entgehen.
Damit war auch der zutiefst inhumane Züchtungsgedanke angedeutet, der dann durch den Einfluß
biologistischer Denkmuster verstärkt wurde, wie sie durch Charles Darwin begründet und populär
wurden. Die auf der Erde lebenden "Rassen", so Darwin, seien das Ergebnis eines Prozesses der
natürlichen Auslese, der sich im Kampf um das Dasein manifestiere. Was bei Darwin noch wertneutral
gemeint war, erhielt bei den Sozialdarwinisten eine politische und sozial ausgrenzende Bedeutung
und fand eine große Verbreitung. Von der Ausschaltung aller "Untüchtigen", der Vernichtung "
lebensunwerten Lebens" war nun die Rede, ebenso von dem Versuch, die Eignung für den
Überlebenskampf durch das Messen von Kopfgröße und Nasenlänge zu ermitteln. Auch die Kräfte,
die dem natürlichen Ausleseprozeß entgegenstünden, wurden denunziatorisch herausgestellt: Die
christliche Moral, der aufgeklärte Rechts- und Toleranzbegriff und die moderne Zivilisation schlechthin,
die allein die Schwachen schütze.
Waren Gobineau und Darwin keine Antisemiten, so erhielt die biologistisch begründete Rassenlehre
eine noch gefährlichere Bedeutung, wenn sie sich mit antisemitischen Vorurteilen verband und die
von Gobineau beklagte "Degeneration der Rassen" mit der angeblichen "Zersetzungstätigkeit der
Juden" verband. Man leitete daraus die Forderung nach einer "Auslesepolitik" ab, die den Prozeß der
Degeneration stoppen solle. Die neue Rassenlehre, wonach "Judesein" eine "unveränderte negative
Eigenschaft" darstelle, war zur selben Zeit in Frankreich durch George Vacher de Lapouge und Edouard
Drumont sowie in Deutschland durch Eugen Dühring, Wilhelm Marr und durch Houston Stewart
Chamberlain publizistisch verbreitet worden. Sie alle forderten mehr oder weniger offen die Vernichtung
der Juden, um die Reinheit und Herrschaft der "Arier" zu sichern. Dabei mündeten ältere aus dem
Spätmittelalter überkommene und christlich-religiös motivierte antijudaistische Stereotype in den
neuen, scheinwissenschaftlichen Rassismus ein. Sie rstärkten damit seine Resonanz bei einem
Publikum, das ähnlich alte Vorurteile mit Wissenschaftsglauben und sozialen Ängsten verband.
Imperialismus und Kolonialismus
Einstweilen
bpb.de
blieben
die
sozialdarwinistischen
und
rassenantisemitischen
Entwürfe
noch
Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
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Gedankenkonstruktionen. Aber die Leserschaft einschlägiger Publizisten wie Marr und Chamberlain,
die die antisemitischen Schmähungen mit kulturpessimistischen Visionen verbanden, nahm zu.
Derartige Autoren machten den Antisemitismus unter einem bürgerlichen Publikum ebenso
gesellschaftsfähig wie die Aufnahme antisemitischer Forderungen in das Programm der
Deutschkonservativen Partei (1892) und in die Satzungen von Interessen- und Agitationsverbänden
(Alldeutsche, Bund der Landwirte) den Antisemitismus allmählich politikfähig machte. Der Haß auf
alles Fremde und der Antisemitismus waren im ausgehenden 19. Jahrhundert überall in Europa auch
in den Nationalismus eingegangen, besonders aber in Deutschland und Italien.
Die Wendung des Nationalismus zum radikalen Imperialismus, der dann auch in der Weltanschauung
Hitlers eine zentrale Rolle spielen sollte, hatte in Europa um die Mitte des 19. Jahrhunderts eingesetzt
und sich mit der Zuspitzung der sozialen Konflikte in den sich entfaltenden Industriegesellschaften
beschleunigt. Der überkommene Nationalismus verband sich mit machtstaatlichen und imperialen
Tendenzen zu einer nationalistischen Sendungsideologie. Der neue Nationalismus rechtfertigte nicht
nur die nationalen Machtansprüche in Übersee, sondern präsentierte sich als Instrument der Abwehr
und Ausgrenzung im Inneren: Gegen das sozialistische und internationalistische Proletariat ebenso
wie gegen die "goldene Internationale des Bankkapitals", das vor allem in jüdischer Hand gesehen
wurde. Das Gegenmodell eines "nationalen Sozialismus" verhieß nationale Geschlossenheit statt
Klassenkampf, bedeutete Mobilisierung nach außen statt Verbrüderung über die Grenzen.
Der Ablenkung von inneren Spannungen nach außen diente das imperialistische Moment im neuen
Nationalismus. Der Kolonialgedanke faszinierte nationale Agitationsvereine, die ihre Anhänger im
Bürgertum, weniger bei Unternehmen fanden. Kolonialträume trieben das nationale Lager auch noch
in der Weimarer Republik um, als die wenigen deutschen Kolonien, die ökonomisch zudem nicht
profitabel waren, durch den Versailler Vertrag abgetreten werden mußten. Um so faszinierender wirkte
dann der Mitteleuropagedanke, der sich durch eine wirtschaftliche Zusammenarbeit Deutschlands mit
den südost-europäischen Staaten einen gesicherten Rohstoff- und Absatzmarkt erhoffte.
Rassegedanken
Im Mittelpunkt von Hitlers Geschichtsdenken standen die Begriffe "Volk" und "Rasse", die weitgehend
identisch verwandt wurden. Völker und Rassen galten ihm als in sich abgeschlossene Arten; jede
Vermischung war ein Verstoß gegen die Natur und ein Grund für den Verfall. Zwischen den Rassen
und Völkern aber herrsche das Gesetz des ewigen Kampfes. Der Lebenskampf als Gesetz der
Geschichte gelte vor allem der Selbsterhaltung. Die Funktion solcher rassentheoretischer und
sozialdarwinistischer Gedanken war eindeutig:Sie dienten der Rechtfertigung innerer Abwehr und
außenpolitischer Expansion.
Bei dem Kampf um die Selbsterhaltung stießen die Völker, und damit verbindet sich die Rassenlehre
mit dem Raumgedanken, an die Grenzen des Raumes. Der Widerspruch zwischen der Begrenztheit
des Raumes und dem unbedingten Erhaltungstrieb der Völker war für Hitler Ursache für den "ewigen
Kampf um den Raum". Hitler meinte, als Grundgesetz der Geschichte erkannt zu haben: "Lebenskampf
der Völker" um "Lebensraum". Zugleich war damit sein Rassen- wie sein Raumeroberungsprogramm
begründet. In seiner zutiefst inhumanen naturalistisch-biologistischen Weltsicht war auch der Gedanke
der "Rassenzüchtung" des Menschen angelegt.
Aus diesen vermeintlichen Gesetzen der Geschichte ergab sich für Hitler als Aufgabe der Politik: "
Politik ist die Kunst der Durchführung des Lebenskampfes eines Volkes um sein irdisches Dasein.
Außenpolitik ist die Kunst, einem Volk den jeweils notwendigen Lebensraum in Größe und Güte zu
sichern. Innenpolitik ist die Kunst, einem Volk den dafür notwendigen Machteinsatz in Form seines
Rassenwertes und seiner Zahl zu erhalten." Das waren Schlagworte, die vom Parteiführer Hitler vielfach
wiederholt wurden, die zwar nicht die einzelnen Schritte und Instrumente seiner Machtpolitik
ankündigten, wohl aber deren Fernziele angaben. Bevölkerungspolitik und Rassenpolitik wurden damit
in einen gleichsam dialektischen Zusammenhang gebracht, der an einem vorindustriellen Konzept
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Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
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von Raum, Rasse und Ernährung orientiert war. Jedes Anwachsen der Bevölkerungszahl führte danach
zu einer Verknappung des Raumes und damit zum Lebensraumkrieg. Umgekehrt würde ein Stagnieren
oder Sinken der Bevölkerungszahl die anderen Völker stärker werden lassen und zum Verlust von
Lebensraum führen.
Antisemitismus
Alle Vorgänge in der modernen Welt, die Hitler beunruhigten, wurden auf die Juden zurückgeführt. "
Nichts ist mehr verankert, nichts mehr wurzelt in unserem Innern. Alles ist äußerlich, flieht an uns
vorbei. Unruhig und hastig wird das Denken unseres Volkes. Das ganze Leben wird vollständig
zerrissen." Das waren Ängste vor der Moderne, die auf einen "Schuldigen" zurückgeführt wurden; das
war eine ideologische Kampfansage an den gesamten emanzipatorischen Prozeß der Neuzeit. Die
Juden wurden für den historischen Wandel verantwortlich gemacht und ebenso universal verstand
Hitler seine historische Mission. Mit dem deutschen und dem jüdischen Volk standen sich im Urteil
des Rassenideologen zwei Grundprinzipien der Geschichte gegenüber: Das deutsche Volk sei das
typische "Raumvolk", das jüdische Volk sei immer ein "raumloses" Volk, ein Volk ohne Staat mit festen
Grenzen, unfähig zur festen Staatsbildung.
Die Juden waren für Hitler auch Urheber und Träger der politischen Prinzipien der Gegenwart, durch
die er die natürlichen Lebensformen der "Rassen" bedroht sah. Sein Haß galt darum vor allem dem
Internationalismus, dem Pazifismus und der Demokratie. Sie stünden im Gegensatz zu den von ihm
für positiv gehaltenen Werten des Nationalismus, des Heroismus und des Führerprinzips.
Sein Haß gegen Internationalismus, Pazifismus und die Gleichheit der Menschen und Völker mündete
in die Kampfansage an Marxismus und Kommunismus, die seit der Revolution von 1917/18 in Rußland
nicht nur für Hitler einen festen Bestandteil des eigenen ideologischen Bedrohungs- und
Abwehrszenarios ausmachten. Im Kommunismus sah Hitler die radikalste und letzte Angriffswaffe des
Judentums im Kampf um die Herrschaft über die ganze Welt. Wenn der Kommunismus nach Meinung
Hitlers nichts anderes war als der erneute Versuch der Juden, "ihre alten Träume der Weltherrschaft
zu verwirklichen", dann war nicht nur das Ziel des nationalsozialistischen Angriffs erkennbar, sondern
auch die daraus abgeleitete Verpflichtung der Nation zum "Selbsterhaltungskampf". Es charakterisiert
den Ideologen und Propagandisten, daß er seine eigenen verborgenen Ziele dem Gegner unterstellte
und seine Eroberungspläne darum als Verteidigungsmaßnahme zu rechtfertigen versuchte.
Die "Rassenpolitik" war schließlich auch letzte Begründung des außenpolitischen Programmes. Wie
aus dem konventionellen Antisemiten ein radikaler Rassenideologe mit einem universellen "Heilungs
"- und Vernichtungsanspruch geworden war, so hatte sich in wenigen Jahren der konventionelle
außenpolitische Revisionist zum Ideologen der Lebensraumeroberung gewandelt, der nicht mehr nur
eine Aufhebung des Versailler Vertragssystems anstrebte, sondern ganz im Sinne imperialistischen
Denkens Raum für ein deutsches "Herrenrassen-Imperium" gewinnen wollte. Das freilich sollte nicht
mehr in Übersee, sondern im europäischen Osten liegen.
Auch diese imperialistischen Elemente von Hitlers Weltanschauung waren im ideologischpropagandistischen Weltbild der Deutschen nicht unbekannt. Die Forderung nach einer "Revision" des
Vertrages von Versailles war in fast jeder bürgerlichen Parteiversammlung zu hören. Sie besaß eine
große politische Integrationskraft, die sich gegen die Republik richten ließ. Wer sich ihr in
propagandistisch erfolgreicher Weise bemächtigte, der konnte mit breiter Zustimmung rechnen.
Dasselbe galt für altbekannte imperialistische Forderungen, vom Kolonialgedanken über das
Mitteleuropakonzept bis hin zu Annexionsforderungen nach Osten.
Anti-Positionen
Um diesen weltanschaulichen Kern rankten sich weitere ideologische Anti-Positionen, wie sie sich in
anderen nationalistischen und faschistischen Bewegungen der Zwischenkriegszeit auch fanden:
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Antimarxismus, Antiliberalismus, Antiparlamentarismus, Antikapitalismus und auch ein tendenzieller
Antikonservativismus. Als Gegenbilder standen dem Elemente des neuen radikalen Nationalismus der
Jahrhundertwende gegenüber: Ein völkischer Nationalismus, verbunden mit dem Konzept eines
nationalen Sozialismus und einer nationalen Volksgemeinschaft unter Führung einer neuen politischen
Elite. Diese sollte sich durch die Bereitschaft zum Glauben, zum Gehorsam und durch den Willen zur
Tat bzw. zum Kampf auszeichnen.
Daneben stellte das Führerprinzip ein konstitutives Element für Ideologie und Organisation des
Nationalsozialismus dar: Es war Gegenmodell zu Liberalismus und Demokratie und zugleich
Legitimations- und Integrationsmittel für die Partei und ihre Anhänger. Der "Führer" hielt die
widersprüchlichen Elemente der nationalsozialistischen Programmatik und Propaganda zusammen.
Seine Rolle als Vermittler zwischen rivalisierenden Zielvorstellungen und als Interpret der wahren
Lehre begründete Hitlers absolute Führungsstellung in der Partei.
Die nationalsozialistische Weltanschauung mit ihrem Anspruch auf Totalität muß bei der Erklärung von
Hitlers Macht ernstgenommen werden, auch wenn sie kein Regierungsprogramm darstellte und Hitler
jede programmatische Präzisierung und Ausgestaltung, die auf die Interessen einzelner sozialer
Gruppen und politischer Fraktionen Rücksicht nahm, unterbunden hat. Eine Vermittlung zwischen
verschiedenen Interessen sollte nicht durch ein Programm, sondern durch Propaganda und das
Charisma des "Führers" stattfinden. Das ließ ihm genügend Raum, seine Allmacht zu demonstrieren,
und suggerierte das Bild von (programmatischer) Geschlossenheit. Überdies ließen die teilweise sehr
vagen und widersprüchlichen Zielvorstellungen, die innerhalb der nationalsozialistischen
Führungsclique bestanden, taktische Anpassungsmanöver zu und erlaubten es Hitler, seine
weltanschaulichen Kernvorstellungen unter geschickter Ausnutzung der jeweiligen politischen
Konstellationen stufenweise zu realisieren. Denn Hitler hat nicht nur mit großer Hartnäckigkeit bis zu
seinem Ende im Führerbunker der Reichskanzlei an seiner Weltanschauung festgehalten, sondern
sie auch bei aller taktischen Flexibilität und Improvisation zur treibenden Kraft seiner Politik gemacht.
Erfolg und erstes Scheitern
In der Kombination des "Programmatikers" und des "Politikers" sah Hitler selbst seine politische Stärke
begründet, und bald war der innere Kreis seiner Partei auch davon überzeugt. Seit 1922/23 entwickelte
sich ein Personenkult um Hitler, der alle Krisen überstand und sich bis zum Ende der zwanziger Jahre
durchgesetzt hatte. Der Weg Hitlers zu dieser unangefochtenen Machtposition zunächst in der eigenen
Partei und dann in weiten Teilen der Wählerschaft führte über seine rastlosen Propagandaaktivitäten
und seine missionarische Ausstrahlungskraft, aber auch über taktisches Geschick, das mit einem
ideologischen Machtwillen gepaart war.
Bereits in der ersten Parteikrise vom Sommer 1921, an deren Ende Hitler gegen Drexler den Vorsitz
der Partei mit fast diktatorischen Vollmachten erlangen konnte, wurden wesentliche Merkmale von
Hitlers Handlungsweise sichtbar, die in späteren Konfliktsituationen und Knotenpunkten in der
Geschichte des Nationalsozialismus immer wieder zu beobachten sein sollten: Hitler besaß keinen
strategischen Plan zur Erringung der diktatorischen Machtposition, sondern den Willen, sich nicht
unterordnen zu müssen. Vor allem vermochte er es, die jeweilige Konfliktsituation durch eine
scheindemokratische Mobilisierung der Parteiöffentlichkeit zu seinen Gunsten auszunutzen. Hitler
hatte einen eher harmlosen Anlaß zu einer Überreaktion benutzt, die sein Mißtrauen und seinen
Machtanspruch durchscheinen ließ. Während seiner Abwesenheit hatte sich die NSDAP mit einer
unbedeutenden ideologisch verwandten Gruppierung zusammengeschlossen. Weil er die
Verwässerung seines Politik- und Propagandakonzepts durch den anderen völkischen Dettierklub
befürchtete, drohte Hitler sofort mit seinem Parteiaustritt. Es sprach für seine Unentbehrlichkeit als
Agitator, daß man sich schließlich seinem diktatorischen Machtanspruch unterwarf.
Steigende Mitgliederzahlen
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Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
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Inzwischen war Hitler schon zum Aushängeschild der Partei geworden und konnte eine deutliche
Zunahme an Parteimitgliedern für sich verbuchen. Im Laufe des Jahres 1923 stieg die Mitgliedschaft
von 15000 auf 55000 an, blieb aber noch immer auf Bayern konzentriert. Das Aufsehen, das er mit
seinen lauten Massenkundgebungen und dem aggressiven Stil seiner politischen Propaganda erregte,
brachte ihm zudem bald einflußreiche Gönner und Freunde aus Bürokratie, Militär und Großbürgertum
ein, wie etwa die Verlegerfamilie Bruckmann, den Klavierfabrikanten Bechstein oder den Unternehmer
Fritz Thyssen. Sie sahen in der NSDAP eine Unterstützung ihrer antisozialistischen Ziele. Die
Parteiarbeit wurde sowohl in den Anfängen als auch später weniger durch solche Unterstützungen als
durch Mitgliedsbeiträge und Versammlungseinnahmen finanziert.
Massenkundgebungen und spektakuläre Aktionen, wie der nach dem Muster faschistischer
Strafexpeditionen gegen Hochburgen der Linken in Norditalien organisierte Auftritt Hitlers mit 800 SAMännern auf dem "Deutschen Tag" in Coburg im Oktober 1922, bei dem es zu Massenschlägereien
mit Sozialdemokraten kam, machten die NSDAP zu einer der auffälligsten antirepublikanischen
Agitationsgruppen im süddeutschen Raum. Die Parteipropaganda stilisierte Hitler hinfort als "Retter
Deutschlands". Ihre Mitglieder gewann die NSDAP aus vorwiegend mittelständischen Schichten, die
von Orientierungs- und Statusverlusten bedroht waren und die sich von der radikalen Agitation der
Hitler-Bewegung gegen "Versailles" und den Weimarer Staat angezogen fühlten. Aber auch Angehörige
anderer Schichten wurden durch die Propaganda angesprochen. So waren etwa 33 Prozent der frühen
Mitglieder Arbeiter. Wichtiger noch war der Zustrom aus den aufgelösten militärischen Verbänden und
Freikorps vor allem in Bayern, aber auch im östlichen Deutschlan
Die Folge war ein rasches Anwachsen der SA, die vom ursprünglichen Saalschutz durch den Beitritt
von militärisch versierten Führern mehr und mehr zu einem parteiunabhängigen Wehrverband wurde.
Das bot den Vorteil, daß man, wie andere nationalistische Verbände auch, von der bayerischen
Reichswehr Waffen- und Ausbildungshilfe erhielt. Das hatte aber für Hitler und die NSDAP auch den
Nachteil, daß das Eigengewicht der militärischen Führung der SA wuchs und Hitlers Anspruch auf die
alleinige Parteiführung immer wieder gefährdet wurde. Durch die Einbeziehung in die von Ernst Röhm
im Januar 1923 gegründete "Arbeitsgemeinschaft der vaterländischen Kampfverbände" drohte die SA
noch mehr dem Zugriff Hitlers zu entgleiten, obwohl sie im Unterschied zu den anderen Wehrverbänden
sich als politischer Verband begriff. Der Konflikt zwischen der politischen Organisation der NSDAP
und der Parteiarmee SA um die richtige politische Strategie und den Führungsanspruch sollte den
Nationalsozialismus bis zu seiner Machtergreifung 33/34 begleiten. Auch darin lag eine Gemeinsamkeit
der europäischen faschistischen Bewegungen, die fast alle eine paramilitärische Parteiarmee besaßen,
deren Funktion aber zwischen Wehr- oder Veteranenverband und politischem Propagandainstrument
schwankte.
Krise 1923
Die frühe NSDAP verstand sich nicht als Partei, sondern als revolutionäre Bewegung, die auf dem
Weg eines Putsches die verhaßte Weimarer Republik von Bayern aus beseitigen wollte. Vorbild und
Ermutigung war dabei der erfolgreiche "Marsch auf Rom" von Mussolini im Oktober 1922. Bald danach
erklärte NSDAP-Propagandaleiter Hermann Esser Hitler zum "deutschen Mussolini", und Hitler selbst
forderte im November eine "nationale Regierung nach faschistischem Muster". Die Gelegenheit dazu
bot sich in der Krise des Jahres 1923, die zum Kampf um das "Überleben des parlamentarischen
Systems" (Hans Mommsen) führte.
Die schwere ökonomische und politische Krise des Jahres 1923, die die Weimarer Republik an den
Rand des Zusammenbruchs führte und vor allem in Bayern den Ausnahmezustand und Gedanken
eines nationalen Umsturzes entstehen ließ, schuf den Boden, auf dem die junge NSDAP zu ihrem
ersten, eher dilettantischen Griff nach der Macht ausholte.
Die deutsche Wirtschaft wurde 1923 von einer Hyperinflation erschüttert. Der Dollar, der im Juli 1919
noch 14 Mark gekostet hatte, stieg Mitte November 1923 auf 4,2 Billionen Mark an. In diesem Herbst
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Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
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kam es etwa gleichzeitig zu Konflikten zwischen der Reichsregierung und den linken
Koalitionsregierungen in Sachsen und Thüringen einerseits und dem Reich und Bayern andererseits,
die zu einer politischen Bedrohung der Weimarer Republik wurden. Während die Reichswehr auf die
Vorbereitungen eines kommunistischen Aufstandes in Sachsen und Thüringen mit einem sofortigen
Einmarsch in Sachsen reagierte, verhielt sie sich in Bayern trotz offensichtlichen Ungehorsams des
bayerischen Reichswehrkommandos sehr zurückhaltend.
Damit gab sie der Hoffnung rechtsextremer, nationalistischer Kreise Nahrung, von Bayern aus zum
Sturm auf das "rote" Berlin blasen zu können. Reichswehrminister Otto Geßler und der Chef der
Heeresleitung General Hans von Seeckt verweigerten einen Einsatz der Reichswehr gegen Bayern,
wo unter Bruch der Verfassung Generalstaatskommissar Gustav von Kahr an die Stelle der legalen
Regierung trat und sich eine enge Zusammenarbeit zwischen ihm, der bayerischen Reichswehrführung
unter General Otto Hermann von Lossow und dem Leiter der Bayerischen Landespolizei Hans von
Seißer bildete, die offen Befehle aus Berlin verweigerten. Damit wurde deutlich, daß sich Bayern zum
Zentrum von republikfeindlichen Gruppen entwickelt hatte, die Umsturzaktionen gegen die Republik
zum Ziel hatten.
Für Hitler bedeutete die undurchsichtige Situation eine Chance und Gefahr zugleich. Er war überzeugt,
den Konflikt für die eigenen Zwecke nutzen zu können und die von ihm geführten vaterländischen
Kampfbünde auf sein politisches Programm festlegen zu können. Zugleich drohte die Gefahr der
politischen Isolierung, zumal die Ausnahmegewalt von Kahrs Hitlers Macht, die sich auf die
Volksbewegung stützen sollte, empfindlich einzuschränken begann.
Als sich Putschgerüchte Anfang November verdichteten, drohte Hitler den Anschluß zu verlieren. In
den Plänen des Direktoriums Kahr-Lossow-Seißer fehlte sein Name. Auch wenn die drei zögernden
Putschisten nicht mehr mit der Unterstützung durch die Reichswehrführung rechnen konnten, hofften
sie auf ihre Chance durch eine Parallelaktion in Berlin. Daß eine Putschaktion von rechts, die vermutlich
eine französische Intervention provoziert hätte, ohne militärische Unterstützung der Reichswehr zum
Scheitern verurteilt sein würde, war auch Hitler bewußt. Der Agitator setzte aber nach wie vor auf eine
Propagandaaktion, von der er sich eine Initialzündung für eine Revolution von rechts erhoffte. Die
Entfachung einer fanatisierten Massenbewegung, wie sie ihm offensichtlich vorschwebte, paßte aber
überhaupt nicht in das Kalkül des Direktoriums und der traditionellen nationalen Kräfte.
Hitler-Putsch in München
Zunächst deutete alles darauf hin, daß die Männer des "alten Systems", nämlich
Generalstaatskommissar von Kahr mit der bayerischen Reichswehr und der Landespolizei die Dinge
im Griff hatten und daß die Kampfbünde an der kurzen Leine gehalten werden sollten. Das war Grund
genug für Hitler, die Flucht nach vorn anzutreten. Die Gelegenheit zum operettenhaften Coup, der ihn
doch noch an die Spitze der "deutschen Revolution" setzen sollte, bot eine Kundgebung im Münchner
Bürgerbräukeller am 8. November 1923. Hierzu hatte von Kahr mit Ausnahme von Hitler und seinen
Gefolgsleuten alles geladen, was im nationalistisch-bürgerlichen Lager Rang und Namen hatte.
Mit Pistolen bewaffnet verschaffte sich Hitler mit seiner Begleitung dennoch Einlaß und verkündete,
nachdem seine Gefolgsleute, unter ihnen Göring und Heß, das Podium erobert hatten und die
Versammlung mit einem Maschinengewehr in Schach hielten, daß nun die "nationale Revolution
" ausgebrochen sei und daß er an die Spitze einer neuen Reichsregierung treten werde. Für den Fall
des Scheiterns drohte der selbsternannte nationale Diktator mit Waffengewalt und damit, daß er sich
erschießen werde. Das war eine Drohung zu der Hitler in Situationen äußerster Anspannung später
noch häufiger greifen sollte. Die Männer der alten, autoritären Ordnung ließen sich von dieser Allesoder-Nichts-Strategie nicht einschüchtern. Erst durch die Einschaltung des später eingetroffenen
populären Weltkriegsgenerals Erich von Ludendorff, der sich auf die Seite Hitlers stellte, gab Kahr
nach und willigte in einen Pakt ein. Nach der Versammlung im Bürgerbräukeller sagten sich von Kahr
und von Lossow jedoch noch in derselben Nacht von Hitler und Ludendorff los und ließen
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Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
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entsprechende Plakate anschlagen. Zur Begründung gaben sie an, sie seien erpreßt worden.
Als Hitler davon erfuhr, war ihm klar, daß er das Gesetz des Handelns wieder verloren hatte, und er
versuchte noch einmal durch einen improvisierten Gewaltakt am Morgen des 9. November die Initiative
an sich zu reißen: Er organisierte den "Marsch zur Feldherrnhalle", der später von der NS-Propaganda
als Heldentat und Opfergang verklärt wurde. Er war weniger eine militärische Machtdemonstration der
von Hitler und Ludendorff angeführten bewaffneten Kampfbünde als eine verzweifelte letzte
Demonstration, die im Kugelhagel der Landespolizei in der Münchener Innenstadt endete. Vierzehn
Putschisten und drei Polizisten wurden getötet, Hitler konnte leicht verletzt und völlig verwirrt zunächst
flüchten, nur Ludendorff marschierte weiter. Ein Desaster für die NSDAP, die in der Folge verboten
wurde. Hitler stand vor dem Zusammenbruch seiner kurzen politischen Karriere.
Nach monatelangen Voruntersuchungen wurde er am 1. April 1924 in einem Hochverratsverfahren
vor dem bayerischen Volksgerichtshof zu fünf Jahren Festungshaft in Landsberg verurteilt.
Unverkennbare national-konservative Sympathien des Gerichts und die rhetorischen Fähigkeiten
Hitlers machten den Prozeß zu einem Triumph des gescheiterten Putschisten. Unter dem brausenden
Beifall der Zuhörer schuf das Gericht, das wie damals überall im Reich üblich mit Angeklagten aus
dem rechten Spektrum besonders milde umging, ein Stück von der "Führer-Legende", indem es dem
Agitator Tapferkeit, ein "ehrliches Streben", einen "reinen vaterländischen Geist" und "
Selbstaufopferung für die Idee, die ihn beseelte" bescheinigte.
Haftzeit
Während seiner Haftzeit, aus der Hitler am 20. Dezember 1924 vorzeitig entlassen wurde, zerbrach
die kaum organisierte und nun führerlose Bewegung in mehrere völkische Gruppierungen. Bei den
Reichstagswahlen am 4. Mai 1924 erzielte die völkische Liste 1,9 Millionen Stimmen, am 7. Dezember
1924 nur noch 0,9 Millionen - ein Hinweis auf die einsetzende Stabilisierung der Republik nach dem
Katastrophenjahr 1923, das bei den Maiwahlen 1924 noch nachgewirkt hatte.
Da Hitler sich an den völkischen Führungsstreitigkeiten nicht beteiligt hatte, konnte er nach seiner
Entlassung wieder zum Sammelpunkt beim Wiederaufbau der NSDAP werden. Er hatte aus dem
gescheiterten Putsch drei Konsequenzen gezogen: Zuerst ersetzte eine für die Zukunft angestrebte
Legalitätstaktik den Gedanken an einen Putsch als Mittel der Machteroberung, ohne daß er damit der
politischen Gewalt abschwor; der Massenmobilisierung und dem Weg über Wahlen räumte er lediglich
Vorrang ein. Zweitens wurde die am 27. Februar 1925 neu gegründete NSDAP regional weit gefächert
und auf Reichsebene straff organisiert. Sie sollte sich von anderen völkischen Gruppen strikt
abgrenzen, die paramilitärische SA hatte sich der politischen Führung der Partei unterzuordnen und
sollte vor allem der politischen Massenmobilisierung dienen. Drittens sollte die Partei zu einem
bedingungslosen Instrument des Führerwillens geformt werden.
Seine Führungsrolle versuchte Hitler durch seine umfangreiche Programmschrift "Mein Kampf" zu
sichern, mit deren Abfassung er im Sommer 1924 in Landsberg begonnen hatte. Der erste Band wurde
1925, der zweite 1927 veröffentlicht. Hier verdichteten sich die bisherigen ideologischen Versatzstücke
zu einem geschlossenen Programm, dem sich Hitler bei aller Flexibilität in seiner Politik bis zu seinem
Ende im Führerbunker mit dogmatischer Unbeirrbarkeit verpflichtet fühlte und das zugleich zum
Bezugspunkt aller parteiinternen Rivalitäten wurde.
Auszug aus:
Informationen zur politischen Bildung (Heft 251) - Die nationalsozialistische Bewegung in der
Weimarer Republik
bpb.de
Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
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Die nationalsozialistische Massenbewegung in der
Staats- und Wirtschaftskrise
Von Hans-Ulrich Thamer
6.4.2005
geb. 1943, ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Münster. Seine Forschungsschwerpunkte sind der
Nationalsozialismus und der europäische Faschismus.
Veröffentlichungen u.a.:Verführung und Gewalt. Deutschland 1933-1945, (Die Deutschen und ihre Nation, Bd. 5), Berlin 1986; Der
Nationalsozialismus, Stuttgart 2002.
Ende der 1920er war aus dem Nationalsozialismus eine Massenbewegung geworden - und eine
straff organisierte Partei. Mit massiver Propaganda nach innen und außen gewann die NSDAP
mehr und mehr Wahlstimmen für sich. Bei den Reichstagswahlen 1930 wurde sie nach der SPD
zur zweitstärksten Partei.
Einleitung
Hitler hatte seine Rückkehr in die politische Öffentlichkeit gut vorbereitet. Bei der Neugründung der
NSDAP im Münchener Bürgerbräukeller am 26. Februar 1925 bekräftigte er seinen unbedingten
Führungsanspruch und rief zugleich zur Einigkeit im völkischen Lager auf. Nur General von Ludendorff,
einen der berühmtesten Militärs des Ersten Weltkrieges, wollte er neben sich akzeptieren und bei der
Reichspräsidentenwahl unterstützen. Um so leichter fiel es Hitler dann, den General nach dessen
Wahlniederlage im Frühjahr 1925 politisch endgültig ins Abseits zu drängen.
Gleichzeitig hatte Hitler seinen Führungsanspruch in der eigenen Partei organisatorisch abgesichert.
Die Münchener Ortsgruppe, die er mit seinen engen Gefolgsleuten beherrschte, wurde formell für alle
Fragen der Parteiorganisation und Mitgliederaufnahme zuständig. Die gesamte NSDAP war damit
organisationsrechtlich ein Ableger der Münchener Ortsgruppe, obwohl sich das Schwergewicht der
Partei mittlerweile nach Nord- und Westdeutschland verschoben hatte. Vor allem wurde in der neuen
Parteisatzung das Führerprinzip festgeschrieben. Eine innerparteiliche Kontrolle bzw. Willensbildung
gab es nicht.
Organisation
Zunächst war Hitler jedoch durch ein Redeverbot, das die bayerische Regierung im März 1925 und
nach ihr fast alle anderen Ländern für die Dauer von mindestens zwei Jahren verhängt hatten, daran
gehindert, die neue Machtstellung zu entfalten. Stattdessen konnten sich einige Unterführer mit der
Billigung Hitlers beim Neuaufbau der Partei hervortun. Dadurch bot die mit etwa 27000 Mitgliedern
recht kleine Partei ein buntscheckiges Bild verschiedener politisch-ideologischer Grüppchen und
endloser Führungsrivalitäten.
Eine beständige bürokratische Organisationsarbeit war zwar für den Zusammenhalt der Partei
unentbehrlich, aber Hitlers Sache war sie nicht. Er bevorzugte eine personale Bindung der Unterführer,
die sich nach seinen Vorstellungen im harten Wettstreit untereinander behaupten sollten. Das sollte
den Unterführern genügend Spielraum belassen, zugleich aber seine eigene Führerstellung stärken,
die vor allem damit begründet werden sollte, daß allein der "Führer" die nationalsozialistische Idee
verkörperte. Durchkreuzt wurde diese Unterwerfung unter den Führerwillen zunächst durch das
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Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
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Organisationskonzept der Führungsgruppe um Gregor Strasser. Hitler war auf seine Unterstützung
außerhalb Bayerns angewiesen. Strasser hatte in der Arbeitsgemeinschaft der nordwestdeutschen
Gauleiter recht unterschiedliche, insgesamt aber linke Strömungen in einer bündischen, kollegialen
Führungsstruktur locker zusammengefaßt. Mit eigenen Publikationsorganen, den von Joseph
Goebbels redigierten "Nationalsozialistischen Briefen" und der eiwochenschrift "Der Nationale Sozialist
" von Otto Strasser, vertrat die Parteilinke auch ideologisch eine abweichende, betont sozialistische
Linie.
Daß Hitler eine Programmdiskussion, wie sie Strasser mit einem Entwurf zur Präzisierung des höchst
verschwommenen 25-Punkte-Parteiprogramms anstrebte, zutiefst zuwider war, weil er dadurch seinen
unbeschränkten Führungsanspruch gefährdet sah, mußte der gutgläubige Gregor Strasser auf einer
kurzfristig im Frühjahr 1926 nach Bamberg einberufenen Führertagung erfahren. Sie endete mit einem
Sieg Hitlers und dem Umfallen des jungen Goebbels, der autoritätsgläubig in das Lager Hitlers
wechselte und fortan zu den eifrigsten Propagandisten des "Führers" gehörte. Gregor Strasser hinderte
diese Erfahrung jedoch nicht daran, sich weiterhin und mit noch größerer Energie dem Aufbau einer
schlagkräftigen Parteiorganisation zuzuwenden.
Auch im Konflikt mit Ernst Röhm um das zukünftige Konzept der SA setzte sich Hitler im Frühjahr 1925
durch, in diesem Fall von der Strasser-Gruppe unterstützt. Nicht als selbständiger Wehrverband, wie
ihn Röhm in der Zwischenzeit weiter ausgebildet hatte, sondern als politischer Verband innerhalb der
Partei, sollte die SA wiederaufgebaut werden. Nicht mit paramilitärischen Methoden, sondern als
Propagandatruppe und Abbild des politischen Willens der Partei sollte die SA auf der Straße agieren.
Das erforderte allein schon der Legalitätskurs, auf den sich Hitler nach dem kläglichen Scheitern seines
Putsches festgelegt hatte.
Die Organisationsstruktur der NSDAP beschränkte sich zunächst auf die Reichsleitung in München,
auf die Gaue (ihre Zahl schwankte von 1925 bis 1937 zwischen 30 und 36) und die Ortsgruppen.
Träger der Parteiarbeit und ihrer Expansion waren die Gauleiter, die als Unterführer in einem personalen
Gefolgschaftsverhältnis zum "Führer" standen und ihre Macht auf ihre eigene Durchsetzungsfähigkeit
wie auf ihr besonderes Treueverhältnis zum "Führer" gründeten. Sie erkannten ihn überdies als Symbol
der Parteieinheit an, obwohl sie in der Regel von Gregor Strasser eingesetzt worden waren.
Dank des Organisationstalents von Strasser wurde die Partei zunächst in ihren Untergliederungen bis
hinunter auf die Ebene der Ortsgruppe aufgebaut. Ab 1926, verstärkt ab 1929 kamen
Sonderorganisationen und Berufsverbände hinzu, die nach dem Vorbild anderer moderner
Massenparteien ein Netzwerk zur Mobilisierung und Erfassung der heterogenen Mitglieder- und
Anhängerschaft mit ihren unterschiedlichen Interessen bildeten: 1926 wurde als Jugendverband der "
Bund der deutschen Arbeiterjugend" sowie der "Nationalsozialistische Deutsche Studentenbund
" (NSDtB) gegründet; 1928 folgte der "Bund Nationalsozialistischer Juristen", 1929 der "
Nationalsozialistische Deutsche Ärztebund" und der "Kampfbund für Deutsche Kultur", 1929 der "
Nationalsozialistische Schülerbund", 1930 der "Agrarpolitische Apparat" und die "Nationalsozialistische
Betriebszellenorganisation" (NSBO), 1931 die "Nationalsozialistische Frauenschaft", im Dezember
1932 der "Kampfbund für den gewerblichen Mittelstand". Dem Staatsapparat nachempfundene "Ämte
für Außenpolitik, Presse, Politik in den Betrieben, Rechtsfragen, Technik usw. kamen hinzu und führten
zum ambitiösen Ausbau eines "Schattenstaates", der propagandistisch wirksam den Machtanspruch
der Partei repräsentierte und den Ehrgeiz der Funktionäre befriedigte. Vor allem sollte und konnte die
Partei dadurch schon früh in die verschiedenen gesellschaftlichen Bereich eindringen, was den Prozeß
der Machteroberung ganz erheblich befördern sollte.
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Führerkult
Während sich die Partei politisch noch im Abseits oder allenfalls im Aufwind befand, entstand so der
organisatorische Rahmen für die spätere Massenmobilisierung. Vor allem wurde der auf Hitler fixierte
Führerkult endgültig institutionalisiert: Alle Parteigenossen hatten sich mit "Heil Hitler" zu grüßen und
der Jugendverband wurde in "Hitler-Jugend" (HJ) umbenannt. Goebbels wurde nun zum
Propagandisten des Führerkultes, den aber auch der in Bamberg unterlegene Gregor Strasser nun
energisch unterstützte.
Neben der Schaffung von äußeren Symbolen für seine politische Herrschaft gelang es Hitler vor allem,
das Parteiprogramm ganz mit seiner Person zu identifizieren. Adolf Hitler war, wie von der
Parteipropaganda unablässig verbreitet, das Programm und stand darum nach außen für eine
Geschlossenheit der Partei, die in der parteiinternen Realität nur bedingt existierte und durch Konflikte
zwischen einzelnen Unterführern immer wieder gefährdet wurde. Idee und Organisation waren nun in
der charismatischen Führerpartei untrennbar miteinander verbunden.
Hitler war zum ideologischen und machtpolitischen Bezugspunkt innerhalb der nationalsozialistischen
Bewegung geworden. Seine Herrschaft gründete sich auf eine tatsächliche persönliche Machtposition
über der Partei und ihrer rivalisierenden Fraktionen, aber auch auf eine symbolische, außergewöhnliche
Stellung: Auf eine Führererwartung und einen Führerkult, der an ihn herangetragen und von der
Propaganda unaufhörlich verstärkt und verbreitet wurde. Diese personale, auf außergewöhnliche
Merkmale begründete Herrschaft wurde mit dem Soziologen Max Weber als charismatische Herrschaft
bezeichnet. Sie unterscheidet sich von einer traditionalen Herrschaft ererbter Titel wie von einer legalen,
unpersönlichen und bürokratischen Herrschaft. Sie war auf eine außerordentliche Machtstellung eines
einzelnen gegründet, der das Bedürfnis nach Heroismus und Sendungsbewußtsein, nach Größe und
Hingabe verkörperte. Dieser charismatische Herrscher war andererseits auf Erfolg und eine sich
ständig erneuernde Zustimmung angewiesen. Seine Entscheidungen orientierten sich nicht nach
bürokratischen Regeln, sondern an "Tat und Beispiel" (Max Weber) und erfolgten von Fall zu Fall.
Zu einem erfolgreichen charismatischen Führer gehörte überdies eine Organisation bzw. Gefolgschaft,
die alle Kennzeichen einer charismatischen Gemeinschaft erfüllte. Sie bestand aus einem engen Kreis
Vertrauter, die zugleich als Transmissionsriemen des Führerkultes dienten und sich zum "Führer" in
einem gleichsam feudalen personalen Treueverhältnis befanden. Eine solche charismatische
Führerfigur konnte freilich nur in Zeiten Massenwirksamkeit erzielen, die so krisenhaft und
außergewöhnlich waren.
Die Willensbildung in der charismatischen Führerpartei, als die man die NSDAP wie kaum eine andere
Bewegung charakterisieren kann, bezog sich allein auf die personale Autorität des "Führers". Ansätze
kollegialer politischer Willensbildung wurden unterbunden. Innerparteiliche Gruppierungen
organisierten sich nicht gegen Hitler, sondern suchten seine Unterstützung im Machtkampf mit anderen
Personen und Gruppierungen der Partei zu gewinnen. Hitler duldete und förderte zeitweise solche
Gruppenbildungen, die seine Rolle als oberste Schiedsinstanz herausstellen halfen. Die Versuche des
Reichsorganisationsleiters Gregor Strasser, durch eine zentrale Reichsleitung die politischen
Entscheidungswege der Partei dauerhaft und bürokratisch zu organisieren, gefährdete den
Machtanspruch des charismatischen Führers, war aber umgekehrt für eine Massenpartei
unverzichtbar. Bezeichnenderweise wurden nach dem Ausscheiden Strassers im Dezember 1932 von
Hitler alle Elemente, die auf eine eigene Machtkompetenz der zentralen Reichsitung zielten, wieder
rückgängig gemacht und auf Hilter allein bezogen, was die Tendenz zum Zerfallen der Partei in
personenorientierte Machtgruppen wieder verstärkte.
Erste Erfolge
Die politischen Erfolge der NSDAP blieben in den Jahren der Stabilisierung der Weimarer Republik
sehr beschränkt. Bei dem ersten Wahlgang zur Reichspräsidentenwahl am 29. März 1925 erreichte
der von der NSDAP unterstützte Weltkriegsheld Ludendorff nur 285000 Stimmen. Das bedeutete
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zugleich das politische Ende eines für Hitler damals noch gefährlichen Rivalen. Bei den
Reichtstagswahlen 1928 erhielt die NSDAP 2,6 Prozent der Stimmen und 12 Abgeordnetensitze. Ende
1929 saßen in 13 Landtagen insgesamt 48 NSDAP-Abgeordnete.
Die erdrutschartigen Wahlerfolge der NSDAP seit 1930 lassen sich nicht aus der Persönlichkeit Hitlers
erklären, sondern aus den Erwartungen, die in der großen Krise auf einen charismatischen Führer
und seine Bewegung gerichtet wurden. Es war die Aufgabe der nationalsozialistischen Partei, die als
charismatische Gemeinschaft längst auf ihren Führer eingeschworen war, das Bild von Hitler als dem
Führer und Retter in die Wählerschaft zu tragen und die wachsende Zustimmung zu organisieren.
Dabei wurde aus der NSDAP eine ideologische Protestbewegung, deren vorrangiges Ziel die
Mobilisierung der Wähler durch eine permanente Propagandakampagne war.
Propaganda
Die NSDAP zog den größten Nutzen aus der Wirtschafts- und Staatskrise, die die Glaubwürdigkeit
sowohl der liberal-kapitalistischen Wirtschaftsordnung wie des parlamentarisch-demokratischen
Verfassungsstaates endgültig erschütterte. Mit ihren Ankündigungen eines strikten Sparkurses und
der Wiederherstellung eines starken Beamten- und Verwaltungsstaates jenseits der Parteien und des
Parlamentes konnten die traditionellen Machtgruppen um den Reichspräsidenten das widersprüchliche
Verlangen sowohl nach Arbeit und Brot als auch nach politisch sozialen Visionen nicht befriedigen.
Dies gelang hingegen der Hitler-Partei, die Veränderung und Bewahrung zugleich versprach und dies
propagandistisch wirksam mit viel Pathos und Radikalität vortrug. Nun zeigten sich die Vorzüge der
nationalsozialistischen "Idee", die vage genug war, um das Bild einer besseren Zukunft und eine
leidenschaftliche Anklage gegen alles Bestehende zu entwickeln. Nationale Erneuerung und die
Vernichtung der Volksfeinde mit dem Ziel einer national Volksgemeinschaft, das waren die Themen
der unzähligen Propagandaveranstaltungen.
Hitlers Versprechungen kamen nicht deswegen an, weil sie etwa originell waren, sondern weil sie auf
einen weithin fruchtbaren Boden fielen. Ihm und seiner Werbemaschinerie gelang es, die Ängste und
Erwartungen der Vielen glaubhaft mit den eigenen Empfindungen zu verbinden und scheinbar einfache
Lösungen zu versprechen. Hitler wurde seit dem Ende der zwanziger Jahre zunehmend zum
"Vereinigungspunkt vieler Sehnsüchte, Ängste und Ressentiments" (Fest).
Hitlers Erfolge als Agitator waren in der Suggestivität seiner Rhetorik und in der immer weiter
verfeinerten Inszenierung um seine Auftritte herum begründet. Seit seinen Anfängen in den Münchener
Bierkellern hatte Hitler seine Zuhörer durch den beißenden Sarkasmus und auch durch das
leidenschaftliche Pathos seiner Reden angezogen, und war dabei weder vor pseudoreligiösen Formeln
noch vor brutalen Haßtiraden zurückgeschreckt. Er war immer flexibel genug, um sich den Erwartungen
seiner jeweiligen Zuhörerschaft anzupassen und in der Thematik wie in der Tonlage und den
Äußerlichkeiten seines Auftretens zu variieren. Das Repertoire reichte von einem Verhalten, das durch
Attribute wie Lederpeitschen und Revolver revolutionäre Entschlossenheit signalisieren sollte, bis zu
einem betont linkischen, zurückhaltenden Auftreten, mit dem er seine bürgerlichen Gönner mit Erfolg
zu gewinnen suchte. Dann konnte er wieder der Natur- und Kunstfreund sein; später nach der
"Machtergreifung" gefiel er sich in der Pose des Staatsmnes und des Mannes der "Vorsehung", der
sich über die Kleinlichkeiten des Alltages längst erhoben hatte.
Auch wenn es sicherlich zutreffend ist, seit den späten zwanziger Jahren von einer "Hitler-Partei" zu
sprechen, so ist die Wirkung des charismatischen Führers nicht ohne einen Blick auf die Führungsclique
und seine propagandistischen Multiplikatoren zu erklären. Sie waren Hitler in einem personalen TreueVerhältnis verbunden und wirkten ihrerseits beständig an der Verbreitung des Führer-Mythos mit. Das
galt für Goebbels, der zu Hitler seit 1926 in einem besonderen Verhältnis der gläubigen Unterwerfung
stand und der in hymnischen Wendungen am Führer-Mythos strickte. Das galt aber auch für Gregor
Strasser, der, als potentieller Rivale zu schwach, alles daran setzte, durch das Zusammenwirken von
Organisation und Propaganda, die NSDAP zu mobilisieren und die inneren Schwächen zu überspielen.
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Instrumente der Agitation und Mobilisierung, die alle auf den Führer-Mythos ausgerichtet waren,
bildeten Parteirituale und -symbole ebenso wie Aufmärsche und Demonstrationszüge der
Parteigliederungen. Durch Parteitage und durch die Wahlkämpfe mit ihren Massenkundgebungen, mit
ihren Fahnen, Appellen und ihrer Massenchoreographie, durch den Einsatz von Werbefilmen,
Lautsprecherübertragungen und durch die spektakulären Deutschlandflüge mit der vieldeutigen Parole
"Hitler über Deutschland" im April und Juli 1932 wurde eine Allgegenwart des Nationalsozialismus
suggeriert. Damit signalisierte die NSDAP einerseits Entschlossenheit und Dynamik, andererseits
technische Modernität und jugendlichen Aktivismus und unterstrich zugleich die charismatische
Stellung Hitlers.
Organisationsstruktur der NSDAP
Die Partei wurde straff zentralisiert nach dem "Führerprinzip" gegliedert und auf den "Führer" als
letztverantwortliche Instanz ausgerichtet, demokratische Ansätze der Frühzeit schnell durch das
diktatorische Ernennungsprinzip von oben nach unten ersetzt. Oberstes Organ der NSDAP war die
Reichsleitung mit dem "Führer" und der "Kanzlei des Führers" bzw. seit 1941 der "Parteikanzlei" an
der Spitze und den einzelnen Amtsleitern bzw. ab 1933 Reichsleitern für bestimmte Aufgaben: unter
anderem der Stellvertreter des "Führers" (1925-32 Gregor Strasser, 1933-41 Rudolf Heß) bzw. seit
1941 der Sekretär des "Führers" (Martin Bormann), der Reichspropagandaleiter (1925-28 Strasser,
seit 1929 Joseph Goebbels), der Reichsorganisationsleiter (1928-32 Strasser, dann Robert Ley), der
Reichsschatzmeister (Franz Xaver Schwarz), der Oberste Parteirichter (Walter Buch), der
Reichspressechef (Otto Dietrich), der Amtsleiter für die Presse (Max Amann), der Stabschef der SA
(1930-34 Ernst Röhm), der Reichsjugendführer (ab 1931 Baldur v. Schirach), der Parteigeschäftsführer
(Philipp Bouhler) sowie der Chef der Auslandsabteilung (Ernst Wilhelm Bohle), des späteren
Reichsamtes für Agrarpolitik (Richard Walter Darré), des Reichsrechtsamtes (Hans Frank), des
Außenpolitischen Amtes (Alfred Rosenberg), des Kolonialpolitischen Amtes (Franz Ritter von Epp)
und der Reichstagsfraktion (Wilhelm Frick). Regional war die NSDAP vertikal durchstrukturiert in Gaue
[
], Kreise, Ortsgruppen, Zellen und Blocks; ihre Leiter bildeten zusammen das "Korps der politischen
Leiter", 1937 rund 700000 Personen.
Wendt, Bernd-Jürgen, Deutschland 1933-1945. Das Dritte Reich. Hannover 1995, S. 46 f.
Die Rastlosigkeit der regionalen Versammlungswellen und der Propagandamärsche, der Plakat- und
Flugblattaktionen, der Werbetrupps und SA-Musikzüge, der SA-Suppenküchen und der
Spendenbüchsen erweckte den Eindruck permanenter Bewegung und Kraftentfaltung. Die
Demonstrationsmärsche der SA oft durch Wohnquartiere der politisch-sozialen Gegner schufen nicht
nur eine bürgerkriegsähnliche Situation, sondern boten dem Nationalsozialismus die Chance, sich als
entschlossene Kampfbewegung darzustellen. Aktionismus und Gewalt von den paramilitärischen
Parteiverbänden der SA und SS, Überfälle auf kommunistische Parteieinrichtungen und -mitglieder,
wobei man auch nicht vor Mordaktionen zurückschreckte; ferner der Irrationalismus der Fahnenweihen
und des Märtyrerkultes um die nationalsozialistischen Opfer der Straßenkämpfe, schließlich die Treueund Opferschwüre - all das waren Elemente einer Heroisierung der Politik. Sie sollten Zeichen dafür
sein, daß man sich in einem fundamentalen Gegensatz zur politischen Kultur der rlamentarischen
Demokratie verstand.
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Mitglieder und Wähler
Hitlers Charisma mußte nicht jeden beeindrucken; für viele wirkte das Ritual der nationalsozialistischen
Propaganda und Rhetorik eher lächerlich oder abstoßend. Das galt vor allem für diejenigen, die über
feste kulturelle Orientierungen verfügten: Weite Teile des katholischen Deutschlands, vor allem dort,
wo die Konfession noch eine starke Wirkungskraft besaß, und ebenso die klassenbewußte, vor allem
sozialdemokratische Arbeiterschaft, die in der Arbeiterkultur verankert war.
Umgekehrt gewann die NSDAP zunächst vor allem Anhänger unter der vorwiegend protestantischen
Bevölkerung Nord- und Ostdeutschlands. Hitler fand mehr Zustimmung auf dem Land und in kleinen
Städten als in industriellen Großstädten. Mitglieder und Wähler kamen vor allem aus den Schichten,
die sich von der Krise in ihrer Existenz bedroht sowie um ihre Zukunft betrogen fühlten und die auf
eine Veränderung aber nicht im Sinne der sozialistischen Parteien drängten. Stattdessen wollten sie
an Elementen der Tradition und überkommener Autorität festhalten. Zugleich wurden sie durch
antidemokratisches Gedankengut umgetrieben.
Aktive Mitglieder der NSDAP waren vor allem jüngere Männer. Nur 7,8 Prozent der Neuzugänge
zwischen 1925 und 1932 waren Frauen. Fast 70 Prozent der Mitglieder im Jahre 1930 waren jünger
als 40 Jahre, 37 Prozent jünger als 30 Jahre. Auch von den Parteifunktionären waren 65 Prozent unter
40 Jahre, 26 Prozent unter 30. Neben der sozialen Rekrutierung spielte also das Alter, das jugendliche
Auftreten, eine erhebliche Rolle für den Beitritt zur NSDAP.
In sozialer Hinsicht stammten von den neuen Mitgliedern der Jahre 1930 bis 1932 35,9 Prozent aus
den Unterschichten, 54,9 Prozent aus der unteren Mittelschicht und 9,2 Prozent aus der Oberschicht.
Im Vergleich zur Gesamtbevölkerung waren die untere Mittelschicht und die Oberschicht deutlich
überrepräsentiert, die Unterschichten unterrepräsentiert. Dennoch rekrutierten sich die NSDAPMitglieder aus allen sozialen Schichten, was in der Parteienlandschaft der Weimarer Republik relativ
ungewöhnlich war. Immerhin waren ein Drittel der Neuzugänge Angehörige der Unterschichten, und
die NSDAP war neben ihrem deutlichen mittelständischen Kern auch eine "Arbeiterpartei". Dabei
rangierte sie allerdings nach SPD und KPD auf dem dritten Platz. In der Mehrzahl handelte es sich
um bislang nichtorganisierte Arbeiter aus kleineren und mittleren Betrieben, aus Heimarbeit und
Kleingewerbe und aus dem öffentlichen Dienst, die vor allem nach dem September 1930 zur NSDAP
strömten.
Den ursprünglichen Kern bildeten Angehörige der unteren Mittelschichten, darunter vor allem Kaufleute
und Gewerbetreibende (17,3 Prozent), kleinere und mittlere Angestellte (25,6 Prozent), Freiberufler
(3 Prozent) und nichtakademische Fachleute wie Bauern (14,1 Prozent). Am Vorabend der
Septemberwahlen 1930 waren 17,3 Prozent der Mitglieder Selbständige aus Handwerk, Gewerbe und
Handel (Anteil an der Gesamtbevölkerung nur 9,2 Prozent). Auch kleine und mittlere Angestellte waren
gemessen an ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung in der NSDAP immer überrepräsentiert. Obwohl
ihnen parteipolitische Aktivitäten untersagt waren, waren 1930 immerhin schon 8,3 Prozent der
Mitglieder der NSDAP Beamte. Bemerkenswert war auch der Anteil der Bauern mit 14,1 Prozent, war
dies doch eine soziale Gruppe, die sich traditionsgemäß politisch weniger organisierte.
Bedeutung der Mittelschichten
Was für die soziale Herkunft der Mitglieder gilt, bestätigt sich mit einigen Verschiebungen auch bei
den Wählern. Die NSDAP fand ihre Wähler in allen Schichten und sie stellte darum den Typus einer
"Volkspartei" dar. Das Gewicht der verschiedenen sozialen Schichten veränderte sich im Verlauf der
Parteigeschichte. Den stabilsten Kern der NS-Wählerschaft bildeten Angehörige der alten städtischen
Mittelschichten und der kleinen Landwirte. In der großen Krise kamen vor allem Protestwähler aus der
neuen Mittelschicht der Angestellten sowie aus dem Rentnermilieu hinzu. Nach 1930 wuchs zudem
die Neigung bürgerlicher Honoratioren, die NSDAP zu wählen, sehr stark. Das zeigen die
Wahlergebnisse in wohlhabenden Wohnvierteln der Städte. Der Anteil der Frauen unter den NSWählern war 1930 im Vergleich zur Gesamtbevölkerung noch leicht unterrepräsentiert, was sich bis
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1933 in ein leichtes Übergewicht verwandelte.
Wichtig im Wahlverhalten waren die regionalen und konfessionellen Unterschiede. Die NSDAP wurde
in den protestantischen Kreisen Norddeutschlands gewählt bis hin ins protestantische Franken und
nach Thüringen. Sie gewann 50 Prozent ihrer Stimmen in Gemeinden und Städten unter 5000
Einwohnern, in den Großstädten nur maximal 40 Prozent. Gegen den verbreiteten Sog zur NSDAP
konnten sich nur die Zentrums-Partei, die noch einigermaßen fest im katholischen Milieu verankert
war, wie die SPD und die KPD andererseits behaupten, die ihre Stammwähler weitgehend halten
konnten.
Was die Hitler-Partei attraktiv machte, waren die Wirksamkeit des Hitler-Kultes, die restaurativen
Sehnsüchte nach der Rückkehr zu alten Sozialordnungen wie auch die Erwartungen von sozialem
Aufstieg und Modernisierung. Bei genauerem Zusehen hätte auffallen müssen, daß die verschiedenen
Versprechungen, die die NSDAP ihrem aus fast allen sozialen Lagern stammenden Publikum machte,
in sich höchst widersprüchlich waren und längst nicht alle materiellen Interessen der Anhänger hätten
befriedigen können (und später auch nicht getan haben). Daß die Propaganda in einer solchen von
Krisen, Ängsten und Hoffnungen geprägten Situation so attraktiv war und daß der Appell zur
Volksgemeinschaft und nationalen Größe so wirksam werden konnte, war ein Reflex der Legitimationsund Identitätskrise der deutschen Gesellschaft der frühen dreißiger Jahre, die sich in ihrer Mehrheit
nach einfachen und radikalen Lösungen sehnte.
Die NSDAP finanzierte ihre aufwendigen Propagandakampagnen in erster Linie durch ihre Mitglieder
und deren Beiträge, durch Eintrittsgelder für ihre Massenveranstaltungen und dann auch durch
Spenden von Sympathisanten aus dem bürgerlich-gewerblichen Bereich, vor allem von Inhabern
kleinerer und mittlerer Betriebe. Es liegen dagegen keine Belege für eine kontinuierliche finanzielle
Förderung der NSDAP durch die Großindustrie vor, die ihre Zuweisungen zudem parteipolitisch streute.
Auch wenn es aus Banken und Großunternehmungen wie der IG-Farben persönliche finanzielle
Zuwendungen an einzelne Repräsentanten eines wirtschaftsfreundlichen Kurses in der NSDAP gab,
so erfolgten diese und andere Subventionen in der Regel immer erst nach den Wahlerfolgen der
NSDAP.
Wie begrenzt die politischen Einflußmöglichkeiten des Geldes waren, zeigen Versuche der
Großindustrie zwischen 1930 und 1932, eine bürgerliche Rechtspartei nach eigenen Wünschen zu
gründen bzw. zu fördern, was fehlschlug. Zudem war das Verhalten der Großindustrie gegenüber der
NSDAP und einer Regierungsbeteiligung Hitlers sehr uneinheitlich; nur eine kleine Fraktion, darunter
Fritz Thyssen und Paul Silverberg, zweiter Mann des Reichsverbandes der Industrie, unterstützte
Hitler; die Mehrheit aus Schwerindustrie und den modernen Leichtindustrien aus Elektro-, Chemieund Verarbeitungsbereich setzte weiterhin auf eine Präsidialregierung unter Franz von Papen oder
gab dem Konzept des Reichskanzlers Kurt von Schleicher den Vorzug. Entscheidender war die Rolle
der Großwirtschaft, die sie im Verbund mit anderen traditionellen Machteliten schon zuvor bei der
Zerstörung der parlamentarischen Demokratie zugunsten einer autoritären Staatsform seit 1929/30
gespielt hatten; eine Lösung, die sich am Ende dann vor dem Ansturm der nationalsozialistischen
Massenbewegung nicht behaupten konnte.
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Auf dem Weg zur Macht
Der Durchbruch zur Macht vollzog sich in kaum mehr als zwei Jahren. Nachdem die NSDAP durch
ihre Beteiligung am Volksbegehren gegen den Young-Plan vom 22. Dezember 1929, das die endgültige
Regelung der deutschen Reparationszahlungen nach dem Ersten Weltkrieg vorsah, von der
traditionellen Rechten aus Deutschnationalen und Stahlhelm hoffähig gemacht worden war, gelang
es Hitler, erste Erfolge bereits bei Kommunal- und Landtagswahlen im Winter 1929/30 zu erringen.
Auffällig war auch die starke Mitgliederzunahme unmittelbar nach dem Volksbegehren, mit dem in
einer großangelegten Hetzkampagne gegen die angebliche "Versklavung des deutschen Volkes" und
mit der Drohung von Landesverratsanklagen gegen alle an der Annahme des Young-Plans Beteiligten
die nationalen Leidenschaften aufgewühlt worden waren. Allein im Dezember 1929 sollen 19000
Aufnahmegesuche bei der NSDAP eingegangen sein. Bereits im Frühjahr 1930 betrug die
Mitgliederzahl der Partei über 200000. Der Aufstieg der NSDAP ging also nicht allein auf die
Weltwirtschaftskrise zurück, sondern begann bereits vorher in einer Phase der nationalistischen
Emotionalisierung, das heißt in einem Moment der sich zuspitzenden Krise der parlamentarischen
Demokratie.
In dieser Stimmung konnte die NSDAP bei den Landtagswahlen in Thüringen im Dezember 1929 ihre
Stimmenzahl verdreifachen, so daß sie zum ersten Mal auf über zehn Prozent der Stimmen anwuchs.
Hier wurde dann auch die erste Regierung unter Beteiligung der NSDAP mit Wilhelm Frick als Innenund Volksbildungsminister gebildet, der alles tat, um Thüringen zum "nationalsozialistischen Modell"
(Broszat) zu machen. Es gelang ihm, den nationalsozialistischen Einfluß auf die Schulen auszudehnen,
an der Universität Jena einen Lehrstuhl für Rassenfragen und Rassenkunde einzurichten und erste
personalpolitische Säuberungsaktionen vorzunehmen, die sich derselben antimarxistischen
Argumente bedienten wie später bei der nationalsozialistischen Machtergreifung im Frühjahr 1933.
Schließlich konnte der sozialdemokratische Reichsinnenminister Carl Severing einer weiteren
Nazifizierung Thüringens durch Sperrung von Finanzzuweisungen einen Riegel vorschieben.
Schon 1932 eroberten die Nationalsozialisten auch andere Länder wie Oldenburg, Sachsen-Anhalt
und Braunschweig, wo Hitler 1932 vor der Reichspräsidentenwahl noch in aller Eile zum Regierungsrat
ernannt wurde, um die zur Wahl notwendige deutsche Staatsangehörigkeit zu erhalten. Bei der
Landtagswahl am 24. April 1932 verkürzte sich in Bayern der Abstand zwischen Zentrum bzw.
Bayerischer Volkspartei (BVP, 32,6) zur NSDAP (32,5) auf 0,1 Prozent. Dies macht augenfällig, wie
wichtig diese ersten Stützpunkte in den Ländern sein sollten; später bei der Politik der Gleichschaltung
im Frühjahr 1933 bildeten sie die entscheidenden Brückenköpfe.
Reichstagswahlen 1930
Zu einem politischen Erdrutsch kam es dann bei den Reichstagswahlen im September 1930. Die
NSDAP konnte mit 6,4 Millionen Wählern (18,3 Prozent) das Achtfache der Wählerzahl von 1928
vorweisen: Ihre Mandatszahl stieg von zwölf auf 107. Damit war sie hinter der SPD (24,5 Prozent) und
vor dem Zentrum zur zweitstärksten Partei geworden und hatte über Nacht die Parteienlandschaft
verändert. Bereits die ungewöhnlich hohe Wahlbeteiligung von 82 Prozent, die fast an den Spitzenwert
von 1919 (83 Prozent) heranreichte, zeigt das Ausmaß der Mobilisierung, die sich vor allem zugunsten
der NSDAP auswirkte. Neben der hohen Wahlbeteiligung waren vor allem die Verluste der bürgerlichen
Parteien für den Wahlerfolg der NSDAP verantwortlich. Die Deutsche Demokratische Partei (DDP)
und die Deutsche Volkspartei (DVP) waren plötzlich zu Splitterparteien geworden, und auch
Hugenbergs Deutschnationale Volkspartei (DNVP) war auf sieben Prozent zusammengeschrumpft.
Sonst hatten nur noch die Kommunisten Gewinne erzielt, deren Ergebnis mit 13,1 Prozent längst nicht
so dramatisch ausfiel wie das der NSDAP.
Die historische Zäsur, die diese Wahl bedeutete, wurde auch von den Zeitgenossen sofort erkannt.
Sie galt ihnen als Ausdruck der Krise des Parlamentarismus und eines Legitimationsschwundes der
bürgerlich-liberalen Ordnung, der sich offenbar in einem unbestimmten Wunsch nach Veränderung
niederschlug. "Kein positiver Wille, auch nicht der zu einem wirklichen Umsturz des heutigen Staates
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[...] steht hinter einem großen Teil dieser radikal-negierenden Stimmen", stellte die "Frankfurter Zeitung"
fest.
Reaktionen auf NSDAP-Gewinne
Auch verfassungspolitisch stand nun ein neues Thema auf der Tagesordnung. Hatte der Gegensatz
bis dahin noch gelautet "Republik oder Monarchie", so wurde dies nun von dem Gegensatz "Rechtsstaat
oder Diktatur" überlagert. Aus der Verschränkung dieser beiden Alternativen, die gegen die Republik
gerichtet waren, ergab sich ein großer Teil der Dynamik im Auflösungsprozeß der Weimarer Republik,
der mit der Machteroberung durch die NSDAP verbunden war, aber davon nicht allein verursacht
worden war. Denn die Weimarer Republik war bereits seit 1930 durch die Schwäche der sie tragenden
Parteien und die mangelnde Konsensfähigkeit im Parlament, vor allem aber durch die Pläne zu einer
Verfassungsveränderung von rechts in einem Zustand der Auflösung, so daß die Nationalsozialisten
diesen Prozeß zusammen mit den Verfechtern einer autoritären Lösung nur noch beschleunigt haben.
Seit den Septemberwahlen von 1930 ging es in der deutschen Politik auch um die Frage, wie man
sich gegenüber der neuen nationalsozialistischen Massenbewegung verhalten sollte. Überlegungen
wurden in Reichswehr und Politik laut, die mittelfristig eine Regierungsbeteiligung der
Nationalsozialisten anstrebten, um diese zu zähmen und zu integrieren. Die Alternative, die ebenfalls
in Parteien und Parlament diskutiert wurde, war die Bildung einer geschlossenen Abwehrfront gegen
diese Herausforderung. Zunächst gab es durchaus Anzeichen dafür, daß die Kräfte des Rechtsstaates
und der Verständigung zusammenrückten: Die Sozialdemokraten tolerierten den Sparkurs von
Reichskanzler Brüning. Darüber hinaus versuchten Preußen und andere demokratische
Länderregierungen, durch Verordnungen und durch Druck auf die Reichsregierung energisch gegen
die politischen Gewalttätigkeiten der Nationalsozialisten vorzugehen.
Daneben gab es auch im gesellschaftlichen Bereich Widerstand. Das sozialdemokratische
Reichsbanner machte gegen die NSDAP mobil. Auch die katholischen Bischöfe grenzten sich in
gemeinsamen Erklärungen scharf vom Nationalsozialismus ab. Eine erste Maßnahme des Reiches
war eine Notverordnung des Reichspräsidenten 1931 gegen politische Gewalttätigkeit von links und
rechts; die schärfste Form war die Notverordnung vom April 1932 "zur Sicherung der Staatsautorität",
die ein Verbot von SA und SS aussprach. Doch prominente Förderer und Anhänger, bis hin zum
Kaisersohn August Wilhelm von Preußen sicherten der NSDAP nach wie vor hohes Ansehen. Darüber
hinaus lösten Überlegungen der Reichswehr, die das Wehrpotential der SA für ihre Zwecke nutzen
wollte, die Abwehrfront noch weiter auf. So blieben die Abwehrmaßnahmen Stückwerk und wurden
bald von erneuten Vorleistungen an die NSDAP aufgelöst.
Unübersehbar waren zudem auch Pläne, die "national wertvollen Kräfte" der NSDAP für die eigenen
Zielsetzungen fruchtbar zu machen. Überlegungen, man könne und müsse die revolutionären
Elemente im Nationalsozialismus nur zähmen und die Bewegung behutsam an den Staat heranführen,
mußten in dem Maße attraktiver werden, in dem die ökonomische Krise sich seit 1931 noch zuspitzte,
die NSDAP noch größeren Zulauf erhielt. Derartige Vorstellungen gab es in der Reichswehr, aber auch
in der Großwirtschaft und schließlich bei den bürgerlichen Rechtsparteien. Auch Brüning suchte im
Oktober 1930 das politische Gespräch, um festzustellen, ob mit Hitler nicht in eine kalkulierbare
politische Verabredung zu kommen wäre. Das mußte freilich das Mißtrauen bei den demokratischen
Parteien wachsen lassen, besonders bei der SPD, die umgekehrt auf der radikalen politischen Linken
in der erstarkenden KPD einen Konkurrenten besaß, mit dem man angesichts der sozialen Not und
der Verbitterung vor allem im Arbeitermilieu rechnen mußte undadurch im Handlungsspielraum
eingeengt war.
Nach der Septemberwahl war nicht absehbar, wie Hitler den Weg zur Macht fortsetzen wollte.
Verhandlungen über eine direkte Beteiligung an der Regierung blieben ohne Erfolg, andererseits wuchs
mit dem Erfolg auch der Erwartungsdruck der Anhänger. Die Frage, ob man den Legalitätskurs einhalten
oder wieder zur revolutionären Strategie greifen sollte, war längst noch nicht entschieden und wurde
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durch Ausbrüche von politischer Gewalt in NSDAP und SA immer wieder aufgeworfen. Eine andere
Möglichkeit bestand im Bündnis mit der nationalistischen Rechten, das im Oktober 1931 in Gestalt der
"Harzburger Front", einem vorübergehenden Zusammenschluß nationalistischer und vaterländischer
Verbände von Deutschnationalen, NSDAP und dem mächtigen konservativ-autoritären
Frontsoldatenverband "Stahlhelm". Dazu waren das gegenseitige Mißtrauen und die jeweils eigenen
Profilierungs- und Machtansprüche viel zu groß.
Deutlich wurde dies bei den Reichspräsidentenwahlen von 1932, wo die bürgerliche Rechte und die
NSDAP sich nicht auf einen gemeinsamen Kandidaten einigen konnten. In einer Stichwahl kam es
zum Zweikampf zwischen Hitler und Hindenburg. Hindenburg wurde dabei von einer Koalition der
demokratischen Parteien unterstützt und konnte eine Mehrheit von 53 Prozent auf sich vereinigen.
Hitler konnte hingegen mit 36,8 Prozent eine erneute Stimmensteigerung verzeichnen. Doch in der
ungeduldigen Massenbewegung, besonders in der SA, wurde das als Niederlage empfunden, die
erneut die Frage der richtigen politischen Strategie aufkommen ließ.
Die internen Zweifel und Gegensätze wuchsen, als bei den Reichstagswahlen vom 31. Juli 1932 die
NSDAP zwar noch einmal zulegen konnte (37,3 Prozent), aber ein Ende der Zuwachsraten absehbar
war. "Zur absoluten Mehrheit kommen wir so nicht", notierte Goebbels in sein Tagebuch. "Also einen
anderen Weg einschlagen." Für den Propagandaleiter konnte das nur eine Abkehr vom Legalitätskurs
oder vom Verlangen der NSDAP nach der ganzen Macht bedeuten. Für eine dezidierte Kursänderung
trat der Reichsorganisationsleiter, Gregor Strasser, ein, der wegen der prekären Finanzsituation der
Partei und der Grenzen der Mobilisierungsstrategie nach möglichen Koalitionen Ausschau hielt.
Von Papens Preußenschlag
Unterdessen hatte Reichspräsident von Hindenburg Ende Mai 1932 die Regierung Brüning
fallengelassen. Massiv beeinflußt von General Kurt von Schleicher aus dem Reichswehrministerium
hatte er stattdessen mit dem Zentrumspolitiker Franz von Papen und seinem Kabinett von
parteipolitisch ungebundenen Adligen am 1. Juni 1932 eine neue Regierung installiert, die in einer Zeit
wirtschaftlicher Krise und tiefgehender Massenmobilisierung politisch völlig isoliert war. Sie konnte
sich nur auf das Notverordnungsrecht nach Artikel 48 der Verfassung und die Macht der Bürokratie
und der Reichswehr stützen. Die Regierung Papen mit ihrem "Neuen Kurs" sollte nach dem Willen
ihrer Schöpfer eine neue und entscheidende Stufe im Prozeß der autoritären Umgestaltung der
Verfassung sein. Damit war einerseits eine Rückkehr zu einer halb-parlamentarischen halbdiktatorialen Regierungsform nach dem Muster Brünings verbaut. Andererseits gab es im Reichstag
eine Mehrheit der verfassungsfeindlichen Parteien von NSDAP und KPD. Damit waren tionale politische
Entscheidungen oder gar der Versuch eines mehrheitsfähigen parlamentarischen Konsenses
aussichtslos oder liefen ins Leere. Stattdessen war nun Zufällen, Intrigen und Massenemotionen Tür
und Tor geöffnet.
Dennoch wurden in der kurzen Regierungszeit Papens wichtige Weichen gestellt: Zunächst wurden
neue Minister aus dem Lager der politischen Rechten bestellt, die außerhalb des parlamentarischen
Spektrums standen und grundsätzlich auch zu einer Zusammenarbeit mit der NSDAP bereit waren.
Sie hatten dann auch keine Probleme, nach dem 30. Januar 1933 in der Regierung Hitler weiter
mitzuarbeiten. Auch einer Außerkraftsetzung der Verfassung und einer autoritären Diktatur - gestützt
auf die Reichswehr - stand die Regierung Papen nicht ablehnend gegenüber, was einen sichtbaren
Ausdruck in ihrer ersten spektakulären Aktion fand, dem "Preußenschlag" vom 20. Juli 1932.
Rechtswidrig und nur fadenscheinig begründet setzte von Papen die geschäftsführende, das heißt die
nach den Landtagswahlen vom April 1932 ohne parlamentarische Mehrheit arbeitende preußische
Regierung unter Ministerpräsident Otto Braun ab, die von Sozialdemokraten und Zentrum getragen
wurde. Der Reichskanzler übernahm selbst das Amt des preußischen Ministerpräsidenten, für den
Posten des Innenministers wurde ein Reichskommissar ernannt. Auch wenn die preußische Regierung
nach den Wahlen ihre Mehrheit verloren hatte und der neue Landtag nicht mehr zur Mehrheitsbildung
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fähig war, war dies ein offener Verfassungsbruch.
Damit war ein wichtiges Bollwerk der Republik geschleift und die föderale Struktur der Verfassung
entscheidend ausgehöhlt. In den folgenden Wochen und Monaten wurden in Preußen
sozialdemokratische oder demokratische Regierungs- und Polizeipräsidenten oder Landräte ihrer
Ämter enthoben und durch konservative Beamte ersetzt. Vor allem aber machte der Verlauf der Aktion,
die auf wenig Widerstand stieß, deutlich, wie schwach die Demokratie nur noch war. Für die
Nationalsozialisten sollte sich die Ausschaltung einer demokratischen Länderregierung und die sich
daran anschließenden politischen Säuberungen in den Spitzen der Bürokratie als folgenreichste
Vorleistung erweisen. Immerhin war damit ein antirepublikanischer Stützpunkt errichtet, der zum
Ausgangspunkt der Gleichschaltungsaktionen im Frühjahr 1933 wurde.
Noch eine andere Vorleistung hatte die Regierung Franz von Papen sofort gebracht: Die Aufhebung
des von Brüning und seinem Innenminister Wilhelm Groener verfügten SA-Verbots, was die Welle der
bürgerkriegsähnlichen Gewaltaktionen sofort wieder anschwellen ließ und auch die Atmosphäre
prägte, in der im Juli 1932 erneut Reichtstagswahlen stattfanden. Diese waren notwendig geworden,
da von Papen, der keine parlamentarische Mehrheit besaß, am 4. Juni den Reichstag aufgelöst hatte.
Wozu sich diese unruhige Truppe, die massiven Zulauf erhalten hatte, einsetzen ließ, zeigten die
Vorgänge nach den Wahlen.
Nachdem bereits in ersten Vorgesprächen der neue Reichswehrminister von Schleicher eine
Unterstützung der Reichskanzlerschaft Hitlers abgelehnt hatte, verweigerte der greise Reichspräsident
von Hindenburg Hitler in einem kurzen Gespräch am 13. August strikt die Übergabe der
Regierungsgewalt. Die Reichsregierung verschärfte noch diese Niederlage durch die Veröffentlichung
eines Kommuniques, in dem sie nicht nur Hindenburgs Weigerung bekanntgab, sondern auch auf die
Diktaturgefahr verwies, die von der NSDAP ausginge. Auch der Aufmarsch von SA-Truppen in Berlin
konnte die alten Eliten nicht von ihrer Haltung abbringen, zumal Hitler vor einer offenen Kraftprobe mit
der Exekutive zurückschreckte.
In der SA lösten die Demütigungen und die zurückhaltende Taktik Hitlers eine neue Welle der
Enttäuschung und Wut aus. Daß für Papen und seine Führungsgruppe ein Zurück zu einem
parlamentarischen System völlig ausgeschlossen war, machten die Pläne und Programme für einen
Neuen Staat deutlich, die seine Ratgeber entwickelten. Sie planten eine autoritäre Staatsordnung ohne
Parteien und mit einem schwachen Parlament, dessen Kompetenzen fast völlig beschnitten werden
sollten. Außerhalb des Reichstages hatten solche Vorstellungen, die zurück in die Bismarck-Zeit
strebten, durchaus Anhänger: in Teilen der Industrie und unter Großagrariern, aber auch in Reichswehr
und Bürokratie. Auch an eine autoritäre Formierung der Erziehung war gedacht. Mit einer
Notverordnung vom September 1932 wurde vor dem Hintergrund einer finanziellen Notlage größten
Ausmaßes die Abkehr von den sozialpolitischen Errungenschaften des Weimarer Wohlfahrtsstaates
praktiziert: Die Tariflöhne konnten nun um zwölf Prozent, in manchen Fällen um 20 Prozent
unterschritten werden und auch die Leistungen im Wohlfahrtsbereich wurden drastisch eingeschränkt.
Mit seinen Plänen für einen autoritären "Neuen Staat" bewegte sich Papen freilich zunehmend im
politischen Niemandsland. Noch brauchte er nach den Bestimmungen der Verfassung die
parlamentarische Duldung für seine Notverordnungsregierung, und die erhielt er nach den Wahlen
vom Juli nicht mehr. Auch drohten die Gewerkschaften mit einem Generalstreik. Auf der anderen Seite
ließ die wachsende Welle von Gewalt, die über das Land schwappte, zunehmend Zweifel an der
Ordnungskraft dieser Regierungsform aufkommen. Bevor Papen weiter handeln konnte, hatte ihm
aber der neugewählte Reichstag schon die Unterstützung verweigert, so daß es zu einer erneuten
Auflösung des Parlamentes und zu Neuwahlen am 6. November 1932 kam.
Schleichers schnelles Scheitern
Bei den Novemberwahlen waren die Stimmen der NSDAP von 37,3 Prozent auf 33,1 Prozent merklich
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zurückgegangen, während umgekehrt die KPD einen Zuwachs von 14,3 Prozent auf 16,9 Prozent zu
verzeichnen hatte. Die beiden extremistischen Parteien verfügten wiederum über eine
Blockademehrheit im Reichstag. Die Regierung Papen fand wieder keine parlamentarische Basis und
es blieb ihr nur noch der Rücktritt. Damit endete eine Phase konservativ-autoritärer Illusionen, in der
versucht worden war, Ziele einer kleinen Oberschicht zum Fundament einer Regierung und eines
Staates zu machen. Wollte Schleicher seine alternative Strategie einer Einbindung der als "wertvoll"
erachteten Teile der NSDAP in die Regierung doch noch verwirklichen, mußte er, der bisher immer im
Hintergrund agiert hatte, nun selbst das politische Ruder übernehmen. Er setzte auf ein alternatives
politisches Programm, das auf die veränderten politischen Kräfteverhältnisse und auch auf mögliche
interne Gegensätze in der NSDAP zu reagieren suchte.
Schleicher verkündete eine Politik des "Burgfriedens" zwischen den politisch-sozialen Lagern und die
Bildung einer "Querachse" zwischen den Freien Gewerkschaften einerseits und den
kooperationswilligen Teilen der NSDAP andererseits zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und des
sozialen Elends. Er bot Gregor Strasser als dem vermeintlichen Exponenten solcher Kräfte in der
NSDAP die Vizekanzlerschaft an, jedoch waren die Gräben zwischen den Lagern zu tief und die
Machtverhältnisse in der NSDAP anders als Schleicher dies vermutet hatte. Die Gewerkschaften gaben
ihm eine Absage, weil sie die Glaubwürdigkeit Schleichers und seines angedeuteten politischen
Kurswechsels bezweifelten und weil sie noch stärker als die SPD, die sich vorsichtig kooperationsbereit
zeigte, fürchteten, durch ein solches Bündnis mit einer Regierung, deren Mitglieder als elitäre
"Herrenreiter" galten, Einfluß an die radikale KPD abzugeben.
Gregor Strasser nahm das Angebot zwar ernst, doch zeigte er sich im entscheidenden Moment Hitler
an politischer Willenskraft unterlegen und beugte sich seinem Kurs des Alles oder Nichts. Mehr noch
er trat von allen Parteiämtern zurück und resignierte, was ihn freilich genauso wenig von Hitlers späterer
Rache schützte wie Schleicher. Beide wurden in den Mordaktionen während der sogenannten RöhmAffäre im Sommer 1934 durch den nationalsozialistischen Staat umgebracht. Schleichers Plan
scheiterte aber auch am Mißtrauen der großen wirtschaftlichen Interessenorganisationen. Sowohl die
Großagrarier als auch Teile der Industrie lehnten seinen Kurs als "sozialistisch" ab und intervenierten
dementsprechend beim Reichspräsidenten, der einzigen Stütze der Präsidialregierungen.
Papens Intrigen für Hitler
In dieser Situation begann der dramatische Schlußakt im Prozeß des Untergangs der Weimarer
Republik, im Übergang von einem autoritären System zu einer nationalsozialistischen Diktatur. Doch
auch an der Jahreswende 1932/33 waren noch verschiedene Ausgänge und Lösungen der Staatskrise
denkbar; vor allem eine Fortsetzung eines autoritären Regimes war nicht ausgeschlossen und wurde
von der Mehrheit der Zeitgenossen auch angenommen. Der Weg zur Regierungsübernahme durch
Hitler war nicht zwingend und auch nicht unvermeidlich; bis zuletzt gab es politische Alternativen, auch
wenn einige davon schon verbraucht waren.
Die entscheidende Rolle in dem politischen Intrigen- und Machtstück, das sich nun vollends entfaltete,
spielte Papen, der nach wie vor das Vertrauen Hindenburgs besaß. Er wollte auf jeden Fall Schleicher,
seinen einstigen Gönner, zu Fall bringen und konnte sich dabei auch der Unterstützung von Teilen der
traditionellen Machtgruppen vor allem aus dem Kreis der Großagrarier, aber auch der Industrie sicher
sein. Papen meinte, zu seinem Machtpoker auch die NSDAP einsetzen zu können, die nach den
Wahlverlusten vom November 1932, nach der Führungskrise um Gregor Strasser und durch erneute
interne Konflikte mit rebellischen SA-Einheiten geschwächt war. Grundsätzlich ähnelten die Verfechter
des autoritären Staates und auch die NSDAP mit Hitlers Alles-oder-Nichts-Strategie im Januar 1933
zwei politisch Verunsicherten oder Gescheiterten, die nach einer letzten Stütze suchten.
Zum Jahreswechsel, als die politischen Leitartikler schon das baldige Ende des Hitlerismus
prophezeiten, hatte Papen sich hinter von Schleichers Rücken mit Hitler heimlich getroffen und ihm
die Reichskanzlerschaft in einem gemeinsamen Kabinett angeboten. Doch stand hinter diesem
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Ränkespiel keine breite politische Front: Weder die Großindustrie stützte mehrheitlich diesen Kurs,
noch konnte die NSDAP in diesem Moment sich ihrer Massenbewegung sicher sein. Ansonsten waren
die politischen Akteure zerstritten und geschwächt, alle bisherigen politischen Lösungsmodelle
schienen zudem erschöpft oder unvorstellbar. Das war der Vorteil des Planes von Papen, der nun
alles daran setzte, die Zustimmung des zögernden oder ablehenden Hindenburg zu bekommen. Am
Ende waren es Gerüchte oder drohende Skandale, die die Entscheidung zu einer Lösung Hitler/Papen
begünstigten. Vor allem die Aufdeckung von Unregelmäßigkeiten in der Osthilfe, einem
Regierungsförderungsprogramm für die ostdeutsche Landwirtschaft, schreckte die Großlawirtschaft
auf und wurde politisch eingesetzt, um auch Hindenburg für die Konzepte Papens geneigter zu machen.
Auch die Sorgen vor einem "sozialistischen" Experiment Schleichers riefen weiterhin starke
ökonomische Interessen auf den Plan, die für eine Unterstützung einer Regierung Hitler/Papen benutzt
wurden. Neben dem Reichslandbund, der Interessenvertretung der Großagrarier, gab es auch
einflußreiche Reichswehrgeneräle wie Werner von Blomberg, die gegen Schleichers Pläne einer
Militärdiktatur als Ausweg aus der verfahrenen Situation Front machten und sich ihrerseits Hitler
andienten. Denn Schleicher wollte nun gestützt auf die präsidiale Notverordnungsmacht denselben
Kurs steuern, den er Papen noch einige Wochen zuvor verweigert hatte. Hinzu kam bei einigen
Generälen der verlockende Gedanke, mit der nationalsozialistischen Massenbewegung eine Stärkung
der Stellung des Militärs zu betreiben, das Militär aber zugleich aus der direkten Politik herauszuhalten.
Umgekehrt bot sich für Hitler die Chance, im Bündnis mit der Reichswehr diese aus der Politik
herauszuhalten und damit mittelfristig als politische Gegenkraft auszuschalten. Denn die Parole Hitlers
von den "zwei Säulen" im Staat, nämlich einer nationalsozialistischen politischen Macht einerseits und
der Reichswehr andererseits, die sich auf die "Wehrhaftmachung" und die Aufrüstung konzentrieren
sollte, schien beiden Seiten zu dienen. Für die Reichswehr deutete sich eine Zukunft an, in der sie
ihre eigenen Wünsche auf Wiederaufrüstung und Revision des Versailler Vertrages, aber auch auf
Anerkennung ihrer vermeintlich von der Republik bestrittenen sozialen Elitefunktion zu verwirklichen
hoffte.
Damit waren die wichtigsten Entscheidungen hinter den Kulissen gefallen und der greise
Reichspräsident von seiner Abneigung gegen Hitler abgebracht, den er bis dahin als den "böhmischen
Gefreiten" zu bezeichnen pflegte. Schließlich hatte man ihm versichert, daß nun eine Regierung mit
klaren Mehrheiten gefunden würde, die ihm die Bürde der Verantwortung abnehmen und ihn von der
Belastung eines möglichen Verfassungsbruches und Bürgerkriegs befreien würde, in die ihn seine
eigenen Vertrauten in den Präsidialregierungen Papen und Schleicher mit ihren Staatsnotstandsplänen
manövriert hatten. Nach diesen Vorentscheidungen wurden Schleicher am 28. Januar die
Notverordnungsvollmachten des Präsidenten mit den Argumenten verweigert, die er Wochen zuvor
selbst gegen Papen eingesetzt hatte. Es blieb dem politischen General nur noch der Rücktritt, zwei
Tage später wurde Hitler von Hindenburg zum Reichskanzler ernannt.
Das Zähmungskonzept, das seit 1930 in der Reichswehr und in konservativen Führungszirkeln als
mögliche politische Lösung diskutiert und getestet wurde, hatte sich am Ende durchgesetzt. In der Tat
gab es immer weniger Alternativen, seitdem der Weg zurück zum Parlamentarismus so gut wie
abgebrochen und die Auflösung der politischen Macht so weit vorangeschritten war, daß es nur noch
die Lösung einer autoritären Regierung mit oder ohne die Nationalsozialisten zu geben schien.
Mit dieser als plebejisch verachteten nationalsozialistischen Massenbewegung, die lediglich als
Mehrheitsbeschafferin agieren sollte, meinten die konservativen Machtträger aus vielerlei Gründen
fertigwerden zu können: Schließlich besaßen die konservativen Eliten die wichtigsten institutionellen
Machtapparate wie das Heer, die Bürokratie, die Justiz und die Unterstützung der Großwirtschaft. Was
ihnen fehlte, nämliche eine Massenbasis als Voraussetzung für eine politische Integration, sollten
ihnen die politikunerfahrenen Nationalsozialisten besorgen. Entsprechend meinte Papen jubeln zu
können: "Wir haben ihn uns engagiert." Und weiter: "In zwei Monaten haben wir Hitler in die Ecke
gedrückt, daß er quietscht."
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Das war das klassische Dokument einer Fehleinschätzung, denn es fehlte den Verfechtern dieser
Konzeption eine Vorstellung von der revolutionären Dynamik einer charismatischen Glaubens- und
Kampfbewegung und von den politisch-sozialen Auflösungserscheinungen, die die Staats- und
Wirtschaftskrise in Gesellschaft und Wirtschaft hinterlassen hatte, auch wenn die Fassade mitunter
noch stabil und machtvoll wirkte. Wie schnell diese Bastionen unter dem Druck von Gewalt und der
Bereitschaft zur Selbstaufgabe und Anpassung zusammenbrachen, zeigten die wenigen Wochen nach
dem 30. Januar 1933. Sie wurden von den Nationalsozialisten sofort als "Machtergreifung" gefeiert.
Tatsächlich waren sie zunächst aber nur die Folge der Auslieferung der Macht, die dann freilich in
einen umfassenden Vorgang der Machteroberung mündete.
Auszug aus:
Informationen zur politischen Bildung (Heft 251) - Die nationalsozialistische Massenbewegung
in der Staats- und Wirtschaftskrise
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Zerstörung der Demokratie 1930 - 1932
Von Reinhard Sturm
23.12.2011
geboren 1950, studierte von 1971 bis 1978 Geschichte, Politikwissenschaft und Anglistik an der Georg-August-Universität Göttingen.
1973/74 war er ein Jahr als German Assistant an einer Schule in England tätig. Nach dem Vorbereitungsdienst 1978 bis 1980 in
Salzgitter arbeitete er als Gymnasiallehrer bis 1990 in Göttingen, seither in Hildesheim. Seit 1990 bildet er als Studiendirektor und
Fachleiter für Geschichte am Studienseminar Hildesheim für das Lehramt an Gymnasien angehende Geschichtslehrer/innen aus.
Er hat wissenschaftliche und didaktische Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung, zur Weimarer Republik, zum
Nationalsozialismus und zur deutschen Nachkriegsgeschichte sowie zur Geschichtsdidaktik veröffentlicht.
Kontakt: »[email protected]«
Der Börsensturz am "Schwarzen Freitag" im Oktober 1929 traf Deutschland nach den USA
besonders schwer. Massenarbeitslosigkeit und Armut führten zur politischen Radikalisierung
der Bevölkerung. Eine dichte Folge von Regierungskrisen schwächten die Republik noch weiter
- und trieb den Nationalsozialisten Wahlstimmen zu.
Wirtschaftskrise
Am 24. Oktober 1929 begann ein dramatischer Verfall der Aktienkurse an der New Yorker Börse
("Schwarzer Freitag"). Ursache waren jahrelange Überinvestitionen in der Industrie und damit ein
Überangebot an Waren, mit dem die Nachfrage nicht Schritt gehalten hatte. Binnen kurzem weitete
sich die amerikanische Krise aufgrund der internationalen Finanz- und Wirtschaftsverflechtungen zur
größten Krise der Weltwirtschaft im 20. Jahrhundert aus. Sie hat die Errichtung der NS-Diktatur 1933
keineswegs verursacht, aber doch mit ermöglicht und beschleunigt.
Das Deutsche Reich war, nach den USA, am stärksten von der Krise betroffen. Trotz eines sich schon
1928 ankündigenden Nachfragerückgangs hatte die Industrie auch 1929 noch investiert. Dadurch
entstanden Überkapazitäten, zumal bald alle Industrieländer die bereits bestehenden Zollschranken
im Zuge der Krise erhöhten. Das Überangebot an Waren führte zu einer Produktionsdrosselung;
Kurzarbeit und Entlassungen sowie Firmenzusammenbrüche waren die Folge. Von 1928 bis 1931
verdoppelte sich die Zahl der jährlichen Konkurse. Im Winter 1929/30 gab es bereits mehr als drei
Millionen Arbeitslose, die materiell weitaus schlechter abgesichert waren als heute. Es entstand ein
Teufelskreis aus sich verringernder Kaufkraft, zurückgehender Nachfrage, sinkender Produktion und
weiteren Entlassungen. In der Landwirtschaft konnten viele kleine und mittlere Bauern ihre Schulden
nicht mehr abbezahlen. Es kam zu Zwangsversteigerungen, gegen die sich ein verzweifelter
bäuerlicher Protest formierte. Schon 1929 trat die schleswig-holsteinische "Landvolkbewegung" durch
tätliche Angriffe auf Gerichtsvollzieher und Polizisten sowie durch Bombenattentate auf staatliche
Gebäude in Erscheinung.
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Bruch der Großen Koalition
Die Massenarbeitslosigkeit überforderte rasch die Finanzmittel der Arbeitslosenversicherung. In der
Regierung kam es zu einem anhaltenden, erbitterten – durch die gemeinsame Verabschiedung des
Young-Planes am 12. März nur kurz unterbrochenen – Koalitionsstreit über die Lösung des Problems.
Im Kern ging es um die Frage: Sollten die Beiträge von Arbeitgebern und Arbeitnehmern erhöht oder
die Leistungen für die Arbeitslosen gekürzt werden? Die industrienahe DVP wollte zusätzliche Kosten
der Arbeitgeber infolge erhöhter Beiträge vermeiden. Die Arbeitnehmerpartei SPD lehnte es ab, das
ohnehin geringe Arbeitslosengeld zu kürzen.
Nach mehreren gescheiterten Lösungsansätzen unterbreitete schließlich der ZentrumsFraktionsvorsitzende Heinrich Brüning am 27. März 1930 einen Kompromissvorschlag, der die
Hauptentscheidung – Beitragserhöhungen oder Leistungskürzungen – vorläufig vertagte. Die DVP
stimmte zu, während die SPD ablehnte, weil sie mit der Arbeitslosenversicherung die Substanz des
Sozialstaates in Gefahr sah. So blieb dem Kabinett Müller am 27. März 1930 nur der Rücktritt.
Dem Anschein nach war die Große Koalition an der Unbeweglichkeit der SPD in einer an sich lösbaren
Streitfrage zerbrochen. Als Hindenburg jedoch schon drei Tage später, ohne die üblichen
Koalitionsverhandlungen, den neuen Reichskanzler – nämlich Heinrich Brüning – ernannte, lag der
Rückschluss nahe, dass der Bruch der Großen Koalition auf langfristiger Planung beruhte, der die
SPD allerdings mit ihrer kompromisslosen Haltung entgegengekommen war. Ihre bisherigen
Koalitionspartner mussten eingeweiht gewesen sein, denn Brüning ersetzte lediglich die drei SPDMinister durch Vertreter konservativer Kleinparteien sowie des gemäßigten Flügels der
Deutschnationalen, der sich Ende Juli als "Konservative Volkspartei" (KVP) von der DNVP abspaltete.
Die Bereitschaft der DDP zur Mitarbeit im Kabinett Brüning und bald darauf ihr Zusammenschluss mit
dem antisemitischen "Jungdeutschen Orden" zur "Deutschen Staatspartei" im Juli 1930 offenbarten
den Rechtstrend auch bei den Linksliberalen.
Übergang zum Präsidialregime
Die Regierung Brüning besaß keine Mehrheit. Wie der Kanzler trotzdem seine Politik durchzusetzen
gedachte, teilte er dem Reichstag am 1. April 1930 in seiner Regierungserklärung mit: Sein Kabinett –
so laute Hindenburgs Auftrag – sei "an keine Koalition gebunden" und werde "der letzte Versuch sein,
die Lösung mit diesem Reichstage durchzuführen". Demnach wollte die neue Regierung notfalls ohne
und gegen das Parlament arbeiten, und zwar mit Hilfe der Machtmittel des Reichspräsidenten:
Notverordnungen nach Artikel 48 WV und Reichstagsauflösung nach Artikel 25 WV. Sie verstand sich
als "Präsidialkabinett" oder "Hindenburg-Regierung".
An den Sondierungen und Planungen für diese autoritäre, in der Verfassung nicht vorgesehene
Regierungsweise waren, außer Hindenburg, vor allem seine Berater Schleicher und Meissner sowie –
neben Brüning – die Fraktionsvorsitzenden im Reichstag Ernst Scholz (DVP) und Graf Westarp (DNVP)
beteiligt. Seinen Memoiren zufolge erfuhr Brüning schon kurz nach Ostern 1929 von Schleicher, der
Reichspräsident sehe die Gefahr, "dass die ganze Innen- und Außenpolitik im Sumpfe verlaufe". Er
wolle daher "das Parlament im gegebenen Augenblick für eine Zeit nach Hause schicken und in dieser
Zeit mit Hilfe des Artikels 48 die Sache in Ordnung bringen". Weiter berichtet Brüning, Schleicher und
er hätten sich damals auf das Ziel der Wiedereinführung der Monarchie verständigt; manche Historiker
halten dies jedoch für eine nachträgliche Selbststilisierung.
Nach Meissners Erinnerungen ließ Hindenburg Ende Dezember 1929 Brüning mitteilen, er möge sich
für das Amt des Reichskanzlers zur Verfügung stellen. Der angesehene Konservative galt in der
Umgebung des Reichspräsidenten als möglicherweise sogar der SPD vermittelbare Integrationsfigur.
Aus den Aufzeichnungen des Grafen Westarp vom 15. Januar 1930 gehen Hindenburgs Leitlinien für
die Regierung Brüning hervor: "a) antiparlamentarisch, also ohne Koalitionsverhandlungen und
Vereinbarungen, b) antimarxistisch [...]" (also ohne die SPD); "c) Wandlung in Preußen [...]" mit Hilfe
des Zentrums – die in Preußen regierende Weimarer Koalition sollte ebenfalls gesprengt werden.
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Parallel zu diesen Planungen nahmen Wirtschaftskreise verstärkt Einfluss auf die industrienahe DVP
unter ihrem Vorsitzenden Ernst Scholz, um deren Austritt aus der Großen Koalition zu erreichen. Im
Dezember 1929 forderte der Reichsverband der Deutschen Industrie (RDI) in einer Denkschrift mit
dem Titel "Aufstieg oder Niedergang?" Steuererleichterungen für Unternehmer, Abschaffung der
Zwangsschlichtung, Senkung der Staatsausgaben und Reform der Arbeitslosenversicherung durch
"Ersparnismaßnahmen, nicht aber durch erhöhte Beiträge". Diesen SPD- und gewerkschaftsfeindlichen
Kurs machte sich die DVP zu eigen. Am 5. Februar 1930 schrieb der DVP-Abgeordnete Erich von
Gilsa dem Vorsitzenden des Verbandes Deutscher Stahlindustrieller, Paul Reusch, vertraulich, Scholz
wolle "bewusst auf einen Bruch mit der Sozialdemokratie hinarbeiten".
Der Bruch der Großen Koalition erfolgte also im Zusammenspiel einflussreicher Vertreter autoritärer
politischer – wenn nicht monarchistischer – Bestrebungen und wirtschaftlicher Interessen. Vor diesem
Hintergrund erscheint Brünings Vermittlungsvorschlag vom 27. März 1930 in einem anderen Licht: der
künftige Reichskanzler gedachte die Große Koalition "vor der Öffentlichkeit an der Kompromisslosigkeit
der SPD und nicht an der Intransigenz des kommenden Koalitionspartners DVP zu Schanden gehen
zu lassen" (Volker Hentschel).
Reichstagsauflösung
Die ersten Gesetzesvorlagen der neuen Regierung – Finanzhilfen für die ostelbische
Großlandwirtschaft, Steuererhöhungen zur Deckung des Reichshaushaltes 1930 – wurden vom
Reichstag mit knapper Mehrheit angenommen. Da die Arbeitslosigkeit weiter zunahm, beschloss die
Regierung im Juni eine zusätzliche Deckungsvorlage: Reform der Arbeitslosenversicherung durch
Beitragserhöhung auf 4,5 Prozent (der jetzt auch die DVP zustimmte) und Leistungskürzungen;
Ledigensteuer; Notopfer für Beamte und Angestellte; einheitliche Kopfsteuer. Als der Reichstag Teile
dieses sozial unausgewogenen Programms am 16. Juli ablehnte, setzte Brüning die gesamte Vorlage
in Form zweier Notverordnungen des Reichspräsidenten nach Artikel 48 Abs. 2 WV in Kraft.
Die Umwandlung eines vom Reichstag abgelehnten Gesetzentwurfs in eine Notverordnung war
eindeutig verfassungswidrig. Der Antrag der SPD-Fraktion vom 18. Juli, Brünings Notverordnungen
nach Artikel 48 Abs. 3 WV aufzuheben, wurde daher vom Parlament mit großer Mehrheit (bei
gespaltener DNVP) angenommen. Unmittelbar danach löste der Reichspräsident nach Artikel 25 WV
den Reichstag auf. Die Notverordnungen wurden in einer sogar noch verschärften Fassung wieder in
Kraft gesetzt. Bis zur Neuwahl nach 60 Tagen konnte jetzt mit Notverordnungen regiert werden.
Wahlsieg der NSDAP
Die Reichstagswahl vom 14. September 1930, an der sich 82 Prozent der Wähler beteiligten, endete
mit einer Katastrophe für die Demokratie. Die NSDAP, noch 1928 mit 2,6 Prozent und zwölf Mandaten
eine Splitterpartei, erzielte 18,3 Prozent, konnte die Zahl ihrer Sitze fast verneunfachen und stellte mit
107 Abgeordneten die zweitstärkste Fraktion (hinter der SPD, vor der KPD).
Die SPD verzeichnete erhebliche Verluste, die KPD starke Gewinne; Zentrum und BVP registrierten
einen leichten Zuwachs. Auch der Anteil der "Sonstigen", das heißt der Kleinparteien, nahm etwas zu.
Demgegenüber mussten DDP und DVP schwere Verluste hinnehmen; der Stimmenanteil der DNVP
wurde sogar halbiert. Wenngleich Art und Ausmaß damaliger Wählerwanderungen nicht exakt
bestimmbar sind, lässt sich schließen, dass überwiegend protestantische nationalkonservative und
liberale Mittel- und auch Oberschichtwähler zur NSDAP gewandert waren. Besonders starken Anklang
hatte Hitlers Partei offenbar bei den Mittelschichten ("alter" und "neuer Mittelstand") gefunden. Auch
von der um sieben Prozent gestiegenen Wahlbeteiligung hatte sie stärker als andere Parteien profitiert,
das heißt Jungwähler und bisherige Nichtwähler gewonnen.
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Dem entsprach die soziale Zusammensetzung der Mitgliederschaft der NSDAP: Arbeiter bildeten zwar
die stärkste Einzelgruppe, waren jedoch im Vergleich zu ihrem Anteil an den Erwerbstätigen deutlich
unterrepräsentiert, während die verschiedenen Mittelschichten einen überproportional hohen Anteil
stellten. Ferner zog die NSDAP besonders die jüngere Generation an: Das Durchschnittsalter ihrer
130.000 Mitglieder und Funktionäre lag 1930 beträchtlich unter dem der übrigen Parteien.
Im Wahlergebnis vom 14. September 1930 spiegeln sich die materiellen und psychologischen
Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise wider. Bereits seit Jahresbeginn lag die Arbeitslosenquote über
14 Prozent; hinter dieser Zahl verbargen sich die Schicksale von mehr als drei Millionen schlecht
versorgten Arbeitnehmern und ihren Familien. Die Folge war eine politische Polarisierung: Arbeitslose
Arbeiter wählten zum Teil erstmals kommunistisch. Der "alte Mittelstand" hingegen, der die sinkende
Kaufkraft seiner Kunden zu spüren bekam, sah sich nach 1923 ein weiteres Mal von Verarmung und
sozialem Abstieg bedroht. Er reagierte darauf mit einer Radikalisierung nach rechts zur NSDAP.
Vergleichbares gilt auch für den "neuen Mittelstand".
Denn Hitlers Partei war als einzige politisch unverbraucht – ihre Glaubwürdigkeit und Kompetenz
hatten noch keinen Test bestehen müssen. In Programm und Propaganda ging sie geschickter als
jede andere Partei auf die speziellen Nöte und Bedürfnisse der eigentumsorientierten,
"standesbewussten" Mittelschichten ein. Entsprechend der doppelten Frontstellung des alten
Mittelstandes gegen KPD/SPD/Gewerkschaften einerseits und Banken/Industrie/Warenhäuser
andererseits enthielten die politischen Aussagen der "Nationalsozialistischen Deutschen
Arbeiterpartei" sowohl antimarxistische als auch antikapitalistische Elemente. Ihr begrenzter
Antikapitalismus war – anders als der marxistische – für die Mittelschichten akzeptabel, weil "die
NSDAP auf dem Boden des Privateigentums steht", wie Hitler 1928 öffentlich klarstellte. Er richtete
sich nicht, wie es in der NS-Ideologie hieß, gegen das "schaffende", sondern nur gegen das "raffende
Kapital", das heißt gegen Banken (zu hohe Kredit-, zu niedrige Sparzinsen), Börsen (undurchschaubare
Gewinnchancen und Verlustrisiken) und Warenhäuser (bedrohliche Konkurrenz).
Hinter dem "raffenden Kapital" verbargen sich, so behauptete die NS-Propaganda, die Machenschaften
eines "internationalen Finanzjudentums". Dadurch wurde der Antikapitalismus in die NSRassenideologie integriert und gegen die Juden als Sündenböcke gerichtet. Aber auch "der Marxismus"
(das heißt Organisationen und Politik der kommunistischen und sozialdemokratischen Arbeiterschaft)
und die aus dem "Dolchstoß" hervorgegangene Weimarer Repu-blik galten den Nationalsozialisten
als schändliche jüdische Machwerke. Wer die inneren und äußeren Bedrohungen von Staat,
Gesellschaft und Wirtschaft abwenden wolle, müsse die Juden bekämpfen – so lautete,
zusammengefasst, die politische Botschaft der NSDAP. Wegen ihrer Einfachheit und Eingängigkeit
fiel sie in Deutschland – einem der Länder mit langer antijudaistischer und antisemitischer Tradition –
unter den Bedingungen der unbewältigten Kriegsniederlage und der Auswirkungen der
Weltwirtschaftskrise auf fruchtbaren Boden.
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Politik der Krisenverschärfung
Dass die KPD jetzt über 77, die NSDAP über 107 Reichstagssitze verfügte, hatte schwerwiegende
wirtschaftliche Folgen. Ausländische Kapitalanleger, insbesondere die bereits unter der Krise leidenden
amerikanischen und französischen Banken, die um die politische Stabilität der Weimarer Republik
fürchteten, begannen mit dem Abzug ihrer kurzfristigen Kredite. Dadurch verschärfte sich die
Wirtschaftskrise in Deutschland; die Arbeitslosigkeit nahm weiter zu.
Ein Versuch Brünings, die Nationalsozialisten zur Tolerierung seiner Politik zu bewegen und sich so
eine parlamentarische Mehrheit zu verschaffen, scheiterte am Machtwillen Hitlers. Der NSDAP-Führer
hatte aber aus seinem fehlgeschlagenen Münchner Putschversuch von 1923 gelernt: Als geladener
Zeuge in einem Leipziger Reichsgerichtsprozess, in dem drei junge Offiziere wegen
nationalsozialistischer Betätigung in der Reichswehr angeklagt wurden, erklärte er am 25. September
1930 unter Eid, seine Bewegung kämpfe "nicht mit illegalen Mitteln"; aber "noch zwei bis drei Wahlen",
dann werde sie "in der Mehrheit sitzen" und "den Staat so gestalten, wie wir ihn haben wollen".
Tolerierungspolitik der SPD
Die oppositionelle SPD geriet durch das Wahlergebnis in ein Dilemma. Bekämpfte sie weiterhin
Brünings autoritäre und unsoziale Politik, dann bestand die Gefahr einer erneuten Reichstagsauflösung
und -neuwahl. Dabei konnte die NSDAP so stark werden, dass Hindenburg Hitler zum Reichskanzler
ernennen würde. Was aber eine NS-Regierung bedeuten musste, hatte bereits das Beispiel des
Faschismus in Italien gezeigt: ein schnelles Ende der Demokratie und des Rechtsstaates, der
Linksparteien und der Gewerkschaften.
Vor diesem Hintergrund beschloss die SPD, Brüning als das kleinere Übel zu tolerieren. "Sie sagte
nicht ja zu seinen Gesetzesvorschlägen und sagte nicht nein , wenn sie deshalb als Notverordnungen
erlassen wurden." (Volker Hentschel) In den Augen der Öffentlichkeit galt sie bald als Teil des "BrüningBlocks", der vom Zentrum bis zum gemäßigten Teil der DNVP reichte, aber keine Mehrheit besaß. Da
die SPD weder sozialdemokratische Politik durchzusetzen noch sich als politische Alternative zu
profilieren vermochte, wurden ihre Mitglieder und Wähler zunehmend unzufriedener.
Das Ansehen des Parlamentes nahm weiter ab. Denn es verlor nicht nur faktisch seine demokratische
Kontrollfunktion gegenüber der Regierung, sondern wurde auch als Zentrum der Gesetzgebung
zunehmend funktionslos. Das Präsidialregime griff immer öfter zu Notverordnungen, der Reichstag
trat immer seltener zusammen. Diese Aushöhlung des Parlamentarismus hat der NSDAP 1933 die
Errichtung der Diktatur wesentlich erleichtert.
Deflationspolitik und Massenarbeitslosigkeit
Die Regierung Brüning erhöhte die direkten Steuern (auf Löhne, Einkommen und Umsätze), besonders
aber die indirekten (Massenverbrauchssteuern, unter anderem auf Zucker, Tabak und Bier). Sie baute
die staatlichen Sozialausgaben ab und kürzte die Löhne und Gehälter im öffentlichen Dienst (mit
Ausnahme der Reichswehr). Auf diese Weise wollte Brüning das krisenbedingte Sinken des
Steueraufkommens abfangen, Einnahmen und Ausgaben des Staates im Gleichgewicht halten und
die im Zuge des Produktionsrückganges überschüssig werdende Kaufkraft abschöpfen. Diese
"Deflationspolitik" zielte vor allem auf die Sicherung der Geldwertstabilität, die nicht nur den Vorschriften
des Young-Plans, sondern – nach der traumatischen Inflationserfahrung von 1923 – durchaus auch
den Interessen der Bevölkerung entsprach.
Die Deflationspolitik war jedoch kein Mittel gegen die Krise, sondern verschärfte diese sogar noch.
Denn durch Kürzung der Staatsausgaben und Senkung der privaten Einkommen verringerte sich die
kaufkräftige Nachfrage; dadurch ging die Produktion noch weiter zurück, während die Arbeitslosigkeit
rapide anstieg. Je länger die Krise anhielt, desto mehr Arbeitslose fielen spätestens nach 26, als über
40-jährige nach 39 Wochen aus der Arbeitslosenversicherung mit ihren bescheidenen, nach
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Lohnklassen gestaffelten Leistungen heraus. Danach erhielten sie bis zu 39 bzw. 52 Wochen deutlich
geringere (bedürftigkeitsgebundene) Leistungen der Krisenfürsorge; schließlich noch knappere
(rückzahlungspflichtige) Zuwendungen der kommunalen Wohlfahrtsunterstützung. Von den 4,7
Millionen Arbeitslosen im Frühjahr 1931 bezogen 43 Prozent Arbeitslosengeld, 21 Prozent
Krisenfürsorge und 23 Prozent Wohlfahrtsunterstützung. Die übrigen 13 Prozent bekamen überhaupt
keine Unterstützung. Demgegenüber wurde die ostelbische Großlandwirtschaft auf Wunsch
Hindenburgs weiterhin subventioniert.
Im Verlaufe des Jahres 1931 führten zwei einschneidende Ereignisse zu einer weiteren
Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage. Zunächst scheiterte am 18. Mai, vor allem am Einspruch
Frankreichs, der Plan einer deutsch-österreichischen Zollunion, die für beide Länder wirtschaftlich
vorteilhaft gewesen wäre. Ausländische Kapitalanleger riefen daraufhin zahlreiche fällige Kredite
zurück, statt sie zu verlängern. In beiden Ländern gerieten viele Banken in Schwierigkeiten, zumal
viele in Panik versetzte Sparer ihre Einlagen abheben wollten. Am 13. Juli stellte eine renommierte
Großbank, die "Darmstädter und Nationalbank", ihre Zahlungen ein.
Die deutschen Banken wurden für zwei Tage geschlossen; das Reich musste sie mit einer Milliarde
RM stützen. Bankkunden konnten nur noch eingeschränkt über ihre Guthaben verfügen; die
Kapitalknappheit der Unternehmen verschärfte sich. Da die Bankenkrise unabsehbare Gefahren barg,
setzte der amerikanische Präsident Herbert Hoover durch, die deutschen Reparationszahlungen an
die Siegermächte und ebenso die Rückzahlung der alliierten Kriegsschulden an die USA ab 6. Juli
1931 für ein Jahr zu unterbrechen ("Hoover-Moratorium"), um die betreffenden Länder zu entlasten.
Sodann koppelte Großbritannien am 21. September das Pfund Sterling vom Goldstandard ab und
wertete es um 20 Prozent ab. Durch eine entsprechende Verbilligung seiner Waren auf dem Weltmarkt
wollte das Land seinen Export fördern und den Arbeitsmarkt beleben. Zahlreiche Länder folgten dem
Beispiel; das internationale Währungssystem mit festen Wechselkursen auf der Basis des Goldpreises
brach zusammen. Der Wert der Reichsmark stieg; deutsche Produkte verteuerten sich auf dem
Weltmarkt; die Auslandsnachfrage ging zurück. Brüning reagierte darauf mit einer weiteren
Verschärfung der Deflationspolitik: Per Notverordnung vom 6. Oktober 1931 senkte er den Bezug des
Arbeitslosengeldes von 26 auf 20 Wochen. Am 8. Dezember verordnete er allgemeine Lohn-, Miet-,
Zins- und Preissenkungen, um die Wettbewerbsnachteile der deutschen Wirtschaft auszugleichen.
Diese marktwirtschaftswidrige Maßnahme führte jedoch nur zu einer Verunsicherung von Herstellern
und Verbrauchern; die Inlandsnachfrage nahm weiter ab.
Bankenkrise, Pfundabwertung und deflationspolitische Notverordnungen bewirkten einen weiteren
Anstieg der Arbeitslosigkeit. Im Durchschnitt des Jahres 1932 gab es 5,6 Millionen registrierte
Arbeitslose (29,9 Prozent). Ende Februar lag die Zahl der "sichtbaren" Arbeitslosen bei 6,1 Millionen;
rechnet man schätzungsweise 1,5 Millionen "unsichtbare" (Menschen, die sich aus Scham über ihre
Armut nicht meldeten) hinzu, so ist tatsächlich von 7,6 Millionen Beschäftigungssuchenden
auszugehen.
Rolle Brünings
Manche Historiker sehen in Brüning den letzten Reichskanzler, der mit den ihm zu Gebote stehenden
Mitteln versuchte, die Weimarer Republik durch die Weltwirtschaftskrise hindurchzusteuern. Brünings
Politik lässt jedoch erkennen, dass er die Wirtschafts- und Finanzpolitik seinen außen- und
innenpolitischen Plänen (Überwindung des Versailler Vertrages, autoritäre Umgestaltung des Staates,
wenn nicht gar Rückkehr zur Monarchie) unterordnete. Sein erstes Etappenziel war die Aufhebung
der Reparationsverpflichtungen. Brüning wollte den Siegermächten demonstrieren, dass das Reich
trotz größter Anstrengungen die Auflagen des Young-Plans (Zahlung der Jahresraten bei stabiler
Währung und ausgeglichenem Staatshaushalt) nicht erfüllen konnte. Neuverhandlungen sollten dann
zu einer Abschlussregelung führen. Die Verschärfung der Wirtschaftskrise und die um sich greifende
soziale Verelendung breiter Massen nahm Brüning bewusst in Kauf. Deshalb wies er auch alle
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Expertenvorschläge für eine aktive Konjunktur- und Arbeitsmarktpolitik zurück. Prompt machte sich
die NSDAP diese Vorschläge zu eigen und betrieb damit 1932 eine geschickte und wirkungsvolle
Wahlpropaganda.
Alternativen zu Brünings Deflationspolitik
Die Deflationspolitik der Jahre 1930 bis 1932 wird in der Geschichtsforschung kontrovers beurteilt.
Der Wirtschaftshistoriker Knut Borchardt vertritt die Ansicht, dass Brüning unter den damaligen
Bedingungen keine wesentlich andere Finanz- und Wirtschaftspolitik hätte betreiben können. Er
argumentiert im Kern folgendermaßen:
Die deutsche Wirtschaft befand sich schon vor 1929 infolge zu hoher Löhne, Steuern, Rohstoffpreise
und Kreditkosten in einer Strukturkrise, die 1930 bis 1932 zunächst (wie von Brüning versucht) bereinigt
werden musste, bevor an eine aktive Konjunkturpolitik zu denken war.
Zur Zeit der Kanzlerschaft Brünings war die mit dem Namen des britischen Wirtschaftswissenschaftlers
John Maynard Keynes verbundene Theorie der "antizyklischen Wirtschaftspolitik" und des "deficit
spending" (bei sinkender privater Nachfrage müsse der Staat mit kreditfinanzierten Aufträgen
einspringen, um die Wirtschaft wieder anzukurbeln) noch nicht ausreichend entwickelt und bekannt.
Die strengen Vorschriften des Reichsbankgesetzes und des Young-Planes erlaubten weder eine
Kreditausweitung noch eine Abwertung der Reichsmark als konjunkturbelebende Maßnahmen.
Für eine Abwertung der Reichsmark und für ein "deficit spending" gab es damals bei Parteien und
Verbänden wegen der verbreiteten Inflationsfurcht keine ausreichende Unterstützung.
Demgegenüber hat die Historikerin Ursula Büttner nachgewiesen, dass es sehr wohl Alternativen zur
Deflationspolitik gegeben hat. Ihre Einwände gegen Borchardts Argumentation lauten
zusammengefasst so:
Die schon vor 1929 entstandenen Strukturprobleme waren in einer wachsenden Wirtschaft sicher
leichter zu lösen als in einer schrumpfenden.
Am erforderlichen Know-how für eine aktive Konjunkturpolitik fehlte es durchaus nicht. Keynes
erläuterte 1930/32 in Deutschland in einer Reihe von Vorträgen und Zeitungsartikeln seine bereits
ausgereifte Theorie der antizyklischen Wirtschaftspolitik und stieß dabei auf großen Widerhall. So legte
der Oberregierungsrat im Wirtschafts-ministerium Wilhelm Lautenbach im September 1931 einen an
Keynes orientierten Plan zur Ankurbelung der Wirtschaft (ohne inflatorische Auswirkungen) mittels
kreditfinanzierter Staatsaufträge in Höhe von drei Milli-arden RM vor. Hans Schäffer, Staatssekretär
im Finanzministerium, befürwortete den Lautenbach-Plan in seiner Denkschrift vom September 1931
nachdrücklich. Ernst Wagemann, Leiter des Statistischen Reichsamtesund des Instituts für
Konjunkturforschung, veröffentlichte im Januar 1932 in hoher Auflage einen eigenen Plan zur Erhöhung
des staatlichen Kreditrahmens um bis zu drei Milliarden RM für die Konjunkturbelebung.
In der Krise des Sommers 1931 verloren das Reichsbankgesetz und der YoungPlan an Bedeutung,
da sie ohnehin nicht mehr einzuhalten waren. Die Vertragspartner hätten sich mit einer geringeren
Deckung der Reichsmark abgefunden, deren Abwertung nach britischem Vorbild im Ausland allgemein
erwartet wurde.
Der Wunsch nach einer Bekämpfung der Wirtschaftskrise mit den Mitteln der Finanz- und Geldpolitik
breitete sich seit Herbst 1931 so stark aus, dass entsprechende Maßnahmen der Regierung – trotz
der ablehnenden Haltung der Unternehmerverbände und der Parteiführungen – in der Bevölkerung
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breite Unterstützung gefunden hätten. Ein klares Indiz dafür ist insbesondere der vom ADGB im April
1932 beschlossene sog. WTB-Plan (benannt nach seinen Verfassern Wladimir Woytinski, Fritz Tarnow
und Fritz Baade). Das Konzept sah vor, rund eine Million Arbeitslose mit öffentlichen Arbeiten zu
beschäftigen; die dafür erforderlichen zwei Milliarden RM sollte der Staat durch Kredite aufbringen.
Weil sich die Ausgaben für die Arbeitslosen entsprechend verringern, die Steuereinnahmen erhöhen
würden, veranschlagte man die realen Kosten auf 1,2 Milliarden RM. Der WTB-Plan zielte auf eine
Wiederbelebung der Konsumgüterindustrie mit weiteren positiven Beschäftigungseffekten, sodass
eine inflatorische Wirkung vermieden würde. Die SPD-Führung lehnte jedoch eine Kreditfinanzie-rung
ab, weil sie davon eine Inflation, nach den Erfahrungen von 1923 zumindest eine neuerliche
Inflationsfurcht in der Bevölkerung erwartete.
Wie Schäffer am 29. Januar 1932 in seinem Tagebuch festhielt, empörte sich der Kanzler besonders
über Wagemann: 1. erwecke Wagemann den Gewerkschaften gegenüber den Eindruck, "als ob es
noch andere Mittel gebe als die Deflationspolitik, um unsere Lage zu bessern". 2. könnten Wagemanns
Vorschläge "in das Reparationsprogramm hineinhageln". 3. sei zu befürchten, dass die
Nationalsozialisten, die "bisher vergeblich nach einem Währungsprogramm gesucht hätten",
Wagemanns Plan übernehmen und daraus politische Vorteile ziehen würden.
Zusammenfassung von R. Sturm nach:
Knut Borchardt, "Zwangslagen und Handlungsspielräume in der großen Wirtschaftskrise der frühen
Dreißigerjahre.", in: Michael Stürmer (Hg.), Die Weimarer Republik. Belagerte Civitas, Akademische
Verlagsgesellschaft Athenaion GmbH, Kettwig 2011, S. 318 bis 339. Ursula Büttner, "Politische
Alternativen zum Brüningschen Deflationskurs," in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 37 (1989),
H. 2, S. 209-251
Politische Radikalisierung
In dem Maße, wie sich die Talfahrt der Wirtschaft beschleunigte und Millionen Familien verarmten und
verelendeten, eskalierten die politischen Auseinandersetzungen und kam es zu Zusammenstößen
zwischen den Wehrverbänden der großen rechten und linken Parteien:
•
Der "Stahlhelm – Bund der unbesiegt heimgekehrten Frontsoldaten" organisierte schon seit Ende
1918 bis zu eine Million Mitglieder und war der DNVP zuzurechnen.
•
Die von der NSDAP 1921 geschaffene "Sturmabteilung" (SA) umfasste Anfang 1932 etwa 420.000
Mitglieder; ihr unterstand (bis 1934) die 1925 gebildete SS ("Schutzstaffel") mit rund 52.000 Mann.
•
Das 1924 gegründete SPD-nahe "Reichsbanner Schwarz Rot Gold – Bund der republikanischen
Frontsoldaten" war der einzige verfassungstreue Wehrverband und besaß ca. eine Million
Mitglieder.
•
Dem ebenfalls 1924 entstandenen "Roten Frontkämpferbund" (RFB) der KPD gehörten 1927 rund
130.000 Mitglieder an.
Alle Verbände waren mehr oder weniger uniformiert, traten militant auf und besaßen geheime
Waffenlager. Während "Stahlhelm", SA und SS kooperieren konnten, waren "Reichsbanner" und RFB
verfeindet. In den Jahren 1931 und 1932 führten zunehmend blutiger verlaufende Straßenkrawalle
und Saalschlachten, vor allem zwischen SA und RFB, in den großen Städten nicht selten zu
bürgerkriegsähnlichen Zuständen. Auch politische Mordanschläge wurden wieder begangen, sowohl
von Nationalsozialisten als auch von Kommunisten. Die Polizei erschien oft zu spät; auch
sympathisierten immer mehr Polizisten mit den Rechtsverbänden.
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Dass in Preußen noch immer der sozialdemokratische Ministerpräsident Otto Braun mit einer Weimarer
Koalition regierte, war der politischen Rechten seit langem ein Dorn im Auge. Im Frühjahr 1931 leitete
der "Stahlhelm" ein (auch auf Länderebene zulässiges) Volksbegehren für die sofortige Auflösung des
Preußischen Landtages ein. Es wurde unterstützt von DNVP, NSDAP und KPD – die Kommunisten
schreckten bei ihrem verblendeten Kampf gegen die Sozialdemokraten nicht einmal vor einem Bündnis
mit den "Faschisten" zurück. Die Aktion schlug jedoch fehl: Beim Volksbegehren kam die erforderliche
Mindestzahl von Unterschriften nur knapp zusammen; beim Volksentscheid am 9. August 1931 fehlten
rund 3,4 Millionen Stimmen.
Am 7./9. Oktober 1931 wurden mehrere Minister der Regierung Brüning ausgetauscht. Der
Reichskanzler übernahm selbst das Auswärtige Amt, Reichswehrminister Groener erhielt zusätzlich
das Innenministerium – eine gefährliche Machtkonzentration. Dieses zweite Kabinett Brüning sollte
nach Hindenburgs Wunsch noch unabhängiger von den Parteien und vom Parlament sein; es
signalisierte einen weiteren Rechtsruck bei den Machtträgern des Präsidialregimes.
Harzburger Front
Am 11. Oktober 1931 veranstaltete die nationalistische Rechte – NSDAP, DNVP, Stahlhelm,
Reichslandbund und Alldeutscher Verband – in Bad Harzburg eine Tagung, verbunden mit einem
Aufmarsch ihrer Verbände, um Stärke und Geschlossenheit zu demonstrieren. Prominenteste Gäste
waren der Kaiser-Sohn und SA-Gruppenführer August Wilhelm Prinz von Preußen ("Auwi"), der frühere
Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht und General a. D. von Seeckt. Ein Misstrauensvotum von DNVP
und NSDAP gegen das zweite Kabinett Brüning, dem sich auch die DVP und die KPD anschlossen,
scheiterte am 16. November 1931 knapp – ausschlaggebend waren die Gegenstimmen der SPD.
Ende November wurden konkrete Umsturzpläne der hessischen NSDAP ("Boxheimer Dokumente")
bekannt. Brüning spielte jedoch den Vorfall herunter, um mögliche Koalitionen des Zentrums mit der
NSDAP nicht zu verbauen.
Als Antwort auf die "Harzburger Front" gründeten SPD, ADGB, AfA-Bund, "Reichsbanner" und
Arbeitersportorganisationen am 16. Dezember 1931 gemeinsam die "Eiserne Front". Sie veranstaltete
unter dem Fahnensymbol der drei Pfeile – als Gegensymbol zum Hakenkreuz – politische Umzüge
und Kundgebungen und trat äußerlich militant auf, um Stärke zu demonstrieren und Gegner von
Übergriffen abzuschrecken.
Reichspräsidentenwahl 1932
In dieser angespannten Situation ging Anfang 1932 die siebenjährige Amtsperiode des
Reichspräsidenten zu Ende. Der mittlerweile 85-jährige Hindenburg stellte sich zur Wiederwahl. Anders
als 1925 trat ein aussichtsreicher rechter Gegenkandidat an: Adolf Hitler, dem eine DNVP-NSDAPRegierung in Braunschweig Ende Februar 1932 zu der für die Kandidatur notwendigen deutschen
Staatsbürgerschaft verhalf. Hinzu kamen Theodor Duesterberg ("Stahlhelm"), Ernst Thälmann (KPD)
sowie einige Kandidaten von Splitterparteien. Hindenburgs Wiederwahl wurde zunächst von Zentrum
und BVP, DDP und DVP unterstützt. Da alles auf eine Entscheidung zwischen Hitler und Hindenburg
hindeutete, hielt die SPD an ihrer Politik des kleineren Übels fest: Sie verzichtete auf einen eigenen
Kandidaten und gab die Parole aus: "Schlagt Hitler! Darum wählt Hindenburg!" Für ihre Anhänger war
das eine irritierende Zumutung, die sie aber überwiegend diszipliniert befolgten.
Im 1. Wahlgang am 13. März 1932 verfehlte Hindenburg mit 49,6 Prozent die erforderliche absolute
Mehrheit nur knapp, in weitem Abstand gefolgt von Hitler (30,1 Prozent), Thälmann (13,2 Prozent),
Duesterberg (6,8 Prozent) und den übrigen Kandidaten. Duesterberg gab auf und unterstützte
Hindenburg. Im 2. Wahlgang am 10. April wurde der amtierende Reichspräsident mit 53 Prozent der
Stimmen wieder gewählt. Hitler brachte es auf 36,8 Prozent, Thälmann nur noch auf 10,2 Prozent.
Gemessen an der prahlerischen Ankündigung seines Wahlkampfleiters Joseph Goebbels "Hitler wird
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unser Reichspräsident!" hatte sich der NSDAP-Führer blamiert. Gleichwohl zeigte sein Abschneiden,
dass das nationalsozialistische Wählerpotenzial seit September 1930 um fünf Millionen Stimmen
angewachsen war.
Aber auch der Wahlsieger sah wenig Grund zur Freude. Der Reichspräsident empfand es als Schmach,
dass er seine zweite Amtsperiode ausgerechnet seinen Gegnern von 1925, den Sozialdemokraten
und den Katholiken, verdankte. Groteskerweise richtete Hindenburg seinen Groll gegen Brüning, der
sich wie kein anderer im Wahlkampf für ihn engagiert und dabei auch die NSDAP scharf angegriffen
hatte. Brünings Sturz war jetzt nur noch eine Frage der Zeit.
Brünings Entlassung
Im Laufe seiner Kanzlerschaft hatte sich Brüning die Sympathien der Präsidentenberater und der hinter
ihnen stehenden autoritär-monarchistisch gesinnten Teile der militärischen, bürokratischen und
wirtschaftlichen Eliten immer mehr verscherzt, weil er sich nicht als Marionette benutzen ließ, sondern
seinen eigenen politischen Kurs steuerte, noch dazu toleriert von der SPD, die diesen Eliten besonders
verhasst war. Zum entscheidenden Konflikt kam es, als Brüning und Groener auf Wunsch zahlreicher
Länder (darunter Bayern ebenso wie Preußen) beim Reichspräsidenten ein Verbot der SA und der SS
erwirkten, um die Hauptursache der politischen Gewalt zu bekämpfen; es trat am 13. April 1932 in Kraft.
Der Reichspräsident und seine Berater störten sich daran, dass das (republiktreue) "Reichsbanner"
nicht ebenfalls verboten werden sollte. Zudem sah Schleicher seine Planung in Gefahr, Brüning zu
stürzen und die NSDAP entweder an der Regierung zu beteiligen oder zumindest für eine
Tolerierungspolitik zu gewinnen. Am 7. Mai trafen Schleicher und Hitler eine geheime Absprache:
Schleicher würde für Brünings Ablösung, die Wiederzulassung von SA und SS sowie
Reichstagsneuwahlen sorgen. Im Gegenzug würde die NSDAP die nächste Präsidialregierung im
Reichstag tolerieren.
Auf Betreiben Schleichers musste Groener am 12. Mai zurücktreten. Auch für Brünings Entlassung
war bald ein Grund gefunden. Der Reichskanzler wollte im Mai den ostelbischen Gutsbesitzern eine
weitere kräftige Finanzhilfe zukommen lassen. Jedoch sollte der Staat Güter, die nicht mehr
sanierungsfähig waren, aufkaufen bzw. ersteigern und in Bauernstellen für Arbeitslose aufteilen. Es
fiel der "Kamarilla" leicht, den Reichspräsidenten, der selbst Gutsbesitzer war, gegen diesen
"Agrarbolschewismus" aufzubringen. Hindenburg entzog Brüning am 29. Mai das Recht auf
Anwendung des Artikels 48 WV; daraufhin musste die Reichsregierung am nächsten Tag zurücktreten –
nach Ansicht Brünings "hundert Meter vor dem Ziel", wie er schon am 11. Mai im Reichstag geäußert
hatte.
Tatsächlich wurde bald darauf das Reparationsproblem in seinem Sinne gelöst. Die vom 16. Juni bis
9. Juli 1932 in Lausanne tagende Konferenz aller betroffenen Staaten einigte sich auf die völlige
Streichung der deutschen Reparationsschuld; selbst eine eher symbolisch geforderte
Abschlusszahlung wurde nicht mehr geleistet. Doch der Preis für diesen Erfolg war hoch: Er bestand
in einer Aushöhlung des Parlamentarismus, einer Verschärfung der Wirtschaftskrise, einer Steigerung
des sozialen Elends von Millionen Familien und einer bis dahin nicht gekannten politischen
Radikalisierung. Brünings Politik beschleunigte den Aufstieg der rechtsextremen, gewaltbereiten
NSDAP zu einer staatsgefährdenden Massenbewegung.
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Regierung von Papen
Neuer Reichskanzler wurde überraschend der katholisch-westfälische Adelige, monarchistische
Zentrumspolitiker und preußische Landtagsabgeordnete Franz von Papen. Er verfügte als
Hauptaktionär und Aufsichtsratsvorsitzender der Zentrumszeitung "Germania" sowie als Mitglied des
konservativ-elitären Berliner "Herrenklubs" über gute Kontakte zu Industrie, Großlandwirtschaft,
Banken und Bürokratie. Da er gegen den Willen der über Brünings Sturz verärgerten Zentrumsführung
die Kanzlerschaft annahm, musste er aus der Partei austreten. Auf den Vorwurf "Der Papen ist doch
kein Kopf!" antwortete Schleicher ungerührt: "Das soll er ja auch nicht sein. Aber er ist ein Hut." Papen
gewann jedoch rasch das Vertrauen Hindenburgs und entzog sich Schleichers Bevormundung.
Dem am 1. Juni 1932 vereidigten Kabinett gehörten sieben adlige und nur drei bürgerliche,
nationalkonservative, aber überwiegend parteilose Minister an. Schleicher trat erstmals selbst als
Reichswehrminister ins politische Rampenlicht. Dieses "Kabinett der Barone" unter "Herrenreiter"
Papen, wie seine Kritiker spotteten, repräsentierte überwiegend die Interessen der ostelbischen
Großagrarier und der militärischen Führungsschicht; die Industrie war nur durch Wirtschaftsminister
Warmbold vertreten, Mittelschichten und Arbeitnehmerschaft überhaupt nicht. Die Öffentlichkeit traute
der Regierung Papen eine Überwindung der Wirtschaftskrise noch weniger zu als dem Kabinett
Brüning; prompt fielen die Aktienkurse.
Parlamentarische Unterstützung erhielt Papen lediglich von der DVP und der DNVP. Die SPD beendete
sofort ihre Tolerierungspolitik und plante einen Misstrauensantrag, dem die Regierung jedoch
zuvorkam: Am 4. Juni 1932 löste der Reichspräsident – wie zwischen Schleicher und Hitler
besprochen – den Reichstag auf, denn dieser entspreche nicht mehr "dem politischen Willen des
deutschen Volkes". Damit spielte Hindenburg darauf an, dass die NSDAP am 24. April bei den
Landtagswahlen in Preußen, Württemberg, Hamburg und Anhalt stärkste, in Bayern zweitstärkste
Partei geworden war.
Im Juni und Juli 1932 fand, nachdem Schleicher die Wiederzulassung von SA und SS durchgesetzt
hatte, der blutigste Wahlkampf in der deutschen Geschichte statt. Zwischen rechten und linken
Wehrverbänden kam es zu Straßenkrawallen, Schießereien, Saalschlachten und Mordanschlägen,
bei denen etwa 300 Menschen starben und über 1100 verletzt wurden. Allein am 17. Juli, dem "Altonaer
Blutsonntag", gab es 18 Tote und 68 zum Teil schwer Verletzte, als ein nationalsozialistischer
Demonstrationsmarsch durch die kommunistischen Wohnviertel von Altona zu einem stundenlangen
Feuergefecht zwischen RFB und SA ausartete.
Unterdessen nahmen die in der Umgebung des Reichspräsidenten gehegten autoritären
Verfassungspläne konkrete Gestalt an. Papen entwickelte die Idee eines "Neuen Staates" mit
folgenden Prinzipien:
•
Vereinigung der Ämter des Reichskanzlers und des preußischen Ministerpräsidenten,
•
Unabhängigkeit des Reichskanzlers vom Vertrauen des Reichstages,
•
Einrichtung eines dem Parlament übergeordneten, aristokratisch und berufsständisch
zusammengesetzten "Oberhauses", dessen Mitglieder vom Reichspräsidenten ernannt wurden.
Die Ähnlichkeit mit den Strukturen des Kaiserreiches ist unübersehbar – am Ende der Entwicklung
sollte denn auch die Rückkehr zur Monarchie stehen. Der erste Schritt auf dem Weg zum "Neuen
Staat" lag nahe: die Ausschaltung der "roten Festung" Preußen. Denn die Regierung Braun hatte in
der Landtagswahl vom 24. April 1932 ihre Mehrheit verloren. Die neue Sitzverteilung im preußischen
Landtag (KPD 57, SPD 94, Zentrum 67, DVP 7, DNVP 31, NSDAP 162) ergab eine "negative Mehrheit"
der rechts- und linksradikalen Parteien. Da eine Zentrum-NSDAP-Koalition nicht zustande kam, blieb
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das bisherige Kabinett als "geschäftsführende Regierung" mit eingeschränkter Handlungsfähigkeit im
Amt. Braun war überdies gesundheitlich angeschlagen und besaß keinen Kampfgeist mehr.
Absetzung der preußischen Regierung
Als Vorwand diente der "Altonaer Blutsonntag". Am 20. Juli 1932 erließ Hindenburg zwei
Notverordnungen "zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung" in Preußen. Durch
die erste trat Papen als "Reichskommissar" an die Stelle des Ministerpräsidenten; er übertrug dem
rechtsstehenden (parteilosen) Essener Oberbürgermeister Franz Bracht die Geschäfte des
Innenministers. Durch die zweite Verordnung wurde die vollziehende Gewalt in Groß-Berlin und
Brandenburg auf die Reichswehr übertragen.
Die Reichsexekution gegen Preußen war ein reiner Willkürakt und sogar ein "Staatsstreich" (Heinrich
August Winkler). Die Regierung Braun protestierte und klagte gegen ihre Absetzung mit Unterstützung
der süddeutschen Länder, die den Föderalismus verletzt sahen, vor dem Staatsgerichtshof. Im Oktober
1932 erklärte das Gericht eine vorübergehende Einsetzung von Reichskommissaren für zulässig,
deren Beauftragung mit der Vertretung Preußens im Reichsrat hingegen für verfassungswidrig. An der
Absetzung der Regierung Braun änderte das Urteil also nichts. Demokraten, insbesondere SPDMitglieder, hatte Papen bereits aus allen Führungspositionen des preußischen Staatsapparates
entfernen lassen.
Durch den "Preußenschlag", in den man Hitler vorher eingeweiht hatte, erhielt die an die Macht
strebende NSDAP starken Auftrieb. Denn die Sozialdemokratie hatte vor einem scheinlegalen Angriff
auf ihre letzte Machtbastion im Weimarer Staat quasi kapituliert; SPD und KPD blieben zerstritten.
Demnach war auch gegen die Errichtung einer Diktatur, die sich rechtmäßig gab, kein kämpferischer
Widerstand der Linken zu erwarten. So schrieb die NSDAP-Zeitung "Völkischer Beobachter" am 21.
Juli 1932 auf ihrer Titelseite: "Liquidierung der Novemberherrschaft!" – "Der Anfang ist gemacht, wir
werden sie zu Ende führen." In den folgenden Wochen begann Hitler mit der Planung eines
"Ermächtigungsgesetzes", das einer von ihm geführten Regierung die allgemeine und die
verfassungsändernde Gesetzgebung übertragen sollte.
Wegen dieser strategischen Bedeutung des "Preußenschlages" im Prozess der Demokratiezerstörung
stellt sich die Frage, ob am 20. Juli 1932 ein erfolgreicher Widerstand der demokratischen Kräfte – in
erster Linie der SPD, der Gewerkschaften und der "Eisernen Front" – möglich gewesen wäre. Sie wird
von den Historikern überwiegend verneint. In den Reihen der "Eisernen Front", insbesondere im
"Reichsbanner", existierte eine beträchtliche Kampfbereitschaft, doch war sie regional unterschiedlich
ausgeprägt. Auch bedeutete Kampfbereitschaft nicht schon Bürgerkriegsfähigkeit. Denn ein Konzept
für bewaffnete Aktionen zur Rettung der Demokratie hatten SPD und Gewerkschaften – trotz Gründung
des Reichsbanners und der "Eisernen Front" – nie entwickelt. Schon gar nicht besaßen sie die
skrupellose Gewaltbereitschaft der NSDAP oder der KPD. Vielmehr hatte die sozialdemokratische
Führung aus dem abschreckenden Beispiel der Russischen Revolution und aus ihren eigenen
Erfahrungen die Lehre gezogen, ihre Politik an den Prinzipien Legalität, Humanität und Gewaltlosigkeit
auszurichten.
Einen Generalstreik, wie ihn vor allem die KPD forderte, lehnten die Gewerkschaften ab. Anders als
beim Kapp-Lüttwitz-Putsch 1920 hielten sie ihn diesmal für eine stumpfe Waffe, denn mehr als sechs
Millionen Arbeitslose standen bereit, um die Plätze der Streikenden einzunehmen. So beschränkte
sich die Sozialdemokratie auf Proteste und konzentrierte sich auf den Reichstagswahlkampf.
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Reichstagswahlen 1932
Am 31. Juli 1932 gingen mehr Bürgerinnen und Bürger zur Wahl als je zuvor (84,1 Prozent). Die SPD
verlor abermals Stimmen an die KPD. Zwei Jahre Tolerierungspolitik gegenüber Brüning, der
Ausschluss prominenter linker Kritiker des Parteikurses (im September 1931), die Mitwahl Hindenburgs
und das Stillhalten in Preußen hatten Teile der SPD-Wählerschaft enttäuscht.
Während Zentrum und BVP leichte Gewinne erzielten, wurden die protestantischen bürgerlichen
Mittelparteien fast völlig aufgerieben. Auch die DNVP musste erneut – diesmal leichtere – Verluste
hinnehmen. Überragender Wahlsieger wurde erwartungsgemäß die NSDAP. Weil sie wohl allen
Parteien, außer KPD und Zentrum, in unterschiedlichem Umfang Wähler abspenstig machte, konnte
sie ihren Anteil an Stimmen (13,7 Millionen = 37,3 Prozent) und Mandaten (230) mehr als verdoppeln.
Damit stellte sie die weitaus stärkste Reichstagsfraktion – und nach parlamentarischem Brauch den
Reichstagspräsidenten (Hermann Göring). Die anhaltende krisenbedingte Polarisierung und
Radikalisierung großer Teile der Bevölkerung und ein überaus geschickter, moderner (vorwiegend aus
Eigenmitteln, zum Teil auch aus Wirtschaftsspenden finanzierter) Wahlkampf hatten der NSDAP neue
Wählermassen zugeführt. Hitler hatte als erster deutscher Politiker ein Flugzeug benutzt, um möglichst
viele Wahlreden halten zu können.
Aus taktischen Gründen – man wollte seriöser wirken als bisher – war der Antisemitismus im Wahlkampf
in den Hintergrund getreten. Hitlers Partei bildete jetzt "das große Auffangbecken für alle Gegner des
demokratischen Systems, für alle Enttäuschten, Verbitterten und Fanatisierten" (Eberhard Kolb), soweit
diese nicht der KPD zuneigten. Nach wie vor kamen bei der NSDAP etwa 60 Mittelschichtwähler auf
40 Wähler aus Arbeiterhaushalten (Jürgen W. Falter). Manche Historiker sehen in ihr die erste moderne
"Volkspartei" unter den Weimarer Klassen-, Interessen- und Konfessionsparteien; dafür fehlten ihr
jedoch wichtige Merkmale wie innerparteiliche Demokratie und konstruktive politische Ziele. Sie blieb
eine rechtsextreme "schichtenunspezifische Protestbewegung mit Mittelschichtenschwerpunkt"
(Helga Grebing).
Wie im Preußischen Landtag gab es jetzt auch im Reichstag eine "negative Mehrheit" der radikalen
Flügelparteien. Gestützt auf seinen Wahlerfolg, widerrief Hitler seine Tolerierungszusage. Schleichers
Angebot, die NSDAP an der Regierung Papen zu beteiligen, schlug er aus und verlangte für seine
Partei am 13. August 1932 von Hindenburg "die Führung einer Regierung und die Staatsführung in
vollem Umfange". Der Reichspräsident erteilte ihm eine öffentliche Abfuhr: Er könne es nicht
verantworten, "die gesamte Regierungsgewalt ausschließlich der nationalsozialistischen Bewegung
zu übertragen, die diese Macht einseitig anzuwenden gewillt sei".
Da der Regierung ein Misstrauensvotum des neuen Reichstages bevorstand, Papen aber längere Zeit
im Amt bleiben sollte, ermächtigte Hindenburg den Kanzler am 30. August 1932 zur Auflösung des
Parlamentes ohne fristgemäße Neuwahl. Vor einem derart schweren Verfassungsbruch schreckte
Papen jedoch zurück. So sprach ihm der Reichstag in seiner ersten Arbeitssitzung mit 512 gegen 42
Stimmen das Misstrauen aus. Noch während der Abstimmung löste Papen durch eine bereits
vorbereitete Order des Reichspräsidenten den Reichstag wieder auf.
Hatte die Regierung Papen anfänglich die Brüningsche Deflationspolitik noch verschärft (weitere
Beschneidungen des Arbeitslosengeldes, der Krisen- und der Wohlfahrtsunterstützung), so setzte sie
bis zur Neuwahl noch einige kräftige wirtschaftspolitische Akzente. Im Juli gründete sie einen
"Freiwilligen Arbeitsdienst", dem Ende 1932 bereits 250000 Arbeitslose angehörten. Am 4. September
1932 stellte sie 135 Millionen RM für staatliche Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen bereit. 700 Millionen
RM sollten in Form von beleihbaren Steuergutscheinen in die Unternehmen fließen und der
Finanzierung von Investitionen und Neueinstellungen dienen. Mit weiteren Steuergutscheinen im
Umfang von 1,5 Milliarden RM sollten die Betriebe in den kommenden Jahren einen Teil ihrer Steuern
und Zölle bezahlen können. Unternehmen, die Arbeitslose einstellten, durften die Tariflöhne teilweise
um bis zu 20 Prozent unterschreiten. Die staatliche Zwangsschlichtung war bereits am 15. Juni 1932
abgeschafft worden. Insgesamt bedeuteten diese Maßnahmen (die zunächst eher zur
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Längerbeschäftigung von Kurzarbeitern als zu Neueinstellungen führten) den vorsichtigen Übergang
zu einer aktiven Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Papens Programm fand große Zustimmung in der
Industrie, während die geplanten Tarifunterschreitungen bei Gewerkschaften und Arbeitnehmern auf
heftige Kritik stießen.
Vom 3. bis 7. November kam es bei den Berliner Verkehrsbetrieben zu einem "wilden" Streik, der den
gesamten öffentlichen Nahverkehr der Hauptstadt lahmlegte. Organisiert wurde er von Kommunisten
und Nationalsozialisten (zum Teil gemeinsam!). Auseinandersetzungen mit der Polizei forderten drei
Tote.
Aus dem Ergebnis der Reichstagswahl vom 6. November 1932 schöpften die Demokraten erstmals
wieder Hoffnung. Zwar erzielte die KPD wiederum einen beträchtlichen Stimmenzuwachs auf Kosten
der SPD und brachte es auf 100 Mandate; auch war die Lage der bürgerlichen Mittelparteien (mit
Ausnahme des Zentrums) weiterhin desolat; aber im rechten Lager gab es eine beträchtliche
Veränderung. Die "Papen-Parteien" DVP und DNVP verzeichneten leichte Gewinne, während die
NSDAP erstmals seit 1928 Verluste hinnehmen musste: Sie verlor gut zwei Millionen Stimmen (4,2
Prozent) bzw. 34 Mandate. Die nationalsozialistische Welle hatte ihren Höhepunkt erreicht und begann
wieder abzuflauen – so urteilte die seriöse Presse. In der Tat setzte sich der Abwärtstrend der NSDAP
am 4. Dezember bei den Kommunalwahlen in Thüringen fort.
Wo lagen die Ursachen für die Stimmenverluste der NSDAP? Offenbar war ein Teil ihrer Wählerschaft
mit Hitlers erfolgloser Alles-oder-nichts-Strategie und mit der punktuellen Zusammenarbeit zwischen
NSDAP und KPD unzufrieden. Darüber hinaus hatte Hitlers öffentliche Solidarisierung mit brutalen
Mördern auf rechtsstaatlich gesinnte Bürger abstoßend gewirkt. Am 10. August 1932 hatten fünf
angetrunkene SA-Leute im oberschlesischen Dorf Potempa einen KPD-nahen Arbeitslosen brutal
getötet. Als die Täter am 22. August zum Tode verurteilt wurden, schickte Hitler ihnen ein Telegramm:
"Meine Kameraden! Angesichts dieses ungeheuerlichen Bluturteils fühle ich mich mit euch in
unbegrenzter Treue verbunden. Eure Freiheit ist von diesem Augenblick an eine Frage unserer Ehre,
der Kampf gegen eine Regierung, unter der dieses möglich war, unsere Pflicht!" Papen, der als
Reichskommissar in Preußen auch das Begnadigungsrecht ausübte, wandelte am 2. September das
Todesurteil in eine lebenslängliche Zuchthausstrafe um. Im März 1933 wurden die Täter auf freien Fuß
gesetzt.
Rücktritt der Regierung Papen
Am 17. November 1932 trat die Regierung Papen zurück, blieb jedoch geschäftsführend im Amt. Ihre
politische Lage war aussichtslos geworden. Auch der neue Reichstag würde ihr das Misstrauen
aussprechen oder ihre Notverordnungen aufheben. Schließlich wurde im Kabinett ein "Kampfplan"
erwogen: Auflösung des Reichstages ohne Neuwahlen, Ausschaltung der Parteien mit Hilfe von Polizei
und Reichswehr, autoritärer Umbau der Verfassung und spätere Billigung dieser Maßnahmen durch
eine Volksabstimmung oder eine Nationalversammlung. Hindenburg gefiel der Plan; er akzeptierte
aber Schleichers Warnung vor einem Bürgerkrieg. Am 21./22. November bot er Hitler die Bildung einer
parlamentarischen Mehrheitsregierung an; der NSDAP-Führer forderte jedoch erneut die
Präsidialkanzlerschaft, die ihm Hindenburg abermals verweigerte. In einem Brief an Staatssekretär
Meissner vom 23. November 1932 skizzierte Hitler unverblümt seine politischen Absichten: "Es ist
daher in der Zukunft die Aufgabe eines Kanzlers, der [...] die Schwerfälligkeit des parlamentarischen
Vorgehens als gefährliche Hemmung ansieht, sich eine Mehrheit für ein aufgabenmäßig begrenztes
und zeitlich fixiertes Ermächtigungsgesetz zu sichern. Die Aussicht auf den Erfolg eines solchen
Versuchs wird umso größer sein, je autoritärer auf der einen Seite die Position dieses Mannes ist und
je schwerer auf der anderen die [...] schon in seinen Händen befindliche parlamentarische Macht in
die Waage fällt." Am 2. Dezember entließ Hindenburg die Regierung mit großem Bedauern und
ernannte Schleicher zum neuen Reichskanzler. Papen blieb aber ein enger Vertrauter des
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Reichspräsidenten.
Reichskanzlerschaft Schleichers
Schleicher behielt auch als Kanzler das Amt des Reichswehrministers und tauschte lediglich zwei
Minister aus. Mit der Ernennung eines "Reichskommissars für Arbeitsbeschaffung" setzte er jedoch
einen arbeitnehmerfreundlichen Akzent. Dies veranlasste den Reichstag, der vorläufig keine erneute
Auflösung befürchten musste, auf ein sofortiges Misstrauensvotum zu verzichten. Vom 6. bis 9.
Dezember 1932 beschloss er die Aufhebung der von Papen ermöglichten Tarifunterschreitungen sowie
eine dem sozialen Frieden dienliche Amnestie für politische Straftaten, ausgenommen für
Tötungsdelikte. Außerdem änderte er Artikel 51 WV dahingehend, dass künftig nicht der Reichskanzler,
sondern der Präsident des Reichsgerichts den Reichspräsidenten vertrat. Starb der greise Hindenburg,
so sollte Schleicher nicht die drei mächtigsten Staatsämter auf sich vereinigen. Danach vertagte sich
das Parlament.
Scheiternde Bündnispläne
Mit seiner Regierungserklärung vom 15. Dezember 1932 sorgte Schleicher für eine Überraschung,
indem er sich vom Kapitalismus ebenso distanzierte wie vom Sozialismus. Er sei der "überparteiliche
Sachwalter der Interessen aller Bevölkerungsschichten", ein "sozialer General". Er kenne nur ein Ziel:
"Arbeit schaffen!" Senkungen der Arbeitseinkommen werde es nicht geben. Im Rahmen einer
"Winterhilfe" sollten Fleisch und Kohle billiger werden (was einer Forderung der SPD entsprach). Mit
"allen gutwilligen Kräften" im Parlament wolle er zusammenarbeiten. Der Drahtzieher der "Kamarilla"
war offenbar zu der Einsicht gelangt, dass die bisherige Regierungsweise mit dem Artikel 48 WV in
eine Sackgasse geführt hatte. Stabile autoritäre Verhältnisse hatten sich nicht eingestellt. Die
Unzufriedenheit der Bürger mit der Wirtschafts- und Sozialpolitik der Präsidialkabinette war bei den in
immer kürzeren Abständen abgehaltenen Reichstagswahlen allein der NSDAP und der KPD – zuletzt
sogar nur noch den Kommunisten – zugute gekommen.
Deshalb warb Schleicher jetzt bei den Arbeitnehmerflügeln von SPD, Zentrum, DNVP und NSDAP um
eine parlamentarische (Tolerierungs-)Basis in Form einer "Querfront". Dafür stellte er eine stärkere
Berücksichtigung der Interessen von Arbeitern, Angestellten und Beamten in Aussicht. Hinsichtlich der
Nationalsozialisten lief dieser Vorstoß auf eine Abspaltung ihres "linken" Flügels um den
Reichsorganisationsleiter und "zweiten Mann" der NSDAP, Gregor Strasser, hinaus. Tatsächlich war
Strasser dazu bereit, als Vizekanzler in die Regierung Schleicher einzutreten. Als Hitler jedoch – mit
großer Mühe – die Mehrheit der Parteifunktionäre hinter sich brachte, musste Strasser am 8./9.
Dezember 1932 von allen Ämtern zurücktreten.
Auch bei den Gewerkschaften aller Richtungen hatte die "Querfront" Interesse geweckt. Aber die SPD,
die Schleicher stark misstraute, brachte den ADGB Anfang Januar 1933 von einer Zusammenarbeit
mit dem General ab. Dabei vertieften sich die bereits in der Frage der Arbeitsbeschaffungspolitik
eingetretenen politischen Spannungen zwischen SPD und Gewerkschaften. Die Linke war jetzt
gewissermaßen doppelt gespalten und demzufolge noch mehr geschwächt.
Den großagrarischen Reichslandbund enttäuschte Schleicher, indem er nur die Milchwirtschaft
förderte: Per Notverordnung vom 23. Dezember 1932 wurden die Hersteller von Margarine zur
Beimischung von Butter gezwungen. Es folgten heftige Proteste: Kritisierten SPD und Gewerkschaften
die absehbare Verteuerung des billigen pflanzlichen Grundnahrungsmittels, so bemängelten RDI und
DVP die Bevorzugung der Landwirtschaft und fürchteten Lohnforderungen der Gewerkschaften.
Allgemein begrüßt wurde dagegen ein außenpolitischer Fortschritt: Am 11. Dezember 1932 erkannten
die USA, Großbritannien, Frankreich und Italien Deutschlands militärische Gleichberechtigung im
Grundsatz an – nach der Lösung des Reparationsproblems zeichnete sich eine weitere Teilrevision
des Versailler Vertrages ab.
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Den breiten Protesten gegen seine Margarineverordnung zufolge musste Schleicher bei der nächsten
Reichstagssitzung Anfang Januar mit einem Misstrauensvotum rechnen. Jetzt wollte er denselben
verfassungswidrigen Weg beschreiten, den er Papen noch verbaut hatte. Unter strenger
Geheimhaltung ließ Schleicher eine Serie von Notverordnungen für den "Staatsnotstand" vorbereiten:
Reichstagsauflösung ohne Neuwahl; Verhängung des Ausnahmezustandes und Übertragung der
vollziehenden Gewalt auf die Reichswehr im Falle eines Generalstreiks; Streikverbot für den
öffentlichen Dienst sowie für lebenswichtige Betriebe unter Androhung harter Strafen; Unterdrückung
der Gewerkschaften; Verstärkung des Katastrophenschutzverbandes "Technische Nothilfe", einer
bewährten Streikbrecherorganisation. Dies alles lief auf eine befristete Militärdiktatur bis zum Abflauen
der Wirtschaftskrise und des politischen Extremismus hinaus.
Ob das die letzte Chance der Weimarer Republik war, Hitler zu vermeiden, ist unter Historikern
umstritten und wegen der schillernden, politisch fragwürdigen Figur Schleicher zumindest zweifelhaft.
Der Reichspräsident lehnte den Staatsnotstandsplan ab, denn er wollte keine Anklage vor dem
Staatsgerichtshof wegen Amtsmissbrauchs riskieren. Auch eine Reichstagsauflösung mit
verfassungsgemäßer Neuwahl (sie hätte der NSDAP – ohne den Kanzlerbonus – weitere Verluste
beschert) genehmigte er nicht. Am 28. Januar 1933 blieb Schleicher nur noch der Rücktritt. Letztlich
scheiterte er an den politischen Folgen des Präsidialregimes, das er selbst in hohem Maße
mitzuverantworten hatte. Sein Nachfolger stand schon kurz vor der Ernennung: Adolf Hitler, der die
"Querfront"-Strategen Schleicher und Strasser 1934 ermorden ließ.
Regierungsübertragung auf die NSDAP
"Das Jahr 1932 war eine ewige Pechsträhne", schrieb Joseph Goebbels am 25. Dezember 1932 in
sein (1934 veröffentlichtes) Tagebuch, "man muss es in Scherben schlagen [...]. Die Zukunft ist dunkel
und trübe; alle Aussichten vollends entschwunden." Nach drei großen Anläufen –
Reichspräsidentenwahl im April, Reichstagswahlen im Juli und November – stand die NSDAP wegen
Hitlers Alles-oder-nichts-Politik noch immer vor den Toren der Macht. Ihr Massenanhang hatte
abzubröckeln begonnen; die Parteikasse war leer. Schleichers Spaltungsversuch und Gregor Strassers
Rücktritt hatten die NSDAP so schwer erschüttert, dass Hitler sich vorübergehend mit
Selbstmordgedanken trug. Goebbels besaß also allen Grund zum Pessimismus. Nur fünf Wochen
später jedoch, am 30. Januar 1933, notierte er begeistert: "Es ist fast wie ein Traum. Die Wilhelmstraße
gehört uns. Der Führer arbeitet bereits in der Reichskanzlei." Diese erstaunliche Wendung lässt sich
nur erklären, wenn man die Ziele und Aktivitäten derjenigen Teile der Eliten in Militär, Bürokratie und
Wirtschaft in den Blick nimmt, die sich 1932/33 für Hitler einsetzten.
Befürworter Hitlers
Einzelne Schwerindustrielle wie Emil Kirdorf (Rheinisch-Westfälisches Kohlensyndikat) und Fritz
Thyssen (Vereinigte Stahlwerke) unterstützten bereits seit 1927 bzw. 1929 die NSDAP. Am 27. Januar
1932 hielt Hitler im Düsseldorfer Industrie-Club einen Vortrag, mit dem er die meisten anwesenden
Wirtschaftsvertreter stark beeindruckte.
Denn er verglich die auf das Privateigentum gegründete freie Unternehmerinitiative in der Wirtschaft
mit dem nationalsozialistischen Führerprinzip in der Politik und führte beide auf das Leistungsprinzip
zurück. Den Zuhörern wurde klar, dass die "sozialistischen" Forderungen im Parteiprogramm der
NSDAP von 1920 (Gewinnbeteiligung der Arbeiter in Großbetrieben, Bodenreform, Kommunalisierung
der Warenhäuser) lediglich die Partei auch für Arbeiter und kleine Mittelständler wählbar machen
sollten, während Hitler in Wirklichkeit nicht daran dachte, die Stellung der Unternehmer oder gar das
Privateigentum an Produktionsmitteln anzutasten. Seither flossen der NSDAP auch von dieser Seite
erhebliche Spenden zu.
Hitler und seine Vertrauten Hermann Göring und Heinrich Himmler bemühten sich um gute
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Beziehungen zu Unternehmerkreisen, weil sie wussten, dass die NSDAP ohne Zustimmung zumindest
eines Teils der Wirtschaft nicht an die Macht gelangen konnte. Ihre Kontakte führten im Juni 1932 zur
Bildung zweier Arbeitsstäbe, in denen einige einflussreiche Bankiers, Industrielle und Großagrarier
als wirtschaftspolitische Berater der NSDAP mitarbeiteten: Der ehemalige Reichsbankpräsident
Hjalmar Schacht leitete die nach ihm benannte "Arbeitsstelle Dr. Schacht", der Chemie-Industrielle
Wilhelm Keppler den "Studienausschuss für Wirtschaftsfragen". Vor allem der "Keppler-Kreis" bildete
im Herbst und Winter 1932 die "Keimzelle für wichtige Grundsatzentscheidungen
nationalsozialistischer Wirtschaftspolitik, und zwar im Sinne der Großwirtschaft" (Dirk Stegmann).
Als das Institut für Konjunkturforschung Ende Oktober erste Anzeichen für eine konjunkturelle
Besserung meldete und die NSDAP bei der Novemberwahl erhebliche Verluste erlitt, schien eine
Regierung Hitler in weite Ferne zu rücken. Dies veranlasste 22 NSDAP-nahe Vertreter von
Schwerindustrie, Großlandwirtschaft, Handel, Schifffahrt und Banken (darunter acht Mitglieder des
Keppler-Kreises) am 19. November 1932 zu einer Eingabe an den Reichspräsidenten. Darin forderten
sie, endlich "dem Führer der größten nationalen Gruppe" die "Leitung eines mit den besten sachlichen
und personellen Kräften ausgestatteten Präsidialkabinetts" zu übertragen. Die Eingabe blieb jedoch
erfolglos.
Im Dezember 1932 alarmierte Schleichers "Querfront"–Politik vollends diejenigen nationalkonservativen
Kreise in Wirtschaft, Militär und Bürokratie, die glaubten, ihre antidemokratisch-monarchistischen Ziele
nur noch mit Hilfe der nationalsozialistischen Massenbewegung verwirklichen zu können. Schleicher
wirkte auf sie wie ein verkappter "Sozialist in Generalsuniform" (Eberhard Kolb). Dass Hitler keine
Monarchie, sondern einen "Führerstaat" anstrebte, und dass auch er sozialpolitische Interessen der
Arbeitnehmer nicht gänzlich ignorieren konnte, nahmen sie in Kauf. Sie glaubten, die NSDAP so
"einrahmen" und "zähmen" zu können, dass sie im Sinne ihrer konservativen Bündnispartner regieren
und sich selbst dabei politisch "abnutzen" musste.
Bündnis zwischen Papen und Hitler
Hitlers Fürsprecher besaßen keinen direkten Zugang zum Reichspräsidenten. Dieses Problem lösten
sie mit Hilfe Papens, der als einziger in der Lage war, Hindenburgs Misstrauen gegenüber Hitler zu
zerstreuen. Trotz seiner schlechten Erfahrungen mit dem NSDAP-Führer wechselte Papen nach dem
Ende seiner Kanzlerschaft in das Lager der Hitler-Befürworter, weil er darin eine Chance sah, in die
Regierung zurückzukehren. Umgekehrt überwand Hitler jetzt seine Abneigung gegen Papen, da er
erkannte, dass sich die NSDAP in einer desolaten Lage befand und er taktische Kompromisse machen
musste, wenn er noch an die Macht gelangen wollte.
Mitte Dezember 1932 bot der Kölner Bankier Kurt Freiherr von Schröder, Mitglied des "Keppler-Kreises"
und der "Arbeitsstelle Dr. Schacht", Papen die Vermittlung eines Gesprächs mit Hitler an. Am 4. Januar
1933 trafen sich Papen und Hitler in Schröders Privathaus zu einer Unterredung, die als "Geburtsstunde
des Dritten Reiches" (Karl Dietrich Bracher) gelten kann. Denn wie Schröder 1947 im Nürnberger
Kriegsverbrecherprozess eidesstattlich erklärte, erzielten der NSDAP-Führer und der HindenburgVertraute "ein prinzipielles Abkommen" über Personal und Politik einer Regierung Hitler-PapenHugenberg (letzterer musste dafür erst noch gewonnen werden), die möglichst schnell das Kabinett
Schleicher ablösen sollte. Als Reichskanzler wollte Hitler unter anderem für "die Entfernung aller
Sozialdemokraten, Kommunisten und Juden von führenden Stellungen" und für die "Wiederherstellung
der Ordnung im öffentlichen Leben" sorgen. Papen sollte Vizekanzler werden. Einzelheiten sollten in
weiteren Besprechungen geklärt werden.
Folgt man Schröder, so zielten zu diesem Zeitpunkt die "allgemeinen Bestrebungen der Männer der
Wirtschaft" auf einen "starken Führer", der dauerhaft regieren, ihnen die "Angst vor dem
Bolschewismus" nehmen und eine "beständige politische und wirtschaftliche Grundlage in
Deutschland" schaffen sollte. Auch seien von ihm umfangreiche Staatsaufträge erwartet worden.
Demgegenüber hat die neuere historische Forschung ergeben, dass Ende 1932/Anfang 1933
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keineswegs die gesamte Wirtschaft hinter Hitler stand. Während sich große Teile der besonders
krisengeschüttelten Schwerindustrie an Rhein und Ruhr (Bergbau, Eisen- und Stahlerzeugung) der
NSDAP zuwandten, stimmten die übrigen Industrien (Maschinenbau, Elektrotechnik, Optik, Chemie,
Pharmazie und andere) weitgehend der Politik des Reichskanzlers Papen zu. Auch die Banken nahmen
keine einheitliche Haltung ein. Hitlers Ernennung zum Regierungschef erfolgte also "bei gespaltener
Industriefront" (Reinhard Neebe).
Sondierungsgespräche
Am 9. Januar 1933 erteilte Hindenburg (hinter dem Rücken des Kanzlers Schleicher) Papen die
Genehmigung, Verhandlungen über eine von ihm geführte Regierung unter Beteiligung der NSDAP
aufzunehmen. In diversen Sondierungsgesprächen, unter Mitwirkung einiger Industrieller, kam es in
dem machtstrategischen Dreieck NSDAP – Papen/Hindenburg/"Kamarilla" – DNVP/Stahlhelm
schrittweise zu einer politischen Verständigung. Gleichzeitig wandten sich immer mehr Personen, die
Hindenburg persönlich schätzte – darunter der ehemalige Kronprinz Wilhelm, Gutsnachbar OldenburgJanuschau und der alte Regimentskamerad General Werner von Blomberg – an den Reichspräsidenten
und empfahlen ihm die Bildung einer von Hitler geführten Regierung aus Stahlhelm, DNVP und NSDAP.
Strittig zwischen NSDAP und DNVP blieb Hitlers Forderung nach einem nationalsozialistischen
Reichskommissar im preußischen Innenministerium (um die preußische Polizei zu kontrollieren) und
nach Reichstagsneuwahlen im Anschluss an die Regierungsbildung (um mit dem Kanzlerbonus eine
Mehrheit für das geplante "Ermächtigungsgesetz" zu erhalten). Währenddessen wurde Schleichers
politische Stellung immer schwächer: Da er im Osten ähnliche Siedlungspläne wie Brüning hegte,
geriet er in Konflikt mit Hindenburg und verlor die parlamentarische Unterstützung der DNVP; am 28.
Januar musste er zurücktreten. Der Reichspräsident erwog jetzt ernsthaft eine Kanzlerschaft Hitlers;
seine Bedingung, Blomberg müsse Reichswehrminister werden, war dem NSDAP-Führer nur recht,
denn der General stand (ohne Hindenburgs Wissen) schon seit längerem den Nationalsozialisten nahe.
Hitler wird Reichskanzler
Am Vormittag des 29. Januar 1933 einigten sich Hitler, Göring und Papen darauf, dass Papen
Reichskommissar für Preußen, Göring kommissarischer preußischer Innenminister werden sollte. Der
frühere thüringische NSDAP-Minister Wilhelm Frick war als Reichsinnenminister vorgesehen. Am
Nachmittag sprach Papen mit Hugenberg und den Stahlhelm-Führern Seldte und Duesterberg.
Hugenberg war noch immer gegen Neuwahlen; aber das Angebot Hindenburgs, Doppelminister für
Wirtschaft und Landwirtschaft im Reich und in Preußen zu werden, fand er verlockend. Seldte wünschte
sich das Arbeitsministerium; Duesterberg blieb distanziert. Nachdem auch mehrere Mitglieder des
Schleicher-Kabinetts ihre Mitarbeit angeboten hatten, war die Ministerliste fast komplett.
Zwei Ereignisse beschleunigten die Entwicklung. Zum einen wünschte Hindenburg eine rasche
Regierungsbeteiligung der Zentrumspartei, damit diese nicht länger im Haushaltsausschuss die
Untersuchung des peinlichen "Osthilfe-Skandals" forcierte. Ostelbische Gutsbesitzer, darunter
Hindenburgs Freund Oldenburg-Januschau, hatten offenbar mehr wirtschaftliche Subventionen
erhalten, als ihnen zustanden, und diese zum Teil für private Zwecke ausgegeben. Mit der Zusicherung,
den Eintritt des Zen-trums in eine parlamentarische Mehrheitsregierung Hitler-Papen-Hugenberg (ohne
den Artikel 48 WV) anzustreben, kam Papen Hindenburgs Vorstellungen entgegen und zerstreute
zugleich dessen letzte Bedenken gegen Hitlers Kanzlerschaft. Für die Zentrumspartei wurde das
Justizressort offen gehalten.
Zum anderen führten am Abend des 29. Januar 1933 verbreitete Gerüchte über einen bevorstehenden
Militärputsch Schleichers dazu, dass der am nächsten Morgen in Berlin eintreffende designierte
Reichswehrminister Blomberg sofort zu Hindenburg gebracht und noch vor dem Reichskanzler
vereidigt wurde – ein verfassungswidriger Vorgang.
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Die künftigen Regierungsmitglieder waren um 10.45 Uhr zum Reichspräsidenten bestellt. Noch immer
wehrte sich Hugenberg gegen eine Reichstagsauflösung. Papen verwies eindringlich auf den
(angeblich) drohenden Militärputsch; Hitler versprach, auch nach Neuwahlen keinen Minister zu
entlassen. Hugenberg blieb bei seinem Nein, ging aber doch mit den anderen mit, als Meissner drängte,
man könne den Reichspräsidenten nicht länger warten lassen. Um 11 Uhr leisteten Hitler, Göring und
Frick, Papen, Hugenberg, Seldte und weitere vier (parteilose) konservative Minister den Amtseid auf
die Weimarer Verfassung.
Oberflächlich betrachtet waren die drei Nationalsozialisten in der Regierung tatsächlich "eingerahmt":
durch den Reichspräsidenten, Vertreter des Stahlhelm (Seldte), der DNVP (Hugenberg) und durch die
parteilosen Fachminister. Aber die NSDAP besaß strategisch wichtige Schlüsselstellungen:
Reichskanzler Hitler leitete die Kabinettssitzungen und bestimmte die "Richtlinien der Politik" (Art. 56
WV), Innenminister Frick war unter anderem für die Vorbereitung und Durchführung von Gesetzen
bzw. Notverordnungen zur inneren Sicherheit (zum Beispiel Zeitungs-, Versammlungs- und
Parteienverbote) zuständig. Dem Minister ohne Geschäftsbereich Göring unterstand als
Reichskommissar das preußische Innenministerium – und demzufolge die größte deutsche
Landespolizei. Hinzu kam die NSDAP-Nähe des Reichswehrministers von Blomberg. Es zeugt daher
von einem beträchtlichen Realitätsverlust, wenn Papen gegenüber einem konservativen Kritiker
äußerte: "Was wollen Sie denn? Ich habe das Vertrauen Hindenburgs. In zwei Monaten haben wir
Hitler so in die Ecke gedrückt, dass er quietscht."
Tatsächlich konnte die NSDAP ihre "Einrahmung" schon am nächsten Tag durchlöchern, als
Reichskanzler Hitler die ihm auferlegten Verhandlungen mit dem Zentrumsführer Kaas mit seiner
unannehmbaren Forderung nach einer einjährigen Vertagung des Reichstages absichtlich zum
Scheitern brachte. Danach bat er Hindenburg um Auflösung des Parlamentes, da er mit dem
gegenwärtigen Reichstag nicht regieren könne. Der Präsident möge sich keine Sorgen machen –
diese Neuwahlen, so versprach er doppeldeutig, würden "die letzten" sein. Hindenburg stimmte zu
und erteilte am 1. Februar 1933 die Auflösungsorder.
Ohnmacht der Hitler-Gegner
Die Gegner der NSDAP waren über Hitlers Ernennung zum Reichskanzler bestürzt, aber eine
gemeinsame Aktion brachten sie nicht zustande. Die KPD rief zum Generalstreik auf und schlug der
SPD die Bildung einer "Einheitsfront" vor. Doch die Sozialdemokraten sahen auch jetzt keine Basis
für eine Zusammenarbeit – frühere kommunistische Einheitsfrontangebote hatten stets das erklärte
Ziel verfolgt, die sozialdemokratischen Arbeiter von ihrer "sozialfaschistischen" Führung zu trennen;
auch kämpfte die KPD nach wie vor für ein "Sowjetdeutschland". Die SPD beschränkte sich darauf,
ihre Mitglieder und Anhänger zur Bewahrung von "Kaltblütigkeit, Entschlossenheit, Disziplin und
Einigkeit" aufzurufen und die neue Regierung vor Verfassungsbrüchen zu warnen.
Für die Gewerkschaften kam ein Generalstreik so wenig infrage wie im Juli 1932. Von der
Zentrumspartei, die ja Koalitionen mit der NSDAP durchaus wünschte, war Widerstand nicht zu
erwarten. Die bürgerlich-liberalen Parteien spielten aufgrund ihrer Schwäche kaum noch eine Rolle.
Vor allem zahlte sich jetzt Hitlers Legalitätstaktik aus. Die NSDAP hatte die politische Macht nicht
erobert, sondern sie war ihr, scheinbar verfassungskonform, in die Hände gelegt worden. Stattgefunden
hatte keine "Machtergreifung", wie die NS-Propaganda später prahlte, sondern eine begrenzte
Machtübertragung, nämlich die Beauftragung Hitlers mit der Führung einer parlamentarischen
Regierung. Wenn es der NSDAP gelang, binnen eineinhalb Jahren ihre Gegner auszuschalten, ihre
Koalitionspartner abzuschütteln und einen diktatorischen "Führerstaat" zu errichten, so vor allem
deshalb, weil sie – im Sinne der Lehren des "Preußenschlages" – diesen Prozess als eine "legale
Revolution" inszenierte: nämlich als "tiefgreifende Änderung aller Dinge", die aber "im Rahmen von
Recht und Verfassung" erfolgte – freilich kombiniert mit kaum verhülltem Terror. Das hat "jeden
Widerstand rechtlicher, politischer oder auch geistiger Art so schwierig, ja – wie viele meinen – praktisch
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fast unmöglich gemacht" (Karl Dietrich Bracher). Denn wer die Entwicklung zur Diktatur aufhalten
wollte, musste sich in die Illegalität begeben – das schreckte ab. Als aber das "Dritte Reich" errichtet
war und die Unmenschlichkeit seiner Herrschaftsziele und -methoden alles Dagewesene in den
Schatten stellte, war es für einen breiten, erfolgreichen Widerstand zu spät.
Die Weimarer Republik aus der Sicht der Geschichtswissenschaft
[...] Die Historiker sind sich heute zumindest darin einig, dass das Scheitern der Republik und die
nationalsozialistische "Machtergreifung" nur durch die Aufhellung eines sehr komplexen
Ursachengeflechts plausibel erklärt werden können. Dabei sind vor allem folgende Determinanten zu
berücksich-tigen: institutionelle Rahmenbedingungen, etwa die verfassungsmäßigen Rechte und
Möglichkeiten des Reichspräsidenten, zumal beim Fehlen klarer parlamentarischer Mehrheiten; die
ökonomische Entwicklung mit ihren Auswirkungen auf die politischen und gesellschaftlichen
Machtverhältnisse; Besonderheiten der politischen Kultur in Deutschland (mitverantwortlich zum
Beispiel für die Republikferne der Eliten, die überwiegend der pluralistisch-parteienstaatlichen
Demokratie ablehnend gegenüberstanden); Veränderungen im sozialen Gefüge, beispielsweise
Umschichtungen im "Mittelstand" mit Konsequenzen, unter anderem für politische Orientierung und
Wahlverhalten mittelständischer Kreise; ideologische Faktoren (autoritäre Traditionen in Deutschland;
extremer Nationalismus, verstärkt durch Kriegsniederlage, Dolchstoß-Legende und Kriegsunschuldspropaganda;
"Führererwartung" und Hoffnung auf den "starken Mann", wodurch einem charismatischen Führertum
wie dem Hitlers der Boden bereitet wurde); massenpsychologische Momente, zum Beispiel
Erfolgschancen einer massensuggestiven Propaganda infolge kollektiver Entwurzelung und politischer
Labilität breiter Bevölkerungssegmente; schließlich die Rolle einzelner Persönlichkeiten an
verantwortlicher Stelle, in erster Linie zu nennen sind hier Hindenburg, Schleicher, Papen.
Die Antwort, die auf die Frage nach dem Scheitern der Weimarer Demokratie und der Ermöglichung
Hitlers gegeben wird, hängt in ihrer Nuancierung wesentlich davon ab, wie die verschiedenen
Komponenten gewichtet und dann zu einem konsistenten Gesamtbild zusammengefügt werden, denn
Gewichtung und Verknüpfung sind nicht durch das Quellenmaterial in einer schlechthin zwingenden
Weise vorgegeben, sie bilden die eigentliche Interpretationsleistung des Historikers. [...]
Eberhard Kolb, Die Weimarer Republik, Oldenbourg, München 2002, S. 250 f.
[...] Woran ist also Weimar gescheitert? Die Antwort ist nicht mit letzter wissenschaftlicher Präzision
zu geben, aber einiges lässt sich doch ausmachen: die wichtigsten Gründe liegen auf dem Feld der
Mentalitäten, der Einstellungen und des Denkens. In der Mitte des Ursachenbündels finden sich eine
Bevölkerungsmehrheit, die das politische System von Weimar auf die Dauer nicht zu akzeptieren bereit
war, sowie Parteien und Verbände, die sich den Anforderungen des Parlamentarismus nicht gewachsen
zeigten. Die Ursachen für diese Defekte dürften überwiegend in langfristigen, aus den besonderen
Bedingungen der preußisch-deutschen Geschichte zu erklärenden Zusammenhängen zu suchen sein,
verstärkt durch die Entstehungsbedingungen des Weimarer Staatswesens und seiner
außenpolitischen Belastungen. Die Übertragung dieser ungünstigen Gruppenmentalitäten auf das
Weimarer Regierungssystem wurde durch den Wahlrechtsmodus erheblich begünstigt. [...] Die
antirepublikanischen Tendenzen in Armee, Bürokratie und Justiz waren grundsätzlich beherrschbar,
eine Frage des Machtbewusstseins von Parteien und Regierung. Die gesellschaftlichen und
wirtschaftlichen Rahmenbedingungen waren hauptsächlich langfristig wirksam, indem sie auf die
Mentalitäten von Bevölkerung und einzelnen Gruppen einwirkten; aktuelle ökonomische Krisen
verstärkten die destabilisierenden Momente, verursachten sie aber nicht.
Lapidar lässt sich also schließen: Bevölkerung, Gruppen, Parteien und einzelne Verantwortliche haben
das Experiment Weimar scheitern lassen, weil sie falsch dachten und deshalb falsch handelten. [...]
Hagen Schulze, Weimar. Deutschland 1917-1933, Siedler Verlag /Random House, Berlin 1994, S. 425
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[...] Die Reichstagswahl im Mai 1928 schien die Konsolidierung der Republik zu bestätigen. Allerdings
bezahlten alle bürgerlichen Parteien ihre zeitweilige Regierungsbeteiligung mit Wählerverlusten, und
in allen kam es daraufhin zu einer Kräfteverschiebung nach rechts. In der DNVP setzte sich der radikale,
strikt antiparlamentarische alldeutsche Flügel durch. Auch die Haltung der Unternehmerverbände
verhärtete sich wieder.
Doch erst unter dem Druck der beginnenden Weltwirtschaftskrise fielen jene fatalen politischen
Entscheidungen, durch die sich die offene Situation immer mehr zu einer schlechten, wenn auch bis
zum Ende nie aussichtslosen Zukunftsperspektive für die Republik verengte. Erst jetzt entstand jenes
Machtvakuum, das die Verächter der Demokratie in der Umgebung des Reichspräsidenten für ihre
Zwecke ausnutzen konnten. Der NSDAP gelang ihr grandioser Aufstieg von der politischen Sekte zur
mächtigen "Volkspartei des Protests" vor allem aus zwei Gründen: Die eine Ursache war, daß breite
Bevölkerungsschichten den Staat für die Verletzung ihrer elementaren Interessen verantwortlich
machten, die soziale Gerechtigkeit grob mißachtet sahen und sich von den etablierten Parteien nicht
mehr repräsentiert fühlten. Dazu kam als zweite Ursache, daß die politischen und gesellschaftlichen
Eliten die rechtsradikalen Staatsfeinde in Dienst zu stellen hofften, statt sie energisch zu bekämpfen.
Bereits in der Agrarkrise der späten zwanziger Jahre zeichnete sich ab, daß die politische Mobilisierung
der empörten Landbewohner überwiegend der NSDAP zugute kam. In der Weltwirtschaftskrise
bestätigte sich dieser Trend in den Städten. Je mehr sich die sozialen Spannungen verschärften, desto
attraktiver wurden die ideologischen Angebote der NSDAP: Wiederherstellung der
"Volksgemeinschaft" unter einem starken, gerechten "Führer", Zähmung der Kapitalisten und
Vernichtung der "Bolschewisten". Die Widersprüchlichkeit der Parolen bot den verschiedenen
Schichten An- knüpfungspunkte für ihren Protest. Angstgeplagten Bürgern machte die bei
Demonstrationen und Aufmärschen zur Schau gestellte Durchsetzungskraft der Nationalsozialisten
Mut. Junge Menschen wurden durch die Dynamik der "Bewegung" in besonderer Weise angezogen,
und dies wiederum schien der NSDAP in den Augen vieler Älterer die Zukunft zu verheißen.
1930, als der schwere Konjunkturrückschlag harte finanz- und sozialpolitische Einschnitte erzwang,
sich jedoch noch nicht zu einer fundamentalen Wirtschaftskrise ausgeweitet hatte, kündigte sich die
Gefährdung der Republik von rechts bei der Septemberwahl in der sprunghaften, gewaltigen Zunahme
der NSDAP-Stimmen an. Aber noch stand weniger als ein Fünftel der Wähler im nationalsozialistischen
Lager. Die Bildung einer parlamentarisch verankerten Mehrheitsregierung unter Ausschluß der
extremen Flügelparteien NSDAP, DNVP und KPD war weiterhin möglich [...]. Dieser Weg setzte
allerdings einen über alle Interessengegensätze hinwegreichenden Konsens voraus, die
demokratische Verfassung unbedingt zu erhalten, und diesen Konsens gab es nicht. Vielmehr
entschlossen sich die konservativen Machteliten jetzt, dauerhaft gegen die stärkste demokratische
Partei, die SPD, zu regieren und vom parlamentarischen zum autoritären System überzugehen. [...]
Die Weimarer Republik mußte in der kurzen Zeit ihres Bestehens mit enormen Schwierigkeiten fertig
werden. Wegen ihrer großen strukturellen "Vorbelastungen", der vielfältigen sozialen Spannungen,
der Schwächen ihrer Eliten und der überzogenen Erwartungen ihrer Bürger war sie dafür schlecht
gerüstet. Den letzten Stoß aber erhielt sie durch den revisionistischen Ehrgeiz einer konservativen
politischen Führung, die seit der Ära Brüning inmitten einer dramatischen Wirtschafts- und Staatskrise
danach strebte, die außen- und innenpolitische Niederlage von 1918 zu überwinden.
Ursula Büttner, Weimar. Die überforderte Republik 1918-1933, Klett-Cotta, Stuttgart 2008, S. 507 ff.
Aus:
Informationen zur politischen Bildung (Heft 261) - Kampf um die Republik 1919-1923 (2011)
bpb.de
Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
125
Ursachen des Nationalsozialismus
Von Hans-Ulrich Thamer
6.4.2005
geb. 1943, ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Münster. Seine Forschungsschwerpunkte sind der
Nationalsozialismus und der europäische Faschismus.
Veröffentlichungen u.a.:Verführung und Gewalt. Deutschland 1933-1945, (Die Deutschen und ihre Nation, Bd. 5), Berlin 1986; Der
Nationalsozialismus, Stuttgart 2002.
"Wie war es möglich?" Diese Frage beschäftigt Historiker, Politiker und Literaten seit
Jahrzehnten und ist Gegenstand kontroverser Debatten. Hans-Ulrich Thamer stellt die
verschiedenen Ursachen für den Erfolg der Nationalsozialisten dar und erläutert, warum
monokausale Erklärungsansätze zu kurz greifen.
Ursachen des Nationalsozialismus
Zum Jahresende 1932 meinte der liberale Publizist und Politiker Gustav Stolper das nahe Ende des
Nationalsozialismus prognostizieren zu können: "Das Jahr 1932 hat Hitlers Glück und Ende gebracht.
Am 31. Juli hatte sein Aufstieg den Höhepunkt erreicht, am 13. August begann der Niedergang, als
der Reichspräsident den Stuhl, den er ihm nicht zum Sitzen anbot, vor die Tür stellte. Seitdem ist das
Hitlertum in einem Zusammenbruch, dessen Ausmaß und Tempo dem seines eigenen Aufstiegs
vergleichbar ist. Das Hitlertum stirbt an seinem eigenen Lebensgesetz." Beobachter aus fast allen
politischen Lagern teilten damals diese optimistische Einschätzung. Auch wenn sie sich einige Wochen
später als dramatische Fehlkalkulationen erweisen sollten, waren diese Überlegungen zunächst so
abwegig nicht. Denn in der Tat hatte sich die NSDAP wenige Wochen vor der Machtübertragung an
ihren Führer Adolf Hitler am 30. Januar 1933 in einer der tiefsten Krisen ihrer kurzen Geschichte
befunden.
Nur ein halbes Jahr später berichtete der französische Botschafter in Berlin, André François-Ponçet,
seiner Regierung in Paris von einer Rede des Reichskanzlers Adolf Hitler vom 1. Juli, in der dieser
den erfolgreichen Abschluß seiner "nationalen Revolution" und den Übergang zu einer neuen Phase
der nationalsozialistischen Herrschaft angekündigt hatte: "In der Tat konnte sich Hitler zum Zeitpunkt
seiner Rede rühmen, alles, was in Deutschland außerhalb der nationalsozialistischen Partei existierte,
zerstört, zerstreut, aufgelöst, angegliedert oder aufgesaugt zu haben. Einer nach dem anderen mußten
sich die Kommunisten, die Juden, die Sozialisten, die Gewerkschaften, die Mitglieder des "Stahlhelms
", die Deutschnationalen, die Frontkämpfer des "Kyffhäuserbundes", die Katholiken in Bayern und im
Reich und die evangelischen Kirchen unter sein Gesetz beugen. Er hat alle Polizeikräfte in seiner
Hand. [...] Eine unerbittliche Zensur hat die Presse vollständig gezähmt. [...] Hitler beherrscht die
einzelnen deutschen Länder durch die Statthalter, die er an ihre Spitze gestellt hat. Die Städte werden
von jetzt an verwaltet durch Bürgermeister und Stadträte aus seiner Anhängerschaft. Die Regierungen
der Länder und die Landtage sind in den Händen seiner Parteigänger. Alle öffentlichen Verwaltungen
wurden gesäubert. Die politischen Parteien sind verschwunden. [...] Wenn man sich die Situation ins
Gedächtnis ruft, wie sie am 1. Februar bestand, und die Bedingungen, unter denen Hitler die
Kanzlerschaft erlangte sowie die Zusammensetzung der Regierung, die er leitete und in der er
eingerahmt war von Männern, die den Auftrag hatten, ihn zu lenken und zu überwachen, wird man
zustimmen, daß der Führer erfolgreich ein blitzartiges Manöver durchgeführt hat. Die Zeitungen
schreiben zu Recht davon, daß er in fünf Monaten eine Wegstrecke zurückgelegt hat, für die der
(italienische) Faschismus fünf Jahre brauchte. [...] Adolf Hitler hat daher gewonnenes Spiel, und er
hat diese Partie mit geringem Aufwand gewonnen: Er mußte nur pusten - das Gebäude der deutschen
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Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
126
Politik stürzte zusammen wie ein Kartenhaus."
Was der französische Botschafter hier beschrieben hat, war die erste Phase der nationalsozialistischen
Machteroberung, deren Tempo und Dynamik alle Zeitgenossen überrascht und teilweise überrumpelt
hatte. Heute wie damals drängt sich die Frage auf, wie in einer so kurzen Zeit ein etabliertes und
differenziertes System von politischen Parteien und gesellschaftlichen Verbänden, von Parlamenten
und Verwaltungen zusammenbrechen oder sich selbst aufgeben konnte. Auch fragt sich, wie der
rasante und scheinbar unaufhaltsame Aufstieg eines politischen Agitators zu erklären ist, der bis zu
seinem 30. Lebensjahr ein politisch und sozialer Niemand war und der in den verbleibenden 26
Lebensjahren die Geschichte zutiefst geprägt hat. Diese Zeitspanne wurde geprägt von einem
deutschen Diktator, der fast bis zu seinem Ende auf eine gläubige Gefolgschaft und
Zustimmungsbereitschaft der großen Mehrheit der Deutschen setzen konnte, der einen Völkermord
und einen Krieg anstiftete und damit einen der größten Zivilisationsbrüche der Neuzeit verursachte.
Wie konnte er mit seiner Massenbewegung einen hoch entwickelten und modernen Industriestaat mit
einer großen kulturellen Tradition unter seine diktatorische Gewalt bringen? Wie war es möglich, daß
die überwiegende Mehrheit der Deutschen sich mit diesem Unrechtsregime arrangiert hat? Wie
konnten sich in einer solchen Gesellschaft mit ihrer rechtsstaatlichen Tradition und ihrer technischwissenschaftlichen Leistungsfähigkeit derartige kriminelle Verfolgungs- und Vernichtungsenergien
entfalten, wo doch die Kriminalitätsrate dieser Gesellschaft bis dahin nicht höher war als die in den
anderen europäischen Ländern?
Bedeutung für die Gegenwart
Die Frage "Wie war Hitler möglich?" gehört seit seiner Machtentfaltung bis zur Gegenwart zu den
entscheidenden Erkenntnisfragen unserer Zeit. Denn hinter der historischen Erfahrung der
Machteroberung durch eine radikalfaschistische Partei und der diktatorischen Machtentfaltung ihres
"Führers" steht immer auch die Sorge um die Gefährdung der aktuellen demokratisch-humanitären
Verfassung durch extremistische Propaganda und Gewalt. Das Scheitern der ersten deutschen
Demokratie von Weimar und die Errichtung der nationalsozialistischen Diktatur sind längst zum
Musterfall für die Zerstörung einer Demokratie und der Verlockungen einer Diktatur in der Moderne
überhaupt geworden. Denn gerade die Verbindung von Faszination und Gewalt, von Loyalität zum
Regime und der Eroberungs- bzw. Vernichtungspolitik des Regimes macht das historisch Besondere
der nationalsozialistischen Herrschaft aus und erklärt das Erschrecken, das von dieser geschichtlichen
Erfahrung ausgeht. Das Wissen um die Mechanik der Machteroberung und die Wirkungsweise bzw.
Folgen der nationalsozialistischen Diktatur kann darum beispielhaft die Grundzüge totalitärer
Herrschaft erläutern und die Gefährdungen der politischen Freiheit verdeutlichen.
Die Ursachen und Folgen der nationalsozialistischen Machtergreifung haben bis in die Gegenwart das
kollektive Gedächtnis der Deutschen und der europäischen Nachbarn, die Opfer der Eroberungs- und
Vernichtungspolitik wurden, belastet und die politische Kultur im Nachkriegsdeutschland geprägt. Mehr
als 50 Jahre nach dem Untergang des "Dritten Reichs" ist die nationalsozialistische Vergangenheit
darum noch immer gegenwärtig und wird es bleiben. Denn zu einzigartig und unvorstellbar sind die
Massenverbrechen, die vom nationalsozialistischen Deutschland begangen wurden. Auch wenn die
Fakten längst bekannt sind, wird es immer schwer sein, die nationalsozialistische Eroberungs- und
Vernichtungspolitik begreiflich zu machen, sie mit unseren sprachlichen und wissenschaftlichen Mitteln
zu erklären, ohne sie dabei zu verharmlosen.
Antworten auf die Frage, wie das alles geschehen konnte, lassen sich nur finden, wenn wir die
ideologiegeschichtlichen und mentalitätsbedingten Wurzeln des Nationalsozialismus sowie die
Bedingungen für die zunehmende Akzeptanz seiner Propagandakampagnen in der damaligen Zeit
erklären, wenn wir die krisenhafte Zuspitzung in Politik, Gesellschaft und Wirtschaft der Weimarer
Republik als Voraussetzung für den Aufstieg des Nationalsozialismus zur Massenbewegung
berücksichtigen und schließlich die schrittweise Entfaltung der nationalsozialistischen Herrschaft
beschreiben.
bpb.de
Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
127
Dabei läßt sich erkennen, daß der Weg Hitlers zur Macht keine Einbahnstraße der deutschen
Geschichte darstellte, die notwendigerweise zu seiner Ernennung zum Reichskanzler am 30. Januar
1933 und zu den weiteren Etappen auf dem Weg in den Krieg und die Vernichtung führte. Vielmehr
gab es Knoten- und Wendepunkte, an denen die Entwicklung auch anders hätte verlaufen können,
an denen auch andere Entscheidungen möglich gewesen wären. Denn der Nationalsozialismus war
weder ein bloßer Betriebsunfall noch kam er mit einer unwiderstehlichen Naturgewalt über die
Deutschen. Viele Faktoren und Konstellationen wirkten zusammen, wie innen- und außenpolitische
Strukturen und Umstände, Personen und ihre Wahrnehmung bzw. ihr Handeln sowie
Fehleinschätzungen und Zufälle. All dies machte Hitler am Ende "möglich" und führte dazu, daß er
seine Diktatur festigen konnte, daß sich ideologische Konzepte und Worthülsen der Propaganda in
politisches Handeln umsetzten; daß beispielsweise antisemitische Parolen und Einstellungen, die
eschon länger und auch anderswo gegeben hatte, zur Rechtfertigung und Richtschnur der grausamen
Politik eines millionenfachen Völkermordes wurden.
Keine einfachen Erklärungen
Erklärungen für die Massenwirksamkeit und die Machteroberung Hitlers, für den Weg in den Krieg und
nach Auschwitz gab und gibt es in großer Zahl. Keine Epoche der deutschen Geschichte ist so intensiv
erforscht worden wie die NS-Zeit. Dennoch gibt es noch immer offene Fragen und vor allem viele und
mitunter heftige wissenschaftliche und geschichtspolitische Kontroversen um Hitler und den
Nationalsozialismus. Das hat einen Grund in der Vielgesichtigkeit der nationalsozialistischen Politik
und Propaganda selbst, die ihre Barbarei hinter den Verlockungen einer scheinbaren zivilisatorischen
Normalität verbarg. Ein weiterer Grund ist die singuläre historische Erscheinung des
Nationalsozialismus und seiner Verbrechen, die bei allen Versuchen einer rationalen Erklärung immer
auch zu einer moralischen Wertung zwingt, zum historischen Verstehen und zum Verurteilen zugleich.
Gerade das hat aber auch mit dem politisch-kulturellen Standort des Betrachters zu tun.
Einigkeit besteht in der historischen Forschung jedoch darin, daß es keine einfachen Erklärungen für
Aufstieg und Fall des Nationalsozialismus, für die Verlockungen und die Gewalt im Führerstaat gibt.
So kann weder die nationalsozialistische Ideologie und Propaganda allein die Massenwirksamkeit des
Nationalsozialismus erklären, denn dort wurde nur verkündet, was man auch anderswo hören konnte;
noch kann es die vermeintliche politische Genialität oder Suggestivkraft Hitlers, denn selbst wenn
diese von der Parteipropaganda unaufhörlich herausgestellt wurde, bedurfte es erst einer
entsprechenden Erwartungshaltung beim Publikum, um eine politische Wirkung zu erzielen. Auch der
Terror der Sturmabteilung (SA) kann den Aufstieg des Nationalsozialismus allein nicht erklären.
Ebensowenig die politischen und sozialen Umstände, die immer wieder genannt werden: der Versailler
Vertrag (1919) und die kommunistische Revolutionsdrohung aus Moskau, die Massenarbeitslosigkeit
oder die sozio-ökonomischen Interessen der Großindustrie und des Großgrundbesitzes. Keiner dieser
Faktoren kann bei einer historischen Erklärung übersehen werden, aber für sich allein reicht weder
der eine noch der andere für die Erklärung des nationalsozialistischen Aufstiegs zur Macht noch der
Politik des Führerstaates aus. Sie verschränkten sich vielmehr wechselseitig. In einem doppelgleisigen
Prozeß des Machtverfalls bzw. -verlustes der Demokratie einerseits und der politisch-sozialen
Expansion der nationalsozialistischen Bewegung andererseits wurde der politische
Handlungsspielraum zuerst der demokratischen, dann aber auch der konservativ-autoritären Kräfte
zunehmend eingeengt. Dieser Prozeß wurde beschleunigt durch politische Fehleinschätzungen,
persönliche Machtkämpfe und Intrigen.
Auszug aus:
Informationen zur politischen Bildung (Heft 251) - Ursachen des Nationalsozialismus
bpb.de
Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
128
Der Kampf gegen den Nationalsozialismus vor 1933
Von Prof. Dr. Wolfgang Benz
6.4.2005
Geb. 1941, Studium der Geschichte, Politischen Wissenschaft und Kunstgeschichte. Seit 1990 Professor an der Technischen
Universität Berlin und Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung. Vorsitzender der Gesellschaft für Exilforschung.
Mitherausgeber der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft.
Während die NSDAP mehr und mehr Erfolge verzeichnete, nahmen Künstler, Wissenschaftler,
Journalisten und Intellektuelle den Kampf gegen die Nationalsozialisten auf. Sie hatten erkannt,
dass Deutschland unter nationalsozialistischer Führung geradewegs in den Krieg steuerte.
Einleitung
Die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) war als kleiner Splitter der völkischrechtsradikalen Protestbewegung nach dem Ende des Ersten Weltkrieges in München entstanden.
Als Stoßtrupp einer "nationalen Revolution" wollte ihr Führer Adolf Hitler 1923 an der Spitze der NSDAP
von München aus die demokratische Reichsregierung in Berlin beseitigen. Nach dem Scheitern des
Putsches versank die Hitlerbewegung für einige Jahre in Bedeutungslosigkeit. Die Jahre 1924 bis
1928 benutzte Hitler, der in seiner kurzen Haft in Landsberg sein programmatisches Bekenntnisbuch
"Mein Kampf" schrieb, zum Wiederaufbau der Parteiorganisation und zur Erprobung der
Propagandatechnik und Massenregie.
Die Parlamentswahlen wurden von der NSDAP nur zu propagandistischen Zwecken und als
Erfolgsbarometer benützt. Noch 1928 brachten die Reichstagswahlen der Partei nur 2,6 Prozent der
Stimmen und 12 Mandate. Der Aufstieg von der radikalen politischen Sekte zur Massenpartei gelang
erst nach dem Bruch der Großen Koalition von SPD, DDP, Zentrum und DVP unter Reichskanzler
Hermann Müller im Frühjahr 1930. Mit dem Ende dieses Kabinetts war die Weimarer Republik kein
parlamentarisch regierter Staat mehr. Die konservativen Regierungen unter Brüning, Papen und
Schleicher stützten sich nur noch auf die Autorität des Reichspräsidenten Hindenburg. Die weltweite
Wirtschaftskrise und das krasse Ansteigen der Arbeitslosigkeit bildeten den Hintergrund weiterer
Radikalisierung des öffentlichen Lebens: In den Reichstagswahlen und im September 1930 errang
die NSDAP mehr als 18 Prozent der Stimmen und war mit 107 Mandaten zweitstärkste Partei geworden.
Im Juli 1932 verbesserte sie sich sogar auf 37,3 Prozent und 230 Mandate. Sie war damit stärkste
Partei, aber ihre größte Zustimmung bei freien Wahlen hatte sie damit erreicht. Als im November 1932
abermals gewählt wurde, bekam die NSDAP noch 33,1 Prozent und 196 Mandate. Sie blieb aber die
stärkste Fraktion im Reichstag.
Viele Wähler und Mitglieder der demokratischen bürgerlichen Parteien waren sich der durch den
Nationalsozialismus drohenden Gefahr nicht bewußt. Sie sahen ihn lediglich als radikale
Randerscheinung einer Krisenzeit. Im übersteigerten Nationalbewußtsein, in der Überzeugung, daß
Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg Unrecht geschehen sei, in der Hoffnung auf die Überwindung
des Versailler Friedensvertrages und in der Abneigung gegen das neue und ungewohnte
parlamentarisch-demokratische System der 1918/19 errichteten Republik waren sich viele
konservative Bürger mit den antidemokratischen Extremisten einig. Während Nationalkonservative
auf ein Zweckbündnis mit der NSDAP hofften, das sie nach der gemeinsamen Schaffung eines
autoritären Staates wieder auflösen könnten, betrachteten die Nationalsozialisten ihre bürgerlichdeutschnationalen Partner nur als Gehilfen bei der Erringung der absoluten Macht im Staat, den sie
dann ganz allein nach ihren Vorstellungen umgestalten wollten.
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Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
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Eine verhängnisvolle und folgenschwere Vorleistung konservativer Gruppierungen zugunsten der
Nationalsozialisten war die Entmachtung der preußischen Regierung am 20. Juli 1932 durch den
Reichskanzler Franz von Papen, der damit zum "Steigbügelhalter" Hitlers wurde. In einer
widerrechtlichen Aktion ("Papenstreich") erklärte Papen die sozialdemokratisch geführte preußische
Regierung unter Ministerpräsident Otto Braun, die mit dem Innenminister Severing als Bollwerk der
Demokratie und des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus gegolten hatte, für abgesetzt. Der
Reichskanzler übernahm selbst als Staatskommissar die Regierungsgeschäfte Preußens und ebnete
so im größten deutschen Land den Weg zur Machtübernahme der Nationalsozialisten.
Frühe Warnungen
Einige Schriftsteller, Künstler, Intellektuelle und Wissenschaftler warnten frühzeitig vor dem
Nationalsozialismus, aber ohne Erfolg. "Daß der Nazi dir einen Totenkranz flicht: Deutschland, siehst
du das nicht?" fragte Kurt Tucholsky 1930 in seinem Gedicht "Deutschland, erwache". Zwei Jahre
später schrieb er für die berühmte, aber damals nur von einem kleinen Kreis Intellektueller gelesene
Zeitschrift "Die Weltbühne" die Satire "Hitler und Goethe", in der ein Schulaufsatz als Form diente, um
rechtsradikale Einfalt und Großmäuligkeit vorzuführen. Der Vergleich ging zu Ungunsten Goethes aus
("Hitler dagegen ist Gegner der materialistischen Weltordnung und wird diese bei seiner
Machtübergreifung abschaffen sowie auch den verlorenen Krieg, die Arbeitslosigkeit und das schlechte
Wetter").
Carl von Ossietzky, der Herausgeber der Zeitschrift "Weltbühne", schrieb Ende 1931, als Hitler an der
Schwelle zur Macht schien, ein vernichtendes Urteil über den Nationalsozialismus: "Die gleiche Not,
die alle schwächt, ist Hitlers Stärke. Der Nationalsozialismus bringt wenigstens die letzte Hoffnung
von Verhungernden: den Kannibalismus. Man kann sich schließlich noch gegenseitig fressen. Das ist
die fürchterliche Anziehungskraft dieser Heilslehre. Sie entspricht nicht nur den wachsenden
barbarischen Instinkten einer Verelendungszeit, sie entspricht vor allem der Geistessturheit und
politischen Ahnungslosigkeit jener versackenden Kleinbürgerklasse, die hinter Hitler marschiert."
Wegen ihres künstlerischen Rangs sind die antifaschistischen Grafiken und Bilder von George Grosz
legendär geworden, nicht minder die Fotomontagen von John Heartfield. Beide gehörten der KPD an
und verstanden sich als Klassenkämpfer und Streiter gegen Reaktion und Faschismus in der Weimarer
Republik. John Heartfields Ausdrucksmittel waren das politische Plakat und die Arbeiter-IllustriertenZeitung. Zusammen mit Grosz arbeitete Heartfield auch für den Malik-Verlag seines Bruders Wieland
Herzfelde, dem bedeutendsten literarischen und künstlerischen Forum der revolutionären Linken bis
1933.
Der Schriftsteller Lion Feuchtwanger hat in seinem 1930 erschienenen Zeitroman "Erfolg - Drei Jahre
Geschichte einer Provinz" ein scharfes Bild der damaligen politischen Landschaft Bayerns gezeichnet,
in dem Hitler als "Rupert Kutzner", als Führer der "Wahrhaft Deutschen" nicht weniger lächerlich als
gefährlich geschildert ist. Der Aufstieg Hitlers, der Putschversuch von 1923, Begeisterung und
Zustimmung seiner Anhänger erscheinen als bemitleidenswertes wie verabscheuungswürdiges
Gemisch aus nationalistischer Aufwallung, Desorientierung, Sehnsucht nach heiler Welt. Kutzner wird
geschildert als ein Schmierenkomödiant, dessen Gesten einstudiert sind, ein feiger Maulheld, getrieben
von Ehrgeiz und Sendungsbewußtsein: "Reden war der Sinn seiner Existenz".
Mit rechtsradikalen Mördern beschäftigte sich seit Beginn der Weimarer Republik der Wissenschaftler
Emil Julius Gumbel, seit 1923 Privatdozent für Statistik an der Universität Heidelberg, bekannt als
Anhänger der Friedensbewegung und streitbarer Redner. Als Mitglied der "Deutschen Liga für
Menschenrechte", als entschiedener Verteidiger der Republik und Verfechter der Aussöhnung mit
Frankreich schrieb er über die Umtriebe der Rechtsextremisten, über den Terror der Hitleranhänger
und immer wieder über die Zahl der "Fememorde", die feigen Morde aus dem Hinterhalt gegen politisch
Andersdenkende. 1931 stellte er, im Auftrag der "Liga für Menschenrechte", eine Schrift zusammen
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Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
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"Laßt Köpfe rollen - Faschistische Morde 1924-1931". Der Titel war ein Zitat aus der NS-Propaganda.
Auf 23 Seiten waren 63 Morde, die Nationalsozialisten bis 1931 verübt hatten, aufgelistet und
beschrieben. Gumbels Schlußfolgerung lautete: "Diese Zahlen verlaufen ungefähr parallel dem
Anwachsen der nationalsozialistischen Bewegung, von 1924 bis 1929 sehr langsam, dann sprunghaft
rasch. In diesen Bluttaten offenbart der Faschismus sein wahres Gesicht. Er zeigt dem deutschen Volk
die Methoden, deren er sich bedienen wird, wenn er zur Macht kommen sollte."
Noch schlimmer als Gumbel, dem 1932 die Lehrbefugnis entzogen wurde, erging es dem Philosophen
Theodor Lessing, der bereits 1926 wegen Kritik an Reichspräsident Hindenburg als exponierter Linker,
Pazifist und Kämpfer gegen Rechtsradikalismus seine außerordentliche Professur an der Technischen
Hochschule Hannover verloren hatte. Lessing floh im Frühjahr 1933 ins Exil nach Prag, wo er Ende
August von Nationalsozialisten ermordet wurde. Anhänger der Friedensbewegung wurden von den
Nationalsozialisten von vornherein als Gegner klassifiziert, sie fanden sich daher zahlreich auf den
Ausbürgerungslisten des zur Macht gekommenen nationalsozialistischen Regimes.
Kritik am Antisemitismus
Heftige Kritik an der nationalsozialistischen Ideologie und ihrer Vorkämpfer gab es in vielfacher Form
auch von bürgerlich-linksliberaler Seite. Der prominenteste Vertreter war wohl der spätere
Bundespräsident Theodor Heuss, der wie sein Parteifreund Reinhold Maier (1957-1960 Vorsitzender
der FDP) nach der "Machtergreifung" und der Zustimmung zum Ermächtigungsgesetz im März 1933
in der "inneren Emigration" verharrte. Gegen den Antisemitismus der NSDAP hatte Heuss ganz früh
Partei ergriffen. Anfang 1932 erschien sein Buch "Hitlers Weg. Eine historisch-politische Studie über
den Nationalsozialismus". Es war die erste von acht Auflagen. Übersetzt wurde das Buch in mehrere
Sprachen. Heuss wollte einen bewußt distanziert-kühlen Beitrag zur Auseinandersetzung mit dem
Nationalsozialismus leisten. Er wollte lieber argumentativ als polemisch die historischen und
psychologischen Voraussetzungen der Hitler-Bewegung diskutieren. Es fehlte dem liberalen
politischen Schriftsteller Heuss die Phantasie sich vorzustellen, mit welcher Brutalität und Mordlust
das NSDAP-Programm dann ab 1933 in die Wirklichkeit umgesetzt wurde. Immerhin finden sich in
seiner Schrift folgende Sätze: "Die Zerstörung jüdischer Friedhöfe muß eine Gemeinschaft tief treffen,
in der, im Widerspruch zu allem Geschwätz von der individualistischen Auflösungskraft des Jüdischen,
die Familie lebensvolle Bindung auch in die Vergangenheit bedeutet, sie beschmutzt uns alle. Wir
tragen einen Fleck an uns herum, seit in Deutschland solches, feig und ehrfurchtslos, möglich wurde."
Über einen anderen Gegner, den Schriftsteller Konrad Heiden, ärgerten sich die Nationalsozialisten
noch mehr als über Heuss. Heiden veröffentlichte 1932 ein Buch "Geschichte des Nationalsozialismus,
die Karriere einer Idee", die als gut recherchierte Kampfschrift Wirkung hatte. Der Autor, ehemals
Korrespondent und Redakteur der Frankfurter Zeitung und Mitarbeiter der Vossischen Zeitung,
emigrierte im April 1933. Vom Saarland aus setzte er den Widerstand gegen den Nationalsozialismus
fort, mit dem Buch "Geburt des Dritten Reiches" (1934) und den unter dem Pseudonym Klaus Bredow
publizierten Schriften "Hitler rast" (1934) und "Sind die Nazis Sozialisten?" (1934). Heiden war auch
der Verfasser der ersten großen und kritischen Biographie Hitlers, die 1936/37 in zwei Bänden in Zürich
erschien (zugleich mit englischen, amerikanischen und französischen Ausgaben), geschrieben aus
dem Geist des Widerstandes.
Ebenfalls im Krisenjahr 1932 veröffentlichte Ernst Niekisch eine Warnung "Hitler - ein deutsches
Verhängnis". Er war geistiger Mittelpunkt einer elitären Oppositionsbewegung mit
nationalkonservativen und nationalbolschewistischen Elementen. 1939 wurde er, nachdem seine
Zeitschrift "Widerstand - Blätter für nationalrevolutionäre Politik" schon 1934 verboten war, wegen
"Vorbereitung zum Hochverrat" zu lebenslänglicher Zuchthausstrafe verurteilt. Als Widerstandskämpfer
wurde er u. a. angeklagt, weil er das Manuskript "Das Reich der niederen Dämonen" - eine vernichtende
Kritik des "Dritten Reiches" - verfaßt hatte, das im Ausland erscheinen sollte. Im "Völkischen
Beobachter", der wichtigsten Zeitung der NSDAP, war 1938 über den Niekisch-Prozeß zu lesen: "Schon
lange vor 1933 trat er in Gegensatz zum Nationalsozialismus und bekämpfte auch nach der
bpb.de
Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
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Machtübernahme bis zu seiner Festnahme die politischen und wirtschaftlichen Ziele des
nationalsozialistischen Staates in hetzerischer Weise, wobei er die führenden Persönlichkeiten des
Dritten Reiches in übelster Form beschimpfte." Die Rote Armee befreite Niekisch 1945 aus dem
Zuchthaus Brandenburg.
Warnungen vor dem Krieg
Die NSDAP stieß auch auf Widerstand von konservativer Seite. Unter den Gegnern des
Nationalsozialismus war der Münchner Publizist Fritz Michael Gerlich einer der profiliertesten. Im
Ersten Weltkrieg gehörte er der extrem nationalistischen Gruppierung der Alldeutschen an, danach
tat er sich als Streiter gegen Marxismus und Kommunismus hervor. Nach 1923 widmete sich der
einflußreiche Journalist dem Kampf gegen Hitler und seine Anhänger. Mit Unterstützung katholischer
Kreise gab er seit 1930 die Zeitschrift "Der Gerade Weg" heraus, die, gestützt auf einen eigenen
Nachrichtendienst, Interna der NS-Bewegung veröffentlichte in der Absicht, deren kriminellen
Charakter zu enthüllen. Gerlich wurde im März 1933 von der SA festgenommen, vielfach mißhandelt
und schließlich ein Opfer der Mordaktion des 30. Juni 1934. Bereits im Juli 1932 umschrieb er die
Ziele Hitlers mit dem Satz: "Nationalsozialismus [...] bedeutet: Feindschaft mit den benachbarten
Nationen, Gewaltherrschaft im Innern, Bürgerkrieg, Völkerkrieg. Nationalsozialismus heißt: Lüge, Haß,
Brudermord und grenzenlose Not!"
Außerhalb parteipolitischer Bindungen beschwor der Schriftsteller und Bühnenautor Erich Mühsam
die Arbeiterparteien SPD und KPD zum gemeinsamen Kampf gegen Hitler. In seiner Zeitschrift "Fanal",
die er 1926 als Forum des Kampfes gegen Politik und Justiz einer nach rechts driftenden Republik
gegründet hatte, plädierte er für eine Einheitsfront aller antifaschistischen Kräfte: "Die einzige Kraft,
die imstande wäre, Hitlers Machtergreifung zu verhindern, ist der verbundene Wille der vom
Nationalsozialismus nicht verwirrten deutschen Arbeiterschaft."
Diesem ebenso frühen wie vergeblichen Appell ließ Mühsam 1929 als Warnung an SPD und KPD eine
Prophezeiung folgen, die 1933 Realität wurde. Eine schreckliche Zeit werde kommen "wenn der Tanz
des Dritten Reiches losgeht [...] wenn die standrechtlichen Erschießungen, die Pogrome,
Plünderungen, Massenverhaftungen das Recht in Deutschland darstellen". Schon in der Nacht des
Reichstagsbrandes am 28. Februar 1933 wurde Mühsam verhaftet und nach monatelangen
Mißhandlungen im KZ Oranienburg ermordet.
Auch mit juristischen Mitteln konnte das Aufkommen des Nationalsozialismus bekämpft werden. Hans
Achim Litten, ein junger Rechtsanwalt in Berlin engagierte sich, ohne Mitglied einer Partei zu sein, als
Rechtsbeistand im Rahmen der "Roten Hilfe Deutschland" für Arbeiter, die aus politischen Gründen
vor Gericht gestellt wurden. Im "Felseneck-Fall" hatten 150 SA-Männer eine Kleingartenkolonie
überfallen und dabei zwei Menschen erschlagen. Litten rekonstruierte den Tathergang und brachte
wenigstens fünf Nationalsozialisten zur Anklage.
Im November 1930 hatte der berüchtigte Berliner "SA-Sturm 33" ein Arbeiterlokal, den "Edenpalast"
überfallen und vier Männer schwer verletzt. Litten vertrat die Überfallenen als Nebenkläger, ließ Hitler
als den verantwortlichen Chef der NSDAP in den Zeugenstand laden, wo er ihn in die Enge trieb. Litten
beabsichtigte den Nachweis zu erbringen, daß die Gewaltakte der SA nicht Exzesse der unteren Ebene
waren, sondern daß die Gewalt vielmehr als Mittel zur Durchsetzung der politischen Ziele von der
Führung der NSDAP gebilligt und auch geplant war. Litten zwang Hitler zur öffentlichen Distanzierung
vom Berliner Gauleiter Goebbels.
Es war der aufsehenerregendste, aber keineswegs der einzige derartige Fall in Littens Anwaltspraxis.
Die Nationalsozialisten rächten sich grausam für das peinliche Kreuzverhör Hitlers. In der Nacht des
28. Februar 1933 wurde Litten verhaftet. Die folgenden fünf Jahre bis zu seinem Tode verbrachte er
in Zuchthäusern und Konzentrationslagern.
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Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
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Parteien - Organisationen
Die ideologische Gegenposition, aber auch parteipolitische Konkurrenz waren die treibenden Kräfte
beim Kampf der Arbeiterbewegung gegen Hitlers NSDAP vor deren Machtübernahme. Allerdings waren
viele Kräfte der Arbeiterbewegung im Kampf gegeneinander gebunden. Die KPD verunglimpfte die
Sozialdemokraten als "Sozialfaschisten" und scheute auch nicht davor zurück, sich gelegentlich mit
der NSDAP gegen die SPD und andere Parteien zu verbünden. Die SPD hingegen wollte absolut
nichts mit den moskauhörigen Kommunisten zu tun haben. Die NSDAP als gemeinsamer Gegner war
der Nutznießer. Die Feindschaft der KPD zum parlamentarisch-demokratischen System schloß die
Sozialdemokraten zwangsläufig ein. Diese wiederum waren durch ihren strikten Legalitätskurs auch
angesichts regierungsamtlicher Verfassungsbrüche wie dem "Papenstreich" gegen die Preußische
Regierung am 20. Juli 1932 an wirksamen Widerstandsaktionen (einem Generalstreik etwa) gehindert.
Die Führung der SPD war nicht bereit, den Boden des verfassungsmäßig Erlaubten zu verlassen oder
auch nur den Anschein davon zu erwecken, bis es zu spät war, weil die Feinde der Verfassung Recht
und Gesetz zerstört hatten.
Der erste nationalsozialistische Wahlerfolg im Herbst 1930 führte zur Wiederbelebung des 1924 als
Selbstschutzorganisation der demokratischen Linken gegründeten politischen Kampfverbands
"Reichsbanner Schwarz Rot Gold". Ziel des Verbandes war die Verteidigung von Republik und
Verfassung durch Propaganda und entschiedenes, organisiertes Auftreten gegenüber rechten
Extremisten. Aufmärsche und Kundgebungen bei denen Stärke gezeigt wurde, waren die Mittel, mit
denen gekämpft wurde. Offiziell überparteilich war die Organisation fast ganz von der SPD getragen;
sie stellte vier Fünftel der rund drei Millionen Mitglieder, die mit der SA, dem Bund der Frontsoldaten
"Stahlhelm" und anderen "Parteiarmeen" um die Herrschaft auf der Straße rangen. Gründer und
Bundesvorsitzender bis 1932 war der Magdeburger Oberbürgermeister Otto Hörsing, dem Karl
Höltermann, ein sozialdemokratischer Journalist folgte. Die eigentliche "Truppe" des Reichsbanners
bildeten die eine Woche nach der Reichstagswahl gegründeten "Schutzformationen (Schufo)" mit
annähernd 400000 Mitgliedern, die sich aktiv an den bürgerkriegsartigen Kämpfen in der Endphase
der Weimarer Republik beteiligten. Sie traten zur Verteidigung der Demokratie gegen Extremisten und
Terroristen von rechts und links an.
Nach dem "Papenstreich" verfiel auch das Reichsbanner zunehmend in Resignation. Gegen die
Koalition der bürgerlichen Rechten mit Hitler war im Dezember 1931 die "Eiserne Front" als "Wall von
Menschenleibern gegen die faschistische Gefahr" gegründet worden. Geführt von Höltermann sollten
sich die Kräfte von SPD, Freien Gewerkschaften, Reichsbanner und Arbeitersportlern in einem
republikanischen Bündnis vereinigen. Es schlossen sich nur noch Organisationen der linksliberalen
Deutschen Demokratischen Partei (die sich seit 1930 Staatspartei nannte) an. Den Kern der "Eisernen
Front" bildeten die Einheiten der Schufo. Entschlußlosigkeit der Führung verhinderten Aktionen des
Reichsbanners bzw. der "Eisernen Front" gegen die Machtübernahme Hitlers. Solche
Widerstandsaktionen waren bis ins Frühjahr 1933 hinein von vielen Mitgliedern gefordert worden, die
kein Verständnis dafür hatten, daß sie nicht mit einem Generalstreik oder ähnlichen Aktionen für die
Republik kämpfen durften. Ihre Führung scheute den Vorwurf ungesetzlicher Handlungen mehr als
alles andere. Allerdings zögerte sie nicht nur aus Legalitätsdenken, sondern auch wegen des
Blutvergießens, das unvermeidlich gewesen wäre beim Zusammenstoß mit der SA und anderen
rechten Bürgerkriegstruppen.
In der SPD gab es eine Gruppe junger Reichstagsabgeordneter, die der Parteiführung kritisch
gegenüberstanden und kämpferischer für die Verteidigung der Republik eintraten. Sie wurden "Militante
Sozialisten" genannt; zu ihnen gehörten u. a. Carlo Mierendorff, Theodor Haubauch und Kurt
Schumacher, der nach 1945 Vorsitzender der Partei wurde. Nach einer Attacke auf Goebbels und die
NSDAP in einer Reichstagsrede am 23. Februar 1932 war Schumacher schlagartig bekannt geworden.
Er vermehrte aber auch um ein beträchtliches den Zorn der Nationalsozialisten, den er sich schon als
württembergischer Reichsbannerführer zugezogen hatte. Fast die ganze Zeit der NS-Herrschaft war
er deshalb in KZ-Haft. Im Reichstag hatte er im Februar 1932 der NSDAP entgegengeschleudert, das
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Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
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deutsche Volk werde Jahrzehnte brauchen, "um wieder moralisch und intellektuell von den Wunden
zu gesunden, die ihm diese Art Agitation geschlagen hat".
Seine vollkommene Verachtung faßte er in den Worten zusammen: "Wenn wir irgend etwas beim
Nationalsozialismus anerkennen, dann ist es die Tatsache, daß ihm zum erstenmal in der deutschen
Politik die restlose Mobilisierung der menschlichen Dummheit gelungen ist." Aber gleichweit entfernt
war seine Position von den Kommunisten. Er hatte sie Ende März 1930 in einem Referat bei der
Württembergischen Gaukonferenz des "Reichsbanners Schwarz Rot Gold" "rotlackierte
Doppelausgaben der Nationalsozialisten" genannt und verkündet: "Beiden ist gemeinsam der Haß
gegen die Demokratie und Vorliebe für die Gewalt."
Auszug aus:
Informationen zur politischen Bildung (Heft 243) - Der Kampf gegen den Nationalsozialismus
vor 1933
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Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
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NS-Staat
6.4.2005
Der Nationalsozialismus war weit mehr als eine Partei - er verstand sich als Weltanschauung, die auch
den letzten Winkel des öffentlichen und privaten Lebens gestalten und kontrollieren wollte.
Systematisch wurde Deutschland in einen "Führerstaat" umgebaut, andere Parteien verboten, die
Gewerkschaften aufgelöst, Regimekritiker verfolgt, die Justiz zu einem Anhängsel der Diktatur
gemacht. Partei und Staat waren nicht mehr zu unterscheiden, Hitler faktischer Alleinherrscher.
Massenorganisationen und Propaganda sollten den Rückhalt der Nazi-Herrschaft in der Gesellschaft
gewähren. Gleichzeitig setzte die Entrechtung und Verfolgung der jüdischen Bürger ein.
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Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
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Die Zeit des Nationalsozialismus
Von Michael Kißener
15.8.2008
Michael Kißener, Jahrgang 1960, ist Professor für Zeitgeschichte an der Universität in Mainz. Seine Forschungsschwerpunkte sind
europäische Rechtsgeschichte, Nationalsozialismus und Widerstand, regionale Zeitgeschichte.
Notverordnungen, Abschaffung elementarer Grundrechte, Zerschlagung des Föderalismus:
Hitler verwandelte Deutschland in eine menschenverachtende Diktatur. Fassungslos meldete
der französische Botschafter im April 1933 nach Paris: "Die deutsche Demokratie hat nichts
retten können, nicht einmal ihr Gesicht."
Am 1. September 1948 versammelten sich in Bonn Abgeordnete zum Parlamentarischen Rat, denen
die Schrecken der gerade erst überwundenen nationalsozialistischen Diktatur noch deutlich vor Augen
standen. Mit Hilfe der neuen Verfassung wollten sie Vorsorge dafür treffen, dass nicht noch einmal wie
1933 ein Rechts- und Verfassungsstaat durch verbrecherische Politiker scheinbar legal in eine Diktatur
umgewandelt werden konnte.
Am 30. Januar 1933 war der "Führer" der "Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei" (NSDAP),
Adolf Hitler, von dem greisen Reichspräsidenten Paul von Hindenburg zum Reichskanzler ernannt
worden. Das war nicht zwingend gewesen, sondern das Werk einer intriganten konservativnationalistisch gesinnten Clique, die das Staatsoberhaupt von der Notwendigkeit überzeugen konnte,
mit einer autoritären Regierung unter Adolf Hitler eine Lösung der Krise der Weimarer Republik zu
versuchen. Sie glaubten, den Führer der NSDAP "einrahmen", ja ihren Zielen dienstbar machen zu
können, mussten jedoch bald einsehen, dass sie dem skrupellosen Instinktpolitiker mit gleichsam
charismatischer Ausstrahlung nicht gewachsen waren. Denn schon während der Kabinettsbildung
forderte Hitler die Auflösung des Reichstages und Neuwahlen. Die deutschnationalen Koalitionspartner
akzeptierten widerwillig, um nicht alles in letzter Minute zu gefährden. Hitler hoffte, so eine
parlamentarische Mehrheit zu erlangen, die ihm die immer schon angestrebte Zerschlagung der
Demokratie erlaubte. Zugleich wusste er, dass ihm die Parlamentsauflösung die Möglichkeit eröffnete,
sieben Wochen lang mit Notverordnungen zu regieren.
Die Reichstagswahlen vom März 1933
Die Wahlkampfzeit bis zum 5. März 1933 nutzten seine als Innenminister im Reich und in Preußen
amtierenden Gefolgsmänner Wilhelm Frick und Hermann Göring sowie der Propagandaspezialist
Joseph Goebbels denn auch, um mit staatlich sanktioniertem Straßenterror die politischen Gegner
einzuschüchtern und die Wähler mit der Verheißung einer besseren Zukunft zu verführen. Flankierend
dazu wurde bereits am 4. Februar eine "Verordnung zum Schutz des deutschen Volkes" erlassen.
Bereits diese ermöglichte der Regierung unter dem Vorwand, Gefahr abzuwehren, Zeitungen und
Versammlungen zu verbieten sowie öffentliche Kritik zu unterdrücken. In der weit verbreiteten Furcht
vor einem kommunistischen Umsturzversuch und angesichts so vieler früherer Notverordnungen,
fanden viele das nicht einmal anstößig - ja der schockierende Brand des Reichstages am 27. Februar
schien die Berechtigung für ein solches Vorgehen geradezu zu belegen. Bis heute ist umstritten, wer
der Brandstifter war. Eines ist in jedem Fall sicher: die neuen Machthaber wussten die Lage
instinktsicher auszunutzen und versetzten bereits am Folgetag mit der Notverordnung "zum Schutz
von Volk und Staat", die gleichsam das "Grundgesetz" des so genannten Dritten Reiches werden
sollte, Deutschland in den permanenten Ausnahmezustand. Elementare Grundrechte wurden durch
sie bis auf weiteres suspendiert, die Selbstständigkeit der Länder drastisch eingeschränkt.
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Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
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Vor diesem Hintergrund war es fast erstaunlich, dass die Wahlen vom 5. März 1933 nicht die erwartete
Mehrheit für die NSDAP brachten: nur 43,9 Prozent der Deutschen stimmten bei einer Wahlbeteiligung
von 88,7 Prozent für die Partei Hitlers. Zusammen mit den konservativen Bündnispartnern reichte das
aber für die Fortsetzung der Regierung.
Das "Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich" Ermächtigungsgesetz
Anfang März verfügte Hitler daher über eine ausgedehnte Exekutivmacht. Zur Errichtung der Diktatur
bedurfte es aber vor allem noch des Zugriffsrechts auf die Gesetzgebung. Am 21. März wurde der neu
gewählte Reichstag feierlich in der Potsdamer Garnisonskirche eröffnet: Hitler nutzte diese
Gelegenheit, um sich in Begleitung des Reichspräsidenten propagandaträchtig als aufrichtiger
Staatsmann zu zeigen und in die preußische Tradition zu stellen. Kaum war die Rührkomödie vorbei,
forderte er vom Reichstag angesichts der angeblichen Notlage nichts weniger als die Selbstaufgabe.
Für vier Jahre wollte er das Recht haben, ohne Hinzuziehung des Parlaments selbst Gesetze erlassen
zu können, sogar verfassungswidrige. Allein die Sozialdemokraten lehnten diese Zumutung ab, die
bei der Abstimmung wichtige Zentrumspartei zerrieb sich gleichsam in einer Diskussion um den rechten
Weg: Sollte man zustimmen oder das Risiko eines andernfalls angekündigten Bürgerkrieges eingehen?
Frei waren die Abgeordneten bei dieser Entscheidung ohnehin nicht mehr. Schon auf dem Weg zur
Krolloper, dem Ersatz-Plenarsaal, machten drohende SA- und SS-Leute jedem klar, dass sie Gewalt
anwenden würden, wenn das Abstimmungsergebnis nicht in ihrem Sinn ausfallen würde. Schließlich
stimmte das Zentrum am 23. März 1933 dem "Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich",
dem so genannten Ermächtigungsgesetz, zu - und manch ein Reichstagsabgeordneter der
Oppositionsparteien war froh, dass er lebend den Tagungssaal verlassen konnte.
Ende des Föderalismus und Gleichschaltung
Immerhin hatten die Nationalsozialisten in den meisten Ländern noch keine parlamentarischen
Mehrheiten. Doch auch der eher schwache Föderalismus der Weimarer Jahre bot in dieser Situation
kaum Schutz für die Freiheit. Kurzerhand wurde nach den Wahlen vom 5. März behauptet, dass in
den Ländern die öffentliche Sicherheit nicht mehr gewährleistet sei. Deshalb sandte die
Reichsregierung Reichskommissare, die zusammen mit der SA die Landesregierungen zu verdrängen
suchten. Rechtsverwahrung und Klage beim Staatsgerichtshof in Leipzig, wie sie etwa die badische
Landesregierung gegen dieses gewaltsame, verfassungswidrige Vorgehen noch am 9. März 1933
beschloss, blieben praktisch ohne Wirkung, zumal das Gericht ohnehin nur mit schwachen
Kompetenzen ausgestattet war.
Denn bereits am 31. März, eine Woche nach dem "Ermächtigungsgesetz", verlangte schon ein
"Vorläufiges Gesetz zur Gleichschaltung der Länder mit dem Reich" die Neubildung der Länder- und
Kommunalparlamente entsprechend dem Ergebnis der Wahlen vom 5. März. Weitere gesetzliche
Regelungen in den folgenden Monaten erledigten die Länderparlamente und stuften die Länder zu
reinen Mittelbehörden des Reiches herab. Mit der offiziellen Auflösung des Reichsrates am 14. Februar
1934 wurde schließlich der zentralistisch organisierte Führerstaat etabliert.
So wenig wie die Verfassungsinstitutionen es vermochten, sich der rücksichtslosen Aktionen der
Hitlerregierung zu erwehren, so wenig stellten traditionell starke gesellschaftliche Institutionen wie
Gewerkschaften, Unternehmer, Parteien, Militär oder Kirchen jetzt noch einen Damm gegen den
Ansturm der braunen Machthaber dar. Die Gewerkschaften etwa wurden am 2. Mai 1933, kurz nach
der gemeinsamen Feier des "Tages der Arbeit", durch Überfallkommandos ausgeschaltet und ihre
leitenden Funktionäre eingesperrt. Eine Mischung aus Verlockung, Furcht, Gefügigkeit, Resignation
und Selbstgleichschaltung, gepaart mit der skrupellos-gewaltsamen Überrumplung durch die
Regierung brach in den nächsten Wochen jede potentielle Widerstandskraft. So existierte Ende Juli
1933 nur noch die NSDAP als einzig erlaubte Partei, die Reichswehr hatte sich ebenso wie die
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Unternehmer von den politischen Angeboten Hitlers einfangen lassen, die evangelische Kirche war
gespalten in Hitleranhänger und Glaubenstreue, die katholische Kirche versuchte durch ein
Reichskonkordat zumindest ihre Rechte im neuen Staat zu sichern.
Was schließlich blieb, war die schwächste der drei Staatsgewalten, die Justiz. Sie wurde gleichsam
nebenbei entmachtet, als der Führer der NSDAP daran ging, interne Konkurrenten um die Macht
auszuschalten. Rücksichtslos ließ er Ende Juni 1934 seinen Duzfreund Ernst Röhm, den Führer der
SA, der eine zweite, soziale Revolution forderte und für seine SA eine angemessene Stellung im neuen
Staat verlangte, mitsamt seiner Führungsclique ermorden. In einer langen Reichstagsrede rechtfertigte
er seinen Mordauftrag als "Staatsnotwehr", die er sich als "oberster Gerichtsherr" auch in Zukunft
vorbehielt.
"Die deutsche Demokratie hat nichts retten können."
Am 2. August 1934 starb Reichspräsident v. Hindenburg. Hitler übernahm auch dessen Funktionen
und war nun der unumschränkte Herrscher im "Dritten Reich". Sein gefügiger Reichswehrministers
von Blomberg ließ die Truppe sogleich "auf den Führer des Deutschen Reichs und Volkes" persönlich
vereidigen. Damit war die Grundlage geschaffen für die Umsetzung der politischen Kernziele des
Nationalsozialismus: den Aufbau einer totalitär gleichgeschalteten Volksgemeinschaft, die fähig war,
einen modernen, totalen Vernichtungskrieg zu führen, an dessen Ende die völlige Auslöschung der
europäischen Juden stehen sollte.
Fassungslos hatten ausländische Beobachter diese rasante "Machtübernahme" der
Nationalsozialisten beobachtet. Der französische Botschafter in Berlin, André François-Poncet, etwa
meldete am 5. April 1933 nach Paris: " Die Begründung der Diktatur wird weder Helden noch Märtyrer
hervorgebracht haben. Deutschland wird sich in die Knechtschaft gestürzt haben, ohne eine Klage zu
erheben und ohne einen Protest laut werden zu lassen. Die deutsche Demokratie hat nichts retten
können, nicht einmal ihr Gesicht".
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Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft
Von Hans-Ulrich Thamer
6.4.2005
geb. 1943, ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Münster. Seine Forschungsschwerpunkte sind der
Nationalsozialismus und der europäische Faschismus.
Veröffentlichungen u.a.:Verführung und Gewalt. Deutschland 1933-1945, (Die Deutschen und ihre Nation, Bd. 5), Berlin 1986; Der
Nationalsozialismus, Stuttgart 2002.
Nach der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 zeigte sich, dass die
Nationalsozialisten das Prinzip der parlamentarischen Regierung generell ablehnten. Den
Reichstagsbrand nutzten sie, um sich mit dem Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933 die
volle gesetzgebende Gewalt anzueignen.
Einleitung
Es ist fast ein Traum", notierte Joseph Goebbels am 30. Januar 1933 in seinem Tagebuch. "Die
Wilhelmstraße (Sitz der Reichskanzlei und verschiedener Ministerien, Anm. d. Red.) gehört uns. Der
Führer arbeitet bereits in der Reichskanzlei." Auch wenn der neue Reichskanzler Adolf Hitler nach der
spektakulären Machtübertragung alles tat, um den Eindruck eines honorigen Staatsmannes zu
erwecken, die Macht im Regierungsviertel gehörte den Nationalsozialisten noch keineswegs. Das Bild
von der "nationalsozialistischen Machtergreifung", das von der NS-Propaganda sofort in die Welt
gesetzt wurde und am Abend des 30. Januar mit einem Fackelzug durch das Brandenburger Tor
wirkungsvoll unterstrichen wurde, war zunächst ebenso eine Propagandaformel wie die Behauptung,
hier vollzöge sich eine "legale Revolution".
Regierungsübertragung
Die vorgebliche nationalsozialistische Machtergreifung war zunächst und vor allem eine
Machtübertragung, bis die Nationalsozialisten in einer Verbindung von staatlichen Eingriffen von oben
und der Parteirevolution von unten stufenweise die politische Macht an sich rissen. Die These von
der "legalen Revolution" versuchte die Erwartungen vor allem des bürgerlichen Publikums und der
traditionellen Machtgruppen zu befriedigen und die sofort einsetzenden Terror- und
Repressionsmaßnahmen zu vertuschen.
Zugleich wurde damit der politischen Machtübernahme eine Legalität unterstellt, die schon längst
unterminiert war. Denn nicht als Führer einer parlamentarisch tragfähigen Mehrheit kam Hitler an die
Regierung, sondern durch die "autoritären Einbruchstellen der Weimarer Verfassung" (Bracher). Diese
waren schon zuvor unter Ausnutzung des Notverordnungsartikels 48 von den Präsidialregierungen
geöffnet worden. Zu den Illusionen gehörte schließlich das Konzept der Zähmung, das von
konservativen Machtgruppen seit 1930 vertreten wurde. Danach sollten die vorgeblich "positiven
" Elemente der NSDAP an das konservative Establishment gebunden werden. Das war auch der
Grundgedanke, der hinter der Machtübertragung an Hitler stand und der weiterhin für die politischen
Verbündeten Hitlers galt.
Eigentlich war diesem Konzept schon am Tage der Regierungsübertragung der Boden dadurch
entzogen, daß Hitler sich mit der Forderung nach sofortigen Neuwahlen durchgesetzt hatte. Denn
damit hoffte er, im Machtkampf mit den deutschnationalen Bündnispartnern, die keine Massenbasis
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besaßen, die nationalsozialistischen Stärken ausspielen zu können, nämlich die Fähigkeit zur
Massenmobilisierung. Daß sich die nationalsozialistische Massenbewegung dabei nicht nur auf die
Inszenierung einer gewaltigen Propagandakampagne beschränken würde, sondern daß es dabei auch
zu einem Ausbruch politischer Gewalt kommen würde, war angesichts der bisherigen
Bürgerkriegspraktiken vor allem der SA nicht überraschend.
Zudem bot sich durch eine solche Mobilisierungskampagne die Chance, von den parteiinternen
Konflikten mit einzelnen SA-Abteilungen abzulenken und den ungeduldigen Aktivisten in Partei und
SA eine politische Betätigung zu bieten. Darum setzten die Nationalsozialisten bald nach der
Machtübertragung an die Regierung Hitler nicht nur alle staatlichen Mittel für ihre Wahlpropaganda
ein, sondern auch SA-Stürme, die überall im Lande mit ihren nun staatlich geduldeten Rache- und
Einschüchterungsfeldzügen vor allem gegen die politischen Gegner von links begannen. Parteibüros
und Zeitungsredaktionen von KPD und SPD wurden gestürmt und vernichtet, sozialdemokratische
und kommunistische Politiker niedergeschrien, gejagt, mißhandelt und schließlich in Keller und
Lagerhallen, sogenannte wilde "Konzentrationslager" verschleppt.
Diese paradoxe Mischung von scheinbarer Legalität und gleichzeitigem Terror, von ungezügelter
Massenmobilisierung und der Fortsetzung autoritärer Regierung, diese Verbindung von Tradition und
Revolution, von Rhetorik und Gewalt, bei denen man sich wohltönender Volksgemeinschaftsparolen
bediente und zugleich die politischen Gegner unbarmherzig verfolgte, gehört zu den wesentlichen
Bestandteilen der Machteroberung einer modernen Diktatur. Dadurch ist seither unser Bild von
totalitären Herrschaftstechniken entscheidend geprägt.
Formierung der Diktatur
Kaum etwas deutete am Morgen des 30. Januar 1933 darauf hin, daß mit der Ernennung Hitlers zum
Kanzler des Deutschen Reiches und der Vereidigung der neuen Regierung tatsächlich ein neues
Kapitel in der deutschen Geschichte aufgeschlagen wurde. Vizekanzler Franz von Papen war zufrieden
mit seinem politischen Geschick und vertraute auf die Macht des Reichspräsidenten. "Was wollen Sie
denn? Ich habe das Vertrauen Hindenburgs", antwortete er auf die skeptische Frage eines
konservativen Kritikers. Auch Reichspräsident Hindenburg war zufrieden, sah er doch im neuen
Kabinett vor allem vertraute Gesichter, den Reichsaußenminister Konstantin von Neurath,
Reichsfinanzminister Lutz von Schwerin von Krosigk und Reichsjustizminister Franz Gürtner. Als der
eigentliche starke Mann im neuen Kabinett galt fast allen Beobachtern der neue "Wirtschaftsdiktator
", der Parteiführer der DNVP Alfred Hugenberg, der Wirtschafts- und Landwirtschaftsministerium
gleichzeitig übernahm und kommissarisch auch für die entsprechenden preußischen Ministerien
verantwortlich war. Um das Konzept der Einrahmung zu vervollständigen, wurde der Führer des "
Stahlhelms" Franz Seldte zum Reichsarbeitsminister ernannt. Zudem war vor dem übrigen Kabinett
bereits der künftige Reichswehrminister Generalleutnant Werner von Blomberg vereidigt worden, um
die Sonderstellung der Reichswehr zu unterstreichen. Als weitere Bastion gegen die Nationalsozialisten
wurde Vizekanzler von Papen zum kommissarischen preußischen Ministerpräsidenten ernannt.
Unterschätzung der NSDAP
Die wenigen Nationalsozialisten schienen tatsächlich von Repräsentanten der alten Machtgruppen
eingerahmt zu sein: Neben dem neuen Reichskanzler Adolf Hitler saßen lediglich Wilhelm Frick als
Reichsinnenminister und Hermann Göring als Minister ohne Geschäftsbereich und kommissarischer
preußischer Innenminister im Kabinett. Hinzu kam, daß keines der Kabinettsmitglieder der NSDAP
über eine größere Regierungs- und Verwaltungserfahrung oder über eine längere parlamentarische
Erfahrung verfügte, wenn man von der kurzen Amtszeit Görings als Reichstagspräsident (seit den
Juliwahlen 1932) einmal absah. Hitler hatte zuvor den Reichstag nie betreten, und seine Unterführer
hatten die Parlamente in Reich und Ländern nur als Bühne für ihr agitatorisches Auftreten benutzt.
Waren sich die Mehrheit der politischen Verbündeten und auch der Gegner darum einig, daß die
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Nationalsozialisten im für sie ungewohnten Regierungsgeschäft bald politisch abwirtschaften würden,
so sollte sich bald das Gegenteil herausstellen. Im April 1933 berichtete der französische Botschafter
André François-Ponçet nach Paris: "Als am 30. Januar das Kabinett Hitler/Papen an die Macht kam,
versicherte man, daß in der Regierung die Deutschnationalen [...] Hitler und seinen Mitkämpfern Paroli
bieten würden, daß die Nationalsozialisten mit der Feindschaft der Arbeiterklasse zu rechnen haben
und daß schließlich die Katholiken der Zentrumspartei die Legalität verteidigen würden. Sechs Wochen
später muß man feststellen, daß all diese Dämme, die die Flut der Hitler-Bewegung zurückhalten
sollten, von der ersten Welle hinweggespült wurden."
Daß die Dämme nicht hielten, hatte viele Gründe: Sicherlich war einer davon die Dynamik der
nationalsozialistischen Bewegung, die nun endlich ihre Chance zur Abrechnung mit dem politischen
Gegner, zu Aufstieg und Macht gekommen sah. Auch die propagandistischen Verführungskünste der
Nationalsozialisten zusammen mit den nationalen Erlösungs- und Veränderungserwartungen des
Publikums spielten eine Rolle. Ebenso entscheidend war auch die Schwäche der Dämme in Politik,
Verwaltung und Gesellschaft selbst, die äußerlich zwar nach wie vor mächtig wirkten, innerlich schon
längst unterminiert waren und an Selbstvertrauen verloren hatten.
Die Fackelzüge und Demonstrationsmärsche, die in Berlin von den Braunhemden der NSDAP und
kleineren Stahlhelm-Gruppen zur Reichskanzlei und zum Reichspräsidentenpalais geführt und in
vielen Städten und Dörfern imitiert wurden, sollten im Selbstverständnis der Nationalsozialisten
Ausdruck der "nationalen Erhebung" sein. Skeptischen Intellektuellen wie Harry Graf Kessler galten
sie noch als "ein wahrer Karneval". Andere, wie der Journalist Jochen Klepper, sahen mit Blick auf die
ersten Entlassungen beim Berliner Rundfunk voller Sorge in die eigene Zukunft. Die Angst vor
Entlassung und Ausgrenzung erfaßte beispielsweise auch den jüdischen Literaturwissenschaftler
Viktor Klemperer in Dresden, der in seinen Tagebüchern das Leben unter nationalsozialistischer
Herrschaft detailliert schildert. Doch auch er hoffte wie viele andere, daß es mit dem
nationalsozialistischen "Spuk" bald ein Ende haben werde. Zu unbedarft erschien die
nationalsozialistische Protestbewegung. Die intellektuelle Dürftigkeit ihres Parteiprogrmes und ihrer
Führungsclique, deren geringe politische Erfahrung, die Flucht in den nationalen Mythos und den
Kitsch der Parteisymbolik - all das konnte man belächeln und als Beleg für politische Unreife nehmen.
Heute wissen wir, daß vom Mythos des "Retters" und "Führers" Massenwirksamkeit ausging und daß
die dumpfe Gewalt der SA, die der Publizist und Pazifist Carl von Ossietzky anfangs noch mit dem
Treiben von "wildgewordenen Skatbrüdern" verglichen hatte, Instrument einer Masseneroberungspolitik
war.
Reaktionen der Arbeiterbewegung
Auch die politische Linke, der Hitler im Wahlkampf den Kampf angesagt hatte, sah den "Trommler" in
der Abhängigkeit von Großgrundbesitzern und Schwerindustriellen und war überzeugt, daß sich Hitler
und die Seinen in dieser Umklammerung bald verbrauchen würden. SPD und KPD waren vom 30.
Januar gleichermaßen überrascht und reagierten mit überkommenen Rezepten und Erklärungen.
Politisch waren sie schon längst zu sehr in der Defensive, um sich noch zu einer starken Gegenwehr
formieren zu können.
Die KPD hielt an ihrer starren dogmatischen "Sozialfaschismus-Theorie" fest. Nach dieser Theorie
galt die reformistische SPD-Führung als der eigentliche politische Gegner, da sie als Hauptstütze der
wirtschaftlichen und politischen Eliten in deren Kampf gegen die "revolutionäre Arbeiterbewegung
" fungiere und darum gefährlicher sei als der vermeintlich kurzlebige Nationalsozialismus. Der ganze
Widersinn einer solchen Propagandathese mußte sich in dem Moment erweisen, als nun in Gestalt
der nationalsozialistisch geführten Reichsregierung eine wirklich faschistische Gefahr drohte, von der
auch die SPD betroffen war. Wirkungslos blieben aber auch Aufrufe von sozialdemokratischen
Gewerkschaften und der "Eisernen Front" (ein 1931 geschlossenes Bündnis des sozialdemokratischen
Wehrverbandes "Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold" mit Gewerkschaften und Arbeitersportvereinen
zum Schutz der Republik). SPD und Freie Gewerkschaften waren durch den "Preußenschlag" Papens
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vom 20. Juli 1932 offenbar schon in ihrem Nerv getroffen. Sie hielten weiterhin an ihrem strikten
Legalitätskurs fest, um keinen Vorwand für ein Parteiverbot zu liefern. Im übrigen tröstete sich die SPD
damit, daß man schließlich auch schon das Sozialistengesetz von Bismarck überstanden habe und
daß die Regierung Hitler sehr viel eher abwirtschaften werde.
Daß die einstmals mächtigste Arbeiterbewegung der Welt auch durch die Massenarbeitslosigkeit der
Weltwirtschaftskrise zutiefst verunsichert war und kaum zu einem Generalstreik zu bewegen sein
würde, war den Gewerkschaftsführern nach dem 30. Januar 1933 ebenso bewußt wie zuvor am 20.
Juli 1932 ("Preußenschlag"). Es fehle, stellte der Herausgeber der Zeitschrift "Weltbühne" Carl von
Ossietzky resigniert fest, den "Anhängern der Republik an dem notwendigen Lebenswillen".
Strategie der Machteroberung
Unsicherheit und ein unbestimmtes Bedürfnis nach Veränderung prägte die Stimmung der
Bevölkerung. Man war von der erdrückenden Last des Alltags zu sehr beladen, um sich für politische
Visionen zu begeistern. Auch die Parole von der "Nationalen Erhebung", mit der die NSDAP überall
agitierte, blieb angesichts der Not ohne Wirkung. Für die Republik von Weimar wollte sich aber erst
recht niemand einsetzen. Allerdings war die Anhängerschaft der NSDAP im Januar 1933 noch in der
Minderheit. Schließlich hatte die NSDAP trotz ihrer gewaltigen Wahlerfolge vom Sommer 1932 zu
keinem Zeitpunkt in freien Wahlen die Mehrheit der Deutschen hinter sich bringen können. Selbst die
nicht mehr freien Wahlen zum Reichstag vom März 1933, die unter massiver Behinderung durch SATrupps und inmitten von Verfolgungsaktionen gegen die politische Linke stattfanden, brachten diese
Mehrheit nicht. Die Zeit der massenhaften Parteieintritte kam erst nach dem Wahltag. Zählte die NSDAP
im Januar 1933 noch 850000 Mitglieder, so waren es zwei Jahre später 2,5 Millionen. Was die
Nationalsozialisten in ihrer Propaganda als Revolution bezeichneten, wurde von den Zeitgenossen
meist als gleitender Übergang wahrgenommen und vollzog sich im Rückblick als stufenförmiger
Vorgang. Basis für Hitlers Weg zur Diktatur war seine Stellung als Reichskanzler einer
Präsidialregierung. Das bot den Vorteil, für den politischen Umsturz die Machtmittel des Staates zu
besitzen. Hitler konnte sich neben der eigenen Massenbewegung auf die autoritäre Herrschaftstradition
berufen und verfügte vor allem mit dem Notverordnungsrecht über das entscheidende politische
Instrument, mit dem auch die Mitwirkung der traditionellen Eliten in Bürokratie, Diplomatie, Militär und
Wirtschaft gesichert werden konnte.
Zu welchen Zielen Hitler die Macht in einem autoritären Führerstaat nutzen wollte, das offenbarte er
in einer vertraulichen Rede vor Truppen- und Wehrkreisbefehlshabern am 3. Februar 1933. Um die "
Wiederwehrhaftmachung" des deutschen Volkes zu erreichen, sollten Parlamentarismus und
Demokratie abgeschafft werden. In dem uns überlieferten Stichwortprotokoll eines Beteiligten heißt
es dazu: "Völlige Umkehrung der gegenwärtigen Zustände in Deutschland. Keine Duldung der
Betätigung irgendeiner Gesinnung, die dem Ziel entgegensteht (Pazifismus!). Wer sich nicht bekehren
läßt, muß gebeugt werden. Ausrottung des Marxismus mit Stumpf und Stiel. [...] Todesstrafe für Landesund Volksverrat. Straffste autoritäre Staatsführung. Beseitigung des Krebsschadens der Demokratie."
Hitler als Demagoge
[]
5. Die Regierung ist zur Zeit mit dem Wahlkampf beschäftigt. In den meisten zivilisierten Ländern
würden die Reden der Nazi-Führer als bewußte Aufhetzung zu Gewalttätigkeiten angesehen werden.
Tatsächlich haben sie schon ihre Billigung für politischen Mord zum Ausdruck gebracht []
8. Hitler mag kein Staatsmann sein, aber er ist ein ungewöhnlich geschickter und kühner Demagoge
mit einem enorm feinen Gespür für das Volksempfinden. Durch das einfache Verfahren der ständigen
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Wiederholung hat er die Jugend dieses Landes überzeugt, daß die gegenwärtige Arbeitslosigkeit das
Werk der aufeinanderfolgenden Linksregierungen sei. Deutschland, so behauptet er, ist ein
Trümmerhaufen. Die Grundwahrheit aber ist, daß Deutschland 1918 ein Trümmerhaufen war und die
deutschen Linksparteien, die sogar in Versailles auf gewisse Sympathien stießen, das Gefüge des
Reiches retteten, seine Einheit bewahrten und es schließlich wieder aufbauten. []
9. Sowohl die Linksparteien als auch das Zentrum ringen mit einer schwierigen Lage, sind aber noch
nicht ernsthaft erschüttert. [
] Die Nazi-Stürme sind jetzt mit dem guten Modell einer automatischen Pistole ausgerüstet, und die
Polizei, der vom preußischen Innenminister, Herrn Severing, der Waffengebrauch nur in dringenden
Fällen der Selbstverteidigung erlaubt war, ist nun angewiesen worden, erst zu schießen und danach
zu untersuchen. []
12. [
] Ich bin ernsthaft in Sorge wegen der Aussicht, daß die Fundamente der bürgerlichen Freiheiten und
des parlamentarischen Regierungssystems in diesem Land endgültig unterminiert werden, wenn die
Wähler nicht zur Vernunft kommen oder wenn Präsident von Hindenburg Geist und Buchstaben der
Verfassung nicht mehr Achtung bezeugt, als er dies in der letzten Zeit tat. Ich erfuhr aus zuverlässiger
Quelle, daß Hindenburg dem Einwand gegenüber sehr zugänglich geworden sei, seine Haltung 1918
sei nicht ganz untadelig gewesen und daß sein Verhalten als preußischer Offizier, als er dem König
von Preußen den Rat gab, aus seinem Land zu fliehen, seiner selbst unwürdig gewesen sei und daß
er jetzt die Gelegenheit nutzen solle, durch die Wiedereinsetzung der Rechtsparteien in die Macht vor
der Geschichte Wiedergutmachung zu leisten.
Aus einem Bericht des britischen Botschafters in Berlin, Sir Horace Rumbold, an seine Regierung vom
22. Februar 1933, in: Josef und Ruth Becker (Hg.), Hitlers Machtergreifung 1933. Dokumente vom
Machtantritt Hitlers, München 1983, S. 88 ff.
Über den Weg und die politischen Mittel zu der Machteroberung aber gab es in der NS-Führung
offenkundig keine genauen Vorstellungen. Einen minutiösen Fahrplan der Gewinnung und Sicherung
der Macht besaßen die Nationalsozialisten nicht, wohl aber verfügten sie über Techniken der
Mobilisierung und Organisation von Massen, der Durchdringung und Unterwanderung von Institutionen
und Verbänden, der Freisetzung von immer neuen Energien und Aktivitäten. Und sie besaßen den
Willen zu Selbstbehauptung und Unterwerfung anderer. Kurzum alles, was sie in ihrer "Kampfzeit
" zwischen 1919 und 1933 gelernt und perfektioniert hatten, übertrugen sie auf ihre
Machteroberungspolitik. Dies führte zur ungehemmten, fast anarchischen Entladung von politischen
Machtansprüchen einzelner Parteiführer und Parteigliederungen, die nun untereinander um die
Ausweitung ihrer Macht und Einflußsphären in Ministerien, staatlicher Verwaltung und
gesellschaftlichen Verbänden stritten. Das führte zunächst zur Ablösung bisheriger Führungsgruppen
und zur Gleichschaltung von Staat und Gesellschaft, aber dann auch zu Kompetenzstreitigkeiten
zwischen den einzelnen nationalsozialistisch dominierten Ministerien und Ämtern bzw.
Parteiapparaten. Daß diese Machteroberungs- und Machterhaltungskonflikte nicht in eine Auflösung
von Staat und Verwaltung mündeten, lag an der stabilisierenden Funktion der überkommenen Machtund Verwaltungsapparate, die der elementaren Kraft der nationalsozialistischen Parteirevolution
gleichsam ein Stützkorsett anzogen.
Entscheidung für Neuwahlen
Schon in den ersten Tagen wurden Entscheidungen getroffen, die kaum noch legal zu nennen waren.
Sie griffen auf Planungen für einen Staatsnotstand durch die Regierung Papen zurück. Die Aushöhlung
liberal-demokratischer Verfassungsprinzipien war schon so weit vorangeschritten, daß sich nur noch
wenige daran störten und noch weniger bereit und entschlossen zum entschiedenen Widerstand waren.
So war sowohl die Versicherung Hitlers gegenüber Hugenberg, auch nach den Neuwahlen werde sich
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Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
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an der Zusammensetzung der Regierung nichts ändern, kaum mit dem Geist der Verfassung in
Übereinstimmung zu bringen. Genausowenig war es Papens Vorschlag in der zweiten Kabinettssitzung
vom 1. Februar, es sei "am besten, schon jetzt festzulegen, daß die kommende Wahl zum Reichstag
die letzte" sein solle und "eine Rückkehr zum parlamentarischen System für immer zu vermeiden" sei.
In diesem Sinne setzte die Regierung Hitler zunächst die Praxis der Präsidialkabinette fort. Der
Reichskanzler erwirkte vom Reichspräsidenten am 1. Februar die Auflösung des Reichstages. Die
Begründung der präsidialen Notverordnung, daß "sich die Bildung einer arbeitsfähigen Mehrheit als
nicht möglich herausgestellt" habe, war unrichtig, denn die Gespräche mit dem Zentrum über eine "
nationale Regierung" auf breiter Grundlage wurden bloß zum Schein geführt. Und Hitler tat alles, um
sie scheitern zu lassen.
Die Neuwahlen zum Reichstag wurden für den 5. März angesetzt. Damit war der zeitliche und politische
Rahmen für die erste Phase der Machtergreifung abgesteckt, die ganz im Zeichen von
Aufbruchstimmung und Massenmobilisierung einerseits, von Terror und Entrechtung andererseits
standen. Der Wahlkampf war auf den kommenden charismatischen Staatslenker ausgerichtet, auf
den "Retter" und "Erlöser", der die Ängste und Sehnsüchte der Wähler mobilisieren konnte und die
eigenen Absichten hinter einem Schwall von Mythen und traumatischen Bildern verbarg.
Schon die Regierungserklärung vom 1. Februar 1933 war auf Wahlkampf ausgerichtet. Nach außen
ganz der christlich-konservative Staatsmann, spielte Hitler in seiner Rede auf der Klaviatur der
nationalen Gefühle und sozialen Ängste. Da war vom "Verrat im November 1918" die Rede und von
den 14 Jahren der Zerrissenheit, die die Weimarer Republik beschert hätte, vom materiellen Elend
und der nationalen Erniedrigung als Folge der Politik der demokratischen Parteien und des
Kommunismus. Dessen Erwähnung als Schreckgespenst durfte bei keiner nationalsozialistischen
Selbstrechtfertigung fehlen. Dem wurde der Wille zur "nationalen Erhebung" und zur "nationalen
Volksgemeinschaft" entgegengestellt.
Als oberste Aufgabe der nationalen Regierung bezeichnete der "völkische Erlöser" die
Wiederherstellung der "geistigen und willensmäßigen Einheit unseres Volkes" und versprach, "das
Christentum als Basis unserer gesamten Moral, die Familie als Keimzelle unseres Volks- und
Staatskörpers in ihren festen Schutz zu nehmen", "über Stände und Klassen hinweg unser Volk wieder
zum Bewußtsein seiner volklichen und politischen Einheit" zu bringen und das "große Werk der
Reorganisation der Wirtschaft unseres Volkes mit zwei großen Vierjahresplänen zu lösen". Das waren
Schlagworte, die jeden Hinweis auf ein konkretes Regierungsprogramm vermieden. Dabei wurde auch
vage angedeutet, daß man sich bei diesem Werk der "Einigung" und "nationalen Wiedergeburt" über
die Verfassung hinwegsetzen werde.
Hitlers Wahlkampf wurde unter der Parole "Kampf dem Marxismus" primär gegen die beiden
Linksparteien geführt. Das entsprach nicht nur dem eigenen Selbstverständnis, sondern konnte sich
der breiten Zustimmung des bürgerlichen Deutschlands und der traditionellen Machtapparate sicher
sein. Der gleich nach der Machtübertragung an Hitler von den Kommunisten erfolgte Aufruf zu einem
Generalstreik (der kaum befolgt wurde) bot den Vorwand für die Notverordnung des
Reichspräsidenten "Zum Schutze des deutschen Volkes" vom 4. Februar.
Sie sah massive Einschränkungen der Presse- und Versammlungsfreiheit für den Fall vor, daß eine "
unmittelbare Gefahr für die öffentliche Sicherheit" drohe oder daß "Organe, Einrichtungen, Behörden
oder leitende Beamte des Staates beschimpft oder lächerlich gemacht werden". Das war so dehnbar
formuliert, daß man damit gegnerische Parteien nach Belieben mundtot machen konnte. Bis der
immerhin noch vorgesehene Beschwerdeweg beim Reichsgericht ausgeschöpft war, hatte die
Verordnung ihren politischen Zweck schon längst erfüllt. Das galt vor allem in Preußen, wo Göring die
gnadenlose Verfolgung der politischen Gegner im linken Spektrum eröffnete. Goebbels notierte voller
Bewunderung: "Göring räumt in Preußen auf mit einer herzerfrischenden Forschheit. Er hat das Zeug
dazu, ganz radikale Sachen zu machen, und auch die Nerven, um einen harten Kampf durchzustehen."
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Verfügung über Polizei und Verwaltung
Entscheidend dafür war die Verfügung über Polizei und Verwaltung und die Tatsache, daß bereits mit
dem "Preußenschlag" von Papen im Juli 1932 die demokratischen Bastionen in der preußischen
Verwaltung durch Entlassung der republiktreuen Beamtenschaft geschleift worden waren. Die
verbliebenen parlamentarischen Gegenkräfte sollten nun durch die Auflösung des Preußischen
Landtages, der Provinziallandtage und sämtlicher Kommunalvertretungen ausgeschaltet werden.
Noch bestanden in Preußen zwei Regierungen: Die Regierung Braun, deren Absetzung auch vom
Staatsgerichtshof für ungültig erklärt worden war, und die durch den Staatsstreich von Papen
eingesetzte Kommissariatsregierung, die noch immer von Papen leitete. In diese Regierung war am
30. Januar als Innenminister Hermann Göring eingetreten. Um sich der "Konkurrenz"-Regierung
endgültig zu entledigen und den Weg für Neuwahlen freizumachen, griff die Regierung Hitler zu einem
zweiten Staatsstreich in Preußen. Dies geschah mit Unterschrift des Reichspräsidenten durch die
Notverordnung "zur Herstellung geordneter Regierungsverhältnisse in Preußen", die kurzerhand alle
der Regierung Braun noch verbliebenen Befugnisse auf die Kommissariatsregierung von Papens
übertrug. Dies war glatter Rechtsbruch. Am 6. Februar wurde der Landtag in Preußen aufgelöst.
Damit war auch der Weg für Göring endgültig frei, der sich trotz der Vorrechte des ihm übergeordneten
Reichskommissars Papen durchzusetzen wußte. Wer von den Sozialdemokraten nach dem
Preußenschlag vom 20. Juli noch in Spitzenstellungen der Verwaltung verblieben war, wie etwa der
frühere sozialdemokratische Wehrminister Gustav Noske als Oberpräsident in Hannover, wurde
ebenso entlassen wie Spitzenbeamte des Zentrums oder der demokratischen Staatspartei: neben
Oberpräsidenten, Regierungspräsidenten, Landräten auch 14 Polizeipräsidenten in preußischen
Großstädten. Vor allem konservative und deutschnationale Verwaltungsbeamte, adlige Gutsbesitzer
und Industriemanager rückten nach. Aus Rücksicht auf den deutschnationalen Partner (und weil die
Nationalsozialisten selbst kaum über ein fachlich einigermaßen qualifiziertes Personal verfügten),
mußte Göring mit der Ernennung von Nationalsozialisten noch zurückhaltend sein.
Mit den personellen Umbesetzungen in der preußischen Innen- und Polizeiverwaltung fand eine
folgenreiche organisatorische Veränderung statt. Unter dem neuen Berliner Polizeipräsidenten Magnus
von Levetzow, einem Führer völkisch-nationaler Wehrverbände, wurde die Politische Polizei bald aus
dem Verwaltungsgang herausgelöst und zum Geheimen Staatspolizeiamt (Gestapa) verselbständigt.
Nun ließ Göring die Maske des jovialen Biedermannes fallen, mit der er vor allem das bürgerlichnationale Publikum zu beschwichtigen verstand. Er verkündete in aller Öffentlichkeit: "Volksgenossen,
meine Maßnahmen werden nicht angekränkelt sein durch irgendwelche juristische Bedenken. Meine
Maßnahmen werden nicht angekränkelt sein durch irgendeine Bürokratie. Hier habe ich keine
Gerechtigkeit zu üben, hier habe ich nur zu vernichten und auszurotten, weiter nichts! [...] Einen solchen
Kampf führe ich nicht mit polizeilichen Machtmitteln. Das mag ein bürgerlicher Staat getan haben.
Gewiß, ich werde die staatlichen und polizeilichen Machtmittel bis zum äußersten auch dazu benutzen,
meine Herren Kommunisten, damit Sie hier nicht falsche Schlüsse ziehen, aber den Todeskampf, in
dem ich Euch die Faust in den Nacken setze, führe ich mit denen da unten, das sind die Braunhemden."
Die Polizeibeamten hatte er schon am 17. Februar 1933 angewiesen, mit den "nationalen Verbänden
" (SA, SS und Stahlhelm), "in deren Kreisen die wichtigsten staatserhaltenden Kräfte vertreten sind,
das beste Einvernehmen herzustellen". Zugleich hatte er hinzugefügt, "Polizeibeamte, die in Ausübung
dieser Pflichten (gegen staatsfeindliche Organisationen) von der Schußwaffe Gebrauch machen,
werden ohne Rücksicht auf die Folgen des Schußwaffengebrauchs von mir gedeckt. Das hatte die
praktische Wirkung eines Schießbefehls und war die unverhohlene Aufforderung zu politischer Willkür.
Um den Druck auf die Polizeibeamten noch zu verstärken, wurden die regulären Einheiten mit Erlaß
vom 22. Februar noch durch SA- und SS-Einheiten als Hilfspolizei zur Abwehr "zunehmender
Ausschreitungen von linksradikaler, insbesondere kommunistischer Seite" unterstützt.
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Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
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Zwar mußten nach einem Verteilungsschlüssel von den insgesamt 50000 eingestellten Hilfspolizisten
auch ein Fünftel vom "Stahlhelm" kommen, doch hatte Göring zur Kontrolle seiner Erlasse zugleich
einige "Kommissare zur besonderen Verfügung" eingestellt, die meistens SS-Führer waren, aber keine
staatliche Funktion besaßen. Das bedeutete, daß Parteifunktionäre und somit Privatpersonen nun den
Zugriff auf die staatliche Verwaltung erhielten.
Förderung der nationalen Bewegung
Erlaß des Preußischen Innenministers Hermann Göring vom 17. Februar 1933 (Schießerlaß)
Ich glaube, mir einen besonderen Hinweis darauf ersparen zu können, daß die Polizei auch nur den
Anschein einer feindseligen Haltung oder gar den Eindruck einer Verfolgung gegenüber nationalen
Verbänden (SA, SS und Stahlhelm) und nationalen Parteien unter allen Umständen zu vermeiden hat.
Ich erwarte vielmehr von sämtlichen Polizeibehörden, daß sie zu den genannten Organisationen, in
deren Kreisen die wichtigsten staatsaufbauenden Kräfte enthalten sind, das beste Einvernehmen
herstellen und unterhalten. Darüber hinaus sind jede Betätigung für nationale Zwecke und die nationale
Propaganda mit allen Kräften zu unterstützen. Von polizeilichen Beschränkungen und Auflagen darf
insoweit nur in dringendsten Fällen Gebrauch gemacht werden.
Dafür ist dem Treiben staatsfeindlicher Organisationen mit den schärfsten Mitteln entgegenzutreten.
Gegen kommunistische Terrorakte und Überfälle ist mit aller Strenge vorzugehen und, wenn nötig,
rücksichtslos von der Waffe Gebrauch zu machen. Polizeibeamte, die in Ausübung dieser Pflichten
von der Schußwaffe Gebrauch machen, werden ohne Rücksicht auf die Folgen des
Schußwaffengebrauchs von mir gedeckt; wer hingegen in falscher Rücksichtsnahme versagt, hat
dienststrafrechtliche Folgen zu gewärtigen.
Der Schutz der immer wieder in ihrer Betätigung eingeengten nationalen Bevölkerung erfordert die
schärfste Handhabung der gesetzlichen Bestimmungen gegen verbotene Demonstrationen,
unerlaubte Versammlungen, Plünderungen, Aufforderung zum Hoch- und Landesverrat, Massenstreik,
Aufruhr, Pressedelikte und das sonstige strafbare Treiben der Ordnungsstörer.
Jeder Beamte hat sich stets vor Augen zu halten, daß die Unterlassung einer Maßnahme schwerer
wiegt als begangene Fehler in der Ausübung.
Ich erwarte und hoffe, daß alle Beamten sich mit mir eins fühlen in dem Ziele, durch die Stärkung und
Zusammenfassung aller nationalen Kräfte unser Vaterland vor dem drohenden Verfall zu retten.
Wolfgang Michalka (Hg.), Das Dritte Reich. Dokumente zur Innen- und Außenpolitik, Band 1, München
1985, S. 24 f.
Terror im Wahlkampf
Mit den Erlassen wurde nicht nur eine ungleiche Behandlung der Wahlkampfparteien bewirkt, sondern
auch der SA-Terror gedeckt. Die Polizei sah tatenlos zu, wie Teilnehmer republikanischer
Wahlversammlungen von SA-Truppen angegriffen und wie beispielsweise in einer Versammlung des
Zentrums in Krefeld am 22. Februar der ehemalige Reichsarbeitsminister Adam Stegerwald
niedergeschlagen wurde. Jeder Tag brachte neue Nachrichten über den SA-Terror bei Kundgebungen
von SPD und Zentrum, von Verwüstungen in Zeitungsredaktionen und von Überfällen auf Politiker der
demokratischen Parteien. Viele Sozialdemokraten, die wie der frühere Berliner Polizeipräsident Albert
Grzesinski sich knapp vier Wochen zuvor noch sicher waren, daß man Hitler überstehen werde,
resignierten bereits Ende Februar, da sie um Leib und Leben fürchten mußten. Mit einer Welle von
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willkürlichen Verhaftungen sollte der politische Gegner überdies eingeschüchtert und ausgeschaltet
werden. Insgesamt zählte man bis zu den Wahlen offiziell 69 Tote und Hundte von Verletzten.
Es gab auch besorgte Stimmen, Warnungen, Proteste und Versuche von Gegenwehr. Die
Zentrumsführung appellierte in einem Zeitungsartikel an den Reichspräsidenten und den Vizekanzler,
"den unglaublichen Zuständen ein Ende zu bereiten". Aber solche Bemühungen blieben ebenso
vergeblich wie der Versuch, eine christlich-nationale Sammlungsbewegung bis hin zur politischen Mitte
zu bilden. Sie scheiterten sowohl an den inneren Gegensätzen und persönlichen Rivalitäten im
bürgerlich-konservativen Lager als auch an der Beschwichtigungs- und Verführungstaktik Hitlers.
Dieser zeichnete gegenüber wichtigen gesellschaftlichen Interessenvertretern das um Vertrauen
werbende Bild eines künftigen autoritären Staates und einer autoritären Wirtschaftsordnung. Was nach
der Ausschaltung der "marxistischen Gewerkschaften" eine "ruhige Zukunft" verheiße.
Bei einem Empfang für einflußreiche Industrielle am 20. Februar kündigte der Reichskanzler schließlich
dementsprechend an: "Wir stehen jetzt vor der letzten Wahl" und drohte dann weiter dunkel: "So oder
so, wenn die Wahl nicht entscheidet, muß die Entscheidung eben auf einem anderen Wege fallen."
Diese Andeutungen und die Hoffnung auf einen "starken, unabhängigen Staat", in dem nach dem
Wunsche des Sprechers der Industriellen, Gustav Krupp von Bohlen, allein Wirtschaft und Gewerbe
blühen könnten, weckte bei den Anwesenden die Bereitschaft, die bereitgestellte Wahlkampfkasse
der NSDAP kräftig zu füllen.
Zuvor hatte sich Hitler auch schon die Neutralität der Reichswehr gesichert, als er in der Besprechung
vom 3. Februar vor der Armeeführung seine "Zwei-Säulen-Theorie" entwickelte und damit dieser als
einziger Waffenträgerin der Nation eine tragende und autonome Rolle im neuen Staat neben der
NSDAP zugesichert hatte. Dafür sollte sich die bewaffnete Macht aus allen innenpolitischen
Auseinandersetzungen heraushalten. Damit traf Hitler die Einstellungen und Erwartungen der
Armeeführung. Er konnte zudem auf die volle Loyalität von Reichswehrminister Werner von Blomberg
setzen, der mit seiner eindeutigen Parteinahme für Hitler als Bastion aus dem Zähmungskonzept der
Deutschnationalen schon herausgebrochen war.
Unterdrückung demokratischer Parteien
SPD
Mir sind mehrere Versammlungen gesprengt worden und ein erheblicher Teil der
Versammlungsbesucher mußte schwer verletzt weggeschafft werden. Im Einverständnis mit dem
Parteivorstand bitte ich daher, von den mit mir als Redner vorgesehenen Versammlungen abzusehen.
Nach Lage der Dinge gibt es offenbar auch keinen polizeilichen Schutz mehr, der ausreichen würde,
dem aggressiven Vorgehen der SA und SS in meinen Versammlungen zu begegnen.
In Hindenburg ist Genosse Nölting mit knapper Not dem Totschlag entronnen. Bei mir war es in
Langenbielau ähnlich. Einer meiner Begleiter wurde niedergeschlagen. In Breslau ist gestern abend
nur durch eine zufällige Verzögerung eingesetzter SA-Formationen namenloses Unglück verhindert
worden. Eine große Anzahl von Verwundeten hat es trotzdem gegeben, in einer Stadt, die bisher stets
Versammlungssprengungen von Andersgesinnten hat vorbeugend verhindern können.
Ich bedauere selbst am tiefsten, Euch diese Mitteilung machen und diesen Entschluß fassen zu
müssen. Es ist auch erst nach reiflicher Überlegung mit Mitgliedern des Parteivorstandes geschehen
und nachdem auch in bezug auf andere Genossen ähnlich entschieden worden ist.
Aus einem Schreiben des ehemaligen preußischen Innenministers und Berliner Polizeipräsidenten
Albert Grzesinski (SPD) an die SPD-Parteisekretäre in Dortmund, Frankfurt/M., Altona und Kiel vom
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24. Februar 1933, in: Josef und Ruth Becker (Hg.), Hitlers Machtergreifung 1933. Dokumente vom
Machtantritt Hitlers, München 1983, S. 98 f.
DDP
Die NSDAP, deren Führer Sie zum höchsten Beamten des Reichs ernannt haben, macht durch ein
System von Gesetzwidrigkeiten einem anders denkenden bürgerlichen Politiker den Vortrag seiner
politischen Anschauungen unmöglich, schüchtert die ruhige Bürgerschaft ein und leitet den Wahlkampf
in einen offenen Bürgerkrieg über. Die ortspolizeilichen Organe leisten das Menschenmögliche. Sie
können zwar die Person des Redners schützen, nicht aber die verfassungsmäßig gewährleistete
Versammlungs- und Redefreiheit. Durch die Dezemberamnestie ist jede nachhaltige Achtung vor dem
Gesetz geschwunden. Das besonnene Bürgertum in Württemberg blickt auf Sie, hochverehrter Herr
Reichspräsident, als den letzten Hort für Recht und Ordnung in Deutschland. Wir geben Ihnen davon
Kenntnis, wie eine große Regierungspartei vor der Entscheidungswahl des deutschen Volkes das
Gesetz mit Füßen tritt, und bitten Sie, darauf einzuwirken, daß die NSDAP die Wahlfreiheit nicht weiter
durch Mittel der Gewalt beeinträchtigt.
Beschwerde-Telegramm der württembergischen Deutschen Demokratischen Partei (DDP) an
Reichspräsident Hindenburg vom 22. Februar 1933, in: a. a. O., S. 91.
Zentrum
Göring erließ gestern Sonderanweisungen an die preußische Polizei, in denen er praktisch verlangt,
die SA und den "Stahlhelm" im Wahlkampf zu schützen, jedoch ähnliche Organisationen der
Oppositionsparteien als Staatsfeinde zu behandeln, die rücksichtslos unterdrückt werden müssen.
Diese Anweisungen haben die Nazis ermutigt, im Wahlkampf sowohl gegen die Zentrumspartei als
auch gegen die Linksparteien Terrormethoden anzuwenden. Die Auflösung einer ZentrumsVersammlung in Krefeld, bei der der Hauptsprecher, der frühere Reichsarbeitsminister Stegerwald,
von Nazis tätlich mißhandelt wurde, wird mit Bestürzung als ein Anzeichen für den Gang der Entwicklung
in der Schlußphase dieses ungewöhnlich stürmischen Wahlkampfes betrachtet. []
Bericht des amerikanischen Botschafters in Berlin, Frederic Sackett, an Außenminister Henry L.
Stimson vom 23. Februar 1933. in: a. a.O., S. 92 f.
BVP
Diese Regierungserklärung hat in Deutschland eine Kluft aufgerissen und hat alles zerschlagen, was
in den 14 Jahren geleistet wurde. Wir hatten die Straßen dem Verkehr zurückerobert, die Parteifahnen
von den Amtsgebäuden heruntergeholt, der Presse die Freiheit in Deutschland wieder gegeben, die
Sicherheit im Staat wieder hergestellt. Und heute ist das alles wieder gefährdet. Wir erleben heute
wieder den Bürgerkrieg auf den Straßen, der Terror ist in den Versammlungen wieder eingerissen,
Leute wie Stegerwald werden niedergeschlagen, es werden Feuerüberfälle auf die Bayern- und
Pfalzwacht unternommen, die Presse wird wieder geknebelt, die freie Meinung versklavt, es regnet
täglich Presseverbote. Die Regierungspresse darf aber schreiben, was sie will, ohne verboten zu
werden. So durften die Hamburger Nachrichten kürzlich schreiben: Schmeißt die katholischen Bayern
aus dem Reichsverbande hinaus, mit den anderen werden wir schon fertig. Die gleiche Zeitung durfte
auch Hindenburg zum Verfassungsbruch auffordern. Die Zeitung wurde nicht verboten, wohl aber die
katholische "Germania", die nichts weiter getan hat, als einen Aufruf der katholischen Verbände
abzudrucken, die voller Sorge über die kritische Entwicklung Deutschlands waren. []
Rede des Vorsitzenden der Bayerischen Volkspartei Fritz Schäffer in Würzburg am 23. Februar 1933,
in: a. a. O., S. 96.
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Propaganda und Versprechungen
Neben den Versprechungen und dem Werben um Vertrauen waren es die Propagandakampagnen
der Partei, die nun mit prall gefüllten Wahlkampfkassen und dem Einsatz aller staatlichen Mittel eine
Mobilisierung der nationalen Gefühlswelt betrieb und den Wahltag zum "Tag der erwachenden Nation"
proklamierte. Mit pseudoreligiösen Formeln und Bildern sollte das Land in eine "blinde
Glaubensseligkeit" (Fest) versetzt werden, die sich nicht auf ein politisches Programm, sondern auf
den Hitler-Mythos stützte.
Der Wahlkampf, den die Nationalsozialisten mit Rundfunk, Film und Flugzeug bis in die Provinz trugen,
war ganz auf Hitler abgestellt. Goebbels machte sich zum ersten Reporter seines "Führers", indem er
zentrale Hitler-Kundgebungen einleitete und anschließend im Rundfunk, über den die
Nationalsozialisten als Regierungspartei nun verfügen konnten, die Stimmung und Botschaft in jede
Wohnstube zu übertragen versuchte. "Welch eine Wendung durch Gottes Fügung", jubelte er, als Hitler
am 10. Februar im Berliner Sportpalast auftrat, dessen Tribünen mit den Parolen "Kampf dem
Marxismus" versehen waren. Hitlers Rede war voller Drohungen an die politischen Gegner und voller
Werbungen an die Wähler, die er pathetisch und ganz im Widerspruch zur Entschlossenheit, die einmal
gewonnene Macht nicht aufzugeben, beschwor: "Deutsches Volk! gib uns vier Jahre Zeit - dann richte
und urteile über uns. Deutsches Volk, gib uns vier Jahre, und ich schwöre dir, so wie ich dieses Amt
antrat, tat ich es nicht um Gehalt und Lohn, ich taes um deiner selbst willen." Um diese verführerische
Behauptung einer Identität von Führer und Volk zu bekräftigen, schloß er mit quasi-religiösen
Verheißungen auf ein "Deutsches Reich der Größe und der Ehre und der Kraft und der Gerechtigkeit"
und einem anschließenden "Amen".
Die nicht-nationalsozialistische Presse suchte die Phrasenhaftigkeit und Verlogenheit solcher HitlerAuftritte zu enthüllen, wenn sie daran nicht mit scheinlegaler Gewalt gehindert wurde. "Wieder die
gleichen Anklagen und Versprechungen" überschrieb die Bayerische Volkszeitung einen Bericht. "Der
kritische Zuschauer aber verläßt den Saal enttäuscht über die Rede des ,Volkskanzlers'." Doch was
zählte in einer solchen emotionalen Situation ein Programm? Werbung und Einschüchterung prägten
bereits im Februar 1933 die nationalsozialistische Politik der Machteroberung, aber noch gab es einige
rechtsstaatliche Dämme. Der terroristische Druck auf die Parteien der politischen Linken und das
Zentrum mußten bis zum Wahltag genügen. Die endgültige Abrechnung mit dem politischen Gegner
und der Demokratie war in Hitlers Kalkül auf später zu verschieben. "Wir müssen erst die ganzen
Machtmittel in die Hand bekommen", hatte Hitler in seiner Rede vor den Industriellen am 20. Februar
angekündigt, "wenn wir die andere Seite ganz zu Boden werfen wollen."
Hitler vor den Befehlshabern der Wehrmacht
am 3. Februar 1933
Wiedergabe eines Stichwortprotokolls
Ziel der Gesamtpolitik allein: Wiedergewinnung der politischen Macht. Hierauf muß gesamte
Staatsführung eingestellt werden (alle Ressorts!).
1. Im Innern. Völlige Umkehrung der gegenwärtigen innenpolitischen Zustände in Deutschland. Keine
Duldung der Betätigung irgendeiner Gesinnung, die dem Ziel entgegen steht (Pazifismus!). Wer sich
nicht bekehren läßt, muß gebeugt werden. Ausrottung des Marxismus mit Stumpf und Stiel. Einstellung
der Jugend und des ganzen Volkes auf den Gedanken, daß nur der Kampf uns retten kann und diesem
Gedanken gegenüber alles zurückzutreten hat. [
] Ertüchtigung der Jugend und Stärkung des Wehrwillens mit allen Mitteln. Todesstrafe für Landesund Volksverrat. Straffste autoritäre Staatsführung. Beseitigung des Krebsschadens der Demokratie!
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2. Nach außen. Kampf gegen Versailles. Gleichberechtigung in Genf; aber zwecklos, wenn Volk nicht
auf Wehrwillen eingestellt. Sorge für Bundesgenossen.
3. Wirtschaft! Der Bauer muß gerettet werden! Siedlungspolitik! Künftige Steigerung der Ausfuhr
zwecklos. Aufnahmefähigkeit der Welt ist begrenzt und Produktion ist überall übersteigert. Im Siedeln
liegt einzige Möglichkeit, Arbeitslosenheer zum Teil wieder einzuspannen. []
4. Aufbau der Wehrmacht wichtigste Voraussetzung für Erreichung des Ziels: Wiedererringung der
politischen Macht. Allgemeine Wehrpflicht muß wieder kommen. Zuvor aber muß Staatsführung dafür
sorgen, daß die Wehrpflichtigen vor Eintritt nicht schon durch Pazifismus, Marxismus, Bolschewismus
vergiftet werden oder nach Dienstzeit diesem Gifte verfallen.
Wie soll politische Macht, wenn sie gewonnen ist, gebraucht werden? Jetzt noch nicht zu sagen.
Vielleicht Erkämpfung neuer Export-Möglichkeiten, vielleicht - und wohl besser - Eroberung neuen
Lebensraums im Osten und dessen rücksichtslose Germanisierung. Sicher, daß erst mit politischer
Macht und Kampf jetzige wirtschaftliche Zustände geändert werden können. Alles, was jetzt geschehen
kann - Siedlung - Aushilfsmittel.
Wehrmacht wichtigste und sozialistischste Einrichtung des Staates. Sie soll unpolitisch und
überparteilich bleiben. Der Kampf im Innern nicht ihre Sache, sondern der Nazi-Organisationen. []
Wolfgang Michalka (Hg.), Das Dritte Reich. Dokumente zur Innen- und Außenpolitik, Band 1, München
1985, S. 23 f.
Reichstagsbrand
Ein unvorhersehbarer Zufall kam zu Hilfe, um dieses Vorgehen noch vor dem Wahltag zu ermöglichen
und den scheinbaren Beweis für den kommunistischen Umsturzversuch zu liefern, den die
Nationalsozialisten für die Rechtfertigung einer verschärften Repressionspolitik gebrauchen konnten.
In der Nacht vom 27. auf den 28. Februar 1933 brannte der Berliner Reichstag. Gegen 21 Uhr war der
Brand bemerkt worden, um 21.27 Uhr wurde der holländische Anarchist Marinus van der Lubbe im
Bismarcksaal des brennenden Gebäudes festgenommen. Bei seiner Verhaftung stieß er das Wort
"Protest" aus und gestand diese und drei vorausgehende, kleinere Brandstiftungen. Seither gehört die
Frage nach der Täterschaft zu den immer wieder kontrovers diskutierten Fragen der Kriminalistik und
politischen Strafprozeßgeschichte. Für die Nationalsozialisten stand noch in der Brandnacht fest, daß
es sich um eine kommunistische Verschwörung handelte. Umgekehrt waren die Gegner der
Nationalsozialisten, die diesen mittlerweile jede Hinterlist zutrauten, bald der Überzeugung, daß ein
geheimes Kommando der Nationalsozialisten den Brand selbst gelegt hätte, um daraus politischen
Gewinn für den Wahlkampf zu ziehen. Ein kommunistisches "Braunbuch" über den Reichstagsbrand
hat diese These sehr bald als wirkungsvolles Argument der antinationalsozialistischen
Gegenpropaganda zu untermauern versucht und damit weit in die Nachkriegszeit hineingewirkt. Denn
was war angesichts der Nutzanwendung, die die Nationalsozialisten aus dem Reichstagsbrand zogen,
und der politischen Folgen dieses Ereignisses naheliegender, als auch den Reichstagsbrand als
Beweis für die Existenz eines ausgeklügelten Plans zur Errichtung einer totalitären Diktatur auf das
Schuldkonto der Nationalsozialisten zu schreiben.
Mit den Publikationen von Fritz Tobias (1962) wurde der Reichstagsbrand für Politik und Wissenschaft
vollends zum Objekt eines Glaubensstreites. Mit ihnen wurde nicht nur die These von der
Alleintäterschaft van der Lubbes mit überzeugenden Argumenten erneuert. Vor allem wurde damit die
grundsätzliche Frage aufgeworfen, ob der Weg zur NS-Diktatur planvoll vorbereitet und beschritten
worden oder nicht vielmehr Folge einer skrupellosen, aber improvisierten Ausnutzung von Krisen und
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Konflikten war. An der Reichtstagsbrandkontroverse sollte sich die bis heute andauernde
wissenschaftliche Auseinandersetzung um Struktur und Politik des NS-Regimes entzünden.
Nach intensiven Recherchen spricht heute vieles für die Alleintäterschaft des Marinus van der Lubbe,
zu der dieser sich selbst bekannt hatte. Auch wenn der Anlaß eher zufällig war, historisch weit
folgenreicher waren die Konsequenzen, die die Nationalsozialisten aus dem Vorfall zogen. Sie verrieten
den entschlossenen und kompromißlosen Willen, die Ereignisse zur Vernichtung des politischen
Gegners zu nutzen und die unbeschränkte Diktatur überfallartig und gewaltsam durchzusetzen.
Die nationalsozialistische Führung wurde vom Reichstagsbrand offensichtlich überrascht und reagierte
zunächst hysterisch. Nach den ersten Informationen über den Täter und von einem Augenzeugen, der
kurz vor dem Brand noch kommunistische Abgeordnete im Reichstag gesehen haben wollte, stand
für Göring fest: "Das ist der Beginn des kommunistischen Aufstandsversuches, sie werden jetzt
losschlagen. Es darf keine Minute versäumt werden." Hitler überbot ihn in der Androhung radikaler
Verfolgungsmaßnahmen. "Es gibt kein Erbarmen; wer sich uns in den Weg stellt, wird niedergemacht.
Das deutsche Volk wird für Milde kein Verständnis haben. Jeder kommunistische Funktionär wird
erschossen, wo er angetroffen wird. Die kommunistischen Abgeordneten müssen noch in dieser Nacht
aufgehängt werden. Alles ist festzusetzen, was mit den Kommunisten im Bunde steht. Auch gegen
Sozialdemokraten und Reichsbanner gibt es jetzt keine Schonung mehr."
Ausnahmezustand
Auf diesen Ausbruch einer wilden Bürgerkriegsmentalität überstürzten sich die Anordnungen an die
Polizeibehörden: Alle kommunistischen Abgeordneten und Funktionäre sollten verhaftet werden, auch
die SPD und ihre Presse wurden in die Verfolgung einbezogen. Zur Legalisierung der Aktionen schlug
der Staatssekretär im preußischen Innenministerium Ludwig Grauert noch in der Nacht eine
"Notverordnung gegen Brandstiftung und Terrorakte" vor. Am nächsten Morgen wurde dann unter
Verwendung entsprechender Pläne der Regierung Papen für den militärischen Ausnahmezustand der
Entwurf einer "Verordnung zum Schutz von Volk und Staat" (Reichstagsbrandverordnung) vorgelegt,
dessen Inhalt weit über die nächtlichen Vorschläge hinausging und im Laufe des Tages noch verschärft
wurde. Nun enthielt der Text einen ganzen Katalog von zum Teil vorhandenen Straftatbeständen, die
jetzt nachträglich mit der Todesstrafe bedroht wurden (so insbesondere Hochverrat und Brandstiftung).
Hinzu kam die Sanktionierung des zivilen Ausnahmezustandes.
Nicht die Reichswehr oder der Reichspräsident, sondern die Reichsregierung und der Innenminister
konnten über die Ausführung des Ausnahmezustandes entscheiden, der alle verfassungsmäßigen
Grundrechte außer Kraft setzte. Die Hysterie der Brandnacht ermöglichte es, alle Grundrechte der
Weimarer Verfassung bis auf weiteres - und das hieß tatsächlich bis 1945 - außer Kraft zu setzen. Sie
beschleunigte zugleich die Selbstlähmung der konservativen Bündnispartner, als sie die Entscheidung
über den Ausnahmezustand in die Hände Hitlers und des nationalsozialistischen Reichsinnenministers
Wilhelm Frick fallen ließen.
Mit der Begründung, daß man "staatsgefährdende kommunistische Gewaltakte" abwehren müsse,
setzte die "Reichstagsbrandverordnung" unter Berufung auf den Artikel 48 Absatz 2 der Weimarer
Verfassung die verfassungsmäßigen Grundrechte wie die Freiheit der Person, die Meinungs-, Presse-,
Vereins- und Versammlungsfreiheit, das Post-, Brief-, Telegraphen- und Fernsprechgeheimnis sowie
die Unverletzlichkeit von Eigentum und Wohnung" bis auf weiteres außer Kraft. Verdächtige und
mißliebige Personen konnten jetzt ohne Anklage, ohne Beweise und Rechtsbeistand willkürlich
verhaftet und festgehalten werden. Das war die Scheinlegalisierung der berüchtigten "Schutzhaft", die
als willkürliche Freiheitsberaubung ohne richterliche Nachprüfungsmöglichkeit in den bald darauf
eingerichteten Konzentrationslagern an Gegnern des NS-Regimes in barbarischer Weise ausgeführt
wurde.
Nicht weniger einschneidend und folgenreich war der Paragraph 2 der Verordnung. Er ermächtigte
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Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
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den Reichsinnenminister, in die Souveränität der Länder einzugreifen, wenn diese "die zur
Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nötigen Maßnahmen" nicht ergreifen
würden. Damit war der Gleichschaltung auch der Länder der Boden bereitet, die noch nicht unter
nationalsozialistischer Kontrolle standen.
Wie schon in früheren Fällen verzichtete die improvisierte Notverordnung auf konkrete
Ausführungsbestimmungen und öffnete damit einer willkürlichen Auslegung Tür und Tor. Die
Begründung, daß man angebliche kommunistische Gewaltakte abwehren müsse, reichte aus, um vom
Reichspräsidenten eine Notverordnung absegnen zu lassen, die den Abbau des Rechtsstaates
einleitete und bald zur eigentlichen "Verfassungsurkunde" (Ernst Fraenkel) des Dritten Reiches werden
sollte. Hier wurde die scheinlegale Grundlage der nationalsozialistischen Diktatur gelegt, die durch
den permanenten Ausnahmezustand gekennzeichnet war.
Formal knüpfte die Reichstagsbrandverordnung an die bisherige Praxis der präsidialen Notverordnung
der letzten Jahre an. Das und die Tatsache, daß sich die Verordnung gegen die politische Linke richtete,
dürfte auch das Gewissen der Deutschnationalen besänftigt und jeden Widerspruch erstickt haben.
Die Tatsache, daß mit dem Urteil des Reichsgerichts im Reichstagsbrandprozeß vom September 1933,
in dem der Holländer van der Lubbe zum Tode verurteilt wurde, die Begründung der Verordnung,
nämlich die Täter- oder Mittäterschaft der Kommunisten bei der Brandstiftung nicht nachgewiesen
werden konnte und daß sie damit rechtlich ungültig war, änderte daran nichts. Allein das beweist, wie
es mit der Legalität des nationalsozialistischen Staates bestellt war, "der sich auf eine tatsachenwidrig
begründete, permanente Ausnahmegesetzgebung stützte" (Bracher). Hinzu kam, daß van der Lubbe
u.a. wegen Brandstiftung verurteilt wurde, die zum Zeitpunkt der Tat noch nicht mit der Todesstrafe
bedroht war.
Für die nationalsozialistische Führung wirkten die Verordnungen und die von ihnen legalisierten
Verfolgungsmaßnahmen wie ein Stimulans, das ihre Aggressivität noch steigerte. "Es ist wieder eine
Lust zu leben", kommentierte Goebbels die Nachrichten von den Massenverhaftungen in den folgenden
Tagen. Die meisten Deutschen nahmen die Gefährdung ihrer Freiheit nicht wahr. Mit der
Reichstagsbrandverordnung vom 28. Februar verstärkten sich die terroristischen Züge des
Wahlkampfes. Tausende von Kommunisten wurden verhaftet und in improvisierte Konzentrationslager
oder Folterkeller verschleppt. Bis Mitte März waren allein in Preußen mehr als 100000 politische Gegner
verhaftet worden. In der Mehrheit Kommunisten, aber auch Angehörige der literarischen Linken fielen
in die Hände von Görings Polizei: Carl von Ossietzky, Erich Mühsam, Ludwig Renn, Egon Erwin Kisch
und viele andere, die ein Stück der Weimarer Kultur gebildet hatten.
"Hier habe ich nur zu vernichten"
Ich denke nicht daran, in bürgerlicher Manier und in bürgerlicher Zaghaftigkeit nur einen Abwehrkampf
zu führen. Nein, ich gebe das Signal, auf der ganzen Linie zum Angriff vorzugehen!
Volksgenossen, meine Maßnahmen werden nicht angekränkelt sein durch irgendwelche juristischen
Bedenken. Meine Maßnahmen werden nicht angekränkelt sein durch irgendeine Bürokratie. Hier habe
ich keine Gerechtigkeit zu üben, hier habe ich nur zu vernichten und auszurotten, weiter nichts! Dieser
Kampf, Volksgenossen, wird ein Kampf gegen das Chaos sein, und solch einen Kampf führe ich nicht
mit polizeilichen Machtmitteln. Das mag ein bürgerlicher Staat getan haben. Gewiß, ich werde die
staatlichen und die polizeilichen Machtmittel bis zum äußersten auch dazu benutzen, meine Herren
Kommunisten, damit Sie hier nicht falsche Schlüsse ziehen, aber den Todeskampf, in dem ich euch
die Faust in den Nacken setze, führe ich mit denen da unten, das sind die Braunhemden! Ich werde
dem Volke klarmachen, daß das Volk sich selbst zu wehren hat. Ich werde ihm klarmachen, daß die
lebendigen Kräfte des Volkes hier mobilisiert werden müssen. Und darum habe ich mit voller Absicht
erklärt: In Zukunft, meine Herren, kommt in den Staat nur mehr hinein, wer aus den nationalen Kräften
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Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
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stammt, und nicht, wer sich herandrängt und heranheuchelt. Mich stört es nicht, wenn gewisse "Kritiker
" sich scheinheilig über diese meine Maßnahmen aufregen und nach "mehr Gerechtigkeit" schreien.
Ich messe mit zweierlei Maß.
Ich habe erst angefangen zu säubern, es ist noch längst nicht fertig. Für uns gibt es zwei Teile des
Volkes: einen, der sich zum Volk bekennt, ein anderer Teil, der zersetzen und zerstören will. Ich danke
meinem Schöpfer, daß ich nicht weiß, was objektiv ist. Ich bin subjektiv. Ich stehe einzig und allein zu
meinem Volke, alles andere lehne ich ab. [...]
Wenn sie sagen, da und dort sei einer abgeholt und mißhandelt worden, so kann man nur erwidern:
Wo gehobelt wird, fallen Späne. Wir haben jahrelang die Abrechnung mit den Verrätern angekündigt.
Ruft nicht so viel nach Gerechtigkeit, es könnte sonst eine Gerechtigkeit geben, die in den Sternen
steht und nicht in euren Paragraphen! Und wenn diese Gerechtigkeit leuchtet, ist euer Ende gekommen.
Man klagt über die Unterdrückung von Zeitungen. Wundert euch das? Mich wundert, daß sie noch
existieren. [...]
Aus zwei Reden Görings in Frankfurt a. M. und Essen vom 3. und 11. März 1933 in: Josef und Ruth
Becker (Hg.), Hitlers Machtergreifung 1933. Dokumente vom Machtantritt Hitlers, München 1983, S.
117 f. und 138 f.
Wahlen vom 5. März 1933
Um so erstaunlicher war es, daß in diesem Klima von Rechtsunsicherheit und Gewalt bei den
Reichstagswahlen am 5. März 1933 die NSDAP mit 43,9 Prozent und die Deutschnationalen mit acht
Prozent zusammen nur knapp die Mehrheit der abgegebenen Stimmen erhielten; daß umgekehrt das
katholische Zentrum und die SPD ihren Stimmenanteil halten und sich damit zum letzten Mal auf die
große Geschlossenheit ihres jeweiligen Wählerpotentials stützen konnten. Auch die KPD erreichte
trotz der massiven Behinderung und Verfolgung mit 12,3 Prozent ein bemerkenswertes Ergebnis. Die
Parteien der bürgerlichen Mitte wurden hingegen endgültig zerrieben.
Der Stimmenzuwachs der NSDAP mit 10,8 Prozent gegenüber den Wahlen im November 1932 und
6,5 Prozent gegenüber den Juliwahlen von 1932 enttäuschte die Erwartungen der Parteiführung.
Beobachter waren sich einig, daß dieser Zuwachs vor allem auf das Konto Hitlers bzw. des HitlerMythos ging, der im Mittelpunkt des Wahlkampfes gestanden hatte. Ihre Gewinne schöpfte die NSDAP
vor allem aus dem Reservoir der Nicht- und Neuwähler, teilweise auch aus dem Potential der
Protestwähler, die bislang KPD gewählt hatten und jetzt im Massensog ihr Heil im anderen Extrem
suchten. Der hohe Grad der politischen Mobilisierung spiegelte sich in der Wahlbeteiligung, die auf
die Rekordmarke von 88,8 Prozent gestiegen war.
Hochburgen im Norden
Die Hochburgen der NSDAP lagen nach wie vor in den Agrargebieten Nord- und Ostdeutschlands,
allen voran die Wahlkreise Ostpreußens mit 56,5 Prozent NSDAP-Stimmen, Pommern mit 56,3
Prozent, Frankfurt/Oder mit 55,2 Prozent, Osthannover mit 54,3 Prozent, Liegnitz mit 54 Prozent und
Schleswig-Holstein mit 53,2 Prozent der Stimmen. Am anderen Ende der Skala rangierten städtischindustrielle Ballungsgebiete Mittel- und Westdeutschlands. Hier spielte teilweise auch der
konfessionelle Faktor eine wichtige Rolle, wie etwa im überwiegend katholischen Wahlkreis KölnAachen, der mit 30,1 Prozent die niedrigste Stimmenzahl für die NSDAP brachte.
Auffällig war, daß nun auch verstärkt Wahlkreise in Süd- und Südwestdeutschland größere
Stimmengewinne für die NSDAP brachten, so etwa Niederbayern mit 39,2 Prozent (bisher 18,5 Prozent)
oder Württemberg mit 42 Prozent, wo der Zuwachs gegenüber 1932 13,8 Prozentpunkte betrug. In
Bayern war es der NSDAP vor allem gelungen, starke Einbrüche im ländlichen Milieu zu erzielen, das
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bislang eine mächtige Bastion der BVP bildete. Die NSDAP konnte vor allem Wähler aus den ärmeren
Schichten der bäuerlich-katholischen Bevölkerung für sich gewinnen. In ihrem Votum verband sich mit
Hitler die Hoffnung auf eine Besserung der materiellen Lage mit der Abneigung gegen die Vorherrschaft
des politischen Katholizismus und der traditionellen Verbände auf dem Lande, die in der Regel von
mittel- und großbäuerlichen Gruppen dominiert wurden. Das Wahlergebnis im Süden war überdies
keine gute Nachricht für die Länder, die sich dem Gleichschaltungsdruck der Regierung Hitlers in Berlin
entziehen wollten.
Die Nationalsozialisten feierten das Wahlergebnis vor allem als Votum für den "Volkskanzler" Adolf
Hitler und ließen nun den deutschnationalen Partner im Kabinett deutlich die veränderten
Machtverhältnisse spüren. Das kam auch darin zum Ausdruck, daß in der offiziellen Sprachregelung
nun nicht mehr von der "nationalen Revolution", sondern von der "nationalsozialistischen Revolution
" oder einfach von "der Revolution" die Rede war. Nun begann die zweite Etappe der
nationalsozialistischen Machteroberung.
Daß Hitlers Satz vom Beginn einer Revolution ernst gemeint war, zeigten die Ereignisse in den
folgenden Tagen. Das Besondere an der "nationalsozialistischen Revolution" war, daß die Aktionen
auf der Straße verbunden waren mit einer administrativen Gleichschaltung und formellen Legalisierung
von oben. Die Träger dieser Revolution setzten einerseits die SA ein zum Sturm auf die Rathäuser,
Regierungsgebäude und Verlage, andererseits nutzten sie ihre Regierungsmacht, um den Druck von
unten zu rechtfertigen und die Straßenaktionen zu legalisieren.
Das Ergebnis dieser eigentümlichen Revolution war die Ausschaltung der gesamten bis dahin politisch
führenden Gruppen und Organisationen, die Ausschaltung von Parteien, Parlament und autonomer
Öffentlichkeit und schließlich auch die Durchdringung der Gesellschaft. Diese ließ den traditionellen
Oberschichten und auch dem Bürgertum zunächst mehr Freiraum als Unter- und Mittelschichten, die
ihrer eigenen sozialen Organisationen beraubt wurden. Schauplatz dieser fundamentalen
Veränderungen im politischen System waren die Länder und Kommunen, aber auch zum letzten Mal
das Parlament, das nach der Verfassung die präsidialen Notverordnungen außer Kraft hätte setzen
können.
Mißhandlung einer demokratischen Stadträtin
In der Nacht vom 20. zum 21. März dieses Jahres gegen halb 2 Uhr wurde an meiner Wohnungstür
heftig geklingelt und geklopft. Im Glauben, daß meine Kinder nach Hause gekommen waren, stand
ich sofort auf und fragte "Wer ist da?" Mit einer barschen Stimme wurde mir darauf geantwortet: "
Machen Sie sofort auf, hier ist die Polizei, sonst wird gewaltsam geöffnet." [
] Mein Mann schloß die Tür auf. Es traten 6-8 Mann herein. Verschiedene waren mit Karabinern
bewaffnet. Bis auf einen Mann, der ein blaues Jackett und eine blaue Mütze trug, waren alle in SAUniform. Die Leute, die in meine Wohnung eintraten, kenne ich vom Sehen alle. Es sind alles junge
Leute, die mit meinen Kindern zusammen in die Schule gegangen sind. [
] Einer von denen, der sicher der Führer war, forderte mich mit den Worten "Bitte ziehen Sie sich an.
Sie kommen mit" auf. Ich forderte von diesem Mann einen Ausweis. Er antwortete mir mit flotter
Armbewegung: "Ach Quatsch, machen Sie keinen Heckmeck. Sie kommen mit!". [
] Ich mußte nun das Auto (ein Wäscheauto), das vor dem Hause bereit stand, mit den Leuten, die bei
mir in der Wohnung waren, besteigen und mitfahren. []
Die Fahrt ging weiter nach der Elisabethstraße in die SA-Kaserne. [
] Dort auf dem Hof mußte ich aussteigen und mit in das Hintergebäude des Hofes (unten Stall, oben
sicher Heuboden) mitgehen. Erwähnen will ich noch, daß sich außer mir noch ein gewisser Herr Heber
und Herr Flieger im Wagen befanden. Diese Leute mußten ebenfalls mit mir in das Gebäude gehen. []
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Der Führer, der auch in meiner Wohnung mit war, meldete uns dem dort befindlichen Führer. Als der
Führer, der mich aus der Wohnung holte, dem dort befindlichen Führer meinen Namen Jankowski
nannte, antwortete der dort anwesende Führer "Ach Jankowski, die alte, fette Sau!" Wir wurden
aufgefordert, uns in eine Ecke zu stellen. Jetzt mußte der junge Mann, Heber [
], vortreten, und es wurden ihm die Haare geschnitten. Es wurden jetzt von uns dreien die Personalien
aufgenommen. Bei der Aufnahme der Personalien fielen allerlei Bemerkungen, zum Beispiel "Aas,
dreckiges Luder" usw. [
] Der Führer richtete nun an mich die Frage, wieviel Gehalt ich von der Stadt beziehe. Ich gab ihm zur
Antwort, daß ich nur eine Aufwandsentschädigung von 48,75 RM den Monat beziehe. Der Führer
antwortete mir "Du verschwindeltes Aas, du kriegst kein Gehalt, dir werden wir schon" und gab dann
den Leuten, die zum Schlagen bereit standen, die Zahl 20 an. [
] Nach Verabfolgung der Schläge mußte ich mich zu Flieger wieder in die Ecke stellen. [
] Als ich zum zweiten Mal herankam, beschuldigte der Führer mich, daß ich Listen verbreitet hätte,
wonach nationalsozialistische Geschäftsleute boykottiert werden sollten. Ich erklärte ihm, daß ich
nichts davon weiß. Er antwortet mir: "Du weißt ja überhaupt nichts", und ich bekam zum zweiten Mal
20 Schläge. [
] Nach einer gewissen Zeit wurde ich wieder in Ruhe gelassen und es kamen jetzt wieder Heber und
Flieger und ich heran, sich auf den Tisch zu legen und zum dritten Male Schläge zu bekommen []
Wir mußten uns nachdem in eine Reihe stellen und das Deutschlandlied durchsingen. Nach Absingen
des Deutschlandliedes erklärte uns der Führer, daß er uns jetzt eine halbe Stunde in Ruhe lassen
würde. Er würde jetzt hinuntergehen, und wenn er wiederkäme, würde er an uns bestimmte Fragen
richten. Sollten wir die Fragen nicht beantworten, "so wird uns nochmal so eine Wucht verabfolgt [...]
und dann werden wir in den Wagen eingeladen und nach Schmöckwitz gefahren, wo wir unsere Kute
(Grube) graben können." Während der Abwesenheit des Führers sowie einigen anderen SA-Leuten,
wurden wir von der zurückbleibenden Wache mit allerlei Schimpfworten bedacht. Was für schmutzige
Wörter von den Leuten zu uns gesagt wurden, kann ich heute hier nicht mehr wiedergeben.
Nach Rückkehr des Führers bekamen wir der Reihe nach auf dieselbe Art und Weise wie vorher zum
4. Male je 20 Schläge. []
Mir wurde jetzt erklärt, daß ich jetzt entlassen werde, müßte aber vorher noch ein Revers
unterschreiben. Das Revers war schon mit der Maschine vorgeschrieben. Es enthielt, daß ich alle
Ämter niederzulegen habe, daß ich aus der Partei austrete und mich politisch nicht mehr betätige.
Außerdem solle ich mich von Donnerstag, den 23. März 33 ab in der dort befindlichen SA-Kaserne,
wo ich geschlagen wurde, abends von 19-20 Uhr täglich melden. Am Donnerstag, den 23. März 33,
hätte ich auch die Liste sämtlicher Funktionäre der Partei mitzubringen. [
] Da ich nun allein auf der Straße stand und nicht laufen konnte, war es mir nicht möglich, meinen
Heimweg anzutreten. []
Am 31. März wurde ich auf Grund einer Verfügung des Hauptgesundheitsamts aus dem Krankenhaus
entlassen. Ich befinde mich heute noch in ärztlicher Behandlung. []
Aus Furcht, daß mir evtl. nochmals dieses Unglück widerfahren könnte und damit ich nun in Ruhe
gelassen werde, stelle ich gegen die Täter keinen Strafantrag.
Aus dem Vernehmungsprotokoll der Berliner Kriminalpolizei vom 17. Mai 1933, ,in: Josef und Ruth
Becker (Hg.), Hitlers Machtergreifung 1933. Dokumente vom Machtantritt Hitlers, München 1983, S.
150 ff.
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Gleichschaltung der Länder
Mit dem Wahltag begann der Prozeß der Gleichschaltung in Ländern und Kommunen, aber auch der
Verbände und Vereine. Damit brach ein Erdrutsch über Deutschlands Städte und Dörfer herein, der
die überlieferte politische Ordnung zerstörte und soziale Netzwerke weitgehend zerstörte. Es war ein
Vorgang einer teilweise gewaltsamen, teilweise freiwilligen Gleichschaltung, in dem sich der Machtund Ausgrenzungswille der nationalsozialistischen Führung mit den sozialen Ressentiments der
Zukurzgekommenen und in dem sich Aufbruchs- und Erneuerungspathos mit Anpassungsdrang und
Opportunismus verbanden.
Die Gleichschaltung der Länder vollzog sich zwischen dem 5. und 9. März 1933 in der bereits bewährten
Taktik nationalsozialistischer Machteroberung durch das Ineinandergreifen zweier Strategien: durch
revolutionäre Aktionen auf der Straße von unten und durch scheinlegale, administrative Maßnahmen
der Reichsregierung von oben. Begründet wurden die Aktionen mit dem Wahlsieg der NSDAP, den
man nun in Ländern und Kommunen nachvollziehen müsse. Das entsprach weder den
Wahlergebnissen noch den Verfassungsgrundsätzen des Föderalismus, aber das zählte nicht mehr.
Überall forderten die Nationalsozialisten die Einsetzung von Reichskommissaren oder die Beteiligung
an der Landesregierung bzw. die Posten von Bürgermeistern und Polizeipräsidenten.
Um diesen Forderungen Nachdruck zu verleihen, kam es zusätzlich zu organisierten Kundgebungen
des sogenannten "Volkszornes". Nationalsozialistische Demonstranten, meistens SA-Männer oder
Parteiaktivisten rückten vor die Rathäuser und Regierungsgebäude, verlangten das Hissen einer
Hakenkreuzfahne und drohten mit der Blockade bzw. Erstürmung der Gebäude. Dies wiederum nutzte
der Reichsinnenminister dann als Vorwand, um unter Berufung auf Artikel 2 der "
Reichstagsbrandverordnung" einzugreifen. Er setzte die Landesregierung ab und setzte einen
Kommissar, in der Regel den zuständigen Gauleiter der NSDAP oder einen anderen führenden
Nationalsozialisten, ein und ernannte auch kommissarische Polizeipräsidenten. Daß dies in der Regel
reibungslos verlief, hatte mit der allgemeinen politischen Resignation der republikanischen Kräfte zu
tun. Die eigentliche Schwäche der meisten Länderregierungen lag darin, daß sie wie in Bayern,
Württemberg, Hessen, Sachsen und Hamburg keine parlamentarischen Mehrheiten mehr besaßen
undur noch geschäftsführend im Amt waren. Hier setzten die Nationalsozialisten an.
Vorgänge in Bayern
Begonnen hatten die Aktionen in Hamburg. Besonders hartnäckig, wenn auch am Ende ebenso hilflos
in ihrem Selbstbehauptungswillen war die bayerische Landesregierung. Goebbels beschreibt in seinem
Tagebuch vom 8. März die Planungen für Bayern: "Abends sind wir alle beim Führer. Dort wird
beschlossen, daß nunmehr Bayern an die Reihe kommen soll." Doch der bayerische Ministerpräsident
Heinrich Held war couragiert genug, um sich nicht von der Drohung eines SA-Aufstandes zur Aufgabe
zwingen zu lassen. Sein Versuch freilich, die bayerische Reichswehr zum Schutz gegen die
aufziehenden SA-Verbände einzusetzen, scheiterte am Befehl der Reichswehrführung aus Berlin, die
Reichswehr müsse sich aus innenpolitischen Dingen heraushalten. Hitlers Bündnis mit der Reichswehr
machte sich bezahlt. Schließlich intervenierte Reichsinnenminister Frick, wie zuvor schon in den
anderen Ländern.
Ein erneuter Widerstandsversuch Helds, diesmal beim Reichspräsidenten, ging ebenfalls ins Leere.
Auf den Protest gegen den Rechtsbruch durch den Reichsinnenminister antwortete nicht der
Reichspräsident, sondern Wilhelm Frick selbst. Unter Hinweis auf Artikel 2 der "
Reichstagsbrandverordnung" setzte er als Reichskommissar für Bayern den Nationalsozialisten
Generalleutnant Franz Ritter von Epp ein. Noch nicht einmal zu einem persönlichen Gespräch bei
Hindenburg wurde der entlassene Ministerpräsident Held vorgelassen. Dieselben Vorgänge waren
nach den Ländern mittlerweile auch in den meisten Städten abgelaufen.
Was an den bayerischen Vorgängen besonders folgenreich sein sollte, war die Tatsache, daß im
Gefolge Epps ein weiterer Parteigenosse in die Kommandostellen der Münchener und bayerischen
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Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
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Polizei einrückte, für den die Machtergreifung bisher eine Enttäuschung war: Heinrich Himmler,
Reichsführer der noch kleinen "Schutzstaffel" (SS), die der SA unterstellt war. Bislang hatte Himmler
vergeblich versucht, sich in die Polizeiarbeit zu drängen und konnte sich allenfalls durch neu gegründete
Sonderkommandos im Rahmen der preußischen Hilfspolizei am politischen Terror beteiligen. Nun aber
zog er in staatliche Funktionen ein. Er wurde Leiter der Polizeidirektion München und "Politischer
Referent beim Staatsministerium des Innern." Damit war ihm die gesamte Politische Polizei in Bayern
unterstellt. Mit ihm rückte Reinhard Heydrich in die Politische Abteilung des Präsidiums in München
ein. Damit begann ihr Aufstieg in das Zentrum der politischen Macht. Der Reichsführer SS und sein
ihm intellektuell überlegener Gehilfe knten sich in der Polizeibürokratie fest etablieren. Sie brachten
sich von München aus zwischen November 1933 und Januar 1934 überall in den gleichgeschalteten
Ländern, mit Ausnahme von Preußen und Schaumburg-Lippe, durch Absprachen mit den regionalen
NS-Führern in kurzer Zeit in den Besitz der wichtigsten Polizeifunktionen in Deutschland. Die Versuche
des Reichsinnenministers, die Kontrolle über diesen Bereich zu gewinnen, scheiterten.
Ende des Föderalismus
Erwähnenswert sind die legislativen Akte, mit denen Hitler den Prozeß der Gleichschaltung der Länder
besiegelte. Mittlerweile war er durch das Ermächtigungsgesetz vom 23. März 1933 in die Lage versetzt
worden, Reichsgesetze zu erlassen. Das "Vorläufige Gesetz zur Gleichschaltung der Länder mit dem
Reich" vom 31. März ermächtigte die Landesregierungen, ohne Beschluß des Landtages Gesetze zu
erlassen und die Landesverwaltung neu zu organisieren, das heißt auch politisch zu säubern.
Gleichzeitig wurden die Landtage nach dem Reichstagswahlergebnis neu zusammengesetzt, wobei
die Zahl der Mandate verringert und die KPD-Sitze gestrichen wurden.
Mit dem "Zweiten Gesetz zur Gleichschaltung der Länder mit dem Reich" vom 7. April wurden elf
Reichsstatthalter durch den Reichspräsidenten auf Vorschlag des Reichskanzlers ernannt. Die hatten
die Befugnis, "für die Beobachtung der vom Reichskanzler aufgestellten Richtlinien der Politik zu
sorgen", die Vorsitzenden der Landesregierungen zu ernennen sowie die Landtage gegebenenfalls
aufzulösen bzw. Landesgesetze anzufertigen. In einer Doppelfunktion waren die Reichsstatthalter
damit einerseits politische Beauftragte der Reichsregierung oder deren direkte Vertreter vor Ort und
andererseits die eigentlichen Vertreter der Länderinteressen gegenüber dem Reich.
In Preußen, dem wichtigsten und größten Land, das in der Machtausweitung bisher den Vorreiter
gespielt hatte, wurden die politisch-administrativen Verhältnisse den neuen Entwicklungen angepaßt.
Hier ernannte der Reichskanzler den Reichsstatthalter bzw. Chef der Landesregierung in eigener
Machtvollkommenheit ohne Mitwirkung des Reichspräsidenten. Der amtierende Reichskommissar in
Preußen, Franz von Papen, trat am 7. April zurück. Nachfolger als Reichsstatthalter in Preußen wurde
Hitler, der das Amt durch den zum Ministerpräsidenten ernannten Hermann Göring verwalten ließ. Mit
der Abschaffung des Föderalismus kündigte sich in der Verfassungsorganisation des Reiches damit
zugleich der Führerstaat an.
Reich und Regionen
Mit dem Gleichschaltungsprozeß in Ländern und Gemeinden entwickelte sich eine
verfassungsrechtliche Situation, die nie eindeutig geklärt werden und die zu einem charakteristischen
Merkmal der Herrschaftsstruktur des "Dritten Reiches" werden sollte: das Nebeneinander von Staat
und Partei. Die meisten Reichsstatthalter besaßen als Gauleiter der Partei, die sie zugleich waren,
oder als SA-Gruppenführer eine eigene Machtbasis und konnten sich durch ihr Parteiamt und den
damit verbundenen direkten Zugang zu Hitler der staatlichen Aufsicht jederzeit entziehen, die formal
der Reichsinnenminister über sie ausübte. Wenn nach außen mit den Gleichschaltungsgesetzen also
eine Zentralisierung im Sinne alter Reichsreformpläne vollzogen wurde, so entfaltete sich in der
politischen Wirklichkeit ein wildwuchernder Partikularismus. Denn die meisten "Gaufürsten" erwiesen
sich als viel hartnäckigere Vertreter der Länderinteressen als vor ihnen die Ministerpräsidenten.
Konflikte zwischen den zuständigen Reichsministern und den "zekönigen" in den Ländern bzw. Gauen
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Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
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gehörten bald zum Regierungsalltag.
Von Anfang an weigerte sich jedoch Hitler, in dessen Person das Nebeneinander von Staat und Partei
zusammenlief, eine klare Kompetenzregelung zu treffen. In seinem sehr personalisierten Verhältnis
zu seinen Reichsstatthaltern und Gauführern kam seine Abneigung gegen regelhaftes Regierungsund Verwaltungshandeln zum Ausdruck. Ebenso kennzeichnete es seinen Führungsstil, der den
Unterführern ein großes Maß an Freiraum ließ, um diese zur Entfaltung größtmöglicher Energien
anzustacheln. Durch die gleichzeitige Unsicherheit in den tatsächlichen Entscheidungskompetenzen
hielt er die eigene Machtsphäre unabhängig.
Diese eigentümliche Unklarheit, die sich schon im Frühjahr 1933 ausbildete, relativierte alles, was die
nationalsozialistische Propaganda über die Einheitlichkeit des neuen Staates und die Eindeutigkeit
des Führerwillens behauptete. Denn der Herrschaftsalltag war geprägt von ungeregelten
Zuständigkeiten zwischen Reich und Ländern, zwischen staatlicher Verwaltung und
Parteidienststellen, zwischen Ministerien und Sonderbevollmächtigten sowie Beauftragten des "
Führers" und damit von vielfältigen Kompetenzkonflikten. Sie wurden zu keiner Zeit vom allmächtigen "
Führer und Reichskanzler", wie Hitler sich seit dem August 1934 offiziell nannte, nach einheitlichen
Kriterien geregelt. Im Gegenteil, Hitler ließ sie oft treiben oder äußerte sich so vage, daß die
rivalisierenden Unterführer unterschiedliches daraus ableiten konnten. Das galt auch schon für die
Mahnung Hitlers an die SA und SS nach Abschluß der Gleichschaltungsaktionen am 10. März, daß
das große Werk der nationalen Revolution nicht durch Einzelaktionen kompromittiert werden dürfe.
Nach der Umwälzung der vergangenen Tage und Wochen sollte jedoch der "weitere Vollzug der
nationalen Erhebung ein von oben geleiteter planmäßiger" sein.
Rolle der SS
Dies war keine Absage an politische Gewalt und kein Plädoyer für eine straffe autoritäre Organisation
der innenpolitischen Entscheidungen, sondern nur eine Absage an die politisch unkontrollierte Gewalt
der SA. Zugleich bedeutete diese Aussage aber auch die Propagierung geordneter Gewalt, wie sie
dann von der "Schutzstaffel" (SS) verkörpert wurde. Es ist darum kein Zufall, daß am 20. März die
Einrichtung eines neuen Konzentrationslagers der SS in einer ehemaligen Pulver- und Munitionsfabrik
im oberbayerischen Dachau beschlossen und auch in der Presse publiziert wurde. Hier entstand im
Unterschied zu den "wilden" Konzentrationslagern und Folterkellern der SA ein "Musterlager" mit
strenger Reglementierung der barbarischen Gewalt gegen politische Gegner. Die Brutalität, mit denen
die SA-Trupps politische und persönliche Gegner in den ersten Monaten der Machteroberung
behandelten, hatte die Bürger und auch die Presse im In- und Ausland verschreckt. Die Übergriffe
hatten sich teilweise vor aller Augen abgespielt.
Mit dem Aufbau der Konzentrationslager der SS verschwand dieser Terror nicht, die SA führte ihre
willkürliche Jagd auf ihre Opfer weiter. Während der "Köpenicker Blutwoche" im Juni 1933, einer
Racheaktion der SA an politischen Gegnern, gab es 91 Tote und mehr als 500 Verschleppte. Durch
die SS wurde der Terror lediglich organisiert und von der Öffentlichkeit abgeschirmt. "Hier werden",
berichtete der "Völkische Beobachter" vom 21. März 1933 zufrieden, "die gesamten kommunistischen
und, soweit dies notwendig ist, Reichsbanner- und sozialdemokratische Funktionäre, die die Sicherheit
des Staates gefährden, zusammengezogen, da es auf Dauer nicht möglich ist und den Staatsapparat
zu sehr belastet, diese Funktionäre in den Gerichtsgefängnissen unterzubringen".
Ende Juni 1933 hatte Himmler den SS-Oberführer Theodor Eicke zum Kommandanten des Lagers
Dachau ernannt. Dieser erließ eine Disziplinar- und Strafordnung, die vom Gedanken äußerster Härte
bestimmt war und den Grausamkeiten der SA in nichts nachstand. Neben Arrest und Prügel drohte
den Gefangenen "kraft revolutionären Rechts" für den Fall von Meuterei oder Flucht auch die
Hinrichtung. Jede persönliche Regung der SS-Wachmannschaften gegenüber den Gefangenen sollte
unterbleiben. Stattdessen wurde das Lager als Teil eines ideologischen Erziehungskonzeptes
bestimmt, das nur die Umerziehung oder die "Ausmerzung" der Feinde der "Volksgemeinschaft" kannte.
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Berichte über die ersten Konzentrationslager
Frühjahr 1933
Am Mittwoch wird in der Nähe von Dachau das erste Konzentrationslager mit einem
Fassungsvermögen für 5000 Menschen errichtet werden. Hier werden die gesamten kommunistischen
und, soweit dies notwendig ist, Reichsbanner- und sozialdemokratischen Funktionäre, die die
Sicherheit des Staates gefährden, zusammengezogen, da es auf die Dauer nicht möglich ist und den
Staatsapparat zu sehr belastet, diese Funktionäre in den Gerichtsgefängnissen unterzubringen. Es
hat sich gezeigt, daß es nicht angängig ist, diese Leute in die Freiheit zu lassen, da sie weiter hetzen
und Unruhe stiften. Im Interesse der Sicherheit des Staates müssen wir diese Maßnahmen treffen
ohne Rücksicht auf kleinliche Bedenken. Polizei und Innenministerium sind überzeugt, daß sie damit
zur Beruhigung der gesamten nationalen Bevölkerung und in ihrem Sinne handeln.
Meldung des "Völkischen Beobachters" vom 21. März 1933, in: Wolfgang Michalka (Hg.), Das Dritte
Reich. Dokumente zur Innen- und Außenpolitik, Band 1, München 1985, S. 32 .
[
] In diesen Märztagen entstanden die Konzentrationslager um Berlin. Es kamen Nachrichten über
Lager bei Oranienburg, Königswusterhausen und Bornim. Nach den Berichten von Beamten und
Freunden trat die SA mit eigenen "Vernehmungsstellen" in Berlin selbst in eine grauenvolle Tätigkeit
ein. In den einzelnen Stadtteilen entstanden "Privatgefängnisse".
[
] Ich konnte nun mit den Polizeimannschaften die Marterhöhle betreten. Dort waren die Fußböden
einiger leerer Zimmer, in denen sich die Folterknechte betätigten, mit einer Strohschütte bedeckt
worden. Die Opfer, die wir vorfanden, waren dem Hungertod nahe. Sie waren tagelang stehend in
enge Schränke gesperrt worden, um von ihnen "Geständnisse" zu erpressen. Die "Vernehmungen
" hatten mit Prügeln begonnen und geendet; dabei hatte ein Dutzend Kerle in Abständen von Stunden
mit Eisenstäben, Gummiknüppeln und Peitschen auf die Opfer eingedroschen. Eingeschlagene Zähne
und gebrochene Knochen legten von den Torturen Zeugnis ab. Als wir eintraten, lagen diese lebenden
Skelette reihenweise mit eiternden Wunden auf dem faulenden Stroh. Es gab keinen, dessen Körper
nicht vom Kopf bis zu den Füßen die blauen, gelben und grünen Male der unmenschlichen Prügel an
sich trug. Bei vielen waren die Augen zugeschwollen, und unter den Nasenlöchern klebten Krusten
geronnenen Blutes. Es gab kein Stöhnen und Klagen mehr; nur starres Warten auf das Ende oder
neue Prügel.
Bericht des ersten Gestapo-Chefs Rudolf Diels, in: a. a. O., S.. 32 f.
bpb.de
Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
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Tag von Potsdam
Zur gleichen Zeit zeigte das Regime unter der Regie des neuen Propagandaministers Goebbels sein
anderes Gesicht, das allemal angenehmer wahrzunehmen war. Gelegenheit dazu bot die feierliche
Eröffnung des neuen Reichstages.
Mit dem "Tag von Potsdam" zum Frühlingsanfang am 21. März inszenierte Hitler und der neuernannte
Propagandaminister Joseph Goebbels am Traditionsort preußischer Geschichte die "Versöhnung des
alten mit dem jungen Deutschland". Alle waren zum Fest der nationalen Versöhnung aus Anlaß der
feierlichen Eröffnung des Reichstages geladen: Parteigenossen und Bündnispartner, SA-Führer und
Reichswehroffiziere, Männer der Wirtschaft und der Verwaltung, ehemals gekrönte Häupter und
Generäle des kaiserlichen Deutschland. Nur Sozialdemokraten und Kommunisten waren nicht
geladen. Sie waren, wie Innenminister Frick höhnisch bemerkte, "durch dringende und nützliche
Arbeiten [...] in den Konzentrationslagern" am Erscheinen gehindert worden.
Der Tag in Potsdam begann mit Festgottesdiensten, denn auch Vertreter der Kirchen wollten bei der
propagierten nationalen Versöhnung nicht abseits stehen. Danach kam es auf den Stufen der
Garnisonskirche zu der millionenfach reproduzierten Begegnung zwischen Hindenburg und Hitler.
Der "unbekannte Gefreite des Weltkrieges", im schwarzen Cut, verbeugte sich tief vor dem
Reichspräsidenten, der die Uniform eines kaiserlichen Generalfeldmarschalls trug. Im Altarraum der
Kirche verharrte Hindenburg vor dem leeren Stuhl des Kaisers und hob grüßend den Marschallstab.
Hinter dem Stuhl saß der Kronprinz, auch er in preußischer Generalsuniform. Hitler folgte respektvoll
und befangen. Auch das folgende minutiös einstudierte Programm mit Orgelmusik und Choral, einer
kurzen Ansprache Hindenburgs und einer betont feierlichen und in den Aussagen allgemein gehaltenen
Rede Hitlers war ganz darauf ausgerichtet, den schönen Schein einer "nationalen Vermählung
vollzogen zwischen den Symbolen der alten Größe und der jungen Kraft"so Hitler, zu erzeugen. Nach
dieser feierlichen Eröffnung begann dann die Arbeit des Reichstages, die in der Konzeption Hitlers
nur dessen Selbstabdankung bringen sollte.
In der Tat, die "Potsdamer Rührkomödie" (Friedrich Meinecke) verfehlte ihre Wirkung im In- und Ausland
nicht. Das "Dritte Reich" hatte sich als legitimer Erbe des "Zweiten Reichs" Bismarcks präsentieren
und den Eindruck erwecken können, als sei die Zähmung der dynamischen nationalsozialistischen
Bewegung durch den preußisch-deutschen Konservativismus gelungen.
Ermächtigungsgesetz
Zwei Tage später, bei der Abstimmung über das Ermächtigungsgesetz in der Kroll-Oper, wo der
Reichstag nun in Zukunft tagen sollte, hatte sich die Kulisse völlig verändert. Statt des schönen Scheins
der Tradition nun die Drohgebärde der vor und in dem Gebäude aufmarschierten SA-Verbände. Auch
Hitler kam nun in Parteiuniform. Reichstagspräsident Göring hatte zuvor schon alle Vorkehrungen
getroffen, damit die Zweidrittelmehrheit der Anwesenden und der Stimmen erreicht würde. Denn nach
Artikel 76 der Weimarer Reichsverfassung benötigten "Beschlüsse des Reichstages auf Abänderung
der Verfassung" eine Zweidrittelmehrheit, sofern mindestens auch "zwei Drittel der gesetzlichen
Mitgliederzahl anwesend sind." Die 81 KPD-Abgeordneten waren rechtswidrig erst gar nicht eingeladen
worden und 26 SPD-Abgeordnete waren bereits verhaftet oder geflohen. Durch einen
Geschäftsordnungstrick wurden nun die unentschuldigt fehlenden oder ausgeschlossenen
Abgeordneten als anwesend gerechnet. Damit war eine Verhinderung oder Verzögerung des
Abstimmungsverfahrens durch die parlamentarischen Möglichkeiten der Geschäftsordnung von
vorneherein unmöglich. Nun hing alles vom Verhalten des Zentrums und der Bayerischen Volkspartei
(BVP) ab. In mehrtägigen Gesprächen mit den Vertretern des politischen Katholizismus waren Zusagen
gemacht worden, auf die Hitler in seiner Rede werbend einging, indem er vor allem die Rechte der
Kirchen einzuhalten versprach.
Auseinandersetzungen im Zentrum
bpb.de
Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
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Die Verhandlungen mit den Nationalsozialisten im Vorfeld der Reichstagssitzung hatten die
Zentrumsfraktion vor eine schwere innere Zerreißprobe gestellt. Gegen den Willen einer Minderheit
um Heinrich Brüning und Adam Stegerwald setzte sich der Parteivorsitzende Prälat Ludwig Kaas,
ohnehin ein Verfechter einer autoritären nationalen Sammlungspolitik, schließlich durch. Seine
Argumente waren durchaus einleuchtend, aber gleichwohl verhängnisvoll. Das Ermächtigungsgesetz
ändere in der politischen Wirklichkeit nichts an der Herrschaft Hitlers. Weite Teile der Basis der Partei
verlangten nach einem besseren Verhältnis zur NSDAP und seien kaum noch daran zu hindern, in
das Lager Hitlers zu wechseln. Schließlich belastete das Zentrum das Trauma des Kulturkampfes
unter Bismarck, der mit der Einführung der Alleingültigkeit der Zivilehen und der staatlichen
Schulaufsicht zu wesentlichen Einbußen der kirchlichen Disziplinargewalt im öffentlichen Leben
beigetragen hatte. Man wollte nicht noch einmal in die Rolle eines Reichsfeindes geraten. Die
Zentrumsführung verließ sich auf die Zusagen Hitlers, daß man die bestehenden Länderkonkordate
zwischen dem Vatikan und Baden, Bayern und Preußen anerkenne, den christlichen Einfluß auf die
Schule respektiere und zusammen mit dem Zentrum ein Gremium zur fortlaufenden Information über
die Maßnahmen der Reichsregierung bilden werde.
Umstritten und nicht belegbar ist die Vermutung, bei der Entscheidung des Zentrums für das
Ermächtigungsgesetz hätten auch konkrete Absichtserklärungen über ein Reichskonkordat eine Rolle
gespielt, das in der Tat einige Wochen später verhandelt und abgeschlossen wurde. Auch war die
Vorstellung, den organisatorischen Kern des katholischen Lagers, nämlich das Verbandsleben, durch
diese Entscheidung zu retten, durchaus plausibel. Daß sie bei ihrem Bemühen, "Schlimmeres" zu
verhindern, die Wortbrüchigkeit der Nationalsozialisten unterschätzten, wurde erst später erkennbar.
All das aber belegte noch einmal, wie entscheidend für die Erfolge Hitlers neben dem skrupellosen
nationalsozialistischen Machtwillen die innere Schwäche bzw. Zerstrittenheit der politischen Gegner
war. Das gilt auch für die Deutsche Staatspartei, die sich in der politischen Situation des Frühjahrs
1933 nicht anders verhielt und trotz warnender Stimmen dem Gesetz schließlich zustimmte.
Verstärkt haben dürfte die Zustimmung zum Gesetz, die mit 444 Ja-Stimmen gegen 94 Nein-Stimmen
endete, auch die Rede Hitlers, die rhetorisch geschickt Werbung und Versprechungen mit Drohungen
verband. Die Regierung, so Hitler, biete den Parteien die "Möglichkeit einer ruhigen Entwicklung und
einer sich daraus in Zukunft anbahnenden Verständigung" an. Auch die Rechte des Reichstages, des
Reichsrates oder des Reichspräsidenten werde man nicht antasten. Zugleich aber drohte Hitler, er
sei "ebenso entschlossen und bereit, die Bekundung der Ablehnung und damit die Ansage des
Widerstandes entgegenzunehmen." Die Entscheidung über "Frieden und Krieg" läge bei den
Abgeordneten selbst. Aber was sollten alle Beschwichtigungen, wenn mit jedem Artikel des "Gesetzes
zur Behebung der Not von Volk und Reich" (Ermächtigungsgesetz) ein Eckstein aus der Verfassung
herausgebrochen wurde. Reichsgesetze konnten hinfort auch von der Reichsregierung beschlossen
werden; diese Gesetze durften von der Verfassung abweichen; der Reichskanzler konnte anstelle des
Reichspräsidenten die Gesetze ausfertigen und verkünden. Artikel 4 des Ermächtigungsgesetzes
übertrug auch das Recht zum Abschluß von Verträgen mit fremden Staaten allein auf die
Reichsregierung. Der fünfte und letzte Artikel war dazu angetan, trügerische Hoffnungen zu nähren.
Die Gültigkeit des Gesetzes war auf vier Jahre beschränkt und an die Existenz der gegenwärtigen
Regierung gebunden. Doch es sollte noch zweimal verlängert werden und blieb wie die
Reichstagsbrandverordnung bis zum Ende des "Dritten Reiches" in Kraft.
Ablehnung durch die SPD
Nur ein Abgeordneter, der sozialdemokratische Parteivorsitzende Otto Wels, wagte es, in maßvoller
und würdiger Form unter den drohenden Blicken der SA-Truppen die Ablehnung seiner Partei zu
erläutern. Es war ein Zeugnis von Unerschrockenheit und ein letztes öffentliches Bekenntnis zur
Demokratie. Wels begründete die Ablehnung mit den Verfolgungen, die die SPD in der letzten Zeit
erfahren habe und mahnte, daß auf Gewalt und Unrecht keine Volksgemeinschaft begründet werden
könne. "Ihre erste Voraussetzung ist gleiches Recht." Eine Regierung könne nur Strenge walten
lassen, "wenn es nach allen Seiten gleichmäßig und unparteiisch geschieht und wenn man es unterläßt,
bpb.de
Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
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besiegte Gegner zu behandeln, als seien sie vogelfrei. Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die
Ehre nicht." Wels schloß sein Bekenntnis zu Rechtsstaat und Demokratie mit einem Gruß an die "
Verfolgten und Bedrängten".
Hitler stürzte darauf mit äußerster Erregung an das Rednerpult: "Die schönen Theorien, die Sie, Herr
Abgeordneter, soeben hier verkündeten, sind der Weltgeschichte etwas zu spät mitgeteilt worden.
Vielleicht hätten diese Erkenntnisse, praktisch angewendet vor Jahren, die heutigen Klagen von Ihnen
erspart." Es war eine zynische und rhetorisch gekonnte Replik, die sich in das Gewand der radikalen
Kritik am sozialdemokratischen Reformismus hüllte und der SPD jeden Anspruch auf die Vertretung
nationaler und sozialer Interessen bestritt. Schließlich enthüllte Hitler das revolutionäre, gewalttätige
Verständnis der Nationalsozialisten von Politik und Recht: "Auch Ihre Stunde hat geschlagen, und nur
weil wir Deutschland sehen und seine Not und die Notwendigkeit des nationalen Lebens, appellieren
wir in dieser Stunde an den Deutschen Reichstag, uns zu genehmigen, was wir ohnedem hätten
nehmen können. Des Rechts wegen tun wir es - nicht weil wir die Macht überschätzen, sondern weil
wir uns am Ende mit denen, die vielleicht heute von uns getrennt sind, aber doch an Deutschland
glauben, einst vielleicht leichter finden können. Denn ich möchte nicht in den Fehler verfallen, Gegner
bloß zu reizen, statt sie entweder zu vernichten oder zu versöhnen."
Zur Täuschung und wegen der plebiszitären Werbung wählte Hitler den scheinlegalen Weg des
Ermächtigungsgesetzes, um eine politische Ordnung mit möglichst breitem Konsens zu errichten, in
der es entweder nur Zustimmung oder Vernichtung geben könne. Tatsächlich beschloß das
Ermächtigungsgesetz eine weitere Etappe der nationalsozialistischen Machtergreifung. Der "Völkische
Beobachter", das politisch-propagandistische Massenblatt der NSDAP, bilanzierte zufrieden: "Für vier
Jahre kann Hitler alles tun, was notwendig ist für die Rettung Deutschlands. Negativ in der Ausrottung
der volkszerstörenden marxistischen Gewalten, positiv im Aufbau einer neuen Volksgemeinschaft."
Stabilisierung des Regimes
Gerade zwei Monate hatte Hitler gebraucht, um sich von seinen konservativen "Bändigern" frei zu
machen. Er war nun unabhängig vom Reichspräsidenten und auch von den deutschnationalen
Partnern. Eine organisierte Gegenwehr, möglichst noch auf dem Boden der Verfassung, war nun
unmöglich geworden. Hitler konnte nun das Gewicht der nationalsozialistischen Massenbewegung
auch gegen die konservativen Regierungspartner ausspielen. In ihrem blinden Eifer gegen
Parlamentarismus und linke Parteien hatten Papen und Hugenberg übersehen, daß sie nach deren
Ausschaltung kein Gegengewicht gegen die Übermacht der NSDAP hatten und daß der Weg zurück
zu einer autoritären Verfassung schon längst nicht mehr möglich war. Auch die weitere Stoßrichtung
der politischen Dynamik der NSDAP war nun deutlich erkennbar.
Otto Wels (SPD) zum "Ermächtigungsgesetz"
am 23. März 1933
[
] Nach den Verfolgungen, die die Sozialdemokratische Partei in der letzten Zeit erfahren hat, wird
billigerweise niemand von ihr verlangen oder erwarten können, daß sie für das hier eingebrachte
Ermächtigungsgesetz stimmt. Die Wahlen vom 5. März haben den Regierungsparteien die Mehrheit
gebracht und damit die Möglichkeit gegeben, streng nach Wortlaut und Sinn der Verfassung zu regieren.
Wo diese Möglichkeit besteht, besteht auch die Pflicht. Kritik ist heilsam und notwendig. Noch niemals,
seit es einen Deutschen Reichstag gibt, ist die Kontrolle der öffentlichen Angelegenheiten durch die
gewählten Vertreter des Volkes in solchem Maße ausgeschaltet worden, wie es jetzt geschieht, und
wie es durch das neue Ermächtigungsgesetz noch mehr geschehen soll. Eine solche Allmacht der
Regierung muß sich um so schwerer auswirken, als auch die Presse jeder Bewegungsfreiheit entbehrt.
bpb.de
Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
162
[]
Wir haben gleiches Recht für alle und ein soziales Arbeitsrecht geschaffen. Wir haben geholfen, ein
Deutschland zu schaffen, in dem nicht nur Fürsten und Baronen, sondern auch Männern aus der
Arbeiterklasse der Weg zur Führung des Staates offen steht. Davon können Sie nicht zurück, ohne
Ihren eigenen Führer preiszugeben. Vergeblich wird der Versuch bleiben, das Rad der Geschichte
zurückzudrehen. Wir Sozialdemokraten wissen, daß man machtpolitische Tatsachen durch bloße
Rechtsverwahrungen nicht beseitigen kann. Wir sehen die machtpolitische Tatsache Ihrer
augenblicklichen Herrschaft. Aber auch das Rechtsbewußtsein des Volkes ist eine politische Macht,
und wir werden nicht aufhören, an dieses Rechtsbewußtsein zu appellieren.
[
] Wir deutschen Sozialdemokraten bekennen uns in dieser geschichtlichen Stunde feierlich zu den
Grundsätzen der Menschlichkeit und der Gerechtigkeit, der Freiheit und des Sozialismus. Kein
Ermächtigungsgesetz gibt Ihnen die Macht, Ideen, die ewig und unzerstörbar sind, zu vernichten. [
] Das Sozialistengesetz hat die Sozialdemokratie nicht vernichtet. Auch aus neuen Verfolgungen kann
die deutsche Sozialdemokratie neue Kraft schöpfen.
Wir grüßen die Verfolgten und Bedrängten. Wir grüßen unsere Freunde im Reich. Ihre Standhaftigkeit
und Treue verdienen Bewunderung. Ihr Bekennermut, ihre ungebrochene Zuversicht verbürgen eine
hellere Zukunft.
Wolfgang Michalka (Hg.), Das Dritte Reich. Dokumente zur Innen- und Außenpolitik, Band 1, München
1985, S. 33 ff.
Allen Beteuerungen zum Trotz war das Gesetz ganz offenkundig nicht legal zustandegekommen. Alle
institutionellen Sicherungen, die gegen den Mißbrauch eingebaut worden waren, bestanden ein Jahr
später nicht mehr. Der Reichstag war völlig gleichgeschaltet, der Reichsrat aufgelöst und das Amt des
Reichspräsidenten existierte nach dem Tode von Hindenburgs (1934) als unabhängige
Verfassungsinstitution auch nicht mehr. Verfassungswidrig war schon bei der Abstimmung über das
Ermächtigungsgesetz die Zusammensetzung des Reichsrates, der einem verfassungsändernden
Gesetz mit einer qualifizierten Mehrheit ebenfalls zustimmen mußte. Dort aber saßen seit Mitte März
nicht mehr Vertreter demokratisch gewählter Länderregierungen, sondern Beauftragte von
Reichskommissaren. Das Ermächtigungsgesetz hat der Stabilisierung des Regimes große Dienste
geleistet, und das war sein eigentlicher Zweck. Denn es bot den im formalen Denken großgewordenen
konservativen Sympathisanten und Beamten die Möglichkeit, das Gewissen zu beruhigen und ihre
Vorstellungen von Staat und Recht scheinbar zu befriedigen.
Ermächtigungsgesetz
vom 24. März 1933
Der Reichstag hat das folgende Gesetz beschlossen, das mit Zustimmung des Reichsrats hiermit
verkündet wird, nachdem festgestellt ist, daß die Erfordernisse verfassungsändernder Gesetzgebung
erfüllt sind:
Art. 1. Reichsgesetze können außer in dem in der Reichsverfassung vorgesehenen Verfahren auch
durch die Reichsregierung beschlossen werden. []
Art. 2. Die von der Reichsregierung beschlossenen Reichsgesetze können von der Reichsverfassung
bpb.de
Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
163
abweichen, soweit sie nicht die Einrichtung des Reichstags und des Reichsrats als solche zum
Gegenstand haben. Die Rechte des Reichspräsidenten bleiben unberührt.
Art. 3. Die von der Reichsregierung beschlossenen Reichsgesetze werden vom Reichskanzler
ausgefertigt und im Reichsgesetzblatt verkündet. Sie treten, soweit sie nichts anderes bestimmen, mit
dem auf die Verkündung folgenden Tage in Kraft. []
Art. 4. Verträge des Reichs mit fremden Staaten, die sich auf Gegenstände der Reichsgesetzgebung
beziehen, bedürfen nicht der Zustimmung der an der Gesetzgebung beteiligten Körperschaften. Die
Reichsregierung erläßt die zur Durchführung dieser Verträge erforderlichen Vorschriften.
Art. 5. Dieses Gesetz tritt mit dem Tage seiner Verkündung in Kraft. Es tritt mit dem 1. April 1937 außer
Kraft; es tritt ferner außer Kraft, wenn die gegenwärtige Reichsregierung durch eine andere abgelöst
wird.
Wolfgang Michalka (Hg.), Das Dritte Reich. Dokumente zur Innen- und Außenpolitik, Band 1, München
1985, S. 35.
Auszug aus:
Informationen zur politischen Bildung (Heft 251) - Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft
bpb.de
Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
164
Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft (Teil 2)
Von Hans-Ulrich Thamer
6.4.2005
geb. 1943, ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Münster. Seine Forschungsschwerpunkte sind der
Nationalsozialismus und der europäische Faschismus.
Veröffentlichungen u.a.:Verführung und Gewalt. Deutschland 1933-1945, (Die Deutschen und ihre Nation, Bd. 5), Berlin 1986; Der
Nationalsozialismus, Stuttgart 2002.
Mitte des Jahres 1934 war die nationalsozialistische Diktatur installiert und die so genannte
Machtergreifung abgeschlossen. Parteienverbote, Gleichschaltung der Verbände, Berufsverbote
und eine allumfassende Durchdringung der Gesellschaft zementierten den alleinigen
Machtanspruch des Regimes.
Ende der Parteien
Mit der Zerstörung des Parlamentarismus und der Ausschaltung des Reichstages hatten die Parteien
ihren Sinn verloren, längst bevor sie zwangsweise aufgelöst wurden oder sich selbst auflösten. Daß
die Auflösung und Gleichschaltung der Parteien sich so rasch vollzog, hatte auch damit zu tun, daß
dieser Vorgang einherging mit Gleichschaltung der wichtigsten gesellschaftlichen Organisationen und
ihres jeweiligen sozialen Umfeldes. So war die Zerstörung der Gewerkschaften, die am 1./2. Mai in
einem Wechselspiel von Propaganda und Gewalt erfolgte, Voraussetzung und letzte Etappe im Prozeß
der Gleichschaltung der SPD.
Auch beim Untergang der Parteien gibt es gemeinsame Verlaufs- und Verhaltensmuster, die wir bei
allen Vorgängen finden, die in einer charakteristischen zeitlichen Staffelung und in einer
unterschiedlichen Dosierung von Zwang und Gewalt praktiziert wurden. Immer kamen
Selbstanpassung und Resignation, die Sorge um die materielle Existenz und berufliche Karriere sowie
die nackte Angst vor Repressalien, Einschüchterungen und Verfolgung zusammen. Sie führten zu
einer Abnahme der Mitglieder und oft auch zu einem Streit in der Parteiführung, was den
Nationalsozialisten den tödlichen Schlag erleichterte. Allerdings darf man die kriminellen Energien der
Nationalsozialisten bei der Einschüchterung und Verfolgung der politischen Gegner nicht
unterschätzen. Sie waren bislang unbekannt und erreichten vor dem Hintergrund einer Verrohung der
politischen Kultur und einer Bürgerkriegsmentalität eine neue Dimension.
Arbeiterparteien
Die Schläge gegen die politische Linke kamen besonders schnell und mit der Wucht des
nationalsozialistischen Machtwillens. Der Vernichtungsfeldzug gegen die Kommunisten war von
Anfang an Bestandteil und Rechtfertigung der Machtergreifungspolitik. Die endgültige Ausschaltung
der Sozialdemokratie, die seit Februar schon keine geordnete Parteiarbeit mehr durchführen konnte,
begann nach der Verabschiedung des Ermächtigungsgesetzes. Wesentlich moderater verfuhren die
Nationalsozialisten mit den bürgerlichen Parteien und ihren Anhängern. Drohungen und meist kurze
Verhaftungen wurden als Druckmittel eingesetzt, um den Prozeß der Selbstauflösung zu
beschleunigen.
Zuerst gingen die Nationalsozialisten gegen die kommunistische Partei und ihre Nebenorganisationen
von der "Revolutionären Gewerkschaftsopposition" (RGO) bis zum "Kommunistischen Jugendverband
" (KJVD) vor. Sie waren schon seit dem Reichstagsbrand zerschlagen, ihre Funktionäre verhaftet oder
bpb.de
Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
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verfolgt. Die Partei war aus taktischen Überlegungen zunächst noch nicht verboten. Als im Zuge des
ersten Gleichschaltungsgesetzes der Länder vom 31. März alle kommunistischen Mandate in Ländern
und Kommunen gestrichen wurden, bedeutete das zugleich, daß die KPD als politische Partei nicht
mehr zugelassen war. Verheerend für die Situation vieler KPD-Mitglieder wirkte sich aus, daß sie
infolge des radikalisierten Antikommunismus und einer großen Denunziationsbereitschaft kaum mit
Unterstützung und Schutz in der Bevölkerung rechnen konnten. Genausowenig kam Hilfe von außen,
denn die Moskauer Zentrale nahm die Kommunistenverfolgung in Deutschland als innere
Angelegenheit bemerkenswert unbeteiligt hin.
Kaum weniger verhaßt war den Nationalsozialisten das "Reichsbanner", Gegner vieler Straßenkämpfe
in der Spätphase der Weimarer Republik. Büros und einzelne Ortsgruppen dieser
sozialdemokratischen Kampforganisation waren schon im März durch polizeiliche Zwangsmaßnahmen
lahmgelegt worden. Die Mitglieder waren durch den Terror der SA entnervt. Nach der Märzwahl kam
es in vielen Ländern zu förmlichen Verboten. Am 2. Mai ging der Vorsitzende Karl Höltermann in die
Emigration, um der drohenden Verhaftung zu entgehen.
Mit der Zerschlagung ihrer Kampforganisation und auch der Gewerkschaften waren der SPD ihre
wichtigsten gesellschaftlichen Stützen genommen. Mitglieder und Parteiführer waren durch
permanente Drangsalierungen, Zeitungsverbote und der Besetzung von Parteihäusern seit Februar
demoralisiert und befanden sich in einem Zustand der Resignation. Es häuften sich die Austritte von
Beamten und Angestellten, die um ihre Stellung fürchteten. Ein Schulrat begründet seinen Austritt mit
seinen angeblichen Loyalitätspflichten: "Da ich stets die Auffassung vertreten habe, daß es für keine
Behörde und Regierung auf die Dauer tragbar ist, ihre Beamten parteipolitisch in Opposition zu wissen,
erkläre ich hiermit meinen Austritt aus der Partei."
Zur Auflösung und wachsenden Repression kam die innere Schwächung durch Auseinandersetzungen
über den richtigen Kurs und durch die Spaltung der Parteiführung in Emigranten und
Daheimgebliebene. Der vormalige Reichstagspräsident, Paul Löbe, blieb in Berlin, um "Schlimmeres
zu verhüten", während der Chefredakteur der am 28. Februar verbotenen Parteizeitung "Vorwärts",
Friedrich Stampfer, Anfang Mai nach Prag ging, um die Emigration der Parteiführung vorzubereiten.
Im Kern ging es bei dem innerparteilichen Konflikt um die Einschätzung des Nationalsozialismus und
das angemessene Verhalten gegenüber der nationalsozialistischen Bedrohung. Sollte man sich an
einen strikten Kurs der Legalität halten, um den Kern der eigenen Organisation zu retten und der NSRegierung keinen Vorwand für ein Verbot zu liefern, oder sollte man sich zu einem entschiedenen
Widerstand bekennen und dafür auch Verbot und Emigration, im schlimmsten Falle auch Verhaftung
und Verfolgung hinnehmen. Zum offenen Konflikt kam es, als Hitler nach seiner propagandistisch
geschickten Friedensrede an das Ausland am 17. Mai 1933 dem Reichstag eine Friedensresolution
vorlegte, die die SPD vor die Alternative der Zustimmung oder der prinzipiellen Ablehnung stellte. Die
Zustimmung der Reichstagsfraktion um Paul Löbe erfolgte auch aus dem Dilemma heraus, daß
Innenminister Frick gedroht hatte, im Ablehnungsfalle wären Leib und Leben der bereits verhafteten
Sozialdemokraten gefährdet. Löbes Entscheidung zur Zustimmung resultierte auch aus dem
traditionellen Selbstverständnis der SPD, die sich in ihrer Geschichte immer für Friedensappelle und
die Forderung nach nationaler Gleichberechtigung eingesetzt hatte, und nun auch meinte, sich einem
solchen Aufruf nicht entziehen zu können, um nicht wieder wie im Kaiserreich als "Reichsfeinde" und "
vaterlandslose Gesellen" verleumdet zu werden.
Doch weder der Rückgriff auf historische Ähnlichkeiten noch Stillhalten und das Ertragen der damit
verbundenen Demütigungen halfen gegen den Vernichtungswillen der Nationalsozialisten. Nun diente
die Tätigkeit der Exil-SPD, die am 18. Juni in Prag zum Sturz des Hitler-Regimes aufgerufen hatte,
als Vorwand, um am 22. Juni jede politische Tätigkeit der SPD zu untersagen, die Parlamentsmandate
zu kassieren und die noch greifbaren Parteiführer zu verhaften.
Mit der Vernichtung der größten Oppositionspartei war auch das Schicksal der kleinen bürgerlichen
Parteien besiegelt. Fast unbemerkt vollzog sich ihre Selbstauflösung, der allerdings im Falle der
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Staatspartei (vor 1930: DDP) die üblichen Drohungen der Nazis vorangegangen waren. Keiner
Gewaltandrohung bedurfte es bei der Deutschen Volkspartei (DVP), die einen Tag später am 28. Juni
die von der Mehrheit der Mitglieder geforderte Auflösung vollzog, in dem Bewußtsein, daß ihr Ziel
eines "nationalen Einheitsstaates" und der Aufhebung des "Konfessionalismus" von Hitler in "
monumentaler Form" verwirklicht worden sei.
Aufgabe des Zentrums
Der Untergang des katholischen Zentrums und der bayerischen Schwesterpartei BVP vollzog sich
nach demselben Mechanismus von Anpassung und Resignation, von organisatorischen
Selbstbehauptungsversuchen und Auflösungstendenzen, von staatlichem Zwang und politischen
Verlockungen. Nach dem Verlust der parlamentarischen Schlüsselposition und nach der Zustimmung
zum Ermächtigungsgesetz ging es auch für den politischen Katholizismus um die
Existenzberechtigung. Zu dem wachsenden politischen Druck und den deutlichen
Abwanderungsbewegungen der Anhängerschaft kam die Entscheidung der Oberhirten der
katholischen Kirche in Deutschland, die der Behauptung der kulturpolitischen und seelsorgerischen
Stellung der Kirche in Deutschland absoluten Vorrang vor der politischen Parteiorganisation gaben.
Das war der Sinn der Erklärung der Fuldaer Bischofskonferenz vom 28. März, die zur loyalen
Unterstützung des neuen Staates aufgerufen hatte. Auf dieser Linie bewegten sich die Verhandlungen
über ein Reichskonkordat, die Prälat Kaaseit April zusammen mit von Papen im Auftrag der
Reichsregierung in Rom führte und dafür auch die eigene Partei führungslos zurückließ. Auch Heinrich
Brüning, der mit umfangreichen Vollmachten ausgestattet, am 6. Mai den Parteivorsitz übernahm,
konnte der Partei den Überlebenswillen nicht wiedergeben. Dazu war der Auflösungsprozeß in der
Partei und den Christlichen Gewerkschaften schon zu weit vorangeschritten, hatten die Verhaftung
und Behinderungen von Parteiangehörigen den Lebensnerv schon zu sehr getroffen.
Völlig aussichtslos erschien die Situation der Partei schließlich durch das Reichskonkordat und die
darin vom Vatikan gegebene Zustimmung zu einem Verbot der parteipolitischen Betätigung der
katholischen Geistlichen. Für Brüning gab es keinen Zweifel mehr, daß der Vatikan die Existenz des
Zentrums zu opfern bereit war. Es blieben Resignation und Selbstauflösung am 5. Juli, nachdem die
Bayerische Volkspartei (BVP) denselben Schritt einen Tag vorher nach Massenverhaftungen ihrer
Funktionäre vollzogen hatte.
Untergang der DNVP
Das Ende des deutschnationalen Bündnispartners der Nationalsozialisten, der DNVP, vollzog sich
wechselvoller und verdeutlichte noch einmal das ganze Dilemma und Versagen der konservativen
Zähmungspolitik. Auch Hugenberg und seine Parteifreunde, die sich dagegen wehrten, in die Rolle
hilfloser Zauberlehrlinge zu geraten, die der von ihnen ins Amt gehobenen Nationalsozialisten nicht
mehr Herr werden konnten, mußten am Ende einsehen, daß der Sog der Gleichschaltung der NSDAP
mit ihren Wählermassen und ihrer größeren Dynamik zugute kam. Das geschah auf der Ebene der
Regierungspolitik wie in der politischen Öffentlichkeit. Papen war gleich mehrmals als Kontrolleur
überspielt worden. Mit dem ungeschickten Taktieren des "Wirtschaftsdiktators" Hugenberg in der
nationalen wie in der internationalen Wirtschaftspolitik, das zunächst zu seiner Isolierung im Kabinett
und dann zu seinem Rücktritt am 26. Juni 1933 führte, war der letzte Eckpfeiler der Zähmungsstrategie
sang- und klanglos eingestürzt.
In der Partei war nach dem Ermächtigungsgesetz die Tendenz zur Selbstbehauptung durch Anpassung
in Organisation und politischem Stil gewachsen, doch auch die neugebildeten "Deutschnationalen
Kampfringe" konnten die politische Bewegung nicht auffangen. Hinzu kamen Verleumdungen,
Unterstellungen und Pressionen durch die Nationalsozialisten, die zunächst gegen die angeblichen
antinationalsozialistischen Aktivitäten des Fraktionsvorsitzenden Ernst Oberfohren gerichtet waren
und zu dessen Ablösung führten.
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Seit dem Übertritt von Stahlhelmführer Seldte am 26. April zur NSDAP gab es kein Halten mehr, zumal
der Druck auf die selbstbewußten Parteimitglieder noch zunahm, bis schließlich Mitglieder der "
Kampfringe" unter der aberwitzigen Behauptung verhaftet wurden, ihre Organisationen seien
marxistisch unterwandert. Immerhin war die DNVP die einzige Partei, die sich als Belohnung für ihre
Rolle als Steigbügelhalter der nationalsozialistischen Machteroberung durch ein "
Freundschaftsabkommen" vom 27. Juni ihr Ende versüßen ließ. Alle verhafteten Mitglieder wurden
entlassen, alle Abgeordneten als Hospitanten in die NSDAP aufgenommen. Der Stahlhelm war schon
am 21. Juni in die SA überführt worden.
Verhältnis von NSDAP und Staat
Der Zufall des Kalenders wollte es, daß am Jahrestag der Französischen Revolution am 14. Juli 1933
in Deutschland Parteiensystem und parlamentarische Demokratie mit dem "Gesetz gegen die
Neubildung von Parteien" zu Grabe getragen wurde. Die NSDAP wurde zur einzigen politischen Partei
in Deutschland erklärt. Die parlamentarische Willensbildung wurde mit dem "Gesetz über
Volksabstimmungen" am selben Tag durch die plebiszitäre Zustimmung ersetzt, für den Fall, daß das
Regime es für notwendig erachtete, seiner Herrschaft bzw. einzelnen Entscheidungen mit einer
Volksabstimmung ein scheindemokratisches Mäntelchen umzuhängen. Die Nationalsozialisten
achteten freilich darauf, daß der Gegenstand der Abstimmung und die Formulierung der Befragung
so gewählt waren, daß sie sich einer breiten Zustimmung sicher sein konnten. Goebbels verkündete
am 14. Juli 1933 den endgültigen Sieg über die Ideen der Aufklärung von 1789, doch zeigte das Gesetz
über die Volksabstimmungen, daß ohne plebiszitäre Elemente auch eine moderne charismatische
Diktatur nicht zu legitimieren war, daß sich das Rad der Geschichte nicht einfach vor 1789 zurückdrehen
ließ.
Daß mit diesem Akt, der von der Propaganda als Schlußstrich unter die angebliche Mißwirtschaft der
Parteien in der Weimarer Republik gefeiert wurde, neue verfassungspolitische Probleme im Verhältnis
von Monopolpartei und Staat entstanden, wurde von den Zeitgenossen nur dann wahrgenommen,
wenn sie ihren Zorn auf die "Bonzen" der Partei lenkten. Nach außen wurden alle Entscheidungen
zum Aufbau neuer Ämter und zusätzlicher Sonderbevollmächtigter als Leistungssteigerung gefeiert,
wo es in der Realität doch mitunter viel mehr Reibungsverluste und Widersprüche gab. Daß Hitler das
immer komplexer werdende Verhältnis von Parteiapparaten und führerunmittelbaren Machtträgern
aus der Partei einerseits zum Staat und seiner Verwaltung andererseits niemals eindeutig regelte,
gehört zu den Eigentümlichkeiten seines unberechenbaren personenorientierten Herrschaftssystem.
Daran änderten weder das am 1. Dezember 1933 erlassene "Gesetz zur Sicherung der Einheit von
Partei und Staat" noch die zahlreichen Proklamationen Hitlers er den Vorrang der Partei vor dem Staat
etwas. In dem Gesetz vom 1. Dezember wurde in einer sehr allgemeinen und verfassungsrechtlich
unverbindlichen Wendung die NSDAP zur "Körperschaft des öffentlichen Rechts" und zur "Trägerin
des deutschen Staatsgedankens" erklärt, die mit "dem Staat unlöslich verbunden" sei. Um eine enge
Zusammenarbeit von Partei und Staat zu gewährleisten, wurden Rudolf Heß als "Stellvertreter des
Führers" in der Partei und Ernst Röhm als Stabschef der SA Mitglieder der Reichsregierung ohne
Geschäftsbereich. Wie bedeutungslos eine solche Amtsbestellung im nationalsozialistischen Regime
sein konnte, beweisen die innerparteilichen Machtkämpfe in den folgenden Monaten, die mit der
Ermordung Röhms am 30. Juni 1934 und dem damit verbundenen Abschluß der Machtergreifung
endeten.
Gesetz gegen die Neubildung von Parteien
vom 14. Juli 1933
§ 1.In Deutschland besteht als einzige politische Partei die Nationalsozialistische Deutsche
Arbeiterpartei.
bpb.de
Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
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§ 2.Wer es unternimmt, den organisatorischen Zusammenhalt einer anderen politischen Partei
aufrechtzuerhalten oder eine neue politische Partei zu bilden, wird [
] mit Zuchthaus bis zu drei Jahren oder mit Gefängnis von sechs Monaten bis zu drei Jahren bestraft
[]
Wolfgang Michalka (Hg.), Das Dritte Reich. Dokumente zur Innen- und Außenpolitik, Band 1, München
1985, S. 43.
Gesetz zur Sicherung der Einheit von Partei und Staat
vom 1. Dezember 1933
§ 1. Nach dem Sieg der Nationalsozialistischen Revolution ist die nationalsozialistische Deutsche
Arbeiterpartei die Trägerin des deutschen Staatsgedankens und mit dem Staate unlöslich verbunden.
Sie ist eine Körperschaft des öffentlichen Rechts.
§ 2. Zur Gewährleistung engster Zusammenarbeit der Dienststellen der Partei und der SA. mit den
öffentlichen Behörden werden der Stellvertreter des Führers und der Chef des Stabes der SA. Mitglied
der Reichsregierung.
§ 3. Den Mitgliedern der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei und der SA. (einschließlich
der ihr unterstellten Gliederungen) als der führenden und bewegenden Kraft des nationalsozialistischen
Staates obliegen erhöhte Pflichten gegenüber Führer, Volk und Staat.
Sie unterstehen wegen Verletzung dieser Pflichten einer besonderen Partei- und SA.-Gerichtsbarkeit.
Der Führer kann diese Bestimmungen auf die Mitglieder anderer Organisationen erstrecken.
§ 4. Als Pflichtverletzung gilt jede Handlung oder Unterlassung, die den Bestand, die Organisation,
die Tätigkeit oder das Ansehen der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei angreift oder
gefährdet, bei Mitgliedern der SA. (einschließlich der ihr unterstellten Gliederungen) insbesondere
jeder Verstoß gegen Zucht und Ordnung. []
§ 8. Der Reichskanzler erläßt als Führer der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei und als
Oberster SA.-Führer die zur Durchführung und Ergänzung dieses Gesetzes erforderlichen Vorschriften
[]
Walter Hofer (Hg.), Der Nationalsozialismus. Dokumente 1933-1945, Frankfurt am Main 1965, S. 61 f.
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Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
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Gleichschaltung der Verbände
Auch die Gleichschaltung im gesellschaftlichen Bereich vollzog sich in unterschiedlichen Abstufungen
und mit ungleichmäßiger Intensität. Dazu bedurfte es mitunter brutaler Gewalt, oft aber nur noch eines
sanften Drucks. Der erste Schlag galt den Gewerkschaften, deren Ausschaltung Bestandteil des
Regierungsprogramms der "nationalen Erhebung" war. Wieder kamen innere Schwächen und
Fehleinschätzungen auf Seiten der Opfer und die Verbindung von Propaganda und Gewalt bei den
Verfolgern zusammen, um die einst mächtige Organisation der deutschen Arbeiterbewegung in
kürzester Zeit zu eliminieren.
Gewerkschaften
Trotz mancher Meinungsverschiedenheiten hatte sich der Allgemeine Deutsche Gewerkschaftsbund
(ADGB) bis zum Januar 1933 bei seinen Entscheidungen im Einklang mit der Sozialdemokratie
befunden. Nach den Wahlen vom 5. März suchten aber auch die Gewerkschaftsführer "der Zeit
Rechnung zu tragen". In einem Schreiben an Hitler distanzierte sich der ADGB-Vorsitzende Theodor
Leipart offen von der SPD. Vergessen waren alle demokratischen und sozialistischen
Glaubensbekenntnisse:Es ging nur noch um die Erfüllung der sozialen Aufgaben der Gewerkschaften, "
gleichviel welcher Art das Staatsregime ist". Es war die Sorge um die Erhaltung der eigenen
Organisation, die alle weiteren Schritte bestimmte. Die Gewerkschaftsführung ließ sich auf ein
Gespräch mit der "Nationalsozialistischen Betriebszellenorganisation" (NSBO) ein, um sich von der
noch immer unbedeutenden Nazi-Gewerkschaft sagen zu lassen, daß nicht genehme "marxistische
" Gewerkschaftsführer zurücktreten müßten.
Leipart erklärte, die Gewerkschaften hätten ein "Recht auf den Schutz des Staates" und stellte dafür
die Mitarbeit im neuen Staat in Aussicht. Der wiederum köderte die Gewerkschaftsführer mit der
trügerischen Verheißung alter Träume der Arbeiterbewegung. An die Stelle der miteinander
rivalisierenden Richtungsgewerkschaften sollte eine Einheitsgewerkschaft treten, und gleich nach dem
Tag von Potsdam inszenierten die Nationalsozialisten eine neue massenwirksame Schau, mit der die "
Volksgemeinschaft aller schaffenden Stände" gefeiert werden sollte.
Der traditionelle Tag der internationalen Arbeiterbewegung, der 1. Mai, wurde ausgerechnet vom
nationalsozialistischen Regime zum gesetzlichen Feiertag erklärt, nachdem die SPD in der Weimarer
Republik aus Rücksicht auf die bürgerlichen Koalitionspartner stets darauf verzichtet hatte. Am 17.
April notierte Goebbels in seinem Tagebuch über eine Absprache mit Hitler: "Den 1. Mai werden wir
zu einer grandiosen Demonstration deutschen Volkswillens gestalten. Am 2. Mai werden dann die
Gewerkschaftshäuser besetzt. Gleichschaltung auch auf diesem Gebiet. Es wird vielleicht ein paar
Tage Krach geben, aber dann gehören sie uns. Man darf hier keine Rücksicht kennen. [...] Sind die
Gewerkschaften in unserer Hand, dann werden sich auch die anderen Parteien und Organisationen
nicht mehr lange halten können."
Genauso sollte es kommen. Das Wechselbad von Verlockung und Drohung hätte nicht zynischer
ersonnen sein können. Man hatte sich eine Doppelstrategie ausgedacht, die Verwirrung stiften und
den Widerstand brechen sollte. Die ADGB-Führung meinte, bei einem solchen "Tag der nationalen
Arbeit" nicht abseits stehen zu dürfen, und rief schon am 19. April zur Teilnahme auf. Goebbels rief
mit pathetischen Parolen zum 1. Mai auf: "Ehret die Arbeit und achtet den Arbeiter! [...] Bekränzt eure
Häuser und die Straßen der Städte und Dörfer mit frischem Grün und den Farben des Reiches [...]
Deutsche aller Stände, Stämme und Berufe, reicht euch die Hände! Geschlossen marschieren wir in
die neue Zeit hinein."
Gleichzeitig wurde in aller Stille ein "geheimes Aktionskomitee zum Schutze der deutschen Arbeit
" unter Leitung des Stabsleiters der Politischen Organisation der NSDAP, Robert Ley, und des NSBOMannes Reinhold Muchow gebildet, um den entscheidenden Schlag für den 2. Mai vorzubereiten. "
Träger der Aktion soll die NSBO sein. SA bzw. SS ist zur Besetzung der Gewerkschaftshäuser und
der Inschutzhaftnahme der in Frage kommenden Persönlichkeiten einzusetzen. [...] Die Übernahme
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Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
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der Freien Gewerkschaften muß in einer Form vor sich gehen, daß dem Arbeiter und Angestellten das
Gefühl gegeben wird, daß sich diese Aktion nicht gegen ihn, sondern gegen ein überaltertes und mit
den Interessen der deutschen Nation nicht übereinstimmendes System richtet." Das zielte darauf, die
organisierte Arbeitschaft aus dem Zusammenhalt und Schutz ihrer Verbände herauszulösen, um
leichter über sie verfügen zu können. Denn die im März 1933 angelaufenen Betriebsrätewahlen hatten
der NSBO zwar eine Stimmenzunahme, aber keine Mehrheit gebrht, so daß eine Machtübernahme
von innen in der Arbeiterbewegung nicht zu erreichen war.
Am 1. Mai marschierte die Arbeiterschaft dann tatsächlich in einer Reihe mit denen, die ihnen zuvor
feindlich gegenübergestanden hatten. Auf einer Massenkundgebung auf dem Tempelhofer Feld in
Berlin sprach Hitler von der "Volksgemeinschaft", zu der der "nationale Staat" erziehen werde, und
von der "Erhebung" des Volkes über "Klassen, Stände und Einzelinteressen". Dies und das
Versprechen, zu einer "Veredelung des Begriffs der Arbeit" zu kommen, sprach Gefühle und
Erwartungen an, die viele teilten, ohne Nationalsozialisten zu sein.
Die andere nicht minder charakteristische Seite der nationalsozialistischen Sozialpolitik zeigte sich
am folgenden Tag bei den Partei- und SA-Aktionen gegen den ADGB. Alles verlief überfallartig:
Gewerkschaftshäuser, Büros, Banken und Redaktionen der freien Gewerkschaften wurden besetzt,
das gesamte Vermögen beschlagnahmt und eine Reihe führender Gewerkschafter in "Schutzhaft
" genommen, darunter auch der ADGB-Vorsitzende Leipart. Die Masse der Gewerkschaftsangestellten
erhielt das Angebot, unter der Leitung von NSBO-Kommissaren weiterzuarbeiten. Die
Machtdemonstration des 2. Mai brachte auch den übrigen Gewerkschaften das organisatorische Ende.
In den folgenden Tagen unterstellen sich die liberalen "Hirsch-Dunkerschen Gewerkschaften" und der
mitgliederstarke "Deutschnationale Handlungsgehilfen-Verband" dem Aktionskomitee des Robert Ley,
der sich damit unversehens an der Spitze einer NS-Großorganisation befand, freilich noch in einer
Konkurrenzsituation mit der NSBO, die sich zunächst die illusionäre Hoffnungachte, der Sieger des 2.
Mai 1933 zu sein.
"Wir kämpfen für die Verfassung und die Kommunisten dagegen"
Otto Wels erklärt, er habe die Sitzung mit Vertretern der Gewerkschaften einberufen, um zu besprechen,
welche letzten Abwehrmaßnahmen eventuell zu treffen wären. Aus den Betrieben kämen immerzu
Anfragen, zu welchem Zeitpunkt die Arbeit niedergelegt werden sollte. Die Genossen seien beruhigt
worden, die Diskussion in den Betrieben über die Einheitsfront [mit der KPD] sei aber sehr stark.
Verhaftungen und Zeitungsverbote mehrten sich, und es bestände die Gefahr, daß aus irgendeinem
besonderen Anlaß der Stein ins Rollen käme. Ein gewisser Anstoß dazu sei die Schlägerei und
Verhaftung in Lübeck mit Genosse Leber (Julius Leber, MdR [1924-1933], Anm. d. Red.) gewesen,
die unter der Arbeiterschaft eine große Erregung ausgelöst habe. Dazu käme die Auflösung des
[preußischen] Landtags durch Notverordnung und andere reaktionäre Maßnahmen, die so
aufpeitschend wirken könnten, daß die Arbeiter nicht mehr zu halten seien. Wir wüßten uns gewiß fern
von jeder Nervosität und Überstürzung, aber wir müßten uns auch einig werden, was gegebenenfalls
zu tun wäre. Wenn ein Generalstreik käme, wäre ja an Wahlen nicht zu denken. Wenn die Lawine ins
Rollen komme, müßten wir doch versuchen, sie in unsere Bahnen zu leiten. []
Leipart teilt mit, daß auch er mit Einheitsfrontvorschlägen bedacht worden sei, und zwar von Leuten
wie Käthe Kollwitz und Einstein. Auch habe man von ihm verlangt, er müßte eine Deutsche
Arbeiterpartei gründen. Er führe das hier nur als Kuriosum an.
Der ADGB habe mit den Christlichen und Hirsch-Dunckerschen Gewerkschaften gesprochen.
Besonders die Christlichen seien sehr scharf in Abwehrstellung.
Er aber müßte doch die Frage aufwerfen, welches Ziel wir bei einem Generalstreik stellen könnten.
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Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
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Die Arbeiter, die jetzt noch in Stellung seien, würden doch jedenfalls befürchten, ihren letzten
Arbeitsplatz zu verlieren. Die Begeisterung würde also wahrscheinlich nicht sehr stark für einen
Generalstreik sein. Wahrscheinlich würden sie unseren Parolen folgen. Dann müsse aber auch bedacht
werden, daß die Nazis mit ihrer SA sehr stark seien, die bei einem Streik die Betriebe besetzen würden.
Wenn wir als Ziel nur erklären könnten: Wir rufen zum Generalstreik auf, um wieder verfassungsmäßige
Zustände zu schaffen, würde das wohl als Parole nicht ausreichend sein, und er frage sich, ob wir
andere Parolen hätten.
Und wenn selbst die kommunistischen Arbeiter mitmachten, so sei in der Bewegung doch immer eine
gewisse Spaltung, denn wir kämpften für die Verfassung und die Kommunisten dagegen. [
] Er käme [
] zu dem Ergebnis, daß wir doch noch zuwarten müßten, bis ein offener Verfassungsbruch vorliege.
Stampfer: [
] Er sei nicht so ganz gegen einen befristeten Generalstreik von etwa einem Tage [
] Aber das sei nur möglich, wenn vorher eine Verständigung mit der KPD stattfände. Dabei müßte
ihnen ganz klipp und klar gesagt werden, daß unser Ziel nicht die Errichtung eines Sowjetdeutschlands
wäre. Vogel verweist darauf, daß die Leitung der deutschen Kommunistischen Partei ja nicht nur in
der Zentrale liege, sondern in Moskau. Wenn bei der nächsten Präsidentenwahl Hindenburg nicht
mehr kandidiert, die Kommunisten wieder mit ihren 6 Millionen Stimmen für einen Sonderkandidaten
stimmten, so sei mit Wahrscheinlichkeit damit zu rechnen, daß Hitler gewählt werde. Sie scheinen
nicht so viel Überlegung zu haben, daß sie sich sagen, daß es auch ihnen dann an Kopf und Kragen
gehe.
Graßmann meint, wenn wir Stampfers Ausführungen folgen wollten, wäre es schon am besten, wir
würden abdanken. Aus einer Unterredung mit den Kommunisten käme sicher nichts heraus. []
Hilferding bedauert, daß Stampfer sich immer wieder mit der Idee beschäftige, wir müßten mit den
Kommunisten reden. Eine Besprechung habe doch überhaupt nur mit der Leitung einen Zweck, unter
keinen Umständen dürfte der Gedanke einer gemeinsamen Kampfleitung aufkommen. Wenn sich die
Situation verschärfe und die Beunruhigung wachse, müßten wir die Führung in der Hand behalten. Es
wäre doch nicht damit zu rechnen, daß ein Generalstreik einen so friedlichen Verlauf nehme wie der
beim Kapp-Putsch. Es müßte doch schon in den ersten Stunden mit dem Bürgerkrieg gerechnet
werden.
Schlimme bemerkt, daß die Stimmung in den Betrieben für einen Generalstreik nicht sehr stark sei.
Auch die Beamten hätten wir nicht mehr völlig auf unserer Seite. Jetzt müßte zunächst Stimmung für
Wahlen gemacht werden. [...]
Otto Wels, Vorsitzender der SPD; Theodor Leipart, Vorsitzender des Allgemeinen Deutschen
Gewerkschaftsbundes; Friedrich Stampfer, SPD-Vorstand, Chefredakteur des "Vorwärts"; Hans Vogel,
Vorsitzender der SPD (1939-1945); Rudolf Hilferding, Reichsfinanzminister in der Weimarer Republik;
Hermann Schlimme, ADGB-Bundesvorstand.
Aus dem Protokoll einer Sitzung des SPD-Parteivorstandes mit Vertretern des Allgemeinen Deutschen
Gewerkschaftsbundes (ADGB) am 5. Februar 1933, in: Josef und Ruth Becker (Hg.), Hitlers
Machtergreifung 1933. Dokumente vom Machtantritt Hitlers, München 1983, S. 49 ff.
Mittelständische Organisationen
Hoffnungen auf einen Machtzuwachs hatte sich der "Nationalsozialistische Kampfbund für den
gewerblichen Mittelstand" gemacht, der die Gunst des Frühjahrs 1933 nutzte, um die traditionellen
mittelständischen Ressentiments und Aktionen gegen Warenhäuser, Filialgeschäfte, Konsumgenossenschaften
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und Kapitalgesellschaften neu zu beleben. Seit der zweiten Märzwoche organisierte der Kampfbund
überall im Lande Boykottaktionen gegen die jüdische Konkurrenz und alle Großbetriebsformen, die
Handwerk und Einzelhandel schon lange ein Dorn im Auge waren.
Diese Bewegung mündete in die staatlich sanktionierte Boykottaktion vom 1. April gegen jüdische
Geschäfte ein. Vor allem war sie der Hebel, um die mittelständischen Interessenverbände in die Hand
zu bekommen. Verbandsvorsitzende wurden zum Rücktritt gezwungen, jüdische Vorstandsmitglieder
ausgeschlossen und durch kommissarisch eingesetzte Angehörige des Kampfbundes ersetzt. Das
geschah im Einzelhandel ebenso wie in den Verbänden und Innungen des Handwerks. Auch in viele
Industrie- und Handelskammern konnte der Kampfbund eindringen, bis schließlich sein Führer Adrian
von Renteln mit seinem Stellvertreter Paul Hilland die Position des Präsidenten bzw. des
Geschäftsführers des Deutschen Industrie- und Handelstages erobern konnten.
Untergang der Agrarverbände
Am schnellsten fielen die Agrarverbände in nationalsozialistische Hand: In einigen von ihnen hatte die
NSDAP schon seit 1929/30 Fuß gefaßt. Dies nutzte Walter Darré, der Vorsitzende des
nationalsozialistischen Agrarpolitischen Apparates, im März 1933 ebenso wie die verbreitete Tendenz
zur Vereinheitlichung des landwirtschaftlichen Verbandswesens, zu deren Verfechter sich nun die
Nationalsozialisten wieder einmal machten.
Gab es Widerstände, wie im Falle der "Christlichen Bauernvereine", deren Präsident Andreas Hermes
sich einer Vereinigung widersetzte, so griff man zum Mittel der Verhaftung und des Vorwurfs der
angeblichen Veruntreuung. Schließlich konnte Darré alle Bauernvereine und den Reichslandbund
vereinigen, und sich am 4. April 1933 "bitten" lassen, den Vorsitz der "Reichsführergemeinschaft" der
landwirtschaftlichen Verbände zu übernehmen.
Erheblich mehr Druck mußte er aufwenden, um sich auch des landwirtschaftlichen
Genossenschaftswesens zu bemächtigen. Am 20. April 1933 konnte er auch in diesem Bereich Vollzug
melden, und auch die dritte Säule des landwirtschaftlichen Berufsstandes, die Kammern, fielen bald.
Damit waren alle landwirtschaftlichen Berufsvertretungen in der Hand Darrés, der sich am 29. Mai mit
dem Titel des "Reichsbauernführers" schmücken konnte. Als er nach dem Rücktritt Hugenbergs am
29. Juni 1933 auch noch das Amt des Landwirtschaftsministers übernahm, besaß er die Lenkung über
den gesamten staatlichen, verbandspolitischen und parteipolitischen Agrarbereich. Eine Machtfülle,
die nur Goebbels im Bereich der Kulturpolitik erreichen konnte.
Wirtschaftsverbände
Weniger dramatisch und weniger einschneidend verlief die Gleichschaltung der Industrie. Die
Einflußnahme in diesem wichtigen gesellschaftlichen Bereich geschah ebenfalls im Zusammenwirken
von Parteimaßnahmen von außen und dem Durchsetzungswillen von Hitler-Anhängern innerhalb des
Verbandes. Der Schwerindustrielle Fritz Thyssen, der bislang nicht im Präsidium des "Reichsverbandes
der Deutschen Industrie" (RDI) vertreten war, sah mit der Machtübernahme Hitlers auch die Chance
der eigenen Einflußmehrung. Auf einer Sitzung des RDI am 23. März stellte er ganz unverhohlen die
Machtfrage und forderte die Mitarbeit des Verbandes im neuen Staat sowie einen personellen Wechsel
in der Verbandsführung.
Am 1. April 1933 wurde die Geschäftsstelle des RDI von einem SA-Trupp besetzt, was der
nationalsozialistischen Fraktion im RDI nicht ungelegen kam. Das ganze endete damit, daß Otto
Wagener, Leiter der wirtschaftspolitischen Abteilung der NSDAP unter Androhung von Gewalt den
Rücktritt des Geschäftsführers des RDI, Geheimrat Ludwig Kastl, erzwang und auch das Ausscheiden
von Paul Silverberg, der als stellvertretender Verbandsvorsitzender sich seit 1932 für ein Bündnis der
Industrie mit der NSDAP eingesetzt hatte. Ihm wurde nun seine jüdische Herkunft zum Vorwurf
gemacht. Die verbliebene Geschäftsführung gab das geforderte "Gelöbnis unbedingter
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Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
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Gefolgschaftstreue". Thyssen wußte sich die Rückendeckung der Reichsregierung gegen jede
voreilige Sonderaktion zu sichern. Am 29. Mai fand eine Besprechung Hitlers mit führenden Industriellen
und Bankiers statt, zu deren Ergebnissen auch ein Erlaß Hitlers gehörte, mit dem die Welle von SATerror gegen angebliche korrupte Wirtschaftsführer gestoppt wurde.
Der Reichsverband, der sich am 22. Mai formell aufgelöst hatte, verwandelte sich, auch um die Kontrolle
der NS-Kommissare loszuwerden, in eine autoritär geführte Zentralorganisation der Industrie. Das
Führerprinzip wurde eingeführt, der RDI mit der Vereinigung deutscher Arbeitgeberverbände zum "
Reichsstand der deutschen Industrie" unter Führung von Gustav Krupp von Bohlen und Halbach
verschmolzen. Nach außen schien die Kontinuität gewahrt und der Gleichschaltungsvorgang glich
zunächst eher dem Auswechseln eines Türschildes. Man nahm den staatlichen Eingriff in die
traditionelle Verbandsautonomie hin und auch die Ausschaltung von rassisch und politisch mißliebigen
Mitgliedern. Nur der konservative Schwerindustrielle Emil Kirdorf, ein früher Anhänger Hitlers, prangerte
diese Vorgänge öffentlich als "Dolchstoß" an.
Entscheidend aber war, daß der neue Staat sich mit seinen wirtschaftspolitischen Ordnungsmodellen
scheinbar in Übereinstimmung mit den antigewerkschaftlichen Interessen der Unternehmer befand.
Auch mit ihren offen proklamierten Rüstungsabsichten stieß die nationalsozialistische Führung auf
eine Gemeinsamkeit der Interessen. Besiegelt wurde die neue Kooperation auf Gegenseitigkeit mit
der "Adolf-Hitler-Spende der deutschen Wirtschaft", die Krupp zusammen mit dem unermüdlichen
ehemaligen Reichsbankpräsidenten Hjalmar Schacht am 1. Juni gründete. Diese Aktion, die der
NSDAP aus weiten Kreisen der deutschen Wirtschaft Spenden einbrachte, bedeutete zugleich für den
einzelnen Spender eine gewisse Erleichterung, weil dadurch eine einheitliche Regelung des "
Spendensolls" festgelegt wurde und die zuvor nicht immer "freiwilligen" Spendenaktionen von Partei
und SA eingedämmt wurden. Mit der Einsetzung eines Beratungsgremiums von Staat und Industrie,
dem "Generalrat der deutschen Wirtschaft", schien die Regierung zudem d Erwartungen der
Schwerindustrie auf eine gezielte Einflußnahme zu entsprechen. Es waren ihr wirtschaftliches Potential
und ihre Unentbehrlichkeit bei den Aufrüstungsplänen, die der Industrie hinter der Fassade der
Gleichschaltung ein Eigengewicht gaben und ihr eine Art Teilhabe am Staat Hitlers sicherten. Nur das
Militär konnte sich eine ähnliche Stellung bewahren. Beide aber, die Industriellen wie die Generäle,
sollten durch dieses Bündnis immer mehr in die Abhängigkeit vom Regime geraten, die schließlich
auch zur Komplizenschaft wurde.
Durchdringung der gesamten Gesellschaft
Nicht nur das Tempo und die verwirrende Doppelstrategie der Machteroberung und Gleichschaltung,
sondern auch die Reichweite dieses Vorganges lähmten jede Gegenwehr. Die Gleichschaltungswelle
reichte bis hinunter in die Gemeinden und ihr Vereinsleben. Überall in Rathäusern und Amtsstuben,
in Hörsälen und Gerichtsverhandlungen, in Warenhäusern und Banken erschienen im Frühjahr 1933
SA-Leute; überall zwangen "Kommissare" mit fadenscheiniger Berechtigung, die Organisationen und
Institutionen sich von "Demokraten und Juden" personell zu "säubern" und sich Nationalsozialisten zu
unterstellen. Das reichte bis hin zu Kleintierzüchtervereinen und der Deutschen Stenografenschaft,
bis zu Jugendverbänden und kulturellen Einrichtungen. Meist waren es Aktionen lokaler Aktivisten, die
für sich selbst nun einen Platz an der "Futterkrippe" suchten. Ihr Aktivismus wurde von der Parteiführung
hingenommen bzw. unterstützt, weil er einerseits in die Machteroberungs- und
Einschüchterungsstrategie paßte, andererseits Unterführer der Parteiaktivisten die Möglichkeit
politischer Betätigung gab.
Das Jahr 1933 bedeutete auch für alle Frauen eine einschneidende Zäsur, da sie von nun an
systematisch aus der Berufs- und Arbeitswelt herausgedrängt und entsprechend dem Frauenbild der
Nationalsozialisten auf eine Rolle als Hausfrau und Mutter festgelegt wurden. Bei den zahlreichen
unmittelbar nach der Machtergreifung erlassenen frauenpolitischen Gesetzen handelte es sich
keineswegs nur um wirtschafts- und familienpolitische Maßnahmen. Dies wird auch aus einem Brief
der Berliner Schriftstellerin und Ministerialrätin Gertrud Bäumer deutlich, die 1933 ihrer Ämter enthoben
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Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
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wurde. Darin schreibt sie: "Daß sich die ganzen Entlassungen in unserer Reihe der höheren
Beamtinnen gegen die Frauen als solche richten, ist mir gestern bei uns im Ministerium noch einmal
bestätigt worden, Frick hat gegenüber den Ambitionen anderer Frauen mit schöner Offenheit gesagt: ,
Was haben die Damen in den Ministerien verloren?' Dabei müssen sie zu meiner Genugtuung für
meine Arbeit zwei Männer einberufen, einmal weil keiner alle die biete beherrscht, und dann, weil sie
auch keiner arbeitsmäßig bewältigt."
Zur erfolgreichen Eroberung der Macht gehörte auch die Durchsetzung des Totalitätsanspruches bzw.
der Anpassungsbereitschaft im kulturellen Bereich. Auch hier wirkte die Anziehungskraft des
Nationalsozialismus, die sich weniger auf eine ideologisch-kulturelle Attraktivität als auf die Erwartung
derer stützte, die zur Mitarbeit im neuen Staat bereit waren. Sie erwarteten, daß ihre eigenen Wünsche
und Vorstellungen auf Statusverbesserung oder auf die Erfüllung bestimmter, bislang nicht realisierter
Vorstellungen durch den Nationalsozialismus erfüllt würden. Zusammen mit dem Druck von
Parteiaktivisten führte diese Einstellung zu einer raschen Gleichschaltung der kulturellen
Organisationen. Wie in der politischen Spähre so suchte auch im geistigen Bereich die bürgerliche,
nationale Intelligenz die Nähe zur neuen Macht und tat alles zu deren pseudointellektuellen
Überhöhung.
Universitäten
An den Universitäten wurden plötzlich Linien der Kontinuität von Friedrich dem Großen zu Hitler, von
der Reformation zum Nationalsozialismus gefunden. Sicherlich waren Opportunismus und
Karriereerwartungen dabei im Spiele. Aber es waren auch ein Hochgefühl nationalen Aufbruchs und
der scheinbare Schwung der nationalen Revolution, die Erfüllung von Träumen jugendbewegten und
nationalrevolutionären Aufbruchs, die bei nicht wenigen Schriftstellern, Wissenschaftlern und Künstlern
das Bedürfnis weckten, nicht abseits zu stehen und sich einzureihen in den "Strom der neuen Zeit".
Es waren viele Illusionen im Spiel, die in der weit verbreiteten Erwartungs- und Zustimmungshaltung
zum Ausdruck kamen. Einige wenige Intellektuelle erkannten dies früher oder später und versuchten,
einen Trennstrich zu ziehen. Einstweilen hatten sie aber eine nützliche Funktion ausgeübt. Die Praktiker
der Macht hatten sich ohnehin kaum um die kulturphilosophischen Überlegungen gekümmert, die von
den intellektuellen Mitläufern angestellt worden waren. Die neuen Überläufer hatten dem Regime in
der Anfangsphase vor allem einen Gewinn an Prestige und Reputation gebracht. Andererseits kam
für nicht wenige von ihnen nach der Säuberung der Akademien und Redaktionsstuben, der
Universitäten und Rundfunkhäuser die Chance, die Lücken zu schließen.
Viele derer, die gerufen wurden, stellen sich dem neuen Staat zur Verfügung. Der bedeutende Philosoph
und der bekannteste Staatsrechtler schlugen sich auf die Seite des Nationalsozialismus: Martin
Heidegger und Carl Schmitt. Anfang Mai bekannten sich einige hundert Hochschullehrer aller Fächer
öffentlich zur Regierung Hitler. Ehrgeizige Zweitrangige suchten die Plätze der Ausgestoßenen
einzunehmen, so die Schriftsteller Kolbenheyer, Johst, Grimm, Beumelburg und Vesper. Zu
Bestsellerautoren oder vielgespielten Theaterautoren sollten sie freilich nie werden.
Entlassungen und Berufsverbote
Die Säuberungen der Akademien, Universitäten und Bibliotheken wurde von Alfred Rosenbergs "
Kampfbund für deutsche Kultur" betrieben. An den Universitäten wirkungsvoll unterstützt vom "
Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund", der als erster die "Machtergreifung" seit 1931 in
den Studentenvertretungen einiger Universitäten praktiziert hatte. In einem ersten Schritt wurden bis
zum 13. April prominente Staatsrechtler, Nationalökonomen, Soziologen und Historiker beurlaubt und
entlassen. Rechtliche Basis für die Säuberungen war das am 7. April 1933 verabschiedete "Gesetz
zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums". Es verfügte die Entlassung von jüdischen und
politisch mißliebigen Beamten. Bis zum Beginn des Sommersemesters sollte die Aktion abgeschlossen
sein, um "Unruhen zum Semesterbeginn" zu vermeiden. Tatsächlich gehörte aber die ständige
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Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
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Verunsicherung zum Herrschaftsprinzip. Sie sollte nicht abreißen.
Auf Druck des nationalsozialistischen preußischen Kulturministers Bernhard Rust mußte der
sozialkritische Schriftsteller Heinrich Mann schon am 16. Februar seinen Vorsitz als Präsident der
Preußischen Akademie der Künste zur Verfügung stellen. Im März wurden die Mitglieder der Akademie
zu einer unbedingten Loyalitätserklärung oder zum Rücktritt aufgefordert. Daraufhin schieden freiwillig
aus: Thomas Mann, Alfred Döblin, Ricarda Huch; ausgeschlossen wurden Franz Werfel, Leonhard
Frank, Georg Kaiser, Fritz von Unruh, Jakob Wassermann und viele andere.
Bücherverbrennungen
Ab April wurden schwarze Listen der Autoren veröffentlicht, die aus dem Geistesleben des neuen
Deutschland ausgeschlossen werden sollten. Die Listen waren lang und reichten von politischen
Autoren wie August Bebel, Eduard Bernstein, Hugo Preuß und Walter Rathenau über Wissenschaftler
wie Albert Einstein und Sigmund Freud zu Dichtern wie Berthold Brecht, Alfred Döblin, Stefan Zweig,
Carl von Ossietzky, Erich Maria Remarque, Arthur Schnitzler und Kurt Tucholsky. Der Katalog wurde
auch auf Autoren vergangener Jahrhunderte ausgeweitet und erfaßte Karl Marx wie Heinrich Heine.
Bald prangten die Listen an sogenannten "Schandpfahlen" vor deutschen Universitäten.
Schließlich holte der NS-Studentenbund zur "Aktion wider den undeutschen Geist" aus. Am 10. Mai
1933 wurden überall auf den Plätzen der Haupt- und Universitätsstädte Bücher und Zeitschriften auf
Scheiterhaufen verbrannt, umrahmt von studentischen Fackelzügen, karnevalesken Zugaben zur
Verspottung der gebrandmarkten Literaten und von Feuersprüchen einiger Professoren. Joseph
Goebbels hielt bei der Berliner Bücherverbrennung die abschließende Rede und verkündete: "Hier
sinkt die geistige Grundlage der Novemberrepublik zu Boden." Dann zitierte er Ulrich von Hutten: "
Oh, Jahrhundert, oh Wissenschaft, es ist eine Lust zu leben." Tatsächlich eröffnete er damit eine
Epoche, von der eines der Opfer dieser Aktion, Heinrich Heine, geschrieben hatte: "Wo man Bücher
verbrennt, dort verbrennt man am Ende auch Menschen."
Noch schneller hatte Goebbels die "Sanierung des deutschen Kulturlebens", von der Hitler in der Rede
zur Einbringung des Ermächtigungsgesetzes am 23. März gesprochen hatte, im Presse- und
Rundfunkwesen erreicht. Die Gleichschaltung des halbstaatlichen Rundfunks ließ sich mit einem
Federstrich durchsetzen. Im Bereich des privatwirtschaftlichen Pressewesens bedurfte es der
bekannten Kombination von wirtschaftlichem Druck, vorübergehendem Verbot und der erzwungenen
Entlassung einzelner liberaler Journalisten. Hinzu kamen die materiellen Krisen, in denen nicht wenige
Zeitungen steckten. Auch dadurch wurde die Presselandschaft verändert, nachdem die den
demokratischen Parteien nahestehenden Parteien schon längst verschwunden waren. Schließlich
kam das Verfahren der indirekten Zensur durch das Schriftleitergesetz, das die Redakteure dem
Weisungsrecht der Verleger weitgehend entzog und dafür dem Staat unterstellte. Abgeschlossen wurde
dieser Kontrollmechanismus durch den Zwang zur korporativen Mitgliedschaft im Verband der
Reichsschrifttumskammer, die den Spielraum noch einmal drastisch verringerte. Denn nur wer Mitglied
in der Kammer war, durfte sich publizistisch betätigen.
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Judenverfolgung
Zu einem besonderen Schauplatz revolutionärer Gewalt von unten und staatlicher Lenkung bzw.
nachvollziehender Legitimation von oben wurde die Politik der Judenverfolgung. Mit der schrittweisen
Machteroberung kamen auch die ideologischen Affekte der nationalsozialistischen Bewegung voll zum
Durchbruch. Sie wurden zu Begründung und Lenkung der Straf- und Unterwerfungsaktionen
eingesetzt. Schon Ende Februar 1933 war es zu ersten antisemitischen Ausschreitungen von SATrupps gekommen, die sich seitdem ständig gesteigert hatten. Jüdische Geschäfte wurden geplündert,
ihre Inhaber gequält, verschleppt und nicht selten zu Tode geprügelt. Bald richtete sich der Terror auch
gegen jüdische Angehörige freier Berufe, Anwälte und Ärzte.
Die heftigen Reaktionen, die solche Nachrichten auch im Ausland fanden, steigerten noch die
Verfolgungswut und animierten Goebbels zu einer Geiselaktion. Mit einem Boykott jüdischer Geschäfte
sollten "sich die ausländischen Juden eines Besseren besinnen, wenn es ihren Rassegenossen in
Deutschland an den Kragen geht". Nach diesem propagandistischen Anstoß bildete sich ein "
Zentralkomitee zur Abwehr der jüdischen Greuel- und Boykotthetze" unter Leitung des fanatischen
Antisemiten und fränkischen Gauleiters Julius Streicher. Überall im Reich standen am Sonnabend,
dem 1. April, SA-Posten vor jüdischen Geschäften und forderten die Kunden drohend auf, die
Geschäftsräume nicht zu betreten. Hitler rechtfertigte im Kabinett in bewußter Umkehrung des
Tatbestandes das Vorgehen der SA als "Abwehraktion" und unterstrich, "daß diese Abwehr habe
organisiert werden müssen, weil sonst die Abwehr aus dem Volk heraus von selbst gekommen wäre
und leicht unerwünschte Formen angenommen hätte".
Gleichwohl hatte die Aktion auch im Inland nicht die gewünschte Wirkung. Selbst nationalsozialistischen
Zeitungen war zu entnehmen, daß die Bevölkerung meist nur reserviert oder bloß neugierig reagiert
hätte. Der Boykott wurde darum nicht weitergeführt. Für ihr weiteres Vorgehen nutzten die
Nationalsozialisten die Möglichkeiten, die ihnen das am 23. März verabschiedete "
Ermächtigungsgesetz" bot. Auf der Basis des "Gesetzes zur Wiederherstellung des
Berufsbeamtentums" vom 7. April wurden danach sowohl die politischen und antisemitischen "
Säuberungen" des öffentlichen Dienstes in Reich, Ländern und Gemeinden durchgeführt als auch zum
Teil nachträglich legalisiert.
Zum ersten Mal fand damit der staatlich verordnete Antisemitismus Eingang in ein Gesetz; freilich
noch in abgeschwächter Form, da nach Intervention des Reichspräsidenten jüdische Frontkämpfer
des Ersten Weltkriegs ausgenommen blieben. Der schönfärberische Titel des Gesetzes sollte, wie in
vielen anderen Fällen auch, über die furchtbaren Konsequenzen hinwegtäuschen. Darüberhinaus
wollte man mit dem Vorgehen gegen sogenannte Parteibuchbeamte, und damit waren republikanische
Beamte gemeint, die traditionelle Beamtenschaft in ihrem "überparteilichen" ständischen
Selbstverständnis ansprechen und zur Mitarbeit im "nationalen Staat" gewinnen. Mit zahlreichen
weiteren Gesetzen versuchten die Nationalsozialisten, Juden aus ihren Berufen zu verdrängen, wo
immer es staatliche Einflußmöglichkeiten gab. Bis zum April 1934 hatten einige hundert jüdische
Hochschullehrer, etwa 4000 jüdische Rechtsanwälte, 300 Ärzte, 2000 Beamte und ebenso viele
Schauspieler und Musiker ihre Arbeitsplätze verloren. Nur in der Wirtschaft blieden deutschen Juden
noch für einige Zeit Freiraum. Dort wurden sie gebraucht.
Die jüdische Gegenwehr war auf Hilfe für die Verfolgten und auf behutsame Versuche beschränkt,
wenigstens eine gewisse Autonomie jüdischen Lebens unter dem Regime zu bewahren. Das war nicht
viel und nur auf Zeit möglich. Nach einem Jahr nationalsozialistischer Herrschaft hatten rund 37000
jüdische Flüchtlinge Deutschland verlassen, obwohl die Politik der jüdischen Verbände auf Bleiben
und nur im Ernstfall auf Emigration ausgerichtet war. Die meisten Juden blieben in Deutschland zurück,
weil sie von einem allmählichen Abklingen der Ausgrenzungs- und Verfolgungsmaßnahmen ausgingen,
für die es immerhin einige sehr schwache Anzeichen gab. Die gehörten in den Zusammenhang der
allgemeinen Konsolidierungs- und Mäßigungspolitik, die das Regime seit dem Sommer 1933 betrieb,
um die in einem atemberaubenden Prozeß eroberten Machtpositionen in Staat und Gesellschaft erst
einmal zu sichern und die konservativen Eliten, die für die Stabilisierung des Regimes unverzichtbar
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Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
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waren, zu beruhigen.
Auch wenn nach einem halben Jahr Hitler und die NSDAP sich auf der ganzen Linie durchgesetzt zu
haben schienen und tatsächlich die Fundamente des Verfassungsstaates zerstört waren, so wurden
die Grenzen der Macht deutlicher. Sie lagen einerseits in der nach wie vor bestehenden Autonomie
einiger gesellschaftlicher Macht- und Funktionsträger in Armee, Wirtschaft und Bürokratie, auf die das
Regime angewiesen war. Andererseits wurden die Grenzen der Macht in der prekären außenpolitischen
Situation deutlich, auf die später eingegangen werden soll. Zum Dritten waren sie gemessen an den
Erwartungen und Ansprüchen einiger Parteigliederungen und ihrer Führer offenkundig, wozu vor allem
Röhm und die SA, aber auch der verhinderte Außenpolitiker Rosenberg oder antikapitalistische
Propagandisten wie Feder zählten.
Alle diejenigen Unterführer, die die nationalsozialistische Revolution weitertreiben wollten, mußten
sich seit dem Juli 1933 von dem politischen Taktiker Hitler sagen lassen, daß nun die Revolution
abgeschlossen sei und der "freigewordene Strom der Revolution in das sichere Bett der Evolution
" hinübergeleitet werden müsse. Die Revolution dürfe kein Dauerzustand werden, vielmehr stünde
man nun "in der langsamen Vollendung des totalen Staates". Das wesentliche Ziel der kommenden
Phase soll darum lauten: "Der Erringung der äußeren Macht muß die innere Erziehung der Menschen
folgen."
Innenminister Frick zog daraus die Konsequenz, daß nun die staatliche Autorität und Zentralgewalt
wieder gestärkt werden müsse. "Die Partei ist jetzt der Staat geworden. Alle Macht liegt bei der
Reichsregierung." Frick traf damit jedoch nicht das Wesen nationalsozialistischer Herrschaftspolitik.
Denn der ging es gerade nicht um eine feste Strukturierung, sondern sie war nur zur Festschreibung
des unbestimmten und staatsrechtlich unklaren Verfassungszustandes fähig und willens. Damit aber
wurde der Prozeß unendlicher Dynamik gefördert, indem verschiedene nationalsozialistische
Machtgruppen die Gesellschaft durchdrangen und ihr nationalsozialistische Zielvorstellungen
aufzwangen. Dies führte am Ende zu einem System eines "wohlgeordneten Chaos", aber nicht zum
Bremsen der Dynamik des nationalsozialistischen Regimes. Gerade das macht den Unterschied zu
einer bloß autoritären Diktatur aus, die sich auf die Kontrolle von Staat, politischer Öffentlichkeit,
Verwaltung und Polizei konzentriert, den übrigen gesellschaftlichen Bereich aber nicht zu durchdringen
versucht.
Verfolgung der Juden - Boykottaufruf der NSDAP
Deutsche Volksgenossen!
Die Schuldigen an diesem wahnwitzigen Verbrechen, an dieser niederträchtigen Greuel- und
Boykotthetze sind die Juden in Deutschland. Sie haben ihre Rassegenossen im Ausland zum Kampf
gegen das deutsche Volk aufgerufen. Sie haben die Lügen und Verleumdungen hinausgemeldet.
Darum hat die Reichsleitung der deutschen Freiheitsbewegung beschlossen, in Abwehr der
verbrecherischen Hetze ab Samstag, den 1. April 1933, vormittags 10 Uhr, über alle jüdischen
Geschäfte, Warenhäuser, Kanzleien usw. den Boykott zu verhängen. Dieser Boykottierung Folge zu
leisten, dazu rufen wir euch, deutsche Frauen und Männer, auf!
Kauft nichts in jüdischen Geschäften und Warenhäusern! Geht nicht zu jüdischen Rechtsanwälten!
Meidet jüdische Ärzte! Zeigt den Juden, daß sie nicht ungestraft Deutschland in seiner Ehre
herabwürdigen und beschmutzen können!
Wer gegen diese Aufforderung handelt, beweist damit, daß er auf Seite der Feinde Deutschlands steht.
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Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
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Es lebe der ehrwürdige Generalfeldmarschall aus dem großen Kriege, der Reichspräsident Paul von
Hindenburg! Es lebe der Führer und Reichskanzler Adolf Hitler! Es lebe das deutsche Volk und das
heilige deutsche Vaterland!
Josef und Ruth Becker (Hg.), Hitlers Machtergreifung 1933. Dokumente vom Machtantritt Hitlers,
München 1983, S. 200 f.
Die Ermordung des Händlers Otto Selz
Am 15. des Monats, früh gegen 6 Uhr, erschienen in einem Kraftwagen mehrere Männer in dunkler
Uniform vor der Wohnung des israelitischen Güterhändlers Otto Selz in Straubing. Selz wurde von
ihnen in Nachtkleidern aus der Wohnung geholt und im Kraftwagen entführt. Etwa um 9.30 [Uhr] wurde
Selz in einem Wald bei Weng, Bezirksamt Landshut, erschossen aufgefunden. Der Kraftwagen soll
aus der Richtung München-Landshut gekommen und auf der gleichen Strecke wieder zurückgefahren
sein. Er war mit sechs Uniformierten besetzt und trug das Zeichen: II A. Die Nummer konnte nicht
festgestellt werden. Mehrere Landleute wollen bei einigen Insassen des Wagens die rote Armbinde
mit dem Hakenkreuz bemerkt haben.
Aus dem Halbmonatsbericht des Regierungspräsidenten von Niederbayern und der Oberpfalz vom
30. März 1933, in: a. a.O., S. 145.
Röhm-Affäre
Exponent der Unzufriedenen in der NSDAP nach dem vorübergehenden Abschluß der Machtergreifung
war SA-Führer Ernst Röhm, der im Juni 1933 die bisherigen Erfolge für nur ein Teilstück auf dem Weg
zum nationalsozialistischen Staat erklärt hatte. Seine Ungeduld warf ein Licht auf einen Bereich, in
dem die NSDAP ihren Einfluß nicht hatte ausdehnen können und der ihrem Alleinherrschaftsanspruch
entgegenstand: die bewaffnete Macht. Zwar war das Verhältnis der Reichswehr zur nationalen
Regierung Hitler von Wohlwollen bestimmt, aber das änderte nichts an dem Unabhängigkeitswillen
der Armee und ihrer Nähe zu der anderen noch unabhängigen politischen Macht, dem
Reichspräsidenten. Die Machtverhältnisse waren am Ende der dritten Machtergreifungsphase im
Sommer 1933 zu dem konfliktreichen Dreiecksverhältnis von NSDAP, Armee und Reichspräsident
verschlungen, als der historische Zufall die Entwicklung wieder einmal beschleunigte.
Das Regime trieb im Frühsommer 1934 auf eine erste politische und auch ökonomische Krise zu. Sie
konnte Hitlers Machtstellung empfindlich treffen und vor allem seine Absicht gefährden, die Nachfolge
des todkranken Reichspräsidenten Hindenburg anzutreten. Es war eine Bündelung vieler Konflikte,
Probleme und Mißstimmungen, die durch Versorgungsmängel und eine in vielen Bereichen noch hohe
Arbeitslosigkeit genährt wurden. Vor allem lagen die Krisenursachen in den internen politischen
Machtkonflikten.
Der Diktator war in dieser Situation zunächst mehr der Getriebene als der Treibende. Erst als die
Gegensätze eskalierten, nutzte er im Bündnis mit der Reichswehrführung und der SS die "Röhm-Affäre
", um am 30. Juni 1934 in einem Doppelschlag innerparteiliche Rivalen, den SA-Führer sowie
konservative Opponenten ermorden zu lassen. Es ging darum, Röhm und seine unruhigen "SARevoluzzer" zu bremsen, den Ansprüchen der Reichswehr entgegenzukommen und die Gegenpläne
der konservativen Partner zu durchkreuzen. Mit seinem entschlossenen Vorgehen wollte Hitler aber
auch die verbreitete Mißstimmung in der Bevölkerung besänftigen, die infolge der wirtschaftlichen
Engpässe sowie des offenkundigen moralischen Fehlverhaltens und des organisatorischen Versagens
kleinerer NS-Unterführer entstanden war, die ihren Ämtern nicht gewachsen waren oder sich persönlich
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Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
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bereichert hatten.
Zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums
Gesetz vom 7. April 1933
§ 1. Zur Wiederherstellung eines nationalen Berufsbeamtentums und zur Vereinfachung der Verwaltung
können Beamte nach Maßgabe der folgenden Bestimmungen aus dem Amt entlassen werden, auch
wenn die nach dem geltenden Recht hierfür erforderlichen Voraussetzungen nicht vorliegen []
§ 2. Beamte, die seit dem 9. November 1918 in das Beamtenverhältnis eingetreten sind, ohne die für
ihre Laufbahn vorgeschriebene oder übliche Ausbildung oder sonstige Eignung zu besitzen, sind aus
dem Dienst zu entlassen. []
§ 3. Beamte, die nichtarischer Abstammung sind, sind in den Ruhestand [
] zu versetzen. Soweit es sich um Ehrenbeamte handelt, sind sie aus dem Amtsverhältnis zu entlassen.
Absatz 1 gilt nicht für Beamte, die bereits seit dem 1. August 1914 Beamte gewesen sind oder die im
Weltkrieg an der Front für das Deutsche Reich oder für seine Verbündeten gekämpft haben oder deren
Väter oder Söhne im Weltkrieg gefallen sind. Weitere Ausnahmen können der Reichsminister des
Innern im Einvernehmen mit dem zuständigen Reichsminister oder die obersten Landesbehörden für
Beamte im Ausland zulassen.
§ 4.Beamte, die nach ihrer bisherigen politischen Betätigung nicht die Gewähr dafür bieten, daß sie
jederzeit rückhaltlos für den nationalen Staat eintreten, können aus dem Dienst entlassen werden. []
§ 14. Gegen die auf Grund dieses Gesetzes in den Ruhestand versetzten oder entlassenen Beamten
ist auch nach ihrer Versetzung in den Ruhestand oder nach ihrer Entlassung die Einleitung eines
Dienststrafverfahrens wegen der während des Dienstverhältnisses begangenen Verfehlungen mit dem
Ziele der Aberkennung des Ruhegeldes, der Hinterbliebenenversorgung, der Amtsbezeichnung, des
Titels [
] zulässig. []
Wolfgang Michalka (Hg.), Das Dritte Reich. Dokumente zur Innen- und Außenpolitik, Band 1, München
1985, S. 37 ff.
Erklärung über "arische Abstammung"
Ich versichere hiermit pflichtgemäß: Mir sind trotz sorgfältiger Prüfung keine Umstände bekannt, die
die Annahme rechtfertigen könnten, daß ich nicht arischer Abstammung sei oder daß eine meiner
Eltern- oder Großelternteile zu irgendeiner Zeit der jüdischen Religion angehört habe. Ich bin mir
bewußt, daß ich mich dienststrafrechtlicher Verfolgung mit dem Ziele auf Dienstentlassung aussetze,
wenn diese Erklärung nicht der Wahrheit entspricht.
Josef und Ruth Becker (Hg.), Hitlers Machtergreifung 1933. Dokumente vom Machtantritt Hitlers,
München 1983, S. 220.
Rivalität mit der Reichswehr
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Im März 1934 spitzte sich der Konflikt zwischen Reichswehr und SA weiter zu, nachdem Röhm immer
wieder den Machtkompromiß zwischen Reichswehr und NS-Regime in Frage gestellt hatte. Auch
Hitlers Vorschlag einer Art Arbeitsteilung zwischen der Reichswehr, die "den Schutz der Nation nach
außen" übernehmen sollte, und der SA, die "den Bestand des nationalsozialistischen Staates im
Inneren zu sichern" hätte, konnte den Gegensatz nicht ausräumen. Röhm und die SA drängten auf
eine Art Volksmiliz und forderten, daß der "graue Fels der Reichswehr" in der "braunen Flut der SA
untergehen" müsse. Das bedeutete für die Reichswehr eine Gefährdung ihrer militärpolitischen und
sozialen Stellung. Für Hitler bedeutete es die Gefährdung der Existenzgrundlage seines Regimes.
Hinzu kam, daß die SA auch innerparteilich immer mehr in eine Isolation geriet, da sie auch andere
hohe Parteifunktionäre in ihren Einflußbereichen herausforderte. Das galt besonders für Göring, der
sich eines lästigen Rivalen im Bereich der Wehrpolitik entledigen wollte, und für Himmler, der sich und
seine SS von der Vormundschaft der SA befreien wollte.
Als Röhm in einer Rede vom 18. April 1934 die konservativen Machtträger frontal angriff und von
einer "unbegreiflichen Milde" des neuen Regimes gegenüber den "Trägern und Handlangern des alten
und noch älteren Systems" sprach, mit denen man "nicht rücksichtslos aufgeräumt" habe, sammelte
sich die Front der Gegner, während Hitler noch zögerte. Göring ließ Beweismaterial gegen Röhm und
über seine Homosexualität sammeln. Auch das Abwehramt der Reichswehr sammelte bald in enger
Zusammenarbeit mit dem noch kleinen parteiinternen Sicherheitsdienst (SD) Material. Dessen Ausbau
fiel ebenso in die Zeit der SA-Krise wie die Übernahme der preußischen Gestapo durch Heinrich
Himmler. Doch die Aufmärsche und Drohreden der SA nahmen wieder ab. Röhm ließ sich von Hitler
am 4. Juni 1934 dazu bewegen, die SA für den Monat Juli in Urlaub zu schicken, nicht ohne vorher
den "Feinden der SA" zu drohen.
Der Anstoß zur erneuten und dramatischen Konfliktverschärfung kam von einer dritten Konfliktpartei,
den konservativen Opponenten in der Umgebung von Vizekanzler Franz von Papen. Sie waren bemüht,
die bevorstehende Nachfolge Hindenburgs zu einer Kursänderung des Regimes in gemäßigte oder
restaurative Bahnen zu nutzen. Papen drängte Hitler auf eine verbindliche Äußerung zur
Nachfolgefrage und versuchte Hindenburg davon zu überzeugen, in seinem Testament die
Wiederherstellung der Monarchie zu empfehlen. Die SA-Krise wollten von Papen und seine Mitarbeiter
zu einer Proklamation des militärischen Ausnahmezustandes und einer konservativen Militärdiktatur
nutzen. Der Verschärfung des Konfliktes sollte eine Rede dienen, die Papens Mitarbeiter Edgar Jung
aus Anlaß einer Veranstaltung in der Marburger Universität am 17. Juni 1934 geschrieben hatte. Sie
stellte eine scharfe Kritik an Gewalt und Radikalismus des neuen Regimes dar und markierte deutlich
den Gegensatz zwischen einem konservativ-autoritären Staatsbegriff u dem "widernatürlichen
Totalitätsanspruch des Nationalsozialismus". "Einmal", so hieß es weiter, "muß die Bewegung zu Ende
kommen, einmal ein festes Gefüge, zusammengehalten durch eine unbeeinflußbare Rechtspflege und
durch eine unbestrittene Staatsgewalt, entstehen. Mit ewiger Dynamik kann nichts gestaltet werden.
Deutschland darf nicht ein Zug ins Blaue werden." Und weiter hieß es in dem Redetext, der vorab
schon verbreitet worden war: "Kein Volk kann sich den ewigen Aufstand von unten leisten, wenn es
vor der Geschichte bestehen" wolle.
Mordaktionen
Das Regime reagierte auf diese Herausforderung sofort: Goebbels verhinderte die Verbreitung der
Rede im Rundfunk, ihr Verfasser Edgar Jung wurde nach einigem Zögern am 26. Juni verhaftet. Hitler
versuchte mit Erfolg, Papen im Bemühen um Einfluß bei Hindenburg auszuspielen. Spätestens seit
seinem Gespräch mit Hindenburg auf dessen Gut Neudeck wußte Hitler, daß er handeln mußte, wollte
er sich die Initiative nicht entwinden lassen. Er berief für den 30. Juni eine SA-Führerbesprechung
nach Bad Wiessee ein, wo Röhm zur Kur weilte. Unter dem Vorwand, es gelte einen drohenden Putsch
der SA zu vereiteln, waren die Partner im Komplott aktiviert worden. Göring und Himmler hatten sich
mit Reichswehrminister Blomberg geeinigt, die SS gegen die SA einzusetzen, während die Reichswehr
mit Unterkünften, Waffen und Fahrzeugen für die Logistik sorgen sollte. Die Reichswehr hielt sich in
Alarmbereitschaft. Hitler selbst eröffnete die Aktion. Im Morgengrauen des 30. Juni 1934 raste er mit
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Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
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seiner Wagenkolonne begleitet von Goebbels und SA-Obergruppenführer Viktor Lutze von München
nach Bad Wiessee, wo er, mit der Reitpeitsche in der Hand und ganz von Rachegefühlen besessen,
Röhm und seine Unterführer überraschte, sie verhaften und ins Justizgefängnis nach Stadelheim
bringen ließ. Dort und im Lager Dachau wurden am Abend des 30. Juni etwa 200 hohe SA-Führer
ohne Verfahren von SS-Männern erschossen. Röhm wurde am 1. Juli erschossen, nachdem sich die
einstigen Kampfgefährten Heß und Amann noch darum gestritten hatten, wem die Aufgabe der
Hinrichtung zustände.
Die Verhaftungs- und Mordaktion blieb nicht auf die SA-Führung beschränkt. In Berlin nutzten Göring
und Himmler die Situation, um mit alten Gegnern und Repräsentanten des konservativen Lagers
abzurechnen: General von Schleicher und seine Frau wurden in ihrem Haus erschossen, ebenfalls
Generalmajor von Bredow. Der Leiter der Katholischen Aktion, Ministerialdirektor Erich Klausener,
wurde an seinem Schreibtisch im Verkehrsministerium ermordet. Auch mit Gregor Strasser meinte
man, eine alte Rechnung begleichen zu müssen. Er wurde in den Kellern des gerade eingerichteten
Gestapo-Hauptquartieres in der Berliner Prinz-Albrecht-Straße erschossen. Die Zahl der in Berlin
Ermordeten wird auf etwa einhundert geschätzt.
Rechtfertigungsversuche
So sehr die Vorgänge des 30. Juni an organisiertes Bandenwesen erinnern, so sehr verdeutlichen die
folgenden politischen Ereignisse, daß es sich um einen staatlich geplanten und legalisierten Mord
handelte, der zur Vollendung der Machtergreifung genutzt wurde. Hitler tat alles, um diese wilde Mordund Racheaktion hinter scheinbarer Normalität und Legalität zu verstecken. In einer Kabinettssitzung
rechtfertigte er am 3. Juli die Aktion als Staatsnotwehr, die rasches Handeln erforderlich gemacht habe.
Das Kabinett ließ sich dazu herbei, dem Mordfall ein Mäntelchen der Legalität umzuhängen und ein
Gesetz zu verabschieden, nach dem die "zur Niederschlagung hoch- und landesverräterischer Angriffe
am 30. Juni, 1. und 2. Juli 1934 vollzogenen Maßnahmen [...] als Staatsnotwehr rechtens (sind)". Mit
einem Satz wurden damit politische Verbrechen nachträglich sanktioniert und alle Nachforschungen
der Staatsanwaltschaft unterbunden. Keiner der Minister äußerte Bedenken dagegen, daß damit der
Staat die Ermächtigung zumerbrechen erhalten und die Täter sich zu Richtern in eigener Sache
gemacht hatten.
Eine nachträgliche juristische Scheinrechtfertigung beeilte sich der prominente Staatsrechtler Carl
Schmitt zu liefern. "Der Führer schützt das Recht vor dem schlimmsten Mißbrauch, wenn er im
Augenblick kraft seines Führertums als Oberster Gerichtsherr unmittelbar Recht schafft. [...] Der wahre
Führer ist immer auch Richter. Was Schmitt mit seiner fragwürdigen Rechtslehre hier begründete, war
die grundsätzlich unumschränkte Führerdiktatur. Deutlicher noch wurde Hitler selbst, als er am 13.
Juli im Reichstag die Mordaffäre zu begründen versuchte: "In dieser Stunde war ich verantwortlich für
das Schicksal der deutschen Nation und damit des deutschen Volkes oberster Gerichtsherr. Meuternde
Divisionen hat man zu allen Zeiten durch Dezimierung wieder zur Ordnung gerufen." Die
nationalsozialistische Herrschaft bedeutete Kriegszustand mitten im Frieden. Wenn dies noch der
Enthüllung bedurfte, dann war es in diesem Augenblick geschehen.
Für die Bevölkerung stellte sich der Mord am 30. Juni vordergründig als Befreiungstat dar. Das
verbreitete Gefühl der Beunruhigung der vergangenen Wochen wich bei vielen einer Erleichterung
darüber, daß es nun mit den revolutionären Umtrieben und der Barbarei der Braunhemden vorbei sein
würde. Das verbreitete Verlangen nach Recht und Ordnung rechtfertigte auch die staatlichen
Mordaktionen gegen die SA. Alle Kritik über Mißhelligkeiten des Alltages richteten sich auf die Partei,
ohne daß dadurch der politische Nimbus Hitlers gefährdet wurde. Im Gegenteil, seit der Röhm-Affäre
strahlte der Führer-Mythos noch leuchtender, denn der "Führer" hatte nach verbreiteter Wahrnehmung
gegen die radikalen und korrupten Elemente auch in der eigenen Partei durchgegriffen und damit tief
sitzende Ordnungsbedürfnisse erfüllt. Das Bild vom entschlossenen und ordnungsstiftenden "Führer"
wurde zum stabilisierenden Element des Regimes.
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Auch der Reichswehrminister dankte während der Sitzung Hitler im Namen des Kabinetts "für sein
entschlossenes und mutiges Handeln, durch das er das deutsche Volk vor dem Bürgerkrieg bewahrt
habe." Damit hatte die Reichswehr diesen Bruch der Rechtstaatlichkeit und zugleich auch die
Ermordung zweier ihrer prominentesten Mitglieder akzeptiert. Die Reichswehrführung war vor allem
zufrieden darüber, daß die Rivalin SA ausgeschaltet war. Sie ließ sich von Hitler noch einmal bestätigen,
daß die Reichswehr die einzige Waffenträgerin der Nation war.
Ganz unbemerkt stieg zur selben Zeit eine neue, weit gefährlichere Rivalin der Reichswehr auf: die
SS. Hitler befreite sie von der Unterstellung unter die SA und erkannte sie als eigenständige, ihm direkt
unterstellte Organisation an. Zugleich gab Hitler ihr die Genehmigung, neben der Reichswehr
bewaffnete Streitkräfte von zunächst einer Division aufzustellen. Hitler blieb seiner politischen Taktik
treu. Die SA wurde durch eine neue Machtgruppe ersetzt, die im Kampf um die Sicherung und
Auswertung der Macht als neuer konkurrierender Faktor angemessener handeln konnte als die
ungeduldigen Anführer um Ernst Röhm.
Festigung der Macht
Zugleich war damit nach innen gegen die eigene Bewegung die Macht endgültig gesichert, der einzige
potentielle Gegner ausgeschaltet. Das geschah gerade noch rechtzeitig, um bereit zu sein für ein
Ereignis, das die Machtfrage innerhalb des Regimes noch einmal stellen sollte und eine symbolische
politische Bedeutung von großem Gewicht besaß. Am 2. August 1934 starb, wie seit einiger Zeit
erwartet, Reichspräsident von Hindenburg. Bereits am Vortage war im Kabinett eine Vorlage
verabschiedet worden, nach der Hitler die Nachfolge antreten würde. Das Amt des Reichspräsidenten
sollte aufgelöst und mit dem des Reichskanzlers zu der einzigartigen Stellung eines "Führers und
Reichskanzlers" vereinigt werden. Daß damit auch gegen das Ermächtigungsgesetz verstoßen wurde,
nahm niemand mehr wahr. Überraschend war einzig die Erklärung Blombergs im Kabinett, "daß er
beabsichtige, unmittelbar nach dem Ableben des Herrn Reichspräsidenten die Soldaten der
Wehrmacht auf den Führer und Reichskanzler Adolf Hitler zu vereidigen".
In einem "Akt opportunistischen Übereifers" (Fest) hatten sich die Reichswehrführer Werner von
Blomberg und Walter von Reichenau ohne Not und ohne gesetzliche Grundlage eine Eidesformel
ausgedacht, die die Reichswehr nicht mehr auf die Verfassung, sondern auf eine Einzelperson ganz
im Sinne einer monarchischen Eidesformel verpflichtete. Daß mit dieser Verpflichtung zu "unbedingtem
Gehorsam" die Soldaten der Wehrmacht einmal in größte Gewissenskonflikte gestürzt werden könnten,
haben die beiden Generäle sich in ihrer politischen Unfähigkeit und unpolitischen Überheblichkeit
vermutlich nicht vorstellen können. Sie wollten Hitler damit wohl noch fester an sich binden, verstrickten
tatsächlich aber die militärische Elite tief in das Unrechtsregime. Damit hatte die Reichswehrführung
ihre Unabhängigkeit selbst verspielt und die Gleichschaltung der Wehrmacht mit der
nationalsozialistischen Weltanschauungspolitik vorangetrieben.
In der Geschichte des NS-Regimes bedeuteten die Ereignisse vom Juni und August 1934 die dritte
Stufe der nationalsozialistischen Machtergreifung, den Übergang von der "kommissarischen zur
souveränen Diktatur" (Fraenkel). Wieder hatte eine Verschränkung von Krisensituation, von
historischen Zufällen und partikularen Machtinteressen im Regime verbunden mit dem Willen zur
Machtbehauptung zu einer Radikalisierung in der Herrschaftspraxis geführt, ohne daß dies von einem
ausgeklügelten Plan bestimmt war.
Auszug aus:
Informationen zur politischen Bildung (Heft 251) - Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft
(Teil 2)
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Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
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Beseitigung des Rechtsstaates
Von Hans-Ulrich Thamer
6.4.2005
geb. 1943, ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Münster. Seine Forschungsschwerpunkte sind der
Nationalsozialismus und der europäische Faschismus.
Veröffentlichungen u.a.:Verführung und Gewalt. Deutschland 1933-1945, (Die Deutschen und ihre Nation, Bd. 5), Berlin 1986; Der
Nationalsozialismus, Stuttgart 2002.
Im August 1934 ließ sich Hitler in einer inszenierten Volksabstimmung unter dem Titel "Führer
und Reichskanzler" seine neue Machtfülle bestätigen. Von nun an war er Staatsoberhaupt,
Regierungschef, Oberbefehlshaber der Reichswehr und oberster Gerichtsherr. Trotzdem tobte
auf allen Ebenen des Systems ein erbitterter Kampf rivalisierender Interessensgruppen.
Einleitung
Am 20. August 1934 verkündete Hitler das Ende eines fünfzehnjährigen Kampfes "unserer Bewegung
um die Macht in Deutschland. [...] Angefangen von der obersten Spitze des Reiches über die gesamte
Verwaltung bis zur Führung des letzten Ortes befindet sich das Deutsche Reich in der Hand der
Nationalsozialistischen Partei". Tatsächlich hatten Hitler und die NSDAP (Nationalsozialistische
Deutsche Arbeiterpartei) in knapp eineinhalb Jahren nach der Übernahme der Reichskanzlerschaft
nicht nur das politische System völlig verändert, sondern auch die Herrschaft in einem Ausmaß erobert,
daß kein Bereich von Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur von dem Formierungswillen des
Nationalsozialismus unberührt blieb. Durch eine Volksabstimmung vom 19. August 1934, bei der die
Wählerinnen und Wähler keine echte Entscheidungsmöglichkeit besaßen, hatte sich Hitler unter dem
Titel "Führer und Reichskanzler" seine neue Machtfülle als Staatsoberhaupt, Regierungschef,
Oberbefehlshaber der Reichswehr und oberster Gerichtsherr mit 89,9 Prozent der Stimmen (bei einer
für solche Abstimmungen noch ungewöhnlich großen Zahl von Nein-Stimmen) absegnen lassen.
Wiederum vierzehn Tage später präsentierte der 6. Nürnberger Reichsparteitag der NSDAP, als
"Triumph des Willens" von der Regisseurin Leni Riefenstahl filmisch in Szene gesetzt, Sieg und
Herrschaft des Nationalsozialismus und seines Führers, der sein Regime nun auf Dauer einrichtete.
Die improvisierte Parteitagskulisse in Nürnberg sollte durch eine kolossale Tempelarchitektur mit
Ewigkeitsanspruch ersetzt werden.
Die Grundzüge der nationalsozialistischen Herrschaft und die wichtigsten Herrschaftstechniken waren
damit ausgebildet. Mit der charakteristischen Doppelstrategie von Unterdrückung und organisierter
Verlockung hatten die Nationalsozialisten mit Unterstützung oder Duldung von nicht unbeträchtlichen
Teilen der Gesellschaft die parlamentarisch-demokratischen Institutionen im Reich, in den Ländern
und Gemeinden völlig ruiniert sowie Parteien und Gewerkschaften gleichgeschaltet. Gleichzeitig hatten
die Nationalsozialisten, gestützt auf den staatlichen Herrschaftsapparat wie auf die eigene ungeduldige
Massenbewegung, den Verfassungs- und Rechtsstaat schrittweise ausgehöhlt. Dabei bedienten sie
sich nicht nur der Notverordnungsmacht des Reichspräsidenten (nach Artikel 48 der Weimarer
Verfassung) und anderer scheinlegaler Begründungen, sondern zogen alle Register moderner
Massenmobilisierung bzw. -inszenierungen, die den Schein von politischer Partizipation und
Demokratie erwecken sollten.
Die verfassungs- und sozialgeschichtlichen Folgen der nationalsozialistischen Machtübernahme der
Jahre 1933/34 hätten kaum einschneidender sein können: Rechtsstaat und parlamentarische
Demokratie waren beseitigt, die Gewaltenteilung war aufgehoben. Verschwunden waren auch die
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Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
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Sicherungen, die noch im März 1933 gegen eine Diktaturgewalt ausdrücklich in das
Ermächtigungsgesetz zur Beruhigung der deutschnationalen Bündnispartner eingebaut worden waren
(vgl. auch Informationen zur politischen Bildung Nr. 251 "Nationalsozialismus I", S. 42 f.). Die Legislative
war zu einem bloßen Akklamationsorgan verkommen. Die Länder waren gleichgeschaltet und damit
ohne eigenes Recht; die Regierungsstrukturen sollten sich weiterhin schrittweise verändern. Die
Funktionen des Reichskabinetts wurden ausgehöhlt, und im Gegenzug entstanden immer neue
Sonderbehörden, die weder dem Staat noch der Partei, sondern ausschließlich dem Führerwillen
untergeordnet waren. Überdies beanspruchte Hitler, der nach dem Tode von Reichspräsident Paul
von Hindenburg (1847–1934) nun auch Oberbefehlshaber der Reichswehr war, noch die Rolle des
obersten Gerichtsherren.
Rivalisierende Machtträger
Wer nun annahm, daß das Deutsche Reich sich nach den blutigen Säuberungen des 30. Juni 1934
(Verhaftung und Ermordung der gesamten obersten SA-Führung, vgl. auch Informationen zur
politischen Bildung Nr. 251 "Nationalsozialismus I", S. 53 ff.) im Sinne eines repressiven, konservativautoritären Regimes unter einer straffen Führerherrschaft stabilisieren würde, sah sich in mehrfacher
Hinsicht getäuscht. Er unterschätzte einmal die innere Dynamik des nationalsozialistischen
Führerstaates, zum anderen übersah er die Machtkämpfe, Kompetenzkonflikte und
Auflösungserscheinungen, die sich hinter der Fassade der Führerherrschaft abspielten. Sie verliehen
dem politischen System des "Dritten Reichs" zu keiner Zeit eine feste Form. Weder gab es ein einheitlich
gestaltetes Konzept nationalsozialistischer Herrschaft noch ließ sich ein auf Regelhaftigkeit angelegtes
Regierungs- und Verwaltungshandeln mit einem Führerwillen vereinbaren, der sich jeder Regel entzog.
Was in der NSDAP politische Praxis war, wurde schrittweise auf das staatliche Handeln übertragen.
In der Partei hatte es nie eine geregelte Entscheidungs- und Befehlsstruktur gegeben, vielmehr bestand
die "Reichsführung" aus einer Gruppe von Einzelpersonen oder Cliquen, die sich in einem persönlichen
Treue- und Gefolgschaftsverhältnis gegenüber ihrem "Führer" befanden. Dieser verteilte umgekehrt
seine Gunst willkürlich und lud seine Unterführer nie zu gemeinsamen Sitzungen, sondern nur zu
Einzelgesprächen ein. Bald hingen politische Entscheidungen vom Zugang zu Hitler ab und waren
nicht länger Sache eines förmlichen Beschlußverfahrens in einem dafür zuständigen Gremium. Das
führte zur Verwischung von Kompetenzen und gab Hitler eine immer größere Machtfülle, da er in dem
personenorientierten Herrschaftssystem als eine Art Schiedsrichter zwischen den rivalisierenden
Machtträgern fungieren konnte (vgl. auch Seite 8).
Die Praxis der Ausnahmeverfügung und Ämtervielfalt, die sich durch die Einrichtung neuer
Sonderbehörden und Kommissare immer unübersichtlicher gestaltete, bestimmte die weitere
Entwicklung des Regimes und den permanenten, schleichenden Wandel seiner politischen und
sozialen Strukturen. Der außerordentliche Führerwille mit seinen delegierten Sondervollmachten
wurde die eigentliche politische Triebkraft und überlagerte dabei die formalen Regierungs- und
Verwaltungsstrukturen. Was als Mittel der Machtsteigerung und durch seine Form des ungeregelten
Wettstreites um Macht und Gunst kurzfristig als Faktor der Beschleunigung und Leistungssteigerung
durchaus wirkungsvoll war, führte mit zunehmender Dauer jedoch zu immer größeren
Reibungsverlusten und zerstörte jede Regelhaftigkeit und Planbarkeit. Die bald gebräuchliche
Propagandaformal "Ein Volk, ein Reich, ein Führer" erweckte zwar nach außen den Eindruck eines
starken und von einem einheitlichen Führerwillen beherrschten Staates.
Hinter dieser Fassade entfaltete sich jedoch ein Durcheinander und Gegeneinander von einzelnen
Personen und Machtgruppen aus Partei, SS, Wehrmacht und neuen Sonderbehörden, das sich im
Rückblick fast als eine autoritäre Anarchie darstellt. Darum sorgte sich auch der "Sekretär" des Führers,
der Leiter der Reichskanzlei Martin Bormann (1900–1945), während des Krieges um den inneren
Zusammenhalt des Regimes: "War ursprünglich die Gesetzgebung des Reiches zu schwerfällig und
an zu viele Formvorschriften gebunden, so hat sie im Laufe der letzten Jahre eine Auflockerung
erfahren, deren mögliche Auswirkungen rechtzeitig erkannt werden müssen, wenn für die
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Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
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Staatsführung ernste Gefahren vermieden werden sollen."
Daß trotz dieser unverkennbaren "Auflockerung", von der Bormann auf Dauer offenbar eine
Gefährdung der Machtverhältnisse befürchtete, das NS-Regime bis zu seinem Ende eine immer
größere Radikalisierung seiner Herrschaftsziele und -methoden erlebte und eine unvorstellbare
Eroberungs- und Vernichtungsenergie entfalten konnte, bedarf der Veranschaulichung und der
Erklärung. Zwar wurde Hitler mehr und mehr zum "Herren des Dritten Reiches" (Norman Rich). Doch
läßt sich Hitlers Macht weder allein aus seinem Machtwillen und seinen Herrschaftszielen ableiten
noch ohne die innere Wirkungsweise des Regimes und ohne die wachsende Bereitschaft von immer
größeren Teilen der Bevölkerung zur Unterstützung des Nationalsozialismus erklären.
Radikalisierung und Machtausdehnung
Die Radikalisierung und weitere Machtausdehnung vollzog sich schrittweise, wobei in den Jahren 1934
bis 1938 wichtige Weichenstellungen stattfanden. Stärker als andere Abschnitte in der Geschichte des
NS-Regimes sind diese Jahre von einer Diskrepanz zwischen der Außen- und Innenansicht geprägt.
Das äußere Bild des Dritten Reiches in den Jahren 1935 und 1938 war von einer vermeintlichen
Stabilisierung und scheinbaren politischen Mäßigung im konservativ-autoritären Sinne bestimmt, und
so hat es sich in der Wahrnehmung und Erinnerung der Zeitgenossen auch häufig festgesetzt.
Noch längst nicht alle Ministerien waren mit Nationalsozialisten besetzt. Auch erhielt die Reichswehr,
nachdem sie sich durch einen persönlichen Eid Hitler unterstellt hatte, eine (zweifelhafte) Garantie
ihrer Autonomie. Von der Öffentlichkeit wurde diese Zeit darum sowohl als die normalen, guten
(Friedens-)Jahre wahrgenommen als auch als die Phase einer deutlichen wirtschaftlichen und
arbeitsmarktpolitischen Besserung. Sie galt als die Zeit glanzvoller Inszenierungen einer
vermeintlichen Volksgemeinschaft und außenpolitischer Erfolge, die von der "Heimkehr" des
Saarlandes über die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht, den Einmarsch in die entmilitarisierte
Zone des Rheinlandes bis zum "Anschluß Österreichs" reichten.
Fast alle außen- und militärpolitischen Aktionen und Entscheidungen verstießen gegen völkerrechtliche
Verträge, aber sie ließen sich mit dem Wunsch nach Revision des als Diktat empfundenen Versailler
Vertrages von 1919 scheinbar rechtfertigen (vgl. auch Informationen zur politischen Bildung Nr. 261,
"Weimarer Republik", S. 18 ff.). Vor allem mehrten sie Hitlers Mythos und trugen zur Entstehung des
schönen Scheines eines sicherlich autoritären, aber dafür aufstrebenden Industrie- und
Wohlfahrtsstaates bei, der sich des von ihm forcierten Autobahnbaus sowie der populären
Freizeitorganisation "Kraft durch Freude" rühmte. Hinter dieser Fassade verbarg sich jedoch das
"häßliche Gesicht" der Diktatur in Gestalt der sich radikalisierenden Judenverfolgung und der
permanenten Unterdrückung jeder Opposition.
Auch für die Außenpolitik gilt, daß sich die scheinbar friedlichen Jahre einer vermeintlich gemäßigten
Revisionspolitik des Deutschen Reichs bis 1937/38 nicht von den Jahren der Aggression und
Expansion, die 1938 beginnen, trennen lassen. Vielmehr diente die erste Phase nur der verdeckten
Vorbereitung und Absicherung der auf Eroberung und Vernichtung zielenden Lebensraumpolitik. Sie
bestimmte als Herrschaftsziel stets Hitlers Denken und muß als Triebkraft seiner Politik ernst
genommen werden. Ihre Realisierung rückte in dem Maße näher, indem sich die machtpolitischen
Voraussetzungen dafür ergaben. Zu den inneren Voraussetzungen gehörte die wachsende Macht des
Diktators gegenüber den Bündnispartnern aus Bürokratie, Wirtschaft und Militär, die zwar ein
großdeutsches Reich anstrebten, aber für eine zurückhaltendere Strategie und Politik bei der
Aufrüstung und der Durchsetzung der außenpolitischen Ziele eintraten. Zu den äußeren
Voraussetzungen gehörten die Schwächen und Krisenherde der internationalen Politik. Sie boten
günstige Bedingungen für eine Revision des Versailler Vertragssystems, aber auch für eine
Revolutionierung der Außenpolitik. Diese bestand in einer bewußten Außerkraftsetzung der Spielregeln
der internationalen Politik, die trotz vielfacher Verstöße noch immer von der Idee der kollektiven
Konfliktregelung durch Konferenzen und Verträge sowie von den Prinzipien des Gleichgewichts und
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der Beachtung der Integrität der anderen Staaten bestimmt war.
Vor allem galt im wechselseitigen Verkehr der Staaten miteinander ein unausgesprochener Grundsatz
europäischer Politik. Danach sollten sich allein aus Gründen der Selbsterhaltung des eigenen Staates
und der eigenen Gesellschaft die Mittel der Politik in einem kalkulierbaren und rationalen Verhältnis
zu den Zielen der Politik befinden. Um so bedrohlicher für die internationale Ordnung mußte es werden,
wenn eine skrupellose politische Spielernatur wie Hitler, der von sich sagte, er habe immer "Vabanque
gespielt", die politische, wirtschaftliche und militärische Macht erobern konnte, um die sich aus der
Labilität der internationalen Konstellation bietenden Gelegenheiten zur Erpressung und zur Aggression
zu nutzen. Genau dies tat die nationalsozialistische Führung ab 1935 schrittweise. Sie erzielte damit
zunächst bedeutende nationalpolitische Erfolge, die das Regime auch innenpolitisch immer weiter
festigten. Langfristig führte die Außenpolitik des NS-Regimes, die immer mehr von dem Prinzip des
Alles oder Nichts bestimmt war, jedoch in eine ungebremste und sich immer weiter beschleunigende
Dynamik, die die Grenzen des Möglichen übersah und in Krieg, Vernichtung und Selbstzerstörung
endete.
Auszug aus:
Informationen zur politischen Bildung (Heft 266) - Beseitigung des Rechtsstaates
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Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
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Ausbau des Führerstaates
Von Hans-Ulrich Thamer
6.4.2005
geb. 1943, ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Münster. Seine Forschungsschwerpunkte sind der
Nationalsozialismus und der europäische Faschismus.
Veröffentlichungen u.a.:Verführung und Gewalt. Deutschland 1933-1945, (Die Deutschen und ihre Nation, Bd. 5), Berlin 1986; Der
Nationalsozialismus, Stuttgart 2002.
Verklammerung von Partei und Staat, Instrumentalisierung von Recht und Justiz, Entrechtung
und Verfolgung der Juden: Die Jahre 1934-1938 waren gekennzeichnet durch den Umbau
Deutschlands zum "Führerstaat". Durch gezielte Propaganda wurde der Personenkult um Hitler
intensiviert.
Einleitung
Selten hat in der neueren Geschichte eine Person eine solche Machtfülle auf sich vereinigt wie Adolf
Hitler. Nach dem Tode des Reichspräsidenten von Hindenburg am 2. August 1934 gab es
verfassungsrechtlich keine Institution mehr, die Hitlers Stellung hätte eingrenzen können. Im
Unterschied zum faschistischen Italien, wo der Duce Benito Mussolini (1883–1945) immer mit dem
Monarchen und der auf diesen bezogenen Armee und Verwaltung zu rechnen hatte, waren im
Führerstaat alle institutionellen Ansatzpunkte für die Entwicklung organisierter Gegenkräfte
ausgeschaltet.
Hitlers Macht
Auch innerhalb der NSDAP hatte Hitler nach der Ermordung des SA-Stabschefs Ernst Röhm keinen
ernsthaften Widerpart mehr. Seit dieser Zeit galt für das NS-System, "daß es mit Hitler stand und fiel;
mit seinen Entscheidungen, seinen ideologischen Fixierungen, seinem politischen Lebensstil und
seinem Bedürfnis für die grandiose Alternative Sieg oder Katastrophe" (Karl-Dietrich Bracher).
Dieser "Führerabsolutismus" (Martin Broszat) gründete sich nicht allein auf Hitlers Machtwillen oder
besondere persönliche Qualitäten, sondern auch und vor allem auf die Zustimmungs- und
Unterordnungsbereitschaft in Verwaltung und Gesellschaft sowie auf die besondere
Herrschaftsmechanik im nationalsozialistischen Führerstaat. Der "Führer"-Mythos wurde zum
gemeinsamen Nenner der inneren Herrschaftsmechanik sowie der Legitimation durch die Gesellschaft.
Bereits während der Aufstiegsphase der NSDAP war Hitler zum machtpolitischen und ideologischen
Bezugspunkt der nationalso- zialistischen Bewegung geworden. Er hatte zudem diese Machtstellung
durch die "Führer"-Erwartung innerhalb der NSDAP sowie durch den "Führer"-Kult propagandistisch
verstärken bzw. überhöhen können (vgl. Informationen zur politischen Bildung Nr. 251
"Nationalsozialismus I", S. 21).
Nach der Machtübernahme 1933 übertrug sich dieser Prozeß der wechselseitigen Verstärkung von
allgemeiner Erwartung einer charismatischen Erlöser- und Retterfigur und von dem nunmehr
staatlichen Kult um den "Führer" auf die gesamte Gesellschaft. Zu den Voraussetzungen für die
erfolgreiche Wirkung dieses "Führer"-Mythos gehörte neben der verbreiteten sozialen Erwartung eines
nationalen Retters, der mit seinen außergewöhnlichen Qualitäten aus Not und Krise führen sollte, die
politisch-propagandistische Verstärkung dieser Erwartung durch die Gefolgschaft. Sie diente als
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Sprachrohr für die außerordentlichen Kräfte des charismatischen Führers. Hinzu kamen die
Inszenierungen des "Führer"-Kultes durch die Propagandaapparate des Reichsministers für
Volksaufklärung und Propaganda Joseph Goebbels (1897–1945). Diese nutzten vor allem die
wirtschafts- und arbeitsmarktpolitischen Erfolge des Regimes bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit
und der Belebung der Wirtschaft sowie später die nationalpolitischen Erfolge bei der Wiederherstellung
deutscher Großmachtansprüche. Sie wurden allein Hitler gut geschrieben, um damit auch diejenigen
in der Zustimmung zum "Führer" zu bestärken, die dem "politischen Niemand" nur wenig Fähigkeiten
und politische Erfolge zugetraut hatten.
Daß die politisch-administrativ in der Tat völlig unerfahrene und unvorbereitete Führungsclique der
NSDAP gerade die kritische Anfangsphase durchstehen konnte, lag an der Bereitschaft weiter Teile
der traditionellen Machteliten in Bürokratie, Reichswehr und Wirtschaft, mit dem nationalsozialistischen
Regime auch deshalb zusammenzuarbeiten und es zu stützen, weil sie sich selbst dadurch eigene
Vorteile und die Erfüllung der unterschiedlichsten sozialen und materiellen Erwartungen versprachen.
Hinzu kam ein unbestreitbares taktisches Geschick Hitlers, der sich in seiner neuen Rolle als
Reichskanzler zunächst vorsichtig abwartend verhielt und sich den Anschein eines honorigen
Staatsmannes gab, der nicht nur die Parteiuniform, sondern bei passender Gelegenheit auch den
bürgerlichen Anzug trug.
In den ersten Wochen und Monaten seiner Regierungszeit gab er sich Mühe, die Amtsgeschäfte des
Regierungschefs regelmäßig und normal zu versehen. Dabei wurde bald erkennbar, daß er trotz seiner
fehlenden Regierungserfahrungen die Spielregeln des Regierungshandelns rasch erfaßte und damit
zur Überraschung derer, die mit einem schnellen Abwirtschaften des "vulgären" Agitators gerechnet
hatten, geschickt umgehen konnte. Dabei fanden die Veränderung des Regierungsstils weg von
Parlament und Parteien und hin zu einem autoritären Handeln auch die Zustimmung der konservativen
Machtgruppen: Denn Hitler schien den Verfassungswandel, der mit den Präsidialregierungen der
früheren Reichskanzler Heinrich Brüning (1885–1970) und Franz von Papen (1879–1969) begonnen
hatte, nur fortzusetzen. Er regierte anfangs vor allem mit der Notverordnungsvollmacht des
Reichspräsidenten, und auch die Ausschaltung von Parlament und Kabinett durch das
Ermächtigungsgesetz vom 23. März 1933 (vgl. Informationen zur politischen Bildung Nr. 251
"Nationalsozialismus I", S. 43 ff.) erregte in der Reichsbürokratie und in der Armee keinen Argwohn.
Sitzungen des Reichskabinetts fanden immer seltener statt. Daß damit auch die Möglichkeiten einer
Kontrolle Hitlers durch die meist noch deutschnationalen Kabinettsmitglieder entfielen, nahmen diese
hin. Abstimmungen hatte es im Kabinett Hitler von Anfang an nicht gegeben. Seit dem
Ermächtigungsgesetz konnte Hitler als Reichskanzler unabhängig vom Reichspräsidenten Gesetze
verkünden. Über Gesetzesvorlagen und Verordnungen aus den Ministerien wurde per Umlaufverfahren
entschieden. Verzeichnete das Protokoll von 1933 noch 72 Sitzungen des Kabinetts, so trafen sich
die Minister 1935 nur noch zwölfmal, seit 1938 trat das Kabinett überhaupt nicht mehr zusammen. Der
prunkvolle Kabinettsaal in Hitlers neuer Reichskanzlei wurde nie benutzt. Die Regierung zerfiel in eine
Vielzahl einzelner Ressorts. Sie standen einzig durch den neu ernannten Chef der Reichskanzlei Hans
Heinrich Lammers (1879–1962) in Verbindung mit dem "Führer", sofern sie als Angehörige der
nationalsozialistischen Führungsclique nicht ohnehin den unmittelbaren Zugang zu Hitler besaßen.
Hitler wurde durch dieses Verfahren "Dreh- und Angelpunkt des Regierungsapparates" (Ian Kershaw),
andererseits konnte er sich damit aber aus der alltäglichen Beratungs- und Koordinationstätigkeit
heraushalten und dies dem Chef der Reichskanzlei oder anderen Führersekretären überlassen. Das
verstärkte den Nimbus des über allen Zwistigkeiten stehenden "Führers" ganz erheblich.
Diese Politik des Teilens und Herrschens, die Machtbefugnisse zersplitterte, um sie dann bei einer
obersten Schlichtungsinstanz wieder zu bündeln, ging nicht auf ein konkretes Aktionsprogramm von
Hitler und seinen Unterführern zurück. Es basierte eher auf einem intuitiven Handeln, das vorsichtiges
Abwarten mit der Fähigkeit zum raschen und geschickten Ausnutzen von günstigen Gelegenheiten
und einem ausgeprägten Machtinstinkt verband. Dies ließ Hitler immer erst dann handeln, wenn er
seine Autorität beeinträchtigt sah, oder wenn er seine Entscheidung als Konsequenz von
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Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
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Handlungszwängen darstellen konnte.
Ausgestattet mit der neuen Machtfülle verstärkte sich nach 1934 Hitlers Hang zu einem sprunghaften
Lebens- und Arbeitsstil, der nun auch die politischen Entscheidungsprozeduren prägte. Bald hetzte er
unaufhörlich zwischen Besprechungen und Kundgebungen, Aufmärschen, ersten Spatenstichen und
Einweihungen hin und her. Das verstärkte nach außen das Bild vom rastlos tätigen und omnipräsenten
"Führer". Die Mitglieder des Kabinetts oder der Regierungsbehörden mußten ihm oft nachreisen, um
eine Entscheidung herbeizuführen. Das stärkte den Einfluß der Führungsgruppen der NSDAP, der
Gauleiter und Reichsleiter oder auch der Adjutanten und Sekretäre, die gerade in der Nähe waren. Es
bot sich ihnen dadurch vermehrt die Chance, Entscheidungen an den zuständigen Ministerien vorbei
durchzusetzen. Gelegentlich führten solche unkoordinierten Verfahren auch zu Entscheidungen, die
im Widerspruch zur eigenen Gesetzgebung der Regierung Hitler standen. So hatte beispielsweise
Robert Ley die "Verordnung des Führers über die Deutsche Arbeitsfront" Hitler am Rande einer
Veranstaltung am 24. Oktober 1934 gleichsam zur Unterschrift untergeschoben und über das Deutsche
Nachrichten-Büro schon veröffentlichen lassen, als das Reichswirtschaftsministerium feststellte, daß
deren Inhalt eindeutig dem "Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit" vom 20. Januar 1934
widersprach.
Diese Panne konnte nur mühsam dadurch kaschiert werden, daß man die zur Durchführung der
Verordnung notwendigen Ausführungsbestimmungen nie erließ und damit der Vorgang im Sande
verlief. Denn der "Führer" durfte sich natürlich nicht irren. Trotz Hitlers erstaunlichen Gedächtnisses
und seiner oft verblüffenden Detailkenntnisse ließen sich so die Fäden der Regierung nicht in der Hand
halten. Dieser Regierungsstil förderte mit der Zeit viel mehr das unkoordinierte Eigenleben vieler
einzelner Ressorts und führerunmittel- barer Sonderapparate.
Jeden Versuch einer förmlichen Festlegung des neuen Herrschaftssystems lehnte Hitler jedoch ab.
Vielfach formulierte er Vorgaben so vage, daß sich mehrere Konzepte zur Umsetzung ergaben; oder
er hielt die Dinge so lange in der Schwebe, bis sich eine der Machtgruppen oder ein Unterführer aus
dem vielverzweigten Herrschaftssystem durchzusetzen schien. Diese Vorgehensweise läßt sich
besonders für die Stabilisierungsphase des Regimes zwischen 1934 und 1936/37 beobachten, als
nach der Machtdurchsetzung und nach dem Ende der parlamentarisch-rechtsstaatlichen Ordnung die
Grundlegung einer neuen politisch-sozialen Ordnung zur Entscheidung stand. Vor allem in der Innenund Sozialpolitik zeigte sich Hitler zunehmend unwillig, eindeutige Entscheidungen zu treffen. Anders
war dies in der Außenpolitik, die immer deutlicher seine Handschrift trug.
Führer-Mythos
Wann immer Zweifel an Hitlers Politik entstanden und in der Bevölkerung Klage über die immer wieder
auftretenden Engpässe in der Versorgung mit Lebensmitteln geführt wurden oder Kritik am korrupten
Verhalten von Ortsgruppenleitern oder anderen Funktionären der NSDAP aufkam, wurden diese
Unmutsäußerungen durch die Wirkungsmacht des Hitler-Mythos oder durch die suggestive
Überredungsgabe Hitlers aufgefangen. Das bewirkte weniger die vielzitierte Ausstrahlungskraft Hitlers
als die kollektiv-psychologisch bei vielen schon vorbereitete bzw. vorhandene Anpassungsbereitschaft
und Selbsttäuschung. Sie sahen in Reichskanzler Adolf Hitler den Retter und sozialen Wohltäter, den
sie nach Jahren der politischen und sozialen Struktur- und Identitätskrise erwartet hatten, und machten
die vermeintlich radikaleren und unfähigen Unterführer für die Unzuträglichkeiten und Zumutungen im
Herrschaftsalltag verantwortlich. "Wenn das der Führer wüßte", war ein geflügeltes Wort, das diese
Ablenkung und Selbsttäuschung zum Ausdruck brachte.
Der Mythos des Retters und Führers war ideologisch und massenpsychologisch tief verwurzelt. Er
berührte sich mit älteren Mythen und Denkweisen aus der Lebenswelt von Monarchie, Militär und
Jugendbewegung. Daher neigten traditionelle Führungsgruppen, bürgerliche Schichten und auch
Unterschichten zur Fehleinschätzung der politischen und sozialen Wirklichkeit des Führerstaates; sie
nahmen vorzugsweise nur das wahr, was sich mit ihren Einstellungen in Übereinstimmung bringen
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ließ. In fast allen Schichten der Gesellschaft finden sich Beispiele für eine Bewußtseinsspaltung, die
mit dem Führer-Mythos verbunden war. So hat Generaloberst Werner Freiherr von Fritsch (1880–
1939), der in ehrverletzender Form von der NS-Führungsclique 1938 aus seinem Amt als
Oberbefehlshaber des Heeres verdrängt wurde, ein Jahr später noch immer von dem Erlösungswerk
gesprochen, das der "Führer" bewältigen müsse.
Die Frau eines ehemaligen Kommunisten aus Oberbayern bekannte 1935 allen
Verfolgungsmaßnahmen des Regimes gegen Kommunisten zum Trotz: "Alle Tage muß mein Dirndel
für den Führer ein Vater Unser beten, weil er uns das tägliche Brot wiedergegeben hat." Der HitlerNimbus steigerte sich noch, als das nationalsozialistische Regime nach den Erfolgen bei der
Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, die tatsächlich nur durch die forcierte Aufrüstung möglich wurden,
sich seit 1936 auch außenpolitischer Erfolge rühmen konnte, die den verbreiteten Erwartungen auf
Wiederherstellung einer deutschen Großmachtposition entsprachen.
Goebbels und sein Propagandaapparat verstärkten den "Führer"-Nimbus und schreckten in der
Verehrung des Diktators von keiner heroischen Überhöhung und rhetorischen Entlehnung mehr zurück,
um die Identität der Deutschen mit Hitler zu postulieren: "Dieses ganze Volk hängt ihm nicht nur mit
Verehrung, sondern mit tiefer, herzlicher Liebe an, weil es das Gefühl hat, daß es zu ihm gehört, Fleisch
aus seinem Fleische und Geist aus seinem Geiste ist. [...] Wie wir eng um ihn versammelt stehen, so
sagt es zu dieser Stunde der letzte Mann im entferntesten Dorf: Was er war, das ist er, und was er ist,
das soll er bleiben, unser Hitler."
Der Propagandaminister enthüllte mit seinen Hymnen auf Hitler, die im krassen Gegensatz zu dessen
tatsächlicher Persönlichkeitsstruktur standen, eine tiefere Schicht des Nationalsozialismus, nämlich
seinen Charakter als politische Religion. Das bedeutete die Indienstnahme von religiösen Formen,
der Liturgie, der Heiligenverehrung und der Heilsverkündung für die Zwecke einer weltlichen politischen
Bewegung. Durch den Appell an das Jenseitige und an die Erlösungsbedürfnisse ihrer Anhängerschaft
wollte sie eine intensivere, nicht mehr hinterfragbare Sicherung ihres Machtanspruches erreichen.
Sichtbar wurden solche Formen des pseudoreligiösen Kultes in den Masseninszenierungen des
Regimes mit ihren nächtlichen Kundgebungen und Totenehrungen. Spektakulärer Höhepunkt war etwa
die Inszenierung eines bezeichnenderweise sogenannten "Lichtdoms", wobei durch die
zusammenfließenden Strahlen von Flakscheinwerfern der Eindruck eines riesigen kuppelähnlichen
Raumes entstand.
Wie diese pseudoreligiöse Verehrung auf Hitler zurückwirkte, ist schwer zu bestimmen. Vermutlich
verstand er bis zur Mitte der dreißiger Jahre den Kult um seine Person als Inszenierung und Mittel zur
Integration von Partei und Volk. Danach mehren sich die Anzeichen dafür, daß er selbst daran glaubte
und zum Opfer seines eigenen Mythos wurde. Denn immer häufiger sprach er seither von seiner
historischen Mission, zu der er von der "Vorsehung" berufen sei. "Ich gehe mit traumwandlerischer
Sicherheit den Weg, den mich die Vorsehung gehen heißt", äußerte er im März 1935 zum ersten, aber
nicht zum letzten Mal voller Selbstgefälligkeit. Diese Überzeugung, von der Vorsehung auserwählt zu
sein, gab seinen ideologischen Vorstellungen und dem eigenen politischen Selbstverständnis eine
zusätzliche Bestätigung und erklärte die zunehmende Entschlossenheit, seine ideologischen Visionen
zu vollstrecken und dabei alle Schranken des politischen Kalküls zu überspringen.
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Regierung und Verwaltung
Daß Hitler seine dogmatischen Herrschaftsziele in die Tat umsetzen konnte, lag jedoch nicht nur in
seinem "missionarischen Vollstreckungswillen" (Joachim Fest) begründet. Es war auch und vor allem
auf die Machtstrukturen des Regimes sowie auf die ideologischen und politischen Dispositionen von
Hitlers Helfern zurückzuführen, die zur Verwirklichung der mitunter nur sehr vage formulierten
Weltanschauungsformeln bereit waren, sei es aus Gründen der eigenen Machtbehauptung oder sei
es aus einem ideologischen Eifer, den sie mit Hitler teilten.
Die Konsequenz und Energie, mit denen das nationalsozialistische Regime seine Macht ausbaute
sowie die wirtschaftlichen, rüstungspolitischen und militärischen Vorbereitungen für seine
Eroberungspläne vorantrieb und umsetzte, stehen auf den ersten Blick in einem scheinbaren
Widerspruch zu den unübersichtlichen Herrschaftsstrukturen. Auch nach der neuerlichen
Konzentration der Macht im August 1934 erreichte das Regime bis zu seinem Ende 1945 zu keiner
Zeit eine feste und überschaubare Ordnung von Regierung und Verwaltung. Vielmehr befanden sich
die verschiedenen Machtgruppen, die 1933 Hitlers Machtübernahme erst ermöglicht hatten und die
fortan zu den Trägern des Regimes gehörten, in einem Zustand ständiger Rivalitäten und Kompetenzbzw. Machtverlagerungen.
Zunächst schienen die Repräsentanten der traditionellen Machteliten, neben der Staatsbürokratie die
Reichswehr und die Großwirtschaft, gegenüber der nationalsozialistischen Bewegung allein schon
aus Gründen ihrer administrativen Qualifikation und politischen Erfahrung das größere Gewicht zu
besitzen. Dies verschob sich seit 1934 und dann verstärkt seit 1937/38 eindeutig zugunsten der
nationalsozialistischen Parteiführer und ihrer Apparate. Sie waren in dem Machtbündnis von Anfang
an das dynamischere Element, getrieben von Aufstiegswillen, Machthunger, einer mentalen Abneigung
gegen Bürokratie und Justiz mit ihren strengen Normen und Verwaltungsvorschriften sowie von
ideologischem Eifer.
Aber auch innerhalb des nationalsozialistischen Machtkomplexes gab es keine politisch
organisatorische Geschlossenheit. Kennzeichnend war ein permanenter Machtkampf zwischen der
politischen Organisation und der Parteiarmee von SA und SS sowie zwischen den Unterführern der
einzelnen Sonder- oder Nebenorganisationen. Die Ursachen für diese ständigen Rivalitäten und
Kompetenzkonflikte lagen in den unterschiedlichen Erfolgen der einzelnen Unterführer bei der
Verschmelzung ihrer Apparate mit staatlichen Einrichtungen, aber auch in der unterschiedlichen
Anerkennung, die sie bei Hitler erfuhren. Alle Versuche, das Verhältnis zwischen dem Staat und seiner
Verwaltung einerseits und der Partei mit ihren Untergliederungen andererseits dauerhaft zu klären,
scheiterten. Dies wurde durch Formeln überdeckt, die zwar die Unterordnung des Staates unter die
Partei ("Die Partei befiehlt dem Staat") proklamierten, tatsächlich aber nur die Unterminierung und
Vereinnahmung der staatlichen Verwaltung bedeuteten. Der Dualismus zwischen Partei und Staat,
dessen Konfliktlinien noch viel komplizierter verliefen als es diese Formel andeutet, gehörte zum
Strukturmerkmal des Regimes. Vor allem sicherte dieses amorphe Gebilde des "Führerstaates" die
unangefochtene Autorität Hitlers, der den einzigen Bezugspunkt in dieser polykratischen Ordnung
darstellte. Auf seinen vermeintlichen oder tatsächlichen "Führerwillen" konnten sich alle Machtträger
berufen, seine Entscheidung war ausschlaggebend in den vielen Rivalitäten. Wer den unmittelbaren
Zugang und die Gunst Hitlers besaß, der galt im Machtkomplex mehr als eine noch so große Behörde.
Bündnispartner
Zusammengehalten wurde das permanent von inneren Machtkämpfen bestimmte Regime nicht nur
durch die Autorität Hitlers, sondern auch durch eine zumindest teilweise Übereinstimmung der
einzelnen Machtträger in ihren Herrschaftszielen. Gewollt war ein starker autoritärer Staat, um
politischen Einfluß und sozialen Status gegen die Kräfte von Parlamentarismus und Demokratie zu
sichern. Das Gewaltmonopol der Reichswehr sollte nicht nur behauptet, sondern auch durch die
Wiederaufrüstung zu einem Instrument der Revisions- und Eroberungspolitik ausgebaut werden. Die
Mitsprache der organisierten Arbeiterbewegung sollte ausgeschaltet und die Unternehmer wieder zu
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"Herren in ihrem Hause" gemacht werden. Auch die Nationalsozialisten schienen ähnliche Ziele zu
verfolgen oder verbargen hinter solch konservativ-autoritären Rezepten ihre teilweise viel
weitergehenden Ziele. Ihre Methoden waren zwar ungleich radikaler, aber darüber wurde zunächst
großzügig hinweggesehen. Der Ausschaltung und Verfolgung der politischen Linken und des liberaldemokratischen Verfassungssystems hatten die konservativen Bündnispartner zugestimmt und auch
die Zerstörung des Rechtsstaates hingenommen. Auch die Ausgrenzung der rassenpolitisch
stigmatisierten Minderheit vollzog sich zunächst mit Zustimmung oder Duldung der konservativen
Regierungspartner.
Innerhalb dieses Machtkartells fand eine ständige Bewegung und Verschiebung der Machtverhältnisse
statt: Die SS triumphierte 1934 über die SA, die staatliche Bürokratie verlor immer mehr Einfluß an
neue nationalsozialistische Sonderbehörden, die vom Straßenbau bis zur Lenkung der Wirtschaft die
alleinige Entscheidungsbefugnis beanspruchten und die Ministerien und Verwaltungen zu bloß
ausführenden Organen degradierten. Schließlich sahen sich Justiz und Polizei in ihrer institutionellen
Eigenständigkeit von der SS eingeschränkt und unterminiert, woran sie selbst durch eine allzu große
ideologische Zustimmungs- und Anpassungsbereitschaft kräftig mitgewirkt hatten. Adolf Hitler war
nicht der neutrale Schiedsrichter oder gemäßigte Vermittler zwischen den Machtgruppen, sondern die
radikalen Impulse gingen von ihm aus oder wurden von ihm gebilligt. Er war, was viele Zeitgenossen
nicht begreifen wollten, das radikale Zentrum der nationalsozialistischen Bewegung. Sie richtete nach
dem Abschluß der "Machtergreifung" zunächst ihre Energien darauf, die einzelnen Sektoren von Staat
und Gesellschaft durch neue Zwangsverbände zu kontrollieren und zu organisieren. Diese sollten
nach der Zerstörung oder der Gleichschaltung der alten Interessenverbände den totalitären
Herrschaftsansprüchen des Nationalsozialismus unterworfen werden.
So wuchs beispielsweise die von dem Reichsorganisationsleiter der NSDAP Robert Ley (1890–1945)
gegründete Deutsche Arbeitsfront (DAF) durch die Übernahme der Mitglieder der zerschlagenen
demokratischen Gewerkschaften und die Zwangsmitgliedschaft der Arbeitnehmer in der neuen NSOrganisation rasch zu einer Massenorganisation an (1939 insgesamt 25,3 Millionen) und verfügte über
Zehntausende von haupt- und ehrenamtlichen Funktionären (1939: 44500). Entsprechend versuchte
Ley, die Kompetenzen der DAF auszuweiten. Mußte sich die DAF anfänglich auf die bloße
sozialpolitische Betreuungs- und Propagandaarbeit beschränken, so riß Ley allmählich neue
Betätigungsfelder an sich, vor allem im Bereich der Berufserziehung, des Wohnungs- und
Siedlungswesens, im Freizeitbereich und Sozialversicherungswesen. Dies geschah immer in dem
Bemühen, aus Gründen der Selbstbehauptung und Attraktivität der DAF quasi-gewerkschaftliche
Funktionen zu verschaffen. Damit wollte die DAF die traditionelle Praxis der Arbeiterbewegung
übernehmen.
In ihrem Organisations- und Expansionsdrang war die DAF anfangs noch auf den Widerstand der
Privatwirtschaft und des Reichswirtschaftsministeriums bzw. des Arbeitsministeriums gestoßen, die
ihre Macht darauf stützen konnten, daß sie beide zunächst unentbehrlich waren. Die Industrie und
das Wirtschaftsministerium für die Rüstungspolitik des Regimes, der deutschnationale
Reichsarbeitsminister Franz Seldte (1882–1947) als Gegengewicht gegen den mächtigen DAF-Führer
Robert Ley. "Selbstverständlich wäre Ley besser als Seldte", notierte Goebbels 1943 als Antwort Hitlers
auf seine Kritik an dem schläfrigen Reichsarbeitsminister, "aber der Führer vertritt [...] den Standpunkt,
Seldte könne er jederzeit auswechseln, während das bei Ley dann nicht mehr der Fall sei". Darum
blieb Seldte im Amt und bildete ein wenn auch schwaches Gegengewicht gegen Ley, der, gestützt auf
das große Gewicht und die vollen Kassen seiner Massenorganisation, über eine eigene Hausmacht
und über den direkten Zugang zu Hitler verfügte.
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Verklammerung von Partei und Staat
Erfolgreich in ihrer Machteroberung waren einige Gau- und Reichsleiter, die zu ihren Partei- auch
entsprechende Staatsämter erreichen konnten: Goebbels als Gauleiter von Berlin und
Reichspropagandaleiter der NSDAP erhielt im März 1933 das ersehnte Ministeramt (vgl. Informationen
zur politischen Bildung Nr. 251, "Nationalsozialismus I", S. 42). Schließlich konnte er als Präsident der
Reichskulturkammer im gesamten kulturpolitischen Bereich auch über die gleichgeschalteten
Standesverbände von den Schriftstellern und Theaterleuten bis hin zu den Inhabern von
Zeitungskiosken verfügen. Eine ähnliche Machtfülle durch Parallelämter eroberte Walter Darré (1895–
1953): Seit 1931 Leiter des (Partei-)Amtes für Agrarpolitik, wurde er 1933 nach dem Rücktritt Alfred
Hugenbergs Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft und 1934 als Reichsbauernführer
schließlich der Leiter des Reichsnährstandes, der Organisation aller Bauern und Agrarproduzenten
zur Lenkung des Agrar- und Ernährungsbereichs.
Noch umfangreicher und weiter verzweigt wurde schließlich die Macht- und Ämterfülle von Hermann
Göring, der sich bald rühmen konnte, der zweite Mann im Reich Adolf Hitlers zu sein: Seit 1932
Reichstagspräsident, wurde er 1933 kommissarischer preußischer Innenminister und schließlich auch
preußischer Ministerpräsident sowie auf Reichsebene Minister ohne Geschäftsbereich in der
Regierung Hitler. 1934 wurde er ferner Reichtsluftfahrtminister sowie Reichsforst- und
Reichsjägermeister. 1935 wurde Göring offiziell zum Oberbefehlshaber der Luftwaffe ernannt und 1936
zunächst Rohstoff- und Devisenkommissar sowie dann Beauftragter für den Vierjahresplan. Dies
brachte ihm de facto die Rolle eines Diktators für die gesamte Wirtschafts- und Arbeitseinsatzpolitik
ein, vorbei an dem klassischen Wirtschaftsressort, das weiter bestand.
Über die Vereinnahmung der Polizeipräsidien in den Ländern verlief der Aufstieg des Reichsführers
SS Heinrich Himmler (1900–1945) bis hin zum Reichsinnenminister (1943) und zur militärischen
Funktion des Befehlshabers des Ersatzheeres (1944).
Das System der Verklammerung von Partei- und Staatsämtern setzte sich bis auf die Ebene der NSOrtsgruppenleiter und Bürgermeister hinunter fort. Daß die Eroberung von Staatsämtern nicht
unbedingt eine Machtsteigerung innerhalb des Regimes bedeuten mußte, zeigte die Rolle der
insgesamt dreißig Gauleiter. Fast alle von ihnen – eine Ausnahme war der radikale Antisemit und
Gauleiter in Franken Julius Streicher – durften sich zwar mit staatlichen Ämtern schmücken, wobei
einige bald feststellen mußten, daß die Parteifunktion wichtiger als der Ministertitel war. Nur zwei von
ihnen – Goebbels und Bernhard Rust (1883–1945) – errangen aber Ministerämter. Nur einige erreichten
zusätzlich das Amt eines preußischen Oberpräsidenten bzw. eines bayerischen Landesministers, was
ihnen immerhin auf regionaler Ebene eine starke Position sicherte. Umgekehrt hielten sich die
Einflußmöglichkeiten derer, die zusätzlich zu Reichsstatthaltern, das heißt zu den unmittelbaren
Repräsentanten der Reichsgewalt in den gleichgeschalteten Ländern ernannt worden waren, eher in
Grenzen. Das änderte sich erst mit den territorialen Eroberungen des Reiches seit 1938, mit denen
sich ein neues zukunftsreiches Betätigungsfeld eröffnete.
Gesellschaftliche Kontrolle und Macht verschaffte sich die NSDAP zudem über ihre zahlreichen
Gliederungen und angeschlossenen Verbände. Ein ganzes Netzwerk mit einer teilweise ungeregelten
Kompetenz legte sich über die Gesellschaft und sicherte den zahlreichen Unterführern immer größeren
Einfluß. Baldur von Schirach (1907–1974) beispielsweise, der sich als Führer der HJ (Hitlerjugend) in
der Phase der Machtübernahme behauptet hatte und zum Reichsjugendführer ernannt worden war,
beanspruchte nun die Kontrolle über den gesamten Erziehungsbereich. Dies rief den Widerstand des
ebenfalls nationalsozialistischen Reichsministers für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung Rust
sowie den des Wirtschaftsministeriums, das die Interessen der gewerblichen Wirtschaft im Lehrlingsund Ausbildungsbereich vertrat, hervor. 1936 hatte es Schirach dann doch erreicht, die HJ zur
Staatsjugend zu machen und damit eine Bresche in den staatlichen Erziehungsanspruch des
Schulministeriums zu schlagen.
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Jugend im NS-Staat
Wenn Hitler über Erziehung spricht, fällt zunächst auf, daß er dazu Begriffe benutzt wie
"hineinhämmern", "hineinbrennen" oder "heranzüchten". Auch vom "gegebenen Menschenmaterial"
ist die Rede. Die Entwicklung der Persönlichkeit des einzelnen als Maxime jeder aufklärerischen
Pädagogik wird hier in aller Deutlichkeit abgelehnt. Hitlers Ideal ist vielmehr der widerspruchslos
Gehorchende. Ohne Umschweife erklärt er, was ein Jugendlicher können muß: "Er soll lernen, zu
schweigen, nicht nur, wenn er mit Recht getadelt wird, sondern soll auch lernen, wenn nötig, Unrecht
schweigend zu ertragen." Was Hitler unter "Erziehung" versteht, skizziert er in einem in sich
geschlossenen Abschnitt von "Mein Kampf", dem Abschnitt "Erziehungsgrundsätze des völkischen
Staates". Die entscheidende Passage lautet: "Der Völkische Staat hat [...] seine gesamte
Erziehungsarbeit in erster Linie [...] einzustellen [...] auf das Heranzüchten kerngesunder Körper. Erst
in zweiter Linie kommt dann die Ausbildung der geistigen Fähigkeiten. Hier aber wieder an der Spitze
die Entwicklung des Charakters, besonders die Förderung der Willens- und Entschlußkraft, verbunden
mit der Erziehung zur Verantwortungsfreudigkeit, und erst als letztes die wissenschaftliche Schulung."
Das "Heranzüchten kerngesunder Körper" war für Hitler bei den Jungen Erziehung zum Soldaten. Die
Mädchen sollten zu Frauen erzogen werden, die "wieder Männer zur Welt zu bringen vermögen".
"Charakter und Willensbildung" bezog sich in Hitlers "völkischer Erziehung" nicht auf das Individuum,
sondern auf das zentral geführte "völkische Ganze". Dies stellt das Gegenteil einer emanzipatorischen
Pädagogik dar, die das individuelle Selbstbewußtsein und das individuelle Verantwortungsbewußtsein
der Schülerinnen und Schüler stärken will. Die wissenschaftliche Schulung stand dabei an letzter
Stelle. Die Volksschüler, die 90 Prozent der Gesamtschülerzahl darstellten, bekamen selbst
Grundwissen nur in grob verkürzter Form vermittelt. Die Verachtung der "Bildung" bei Hitler und der
NS-Erziehung fand erst da ihre Grenzen, wo die notwendigen Eliten des NS-Staates auf fundiertes
Fachwissen nicht verzichten konnten. [...]
Von besonderer Bedeutung ist dabei Hitlers Aussage, daß die Jugendlichen ihr ganzes Leben nicht
mehr frei würden, und sein Zusatz, sie seien jedoch glücklich dabei. Die Erzeugung dieses
Glücksgefühls, das mit einer völligen Entmündigung der Jugendlichen einherging, war in der Tat ein
Schlüssel für den Erfolg bei der Heranzüchtung von Soldaten, die freudig in den Tod gehen sollten.
Benjamin Ortmeyer, Schulzeit unterm Hitlerbild, Frankfurt am Main 1996, S. 20 f.
Konkurrenz um Kompetenzen
Neben den Konkurrenzansprüchen durch die Ämter der NSDAP und Massenorganisationen mit
Hoheitsanspruch und Zwangscharakter gab es andere Formen und Techniken der Erosion des an
Rechtsnormen gebundenen Staatsapparates vor allem in Gestalt der führerunmittelbaren
Sonderverwaltungen, die bald in allen Bereichen der öffentlichen Verwaltung und Daseinsvorsorge
geschaffen wurden. Sie hatten ihren Anfang in der scheinbar harmlosen Einrichtung des
führerunmittelbaren Amtes des "Generalinspektors für das deutsche Straßenwesen" genommen, mit
dem Fritz Todt (1891–1942) in Konkurrenz zum Reichsverkehrsministerium den populären Straßenund Autobahnbau forcieren sollte. Bald gab es einen "Führer des Reichsarbeitsdienstes". Er war zwar
formal als Staatssekretär dem Reichsinnenminister unterstellt, tatsächlich fungierte er aber als
selbständiger Leiter einer Pflichtorganisation des Arbeitseinsatzes sowie einer vormilitärischen
Ausbildung. Letztere Funktion war typisch für die Verquickung von Staat und Partei, aber auch für die
Konkurrenz von Parteieinrichtungen zur Wehrmacht.
Sehr rasch entstand von der Organisation der Jugend über die Lenkung der Wirtschaft bis zur Verfügung
über die staatliche Polizei durch die Parteiorganisation SS ein dichtes und unübersichtliches Netz von
Sonderbevollmächtigten, Reichskommissaren, Generalbevollmächtigten und Beauftragten des
Führers, das sich ohne genaue Kompetenzabgrenzung in Konkurrenz zu bestehenden
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Verwaltungsorganen ausbreitete. Stets waren es Sonderaufgaben, die bald eine organisatorische
Eigendynamik rechtfertigten und immer mehr Kompetenzen an sich banden.
Als die Bauverwaltung der Reichshauptstadt Berlin Hitlers Vorstellungen über den Ausbau seiner
Kapitale nicht energisch genug vorantrieb, schuf er für seinen Privatarchitekten Albert Speer (1905–
1981) das Amt des "Generalbauinspektors für die Reichshauptstadt", das Speer fast diktatorische
Vollmachten im Bereich der kommunalen Bau- und Verkehrspolitik verlieh. Auf die Widerstände von
Reichsbank, Wirtschaftsministerium und Privatwirtschaft gegen eine aller ökonomischen Vernunft
zuwider laufende Aufrüstungspolitik reagierte Hitler 1936 mit einer Forcierung der Autarkiepolitik. Sie
sollte die rüstungswirtschaftlich wichtigen Bereiche der deutschen Wirtschaft von den Spielregeln der
Marktwirtschaft teilweise abkoppeln und von ausländischen Zulieferungen unabhängig machen. Hitler
beauftragte Hermann Göring mit der Durchführung des Vierjahresplanes, einer Art
Kommandowirtschaft zur Steuerung von so wichtigen Bereichen wie der Rohstoff-, Arbeitskräfte- und
Devisenbeschaffung, der Eisenerzförderung sowie der Produktion von synthetischen Ersatzstoffen.
Göring machte aus dem Auftrag quasi ein Überministerium, das quer zu allen anderen Institutionen
weite Teile der Wirtschaft steuern konnte und diese kriegsfähig machen sollte. Eine schwierige Aufgabe,
so Hitlers Konzept, bedürfe vor allem des richtigen Mannes an der richtigen Stelle, der mit umfassenden
Sondervollmachten, eher durch seinen Machtwillen und -ehrgeiz als durch Sachkompetenz
ausgezeichnet, sich in einem Konkurrenzkampf mit der staatlichen Verwaltung durchsetzen mußte
und zugleich auch im Wettlauf um die Gunst des "Führers" zu überzeugen hatte.
Wie weit die Zersetzung der staatlichen Verwaltungskompetenzen schon fortgeschritten war und
welche Radikalisierungen eine solche Entgrenzung von Staat und Partei mit sich bringen konnte, zeigte
die Ernennung Himmlers zum "Reichskommissar für die Festigung des deutschen Volkstums" am 7.
Oktober 1939. Damit wurde dem Reichsführer SS die Zuständigkeit für die brutale Germanisierungsund Umsetzungspolitik in Osteuropa mit allen Vollmachten bis hin zur gewaltsamen Deportation von
Juden und Polen sowie zur Umsiedlung Volksdeutscher übertragen. Die Einrichtung dieser Behörde,
die von Himmler selbstherrlich ausgebaut wurde, gründete sich auf einen geheimen Führererlaß, der
nur den "obersten Reichsbehörden" bekannt war, nicht aber der allgemeinen Verwaltung. Daß dies
einen Bruch mit jeder Rechtsbindung von Verwaltung bedeutete, bestätigte zwar das
Reichsverwaltungsgericht, doch an dem Verwaltungschaos und vor allem an der Vernichtungspolitik
per Führererlaß änderte das nichts.
Daran war deutlich geworden, wie sich die Durchsetzung nationalsozialistischer Herrschaftsziele durch
die Einrichtung konkurrierender und führerunmittelbarer Ämter beschleunigen ließ, ohne die Existenz
klassischer Ressorts aufzuheben. Sie verloren "nur" ihre zentrale Zuständigkeit, arbeiteten aber weiter
und erweckten ein Bild scheinbarer Normalität, obwohl der auf Sondervollmachten beruhende NSStaat, der sich nicht an die Regeln des Verwaltungsrechtes gebunden fühlte, mit seinem Schlingenwerk
sie schon längst eingeschnürt und entmündigt hatte. Was die Männer in diesen neuen, sekundären
Parteibürokratien zu ihrem Handeln antrieb, war der Wunsch nach Beschäftigung und Aufstieg, nach
materieller Sicherung und sozialer Anerkennung bzw. Einfluß, gepaart mit Anpassungsbereitschaft
und einem Bedürfnis nach Organisation und Technokratie. Nicht wenige von ihnen verstanden sich
aber auch als Vertreter der völkisch-nationalsozialistischen Ideologie, die sie in die Praxis umsetzen
wollten.
Soziale Kontrolle durch die NSDAP
Durch den gewaltigen Zustrom von Mitgliedern und ihre organisatorische Expansion war die NSBewegung im Alltag der deutschen Gesellschaft fast überall präsent. Die Mitgliederzahl hatte sich
allein zwischen Januar und März 1933 verdreifacht, und insgesamt stieg sie bis 1935 von fast 850000
auf mindestens zweieinhalb Millionen an, um sich dann bis zum Kriegsbeginn auf über fünf Millionen
zu erhöhen. Ähnliche dramatische Steigerungen erlebte die SA, die von 450000 Mitgliedern Anfang
1933 auf beinahe drei Millionen zum Zeitpunkt der Röhm-Affäre anstieg, um dann nach ihrem
politischen Bedeutungsverlust bis 1938 wieder auf 1,2 Millionen zu schrumpfen. Auch andere
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Parteigliederungen und angeschlossene Verbände expandierten gewaltig, oft durch verdeckte oder
offene Formen des Zwanges herbeigeführt. Damit vermochte die NSDAP ihrem neuen Ziel der sozialen
Kontrolle und Indoktrinierung gerecht zu werden, nachdem sie mit der erfolgreichen Machtübernahme
1933/34 ihre ursprüngliche Aufgabe erreicht hatte.
Zwar war die NSDAP damit in viele Teilherrschaften zerfallen, aber ihre Möglichkeiten der Kontrolle
und der Mobilisierung reichten fast bis in jeden Winkel des Reiches. Zudem bot sie für Hunderttausende,
von deren Engagement sie getragen war, Arbeit und Brot und vor allem ein Maß an sozialer
Anerkennung und Macht, wovon viele vorher nur geträumt hatten. 1937 war die Zahl der Politischen
Leiter schon auf 700000 angestiegen, ohne die Funktionäre der Nebenorganisationen mitzurechnen.
Im Krieg lag die Zahl des Führungskorps bei zwei Millionen. Die Tendenz zur Ausweitung des
Dienstleistungssektors erhielt mit dem NS-Regime einen gewaltigen Schub und mit ihr die materielle
Besserstellung der Bediensteten, vor allem im Bereich der Parteibürokratie, die mit vergleichsweise
hohen Gehältern und einem dreizehnten Monatsgehalt lockte.
Die Kreis- und Ortsgruppen mit ihren Block- und Zellenwarten konnten, und das gab vielen von ihnen
eine besondere Form der Befriedigung, bis in das Leben des einzelnen Mitmenschen hineinwirken.
Die NSDAP hatte beispielsweise politische Leumundszeugnisse für Beamte auszustellen, die befördert
werden wollten. Für Anwärter des öffentlichen Dienstes sowie für Personen, die soziale Unterstützung
und Ausbildungshilfen beantragten, war ebenfalls das Votum der Ortsgruppe entscheidend. Auch
Gewerbegründungen und Empfehlungen für die Stellung als "UK" (unabkömmlich), die vom
Kriegsdienst befreite, bedurften der Befürwortung der Partei. Der Blockleiter hatte nicht nur die
Mitgliedsbeiträge für die Partei und die "NSV" (Nationalsozialistische Volkswohlfahrt) einzusammeln,
sondern trieb mit seinen Helfern bis hin zu den HJ-Pimpfen auch die Spenden für das Winterhilfswerk,
das nationalsozialistische Unterstützungswerk für Bedürftige, und die Beiträge für die Eintopfsonntage
ein, die die Solidarität mit den ärmeren "Volksgenossen" durch Verzicht auf üppigere Mahlzeiten
demonstrieren sollten. Zu Beginn des Krieges wurde den Orts- und Kreisgruppenleitern schließlich
die Verteilung der Lebensmittel- und Kleiderkarten im Rahmen der Zwangsbewirtschaftung übertragen.
Diese Aufgaben boten nicht wenigen kleinen Parteigenossen die Chance zur symbolischen
Statuserhöhung und auch zur Schikane durch die Autorität der Parteiuniform.
Aufstieg der SS
Die Entwicklung der kleinen Schutzstaffel (SS) von einer ursprünglichen Unterabteilung der SA zur
mächtigsten Gliederung des Nationalsozialismus und zum alles beherrschenden "SS-Staat" war weder
vorhersehbar noch bloßer Zufall. Im Aufstieg der SS fanden die Herrschaftsformen und -ziele des
Nationalsozialismus ihren deutlichsten organisatorischen Niederschlag. Die SS war sowohl die reinste
Verkörperung der nationalsozialistischen Konzeption einer Weltanschauungsorganisation als auch
das vollkommene Instrument der Führergewalt.
Zunächst hatte es so ausgesehen, als sollte der Reichsführer SS Heinrich Himmler mit seiner kleinen
Elitegruppe von 56000 "Parteisoldaten" bei der Verteilung von Ämtern und Machtpositionen im Frühjahr
1933 leer ausgehen. Himmler wurde am 9. März 1933 lediglich kommissarischer Polizeipräsident von
München und erhielt von dort dann Zugriff auf die politische Polizei in Bayern. Die wichtigste Position
bei der Polizei in der Reichshauptstadt und in Preußen hatte schon Göring okkupiert. Zur Machtrivalität
der beiden kam ein konzeptioneller Gegensatz. Während Göring mit dem Geheimen Staatspolizeiamt
eine organisatorisch von der übrigen Polizei getrennte, aber innerhalb der staatlichen Verwaltung
verbleibende politische Polizeieinheit aufbauen wollte, strebte Himmler von Anfang an eine aus dem
allgemeinen Polizeiapparat herausgelöste und jeder politisch-administrativen Kontrolle entzogene
politische Polizeitruppe an, bei der die gesamte politische Überwachung konzentriert und die
Verfolgungsmaßnahmen institutionalisiert werden sollten.
Das entsprach Entstehung und Selbstverständnis der SS, die als "Stabswache" zwischen 1923 und
1925 begründet bzw. als Schutzstaffel umorganisiert worden war. 1929 war sie dann von dem zierlich
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und schüchtern wirkenden Heinrich Himmler, einem gelernten Diplomlandwirt und Tierzüchter als
Reichsführer SS übernommen und zu einer ordensähnlichen Organisation ausgebaut worden. Der
Aufbau des elitären, führerunmittelbaren Ordens, dessen Personalauswahl nicht nach den Kriterien
von Besitz, Bildung oder Herkunft, sondern von Rasse und Weltanschauung erfolgte, entsprang
Himmlers rassenbiologischen Vorstellungen sowie seinem Bedürfnis nach einer möglichst engen
Bindung an seine neue Vaterfigur Hitler. Zugleich betrieb der Auslesefanatiker und Bürokrat die
Errichtung einer Parteipolizei, die er mit dem Aufbau des Sicherheitsdienstes (SD) 1931 als
Nachrichten- und Überwachungsorgan der Partei unter Reinhard Heydrich (1904–1942) vorbereitete.
Schon früh hatte Himmler mit der Ausdifferenzierung der SS begonnen. Am 17. März 1933 wurde die
"Leibstandarte-SS Adolf Hitler" unter Sepp Dietrich (1892–1966) gebildet, bald darauf die "Politischen
Bereitschaften", die im Herbst 1934 nach der Niederschlagung der SA zur "SS-Verfügungstruppe"
umgebildet wurden und den Kern der späteren "Waffen-SS" bildeten. Eine weitere Säule des SSImperiums war mit den Wachmannschaften der Konzentrationslager, den SS-Totenkopfverbänden,
entstanden, die ihren Ausgang im Konzentrationslager Dachau genommen hatten. Am 30. Juni 1934
hatte die SS die Alleinzuständigkeit für sämtliche Konzentrationslager erhalten, die bis dahin noch
vielfach unter SA-Kontrolle gestanden hatten. Mit der Ernennung von Theodor Eicke (1892–1943),
bisher Lagerkommandant von Dachau, zum "Inspekteur der Konzentrationslager und Führer der SSWachverbände", war die Voraussetzung für die Vereinheitlichung und Systematisierung des
außerstaatlichen Terrorsystems geschaffen.
Damit übertraf Himmler den entscheidenden Etappenerfolg, den er bei der Kontrolle über die politische
Polizei in den Ländern bereits bis zum Frühjahr 1934 in den nichtpreußischen Ländern errungen hatte.
Am 20. April 1934 ernannte Göring Himmler auch zum Inspekteur der Preußischen Geheimen
Staatspolizei und machte den Reichsführer SS, den er als Verbündeten im inneren Machtkampf suchte,
damit zum Herren über die gesamte politische Polizei des Reiches. Wie bei der Übernahme der
Polizeigewalt in den übrigen Ländern folgte auch im April 1934 der seinem Chef intellektuell überlegene
Heydrich als neuer Leiter des Geheimen Staatspolizeiamtes nach. Er betrieb als Organisator des
Terrors die schrittweise Verschmelzung von Gegnerermittlung durch den parteieigenen
Sicherheitsdienst mit der Gegnerbekämpfung durch die staatliche Politische Partei. Das
Gestapogesetz von 1936 entzog deren Tätigkeit nicht nur jeder richterlichen Nachprüfung, sondern
schrieb auch ihre Herauslösung aus der allgemeinen Verwaltung fest.
SS-Staat
Mit diesen einzelnen Schritten war der SS-Staat vorgezeichnet, es fehlte noch Himmlers Zugriff auf
die allgemeine Polizei, das heißt auf Schutzpolizei, Gendarmerie und Kriminalpolizei. Das vollzog sich
mit der Ernennung von Himmler zum "Reichsführer-SS und Chef der deutschen Polizei im
Reichsministerium des Innern" am 17. Juni 1936. Damit wurde einerseits in Abkehr der vormaligen
Länderzuständigkeiten die Zentralisierung der Polizei auf Reichsebene abgeschlossen, andererseits
die Polizei endgültig durch die SS vereinnahmt. In der eigentümlichen Amtsbezeichnung Himmlers
kam sowohl diese Vereinnahmung zum Ausdruck als auch die weitere Ausdehnung der Kompetenzen
von Himmler und seiner SS gegenüber der staatlichen Verwaltung (und bald auch der Wehrmacht).
Denn als Staatssekretär im Reichsinnenministerium unterstand Himmler zwar "persönlich und
unmittelbar" dem Innenminister, als Reichsführer SS unterstand er jedoch nur dem "Führer". Diese
führerunmittelbare Stellung wog allemal schwerer als die Unterstellung als Polizeichef und
Staatssekretär unter einen Minister, der zwar auch alter Nationalsozialist war, jedoch über keine
Hausmacht verfügte. Himmler war zu diesem Zeitpunkt schon stark genug, daß er nicht mehr ein
eigenes staatliches Büro als "Chef der deutschen Polizei im Innenministerium" unterhalten mußte.
Vielmehr besorgte diese Aufgabe ein Amt innerhalb der SS-Zentrale. Damit wurde die Polizei aus dem
Verwaltungsstaat herausgelöst.
Diesem entscheidenden Schritt ließ Himmler rasch eine organisatorische Umstrukturierung des
gesamten SS-Komplexes folgen, die eine Vielzahl neuer, sich ständig umorganisierender Ämter schuf,
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die sich "wie eine riesige Krake mit ihren institutionellen Fangarmen in alle Bereiche von Staat,
Gesellschaft und Partei hineinfraß" (Bernd Jürgen Wendt). Die Polizei wurde in zwei Hauptämter
eingeteilt: die Ordnungspolizei (Schutzpolizei, Gendarmerie) unter SS-Obergruppenführer und
Polizeigeneral Kurt Daluege, und die Sicherheitspolizei (Politische Polizei, Kriminalpolizei und
Grenzpolizei) unter SS-Obergruppenführer Reinhard Heydrich, der in Personalunion auch weiterhin
Chef des Sicherheitsdienstes (SD) blieb.
Der Prozeß der Verschmelzung von staatlichen Ämtern und Parteiapparaten kam zum Abschluß, als
am 27. September 1939 die zentralen Ämter der Sicherheitspolizei und des parteieigenen SD zum
Reichssicherheitshauptamt (RSHA) zusammengefaßt wurden. Zur stärkeren Integration der
verschiedenen Ämter, die mittlerweile entstanden waren, wurde bereits im November 1937 in jedem
Wehrkreis, der zugleich einem SS-Oberabschnitt entsprach, ein "Höherer SS- und Polizeiführer"
(HSSPF) eingesetzt, der im Mobilmachungsfall die gesamte SS-Polizeimacht in Konkurrenz zur
Wehrmacht koordinieren und führen sollte. Mit dem Beginn der kriegerischen Eroberungspolitik sollten
die HSSPF eine erweiterte Kompetenz bei der Etablierung der nationalsozialistischen
Besatzungsherrschaft und insbesondere bei den "rassischen Säuberungen" im Osten übernehmen.
Als "weltanschaulicher Stoßtrupp und Schutzstaffel der Ideen des Führers", wie Heydrich bereits 1935
die Konzeption der SS beschrieben hatte, sollte sie eine Einrichtung sein, die "den politischen Zustand
des deutschen Volkskörpers sorgfältig überwacht, jedes Krankheitssymptom rechtzeitig erkennt und
die Zerstörungskeime feststellt und mit jedem Mittel beseitigt". Diese Gegnerbekämpfung müsse mit
technisch-polizeilichen und mit geistigen Mitteln "an allen Fronten" geführt werden. Denn, so formulierte
Himmler die ideologische Angst des Nationalsozialismus, die nächsten Jahrzehnte würden "den
Vernichtungskampf der [...] untermenschlichen Gegner und der gesamten Welt gegen Deutschland"
bringen.
Der Geschäftsverteilungsplan der Sicherheitspolizei stellt ein bürokratisches Dokument der globalen
ideologischen Feindschaft des Nationalsozialismus dar. In den einzelnen Ämtern sollten
"Kommunismus, Marxismus und Nebenorganisationen, Reaktion, Opposition, Legitimismus,
Liberalismus", ferner der "politische Katholizismus, der politische Protestantismus, Sekten, sonstige
Kirchen und Freimaurerei" überwacht und bekämpft werden. Für "Judenangelegenheiten" war
beispielsweise das Referat IV B 4 "Politische Kirchen, Sekten und Juden" zuständig, Referatsleiter
war SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann (1906–1962). Gruppe IV C bearbeitete
Schutzhaftangelegenheiten, Gruppe IV D ausländische Arbeiter, staatsfeindliche Ausländer und
Emigranten. Eng verbunden mit der Gegnerbekämpfung war Amt VII "Weltanschauliche Forschung
und Auswertung", gewissermaßen das wissenschaftliche Pendant, das aus dem SD übernommen
wurde.
Die lückenlose Diagnose war in diesem totalitären Kontrollkonzept Voraussetzung dafür, daß die nach
Meinung der NS-Ideologen eigentliche Aufgabe der SS, das deutsche Volk zu schützen und durch
Auslesepolitik zu "heilen", erfüllt würde. Das war auch Aufgabe von Heydrichs SD, der seit 1937
regelmäßig Berichte über Lage und Stimmung der Bevölkerung erstellen ließ, um das Regime durch
eine Art von "geheimem Meinungsforschungsinstitut" dauerhaft zu sichern. Alles, was an
Organisations- und Kommunikationstechniken aufzubieten war, nutzte die SS. Die SS war die
widersprüchlichste und merkwürdigste Synthese des Uralten und der Moderne. Als eine Verfolgungsund Vernichtungsmaschinerie bediente sie sich für damalige Verhältnisse moderner Methoden. Das
stand freilich in einem eigentümlichen Gegensatz zu den archaischen Leitbildern von Blut und Boden
und der antimodernen Ordensmystik der SS, die sich in verfallenen Burgen die Weihestätten für ihren
Ahnen- und Totenkult errichtete. Heinrich Himmler verkörperte in seiner Person die Gegensätze,
Widersprüche und damit Abgründe, die sich in einem Menschen auftun können. Der penible Bürokrat
und Herr über einen gewaltigen Verfolgungs- und Vernichtungsapparat konnte seinen SS-Männern in
Vernichtungs- und Konzentrationslagern rücksichtslose Härte predigen und sich gleichzeitig um den
Frieden des Waldes oder die Reinheit der Nahrungsmittel sorgen. Darum lehnte er die Jagd ab und
ängstigte sich vor den tödlichen Wirkungen der modernen Zivilisation.
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Was jedoch den wegen ihrer Uniformen so genannten schwarzen Orden der SS gesellschaftsfähig
machte, waren nicht solche mystischen Elemente, sondern der Anspruch, eine neue Elite zu bilden.
Nicht nur, daß Himmler freigiebig die Würde eines SS-Ehrenführers an Minister, Ministerialbeamte und
Wirtschaftsführer vergab (um die Reputation der SS zu steigern und den eigenen Einfluß bis in das
Auswärtige Amt auszudehnen) oder daß er elitäre Reitervereine in seine Reiter-SS übernahm. Es gab
überdies einen auffälligen Zustrom namhafter Vertreter der Aristokratie bereits vor 1933, der sich
danach verstärkte. 18,7 Prozent der SS-Obergruppenführer, 9,8 Prozent der SS-Gruppenführer, 14,3
Prozent der SS-Brigadeführer waren Adelige, die von der SS und ihrem ausgeklügelten System der
Hierarchie und elitären Rituale die Wiederherstellung von traditionellen Wert- und Sozialmustern
erwarteten. Dazu kamen die Söhne des Bürgertums, verabschiedete Reichswehroffiziere, arbeitslose
Akademiker, in der Regel mit juristischer Qualifikation, Freiberufler ohne Existenzgrundlage, die im
Polizeidienst oder im Reichssicherheitshauptamt auf eine schnelle Karriere hofften.
Sie waren fast alle Männer der Altersgruppen, die sich geprägt vom Kriegserlebnis der Jahre 1914 bis
1918 und dem materiellen Elend der Nachkriegszeit als "verlorene Frontgeneration" bezeichneten.
Darunter waren Intellektuelle, von denen einige von der Gefühls- und Ideenwelt der deutschen
Jugendbewegung beeinflußt waren und die nun vorwiegend über den SD in das RSHA kamen. Sie
waren nicht nur juristisch ausgebildete Technokraten der Macht, sondern zu einem großen Teil auch
Ideologen, die in Abgrenzung zur bürgerlich-liberalen Gesellschaft und scharfer Gegnerschaft zu
sozialistischen Gesellschaftsentwürfen eine neue Weltanschauungselite gründen wollten und ihr Ziel
in der Bekämpfung aller "Fremdvölkischen" bzw. in der Neuordnung Europas nach "biologischvölkischen" Kriterien sahen.
Instrumentalisierung von Recht und Justiz
Der Ausschaltung und Vernichtung des inneren Feindes hatten nach der nationalsozialistischen
Gewaltideologie auch Recht und Justiz zu dienen. Die Instrumentalisierung der Justiz zu politischen
Zwecken ist zwar autoritären Verfassungssystemen nicht fremd, doch unterschieden sich davon
Aushöhlung und Politisierung der Justiz im Dritten Reich fundamental vor allem durch Ausmaß und
Methoden, die zu einer tendenziell unbegrenzten Ausweitung von Willkür und Rechtlosigkeit führten.
Durchlöchert und zerstört wurde die Rechtsordnung auf mehreren Wegen: Durch die Verletzung
wichtiger Rechtsprinzipien und -garantien sowie durch zahlreiche rassenideologisch bestimmte
gesetzliche Einzelregelungen wie etwa
•
die Einführung des sogenannten Arierparagraphen in verschiedene Gesetze;
•
die Entwicklung des Strafvollzugs und insbesondere der Schutzhaft, die präventiv und als
willkürliche Freiheitsberaubung angeordnet werden konnte und zum Inbegriff der politischen
Gegnerbekämpfung unter der nationalsozialistischen Herrschaft wurde;
•
die Gleichschaltung der Justiz und die Aushöhlung der Unabhängigkeit der Richter;
•
ferner die umfassende Änderung der Gerichtsverfassung.
Bei der Zerstörung der Rechtsstaatlichkeit gingen autoritäre Ordnungswünsche und
Anpassungsbereitschaft auf Seiten der konservativen Justiz, die die langwierigen
Rechtssprechungsverfahren der Weimarer Republik abschaffen wollte, mit Täuschungsmanövern und
Gewalt durch die nationalsozialistischen Machthaber Hand in Hand. Auch wenn die Nationalsozialisten
zunächst hinter der Fassade des scheinbar Vertrauten und mit propagandistischen Leerformeln
agierten, überraschten doch das Tempo und die Zielstrebigkeit, mit denen der Rechtsstaat schon in
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den Jahren 1933/34 außer Kraft gesetzt wurde (vgl. Informationen zur politischen Bildung Nr. 251,
"Nationalsozialismus I", S. 36 ff.). Weil sie nicht aus der Strafpraxis verdrängt werden wollte, willigte
die konservative Justiz ein, daß nach dem Brand des Reichstags einer der fundamentalsten
Rechtsgrundsätze "nulla poena sine lege" (keine Strafe ohne Gesetz) aufgehoben und mit einer "Lex
van der Lubbe" (nach dem als Brandstifter verurteilten Holländer Marinus van der Lubbe) auch
rückwirkend für Brandstiftung die Todesstrafe verhängt werden konnte. Bald wurden Vorgänge für
strafbar erklärt, nur weil sie gegen das "gesunde Volksempfinden" verstießen, auch wenn es dafür
keine Strafbestimmungen gab.
Auch die Einrichtung von Sondergerichten war eine Vorgabe des Justizministeriums, um der
wachsenden nationalsozialistischen Kritik am Justizwesen zu begegnen. Die Sondergerichte wurden
bei allen Oberlandesgerichten eingerichtet, gegen ihre Urteile gab es keine weiteren Rechtsmittel
mehr. Hier führte eine erhebliche Verkürzung der Verfahren bis hin zu regelrechten Schnellverfahren
zu einschneidenden Minderungen der Rechte der Angeklagten.
Recht und Justiz dienten dem Regime nicht nur zur Ausschaltung der politischen Gegner und zur
Herrschaftssicherung, sondern wurden auch zu Instrumenten der Rassenpolitik und Judenverfolgung.
Das begann mit dem "Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" vom 7. April 1933. Es
verfügte nicht nur die Entlassung von Beamten, die Mitglieder demokratischer Parteien waren, sondern
grenzte auch Juden (vorerst noch mit Ausnahme der Frontkämpfer des Ersten Weltkrieges) aus. Damit
hatte zum ersten Mal ein rassenideologisches Element – mit Zustimmung auch der deutschnationalen
Regierungspartner – Einzug in ein Reichsgesetz gefunden. Es folgten Verschärfungen der
Strafbestimmungen wie etwa gegen "gefährliche Gewohnheitsverbrecher" sowie die Verfügung,
Menschen mit erblichen Krankheiten unfruchtbar zu machen.
Aufgabe rechtsstaatlicher Prinzipien
Auch für die Strafgesetzgebung galt, was in anderen Bereichen von Staat und Gesellschaft zu
beobachten war. Die Nationalsozialisten besaßen keine eigene Rechtstheorie, wohl aber eine
grundsätzliche und dumpfe Feindschaft gegen alle Prinzipien des Rechtsstaates. Sie wurden von
ihnen als "liberalistisch" denunziert und mit den sehr vagen ideologischen Formeln vom "gesunden
Volksempfinden" oder "Recht ist, was dem Volke nützt" kontrastiert bzw. aufgehoben. Damit ließ sich
kein verläßliches Rechtsgebäude begründen, sondern es entstand eine verworrene Situation, die die
Rechtsunsicherheit beförderte.
Es gab ein Nebeneinander einer politisierten Strafgesetzgebung, die rechtsstaatliche Normen außer
Kraft setzte und einer autoritären Rechtspraxis gegen Andersdenkende. Es gab aber andererseits
auch Bereiche, in denen herkömmliche Grundsätze des bürgerlichen Rechtes weiter die alltägliche
Arbeit der Gerichte bestimmten. Vor allem im Zivilrecht herrschte weiterhin der Schein von Normalität
und Kontinuität. In Strafverfahren praktizierten die Gerichte, vor allem wenn die Beschuldigten
Angehörige der politischen Linken oder Juden waren, eine harte Rechtssprechung, die den politischen
Erwartungen des Regimes und auch den eigenen politisch-ideologischen Vorurteilen entsprach. Das
galt besonders für die zahlreichen Hochverratsverfahren, die in den dreißiger Jahren an
Oberlandesgerichten und am Volksgerichtshof gegen Angehörige der KPD und der SPD stattfanden.
In der Regel wurden die gesetzlichen Bestimmungen von den Gerichten sehr weit ausgelegt und damit
Delikte wie das Abhören von Radio Moskau oder die Weitergabe antinationalsozialistischer Schriften
als Vorbereitung zum Hochverrat bewertet. Rund 16000 Todesurteile sind auf diese Art und Weise bis
Ende 1944 von der Justiz verhängt worden.
Auch waren die Gerichte bereit, der Gestapo in ihren Verfolgungs- und Verhörpraktiken gegen
angebliche "Staatsfeinde" größte Freiheiten einzuräumen. Sie dienten damit schon vor der Verkündung
des Gestapogesetzes vom 10. Februar 1936, mit dem staatspolizeiliche Aktivitäten der gerichtlichen
Nachprüfung entzogen wurden, der Willkür und nicht etwa dem Rechtsschutz. Daß diese
Anpassungsbereitschaft auch von autoritären bzw. sozial-reaktionären Vorurteilen und Einstellungen
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der Gerichte mitbestimmt wurde, zeigt die Tatsache, daß diese Praxis vor allem gegenüber Mitgliedern
und Sympathisanten der Linksparteien, generell auch gegenüber Angehörigen von Unterschichten,
Randgruppen und religiösen Minderheiten sowie Freikirchen üblich war. Sie war weniger ausgeprägt
gegenüber bürgerlich-konservativen Angeklagten, zu denen die Richter eine größere soziale Nähe
und Verbundenheit empfanden.
Unsicherheit in der Rechtslage und eine von Vorurteilen bestimmte Anpassungsbereitschaft prägten
vielfach auch das Verhalten von Gerichten in der Frage des sogenannten "Rasserechts", wann immer
es um Eheprobleme zwischen Juden und Nichtjuden oder nur um das Wohn- und Arbeitsrecht von
Juden ging. Noch vor dem berüchtigten Nürnberger "Blutschutzgesetz" (Gesetz zum Schutze des
deutschen Blutes und der deutschen Ehre) von 1935 (siehe auch Seite 15) gab es Fälle, in denen
Gerichte die Gesetzgeber an "rassepolitischem Eifer" (Ralph Angermund) überbieten wollten. Es
verwundert daher nicht, daß die Nürnberger Gesetze dann auch von den Gerichten in einer sehr weiten
Auslegungspraxis angewandt wurden.
Zerfall individuellen Rechtsschutzes
Mit dem Gestapogesetz von 1936, das staatspolizeiliche Aktionen grundsätzlich der richterlichen
Nachprüfung entzog, war der größte Schritt zum permanenten Ausnahmezustand getan. Als der
Gestapo per Gesetz zugestanden wurde, was sie vorher schon längst praktiziert hatte, zerfiel der
Rechtsschutz des Individuums vollständig. Nun konnte die Gestapo selbst entscheiden, welcher
Tatbestand als politisch galt und wer als gefährlicher Staatsfeind zu verfolgen war. Die Justiz mußte
trotz ihrer Anpassungsbereitschaft nun verstärkt den Druck und immer neue Eingriffe durch Himmlers
Polizei hinnehmen. Oft wurden Urteile der Justiz dadurch "korrigiert", daß man die "Staatsfeinde" noch
im Gerichtssaal verhaftete oder nach der Justizhaft in ein KZ verschleppte. Roland Freisler (1893–
1945), Staatssekretär im Justizministerium, rügte die Oberlandesgerichtspräsidenten immer häufiger
ob der milden Strafpraxis. Der spätere Präsident des Volksgerichtshofes drohte für den Fall weiteren
"Versagens" mit einer "Polizeijustiz", die an die Stelle der bisherigen Justiz treten könnte. Wollte sich
die Justiz nicht ständig dieser Vorhaltung und damit der Gefahr einer weiteren Ausschaltung aussetzen,
blieb ihr, nachdem sie einmal selbst den Weg der Aushöhlung und Politisierung von Recht und Justiz
eingeschlagen hatte, nur die weitere Anpassung und Kapitulation.
Mit Beginn des Krieges im September 1939 sollte sich dieser Weg in die Willkür und die Umwertung
aller bisherigen Werte der Rechtssprechung noch beschleunigen. Neue Straftatbestände von der
sogenannten "Volksschädlingsverordnung", die die Plünderung und "Ausnutzung der Kriegsumstände"
unter schwerste Strafe stellte, bis zur Kriegswirtschaftsverordnung, die das Horten von Lebensmitteln
und die Schwarzschlachtung seitens der Bauern ahnden sollte, wurden zum "Schutz der Wirtschaft"
eingeführt; ferner wurde die Zuständigkeit der Sondergerichte erheblich erweitert. Damit konnten
Straftatbestände wie Diebstähle aus Metallsammlungen oder das Horten von Lebensmitteln sowie der
Umgang mit Kriegsgefangenen mit hohen Gefängnis- oder Zuchthausstrafen, teilweise sogar auch
mit Todesstrafe geahndet werden.
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Entrechtung und Verfolgung der Juden
Die Durchsetzung der rassenpolitischen Ziele folgte demselben Muster wie die übrige Radikalisierung
der Politik und des Rechts. Sie war eingebunden in den polykratischen Entscheidungsprozeß und
verlief nach den üblichen Techniken der Propagandaaktionen der Partei von unten und den staatlichgesetzlichen Sanktionierungen des Terrors von oben. Das zeigen alle drei gegen die deutschen Juden
gerichteten einschneidenden Verfolgungs- und Ausgrenzungsakte: die Entlassung jüdischer Beamter
im April 1933, die Ausgrenzung der Juden zu einer Gruppe minderen Rechtes durch die Nürnberger
Gesetze 1935 und schließlich die Verdrängung der Juden aus der deutschen Wirtschaft 1938.
Zugleich deuten diese Daten an, daß der Prozeß der Radikalisierung rassistischer Politik sich
stufenförmig vollzog und daß er mit der völligen Ausgrenzung der jüdischen Mitbürger und den
Pogromen vom November 1938 noch nicht an sein Ende gekommen war. Denn einerseits war die
Radikalisierung der Rassenpolitik im "Denkansatz des Rassismus angelegt" (Hans Walter Schmuhl).
Sie zielte darum über die Ausgrenzung hinaus als letztes Mittel auf die Vernichtung der als "rassisch
minderwertig" und als "innerer Feind des Volkskörpers" stigmatisierten Minderheiten. Andererseits lag
es in der polykratischen Struktur des NS-Regimes begründet, daß im ständigen und ungeregelten
Wettbewerb einzelner Machtgruppen sich innerhalb des Regimes Herrschaftsträger fanden, die im
Namen der rassistischen Ideologie jeweils Vorkämpfer einer neuen Aktion waren. Dabei stand die
Verfolgung und Vernichtung der Juden im Zentrum der nationalsozialistischen Genozidpolitik; sie war
aber nicht das einzige Element. Es war begleitet von einer Ausgrenzung und Vernichtungspolitik gegen
psychisch Kranke, gegen geistig und körperliche Behinderte, gegen "Asoziale" und Homosexuelle
sowie gegen Sinti und Roma, die alle als "Gemeinschaftsfremde" stigmatisiert wurden.
Antisemitismus als Staatsdoktrin
Am 30. Januar 1933 kam mit Hitler zum ersten Mal in der modernen Geschichte ein Regierungschef
an die Macht, bei dem der Rassenantisemitismus zum Kern seiner Weltanschauung gehörte. Wie sich
bald zeigen sollte, wurde damit der Antisemitismus zur offiziellen Staatsdoktrin. Mit dem "Gesetz zur
Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" von 1933, das das Gegenteil von dem bezweckte, was
es vortäuschte, wurden alle Beamten jüdischer Herkunft – vorerst noch mit Ausnahme der Frontkämpfer
des Ersten Weltkriegs – aus dem öffentlichen Dienst entlassen. Bald wurde dieser "Arierparagraph"
auf berufsständische Vereinigungen, unter anderem Rechtsanwälte, Kassenärzte, Zahnärzte,
Steuerberater und andere gesellschaftliche Organisationen übertragen. Damit war aber nur das Tor
für weitere gesetzliche Bestimmungen geöffnet. Das "Gesetz gegen die Überfüllung von deutschen
Schulen und Hochschulen" vom 25. April 1933 begrenzte die Neuzulassung jüdischer Schüler und
Studenten auf 1,5 Prozent.
Für die gebildeten deutschen Juden, die sich zunächst nicht hatten vorstellen können, daß in einem
kulturell und industriell hochentwickelten Land wie Deutschland ihre bürgerlichen Rechte und ihre
wirtschaftliche Existenz von einer Regierung zerstört werden könnten, lösten die Vorgänge im April
1933 ein erstes tiefes Erschrecken aus, dem dann die Einigung der verschiedenen politischen
Richtungen innerhalb des deutschen Judentums unter einem Dachverband und die Errichtung
verschiedener jüdischer Selbsthilfeorganisationen im sozialen und kulturellen Bereich folgte.
Auch wenn das Jahr 1934 durch die innenpolitische Krise im Zusammenhang mit der Röhm-Affäre
und auch durch außenpolitische Rücksichtnahmen eine gewisse Atempause brachte, hörte die
rassistische Agitation nicht auf. Parallel zu der Ausgrenzung und Verfolgung der deutschen Juden
begann die staatliche Zwangspolitik gegen geistig Behinderte, die im Naziorgan als "Erbkranke"
entwürdigt und zwangssterilisiert wurden. Betroffen waren Personen, die an angeborenem
Schwachsinn, Schizophrenie und anderen Erbkrankheiten litten. Unter dem Beifall nicht weniger
Fachleute wollte das Regime damit eine Hebung der "Volksgesundheit unserer Rasse" und einen
Rückgang der Pflegekosten in den Behindertenanstalten erreichen.
Das Jahr 1935 brachte einen weiteren Schub in der Ausgrenzungs- und Verfolgungspolitik, und zwar
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wieder in der charakteristischen Doppelstrategie von Provokation und Aktion durch einzelne
Parteigliederungen einerseits und durch eine gesetzgeberische Scheinlegalisierung andererseits. Seit
Mitte 1934 hatte der rassenpolitische Fanatiker Julius Streicher überall im Reich Schaukästen
aufstellen lassen, in denen sein antisemitisches Hetzblatt "Der Stürmer" ausgehängt wurde. Im Frühjahr
1935 steigerte er seine Aktivitäten und forderte, die Juden unter "Fremdenherrschaft" zu stellen, das
heißt ihnen ihre Grundrechte zu entziehen. Zum gleichen Zeitpunkt 1935 kam es zu judenfeindlichen
Aktionen, die an die Boykotte gegen jüdische Geschäfte im April 1933 erinnerten. Zusätzlich wurde
die Forderung laut, die Eheschließung zwischen jüdischen und nicht-jüdischen Personen zu
untersagen.
Verbot von "Mischehen"
Wie groß die Wirkung der antisemitischen Kampagne bereits war, zeigte sich daran, daß
Standesbeamte sich weigerten, solche "Mischehen" zu trauen. Auch der Versuch von Betroffenen, im
Falle der Weigerung der Standesbeamten diese durch gerichtliche Anordnung zu einer entsprechenden
Amtshandlung, die gesetzlich vorgeschrieben war, anzuhalten, scheiterte in nicht wenigen Fällen.
Ein weiteres Signal für die kommende Entwicklung war das Wehrgesetz vom 21. Mai 1935, mit dem
Juden vom Wehrdienst ausgeschlossen wurden. Die antisemitische Kampagne verstärkte sich, als
die Ankündigung eines besonderen Staatsangehörigkeitsgesetzes für Juden von Innenminister
Wilhelm Frick (1877–1946) nicht umgehend umgesetzt wurde. Der Grund für die Verzögerung lag nicht
darin, daß sich die Ministerialbürokratie grundsätzlich gegen ein solches Gesetz sperrte. Er lag vielmehr
in einem internen Streit um das freilich nicht unwichtige Detail, ob die Geltung dieses Gesetzes auf
"Volljuden", das heißt auf Ehepartner mit zwei jüdischen Eltern beschränkt oder auf "Mischehen", das
heißt auf Ehepartner mit einem jüdischen Eltern- oder Großelternteil ausgedehnt werden sollte. In
dieser Situation forderte Hitler die Vorlage eines Gesetzes, mit dem die staatsbürgerliche
Diskriminierung der Juden verfügt und die Ehe zwischen "Ariern" und "Nichtariern" untersagt werden
sollte. Von den vier Entwürfen, die am Rande eines Reichsparteitages mit großer Eile erstellt wurden,
entschied sich Hitler für das "Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre" in
einer aus seiner Sicht abgemilderten Fassung. Es verbot Eheschließungen und außerehelichen
Verkehr zwischen Juden und Staatsangehörigen "deutschen und artverwandten Blutes". Das Gesetz
sah für die sogenannte "Rassenmischehe" eine Zuchthausstrafe vor, bei außerehelichem
Geschlechtsverkehr sollte der beteiligte Mann je nach den Umständen ebenfalls mit einer Gefängnisoder mit einer Zuchthausstrafe verfolgt werden. Ferner wurde deutschen Juden die Beschäftigung von
weiblichen deutschen Hausangestellten untersagt. Das hastig entworfene "Reichsbürgergesetz"
gewährte nur "Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes" die "vollen politischen
Rechte" eines "Reichsbürgers" und würdigte die deutschen Juden zu Bürgern zweiter Klasse herab,
deren Status nicht genau definiert wurde.
Die Nürnberger Gesetze machten die Rechtsentwicklung und jüdische Emanzipation seit der
Aufklärung und seit dem 19. Jahrhundert rückgängig und bildeten die Grundlage für weitere
Diskriminierungen und Verfolgungen. Die entscheidende Frage, wer nun "Jude" war, wurde von beiden
Gesetzen nicht beantwortet, sondern weiteren Ausführungsbestimmungen überlassen. Dies schuf
neuerliche Unsicherheiten für die Betroffenen, den Parteiaktivisten hingegen bot es die Chance weiterer
judenfeindlicher Aktionen und Verschärfungen des Gesetzes. Nach wochenlangen Auseinandersetzungen
zwischen den Vertretern der Ministerialbürokratie und den Parteidienststellen sowie dem
nationalsozialistischen Reichsärzteführer Dr. Gerhard Wagner enthielt die "Erste Verordnung zum
Reichsbürgergesetz" vom 14. November 1935 folgende Definition: "Jude ist, wer von mindestens drei
der Rasse nach volljüdischen Großeltern abstammt [...]. Als Jude gilt auch der von zwei volljüdischen
Großeltern abstammende staatsangehörige jüdische Mischling, a) der beim Erlaß des Gesetzes der
jüdischen Religionsgemeinschaft angehört hat oder danach in sie aufgenommen wird, b) der beim
Erlaß des Gesetzes mit einem Juden verheiratet war oder sich danach mit einem solchen verheiratet,
c) der aus einer Ehe mit einem Juden im Sinne des Absatzes 1 stammt." Diejenigen, die von diesen
Bestimmungen betroffen waren, galten nur noch als "Staatsangehörige" mit minderem Recht, während
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alle anderen "von einem oder zwei der Rasse nach volljüdischen Großeltern" abstammenden
sogenannten "jüdischen Mischlinge" das "vorläufige Reichsbürgerrecht" erhielten.
Sicherlich bedeutete dieser Kompromiß, daß ein großer Teil der zuletzt genannten Personen zunächst
vor weiteren judenfeindlichen Ausgrenzungen bewahrt blieb und ihnen nahezu volle staatsbürgerliche
Rechte eingeräumt wurden. So konnten diese Menschen, die zwei jüdische Großeltern besaßen,
zunächst noch das Recht auf die freie Schulwahl und den Universitätsbesuch erhalten und waren
überdies wehrpflichtig. Gleichwohl hatte das von rassistischen Kriterien bestimmte Denken und
Handeln endgültig Justiz und Verwaltung durchdrungen. Bereits der Streit um die erste
Ausführungsbestimmung hatte angekündigt, daß weitere Radikalisierungen auf dem Verordnungsweg
jederzeit möglich waren. Auch Äußerungen Hitlers im internen Führungskreis, in denen er eine
Ghettoisierung und Vertreibung der Juden androhte, ließen ahnen, daß mit den Nürnberger Gesetzen
keineswegs eine wirkliche Rechtssicherheit für die deutschen Juden erreicht war. Ihre weitere
Ausgrenzung und Isolierung begann mit der sich ständig verschärfenden Praxis bei der Gewährung
einer Eheerlaubnis für die nach dem Gesetz als "Mischlinge ersten Grades" bezeichneten Personen
und setzte sich mit immer neuen Verordnungen fort. Ihnen wurden bisherige Sonderregelungen wie
etwa die Zulassung zum Studium entzogen, bis sie schließlich 1943 zu Zwangsarbeit verpflichtet
wurden, die sich kaum noch von einer KZ-Haft unterschied.
Besonders hart traf es bereits seit dem September 1935 die als sogenannte "Volljuden" und
"Dreivierteljuden" bezeichneten Personen, die nun endgültig einen minderen Rechtsstatus hatten.
Auch diejenigen jüdischen Angehörigen des öffentlichen Dienstes, die 1933 als Träger militärischer
Auszeichnungen noch im Amt bleiben konnten, wurden nun entlassen. All das führte zu einer
zunehmenden Isolierung der jüdischen Bürger im täglichen Leben, die sich allein schon dadurch
ausgestoßen fühlen mußten, daß bereits jeder berufliche oder geschäftliche Kontakt mit ihnen in den
Verdacht des Verbotenen geriet und nicht selten übereifrigen Denunzianten Anlaß für eine Strafanzeige
bot. Verschärft wurde die Situation der Ausgrenzung und Willkür noch durch Richter, die die
rassenantisemitischen Zielsetzungen der Gesetze und Verordnungen teilten und überdies durch eine
rigide Auslegung selbst harmlose Gesten zwischenmenschlicher Herzlichkeit erbarmungslos
ahndeten. Umgekehrt bezeugen Einzelfälle, daß auch die harten Strafandrohungen des
"Blutschutzgesetzes" viele Menschen nicht von Beziehungen zu jüdischen Bürgern abhielten.
Die Nürnberger Gesetze gehörten wie die früheren antijüdischen Maßnahmen auch in den
Zusammenhang der übrigen NS-Rassepolitik. So war es kein Zufall, daß am 18. Oktober 1935 das
"Gesetz zum Schutz der Erbgesundheit des Deutschen Volkes" erlassen wurde, das ein Eheverbot
für erbkranke Menschen vorsah und die Vorlage "eines Ehetauglichkeitszeugnisses" verlangte.
Berufsverbote
Während in der Folgezeit durch mehrere Verordnungen zum "Reichsbürgergesetz" Juden von der
Ausübung freier, akademischer Berufe – zuletzt denen des Arztes und des Rechtsanwalts –
ausgeschlossen wurden, schien in Handwerk und Gewerbe, in Handel und Banken sowie im
Immobilienbesitz noch eine Überlebenschance gegeben. Das sollte sich 1938 ändern, als den
deutschen Juden auch ihre materielle Existenzgrundlage genommen wurde. Hatte es 1933 vom
Warenhaus und der Privatbank bis hin zum Einzelhandelsgeschäft noch etwa 100000 jüdische Betriebe
der verschiedensten Größenordnungen gegeben, so waren es als Folge der unaufhörlichen
antisemitischen Kampagnen und Schikanen im April 1938 nur noch 39532. Viele von ihnen befanden
sich überdies in einem deutlichen wirtschaftlichen Niedergang. Gleichzeitig stieg die Arbeitslosigkeit
von jüdischen Arbeitern und Angestellten, und auch viele der ehemaligen Freiberufler sahen sich bald
am Rande des Existenzminimums. Trotz der zunehmenden Verarmung der jüdischen Bevölkerung
ging den nationalsozialistischen Aktivisten die Verdrängung der Juden aus der Wirtschaft noch zu
langsam. Mit dem zunehmend radikaleren Vorgehen des Regimes im Frühjahr 1938 erhielt auch die
antijüdische Verfolgungspolitik einen neuen Schub, zumal die österreichischen Juden im Gefolge der
nationalsozialistischen Machtübernahme eine Verfolgungswelle erleiden mußten, die an Radikalität
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alles bisherige übertraf.
Ende April 1938 wurden alle Juden gezwungen, ihre Vermögen zu deklarieren, im Mai wurden sie von
der Vergabe öffentlicher Aufträge ausgeschlossen, im Juli wurde eine Kennkarte für Juden eingeführt
und im August wurden sie zur Führung zusätzlicher Vornamen, Sarah bzw. Israel, gezwungen, die sie
als Juden stigmatisieren sollten. Zusätzlich wurden ihre Reisepässe mit einem roten "J" abgestempelt.
Schließlich wurde Mitte November 1938 jüdischen Kindern der Besuch staatlicher Schulen endgültig
untersagt.
Damit war auf dem Verordnungsweg nach fünf Jahren nationalsozialistischer Herrschaft die
Diskriminierung von Juden drastisch ausgeweitet worden, ihre Lebensbedingungen hatten sich extrem
verschlechtert. Doch hatte das Regime sich in eine widersprüchliche Situation manövriert: Einerseits
stieß die Verletzung des Eigentumsprinzips im In- und Ausland auf Kritik, andererseits wurde durch
die bisherige Ausplünderung eine Auswanderung, wie sie die Ministerialbürokratie und der
Sicherheitsdienst (SD) betrieben, erschwert. Es bedurfte daher noch eines äußeren, eher zufälligen
scheinbaren Anlasses, um eine Konstellation herbeizuführen, die den Machthabern die Chance bot,
ihre Verfolgungspolitik mit größerer Brutalität und Geschwindigkeit voranzutreiben. Und wiederum
sollte diese als Reaktion auf den angeblich "gesunden Volkswillen" ausgegeben werden.
Pogrom von 1938
Am 7. November 1938 verübte der siebzehnjährige deutsch-polnische Jude Herzel Grynszpan ein
Attentat auf den deutschen Legationssekretär Ernst vom Rath in Paris. Es war ein Akt ohnmächtiger
Rache, zu dem sich Grynszpan hinreißen ließ, nachdem er von dem bitteren Schicksal seiner Eltern
erfahren hatte. Sie waren zusammen mit 17000 anderen Leidensgenossen von der Gestapo auf
Verlangen des Auswärtigen Amtes zur deutsch-polnischen Grenze gebracht worden, wo sie sich, von
den polnischen Behörden zurückgewiesen, unter erbärmlichen Bedingungen im Niemandsland
aufhalten mußten. Das Attentat, dem Ernst vom Rath am Nachmittag des 9. November erlag, war der
spektakuläre Vorwand für eine Welle von Pogromen, die schon am 8. November vereinzelt begannen,
dann aber am Abend des 9. November mit aller Wucht über die deutschen Städte und Dörfer
hereinbrachen. Die Weisungen waren von München ausgegangen, wo die NS-Führung gerade mit
alten Kämpfern der NSDAP des Hitler-Putsches am 9. November 1923 gedachte.
Auf Hitlers Veranlassung hatte Goebbels die Stimmung im Saal durch eine wüste antisemitische
Hetzrede angeheizt und mit Hinweis auf die bereits am Vorabend initiierten Pogromaktionen weitere
Ausbrüche des "Volkszorns" angekündigt. Die Bemerkung von Goebbels, daß die Partei entsprechende
Aktionen zwar nicht organisieren, aber dort, wo sie entstünden, auch nicht behindern werde, wurde
von den anwesenden Gauleitern verstanden. Sie gaben telefonisch Befehle an ihre Unterführer, die
sie an die SA weiterleiteten. In den SA-Trupps erwachte nach Jahren der Zurückdrängung sofort wieder
die alte Bürgerkriegsmentalität. Als angeblich spontanen Akt des Volkszornes, an den allerdings
niemand glauben wollte, legten sie Brände in jüdischen Synagogen, zerstörten jüdische Geschäfte,
demütigten, verhöhnten und mißhandelten jüdische Bürger.
Die Bilanz des Pogroms, das am 10. November offiziell für beendet erklärt wurde, war erschreckend:
Mehrere Hundert Synagogen waren abgebrannt, mindestens 8000 jüdische Geschäfte zerstört sowie
zahllose Wohnungen verwüstet. Zwischen 90 und 100 Juden waren erschlagen, niedergestochen oder
zu Tode geprügelt worden. Hinzu kamen Millionenschäden an zerstörten Geschäftseinrichtungen und
Schaufensterscheiben. Das alles wurde im Volksmund bald mit dem Begriff "Reichskristallnacht"
verharmlost. Daß dahinter der organisierte Wille zur Verfolgung und Radikalisierung stand, bewiesen
die folgenden Tage. Zunächst wurden im ganzen deutschen Reich etwa 30000 jüdische Männer
verhaftet und in die Konzentrationslager Dachau, Buchenwald und Sachsenhausen verschleppt. Zwar
blieb die Aktion auf wenige Wochen beschränkt, doch bedeutete sie eine Katastrophe für die bürgerliche
Existenz und das Bewußtsein vieler Juden.
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Die Reaktion der Bevölkerung auf die Pogromnacht und das bürokratische Nachspiel war
unterschiedlich. Nur eine Minderheit in der Bevölkerung beteiligte sich an den Plünderungen und
Brandschatzungen. Die Mehrheit verharrte schweigend, zeigte sich eingeschüchtert und angewidert
von den pöbelhaften Gewaltaktionen oder blickte einfach weg. Nur einige Mutige zeigten Mitgefühl
und Hilfe für die gepeinigten und drangsalierten jüdischen Mitbürger.
Kritik löste vor allen Dingen die sinnlose Zerstörung materieller Werte in Millionenhöhe aus. Dies
hinderte aber umgekehrt eine nicht unbeträchtliche Zahl von Bürgern nicht daran, im Anschluß an die
Kampagne sich an dem Beutezug zu beteiligen und sich sogenannte "arisierte Ware" anzueignen. Ein
häufiges Argument der vorsichtigen Kritik war überdies die Sorge um das deutsche Ansehen bzw. um
die eigene Situation in einem Regime, das zu solchen Gewalt- und Zerstörungsaktionen fähig war.
Die massive antisemitische Propaganda hatte es offenbar nicht vermocht, die Allgemeinheit zur
Unterstützung der angeblich "spontanen" Aktionen aufzuhetzen. Das war sicherlich mit der tiefen
Abneigung der Mehrzahl der Menschen gegen Gewaltaktionen und körperliche Mißhandlungen zu
erklären, aber auch mit einem Auseinanderdriften der Wert- und Verhaltensweisen von Partei und
Bevölkerung, die sich bislang zumindest nach der NS-Propaganda im Zeichen der "nationalen
Volksgemeinschaft" in Übereinstimmung befanden.
Nun aber schied sich der nationalsozialistische Radikalismus, vor allem der radikale rassenbiologische
Antisemitismus, von den in der Bevölkerung verbreiteten traditionellen sozialen Einstellungen und
Verhaltensformen. Das galt auch für die traditionelle Judenfeindschaft, die sich aus religiösen Motiven
und sozialen Vorurteilen speiste, aber auch immer an bürgerlichen Moralvorstellungen festhielt und
darum vor deren offener Verletzung zurückschreckte. Es war der Zeitpunkt, in dem sich die radikalen
Elemente der nationalsozialistischen Weltanschauung zu verselbständigen begannen. Das bedeutete
für den Bereich der Rassen- und Judenpolitik, daß sich die weiteren Schritte auf dem Wege zur
Realisierung der Rassendoktrin noch stärker hinter dem Nebel einer bürokratischen Tarnsprache und
der scheinbaren Begründung mit Notwendigkeiten der Kriegführung vollziehen würden. Das konnte
zwar dem kritischen Blick der Zeitgenossen nicht verborgen bleiben, doch die meisten beruhigten sich
damit, daß sie nicht wissen müßten, was sie nicht wissen wollten.
Verdrängung aus der Wirtschaft
Die definitive Ausschaltung der Juden aus dem Wirtschaftsleben, die schon seit dem Frühjahr 1938
vorbereitet worden war, wurde auf einer Konferenz am 12. November 1938 im
Reichsluftfahrtministerium in Berlin vollzogen, zu dem Göring als Beauftragter für den Vierjahresplan
alle beteiligten Dienststellen eingeladen hatte. Der Verlauf der Sitzung war von Ausbrüchen
ideologischer Verblendung und brutalen Haßgefühlen geprägt. Die Demagogen beriefen sich auf den
angeblichen "Volkswillen", zu deren Vollstrecker sie sich machten.
Den deutschen Juden wurde die sofortige Reparatur der von NSDAP und SA-Trupps angerichteten
Verwüstungen und – als Vergeltung für das Pariser Attentat – die Zahlung von einer Milliarde
Reichsmark auferlegt. Dies war eine gewaltige Summe für eine Bevölkerungsgruppe, die zu diesem
Zeitpunkt nur noch rund 250000 Mitglieder zählte (von etwa 500000 im Jahre 1933). Den durch die
Terrorwelle angerichteten Schaden wollten zwar aus Gründen ihrer Glaubwürdigkeit die
Versicherungsgesellschaften tragen, doch bestand Göring auf der Beschlagnahme der an die Juden
zu zahlenden Versicherungsleistungen zu Gunsten des Reiches. Schließlich sollte die vollständige
"Arisierung" nach dem Willen Görings "Schlag auf Schlag" erfolgen. Gemeint war damit die Enteignung
jüdischer Gewerbebetriebe und Einzelhandelsgeschäfte, die von staatlichen Treuhändern unter Wert
geschätzt und dann zu normalem Verkehrswert an "Arier" weiterverkauft wurden.
Begleitet wurde diese wirtschaftliche Ausplünderung durch einen verschärften Druck zur
Auswanderung und durch eine Vielzahl von anderen diskriminierenden Maßnahmen. Juden wurde
der Besuch von Kinos, Schwimmbädern und Theatern untersagt, und ihnen wurde die Benutzung
bestimmter Eisenbahnabteile vorgeschrieben.
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Die Juden wurden damit des letzten gesetzlichen Schutzes und auch des menschlichen Rechtes auf
Existenz beraubt. Der Rassenantisemitismus hatte sich in einer staatlich exekutierten
Verfolgungsaktion durchgesetzt und damit war, entsprechend des nationalsozialistischen Prinzips einer
permanenten Radikalisierung der Herrschaftsziele und -praxis, der Weg zur letzten Etappe von der
Verfolgung zur physischen Vernichtung frei. Das "Schwarze Korps", das interne Presseorgan der SS,
sprach dieses Ziel drei Wochen nach dem Novemberpogrom in einer ihrer Ausgaben unverhohlen
aus: "Mit Feuer und Schwert muß man das nun auf sich beschränkte Parasitenvolk auslöschen. Das
Ergebnis wäre das tatsächliche und endgültige Ende des Judentums in Deutschland, seine restlose
Vernichtung." Den möglichen Zeitpunkt und den Zusammenhang dieser Vernichtung hatte Göring
bereits am 12. November 1938 angegeben: "Wenn das deutsche Volk in irgendeiner absehbaren Zeit
in außenpolitische Konflikte kommt, so ist es selbstverständlich, daß wir auch in Deutschland in
allererster Linie daran denken werden, eine große Abrechnung mit den Juden zu vollziehen."
Verfolgung der deutschen Juden
Im Herbst 1938, zur Zeit des Novemberpogroms, befanden sich von ehemals rund 100000 jüdischen
Betrieben noch 40000 in Händen ihrer rechtmäßigen Besitzer. Am stärksten hatten die "Arisierungen"
im Einzelhandel zu Buche geschlagen, von 50000 Geschäfte waren noch 9000 übrig. Die Zahl der
jüdischen Arbeitslosen war stetig angestiegen, Berufsverbote und erzwungene Verkäufe hatten zur
Verarmung vieler geführt. Die "Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen
Wirtschaftsleben" vom 12. November 1938 vernichtete die noch verbliebenen Existenzen. Ab dem 1.
Januar 1939 war Juden das Betreiben von Einzelhandelsgeschäften, ebenso das Anbieten von Waren
und gewerblichen Leistungen auf Märkten und Festen, das Führen von Handwerksbetrieben untersagt.
Die Betriebe wurden, in der Regel zu einem Bruchteil ihres Wertes, in die Hände von nichtjüdischen
Besitzern überführt ("arisiert") oder aufgelöst. Für den jüdischen Eigentümer bedeutete das in jedem
Falle den Ruin, denn auch über den Erlös konnte er nicht verfügen, er wurde auf Sperrkonten eingezahlt
und später zugunsten des Deutschen Reiches konfisziert. Schmuck, Juwelen, Antiquitäten mußten
die Juden zwangsweise verkaufen, die Ankäufe erfolgten zu Preisen, die weit unter dem Wert lagen;
auch über Wertpapiere und Aktien durften Juden nicht mehr verfügen, sie mußten ins Zwangsdepot
gegeben werden. Jüdischer Immobilienbesitz wurde gleichfalls zwangsarisiert. Jüdische Arbeitnehmer
wurden gekündigt, die Selbständigen hatten fast ausnahmslos Berufsverbot. Von 3152 Ärzten hatten
709 noch die widerrufliche Erlaubnis, als "Krankenbehandler" ausschließlich jüdische Patienten zu
versorgen.
Nach dem Novemberpogrom kam mit dem Verbot jüdischer Zeitungen und Organisationen das
öffentliche Leben der Juden zum Erliegen. Ausgeraubt und verelendet, blieb ihnen die private Existenz
unter zunehmend kläglichen Umständen, unter immer neuen Schikanen. Am 30. April begannen mit
einem "Gesetz über Mietverhältnisse mit Juden" die Vorbereitungen der Zusammenlegung jüdischer
Familien in "Judenhäusern". Absicht war, und sie wurde rasch verwirklicht, das Zusammendrängen
von Juden in Wohnungen, die die Überwachung (und später die Deportationen) erleichterten. "Ariern",
so die Begründung, sei das Zusammenleben mit Juden im selben Haus nicht zuzumuten.
Der Kriegsbeginn am 1. September 1939 brachte eine Ausgangsbeschränkung: Juden durften im
Sommer ab 21 Uhr und im Winter ab 20 Uhr ihre Behausung nicht mehr verlassen. Ab 20. September
war ihnen der Besitz von Rundfunkempfängern verboten, das wurde als kriegsnotwendig erklärt,
ebenso das Verbot, Telefone zu besitzen (19. Juli 1940), weil Juden ja als "Feinde des Reiches" galten.
Seit Anfang Dezember 1938 war ihnen Autofahren und der Besitz von Kraftfahrzeugen verboten, ab
September 1939 wurden ihnen besondere Lebensmittelgeschäfte zum Einkauf zugewiesen, ab Juli
1940 durften Juden in Berlin nur noch zwischen 16 Uhr und 17 Uhr Lebensmittel einkaufen (die ihnen
zugeteilten Rationen waren außerdem erheblich geringer als die der "Arier"). Immer neue Gemeinheiten
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dachten sich findige Bürokraten aus, etwa das Verbot, Haustiere zu halten oder Leihbüchereien zu
benutzen.
Von Plänen zur "Lösung der Judenfrage" wurde gemunkelt; da gab es das alte Madagaskarprojekt,
nach dem alle Juden aus Deutschland auf diese Insel deportiert werden sollten, und dann schien es,
als verfolgte das NS-Regime den Plan, irgendwo in Ostpolen ein großes Judenreservat zu errichten.
Dabei schienen die noch in Deutschland lebenden Juden ebenso billige wie unentbehrliche
Arbeitskräfte. Sie waren nämlich zur Zwangsarbeit verpflichtet und ersetzten in der Rüstungsindustrie
vielfach Facharbeiter, die zur Wehrmacht eingezogen waren.
Am 1. September 1941 erging die Polizeiverordnung über die Kennzeichnung von Juden: Vom 15.
September an mußte jeder Jude vom sechsten Lebensjahr an einen gelben Stern auf der Kleidung
aufgenäht tragen. Damit war die öffentliche Demütigung und Brandmarkung vollkommen, die
Überwachung der verfolgten Minderheit perfekt. Seit dem 1. Juli waren die Juden in Deutschland
(durch die 13. Verordnung zum Reichsbürgergesetz) unter Polizeirecht gestellt, das heißt, für sie gab
es keine Rechtsinstanzen mehr. Aber zu diesem Zeitpunkt lebten nicht mehr viele Juden in Deutschland.
Offiziell war das Deutsche Reich "judenfrei". Einige wenige hatten sich in die Illegalität geflüchtet,
andere lebten im zweifelhaften Schutz, den "Mischehen" mit nichtjüdischen Partnern boten, jederzeit
gewärtig, das Schicksal der Mehrheit der deutschen Juden zu teilen. [...]
Im Herbst 1941 begann mit der systematischen, bürokratisch geregelten und bis ins Detail
programmierten Deportation der Juden aus Deutschland die letzte Phase nationalsozialistischer
Judenpolitik. Sie war nunmehr zielstrebig und ausschließlich darauf gerichtet, die europäische
Judenheit auszurotten.
Wolfgang Benz, "Die Juden im Dritten Reich", in: Wolfgang Benz, Werner Bergmann (Hg.), Vorurteil
und Völkermord, Freiburg 1997, S. 385 ff.
Propaganda und politischer Kult
Propaganda war für das politische Selbstverständnis und die Herrschaftstechnik der
Nationalsozialisten ein zentraler Begriff. Die Massenmobilisierung durch die Propaganda und die
wachsende Zustimmung durch immer größere Teile der deutschen Gesellschaft wurden zur wichtigsten
Voraussetzung für Hitlers Macht. Doch beruhte die Wirkung der Propaganda nicht auf deren
vermeintlicher Originalität oder Raffinesse, sondern auf deren Intensität und Konsequenz im Einsatz
aller technischen und inszenatorischen Instrumente, die sich den nationalsozialistischen
Propagandisten anboten. Vor allem aber verstanden sie es, mit ihren Kundgebungen, Appellen, ihren
Massenaufmärschen und Feierstunden die Bedürfnisse nach Identität und sozialer Gemeinschaft zu
erfüllen. Auch gelang es ihnen, die Erwartungen auf soziale Sicherheit und nationale Größe, die in
weiten Teilen einer zutiefst krisengeschüttelten Gesellschaft vorhanden waren, scheinbar zu
befriedigen und mit ihren Propagandaformeln die Menschen zu mobilisieren. Hinzu kam, daß die
Wirkung der Propaganda und ihre Versprechungen sich methodisch kaum von der Wirkung der
Gesellschaftspolitik des Regimes trennen ließen. Die Nationalsozialisten beschränkten sich nämlich
nicht auf bloße Appelle und Masseninszenierungen, sondern sie verbanden diese mit den
sozialpolitisch greifbaren, wenn auch in der Realität sehr bescheidenen Erfolgen und materiellen
Leistungen des Regimes zu einer realisierbaren Zukunftsperspektive.
Sicherlich war der Nationalsozialismus mit seinen politischen Ritualen und Symbolen, die um die
Begriffe von Nation und Volk, Größe und Macht kreisten, Teil einer gemeineuropäischen Entwicklung,
die als "Nationalisierung der Massen" (George Mosse) bezeichnet wurde. Diese bediente sich der
Formen einer politischen Liturgie und romantisch-frühzeitlicher Mythen, um das Volk scheinbar an der
Politik teilhaben zu lassen. Nicht in der parlamentarischen Rede und im gelehrten Gespräch, sondern
in einer symbolischen Kommunikation, durch Zeichen und Rituale, teilten die nationalen Bewegungen
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ihre Botschaften mit. Wenn das gesprochene Wort eingesetzt wurde, dann diente es weniger der
rationalen Auslegung einer Ideologie, sondern war Teil eines Zeremoniells, das sich meist
pseudoreligiöser Formen bediente.
Der Nationalsozialismus war eine besonders ausgeprägte Form des politischen Massenkultes, eine
Reaktion auf die extreme Zerrissenheit und mentale Krise der deutschen Gesellschaft. Bereits in seiner
Bewegungsphase entfalteten sich Elemente der Selbstinszenierung, die dann auf das Regime
übertragen wurden. Aufmärsche, Fackelzüge, Fahnenappelle und Werbefahrten prägten
unverwechselbar das Erscheinungsbild der Partei. Ihre Kundgebungen sollten in einer Mischung von
gesprochenem Wort, das mehr einer Verkündigung glich, und Inszenierungselementen wie Fahnen,
Fackeln, Uniformen und Massenchören ein "sinnliches Gesamterlebnis" (Peter Longerich) verkörpern.
Informationslenkung
Mit der Machteroberung am 30. Januar 1933 bot sich die Möglichkeit, neben dem Gewaltmonopol
durch die Lenkung und Kontrolle der Massenmedien Presse, Rundfunk und Film auch das Monopol
über Nachrichten und Informationen zu erobern. Damit war es der Bevölkerung nur noch schwer
möglich, hinter die Scheinwelt der Propaganda und der Masseninszenierungen zu blicken und sich
der Durchdringung des Alltags durch nationalsozialistische Symbole und Phrasen zu entziehen.
Den institutionellen Rahmen für die propagandistische Mobilisierung der Gesellschaft schufen Hitler
und Goebbels mit der Neugründung des Ministeriums für Volksaufklärung und Propaganda im März
1933. Mit dem Reichskulturkammergesetz vom 22. September 1933 wurden alle im Kulturbereich
Tätigen Zwangsmitglieder in ihrer jeweiligen Berufskammer, von denen es unter dem Dach der
Reichskulturkammer (deren Präsident ebenfalls Joseph Goebbels war) sieben gab: Presse, Schrifttum,
Rundfunk, Theater, Musik, Bildende Kunst und Film. Die Lenkung der Medien erfolgte auf einer
institutionellen und personellen Ebene durch die Gleichschaltung der Verbände und die verlegerische
Vereinnahmung der Pressehäuser bzw. durch die Zusammenfassung der bereits verstaatlichen
Rundfunkanstalten unter einem Dach. Neben den berufsständischen und ökonomischorganisatorischen Kontrollen fungierte als dritte Säule ein System der direkten Presse- und
Informationslenkung durch tägliche Pressekonferenzen und die Verbreitung von Nachrichtenmaterial
des Deutschen Nachrichtenbüros, die mit einer Nachzensur verbunden waren.
Die Gefahren einer ermüdenden und abstumpfenden Propagandaroutine waren Goebbels durchaus
bewußt. Deshalb genehmigte er in der reglementierten und zunehmend öder werdenden
Presselandschaft aus Gründen der scheinpluralistischen Auswirkung noch einige "Farbtupfer", wie die
bürgerlich-liberale "Frankfurter Zeitung" oder als Eigenkreation die Zeitung "Das Reich", die
anspruchsvollen Journalismus präsentieren sollten. Zudem verband der Großdeutsche Rundfunk mit
seinem Einheitsprogramm in einer geschickten Mischung Nachrichten und Kommentare mit populärer
musikalischer Unterhaltung ("Wunschkonzerte").
Propaganda durch den Film
Im Film wurde eine allzu plumpe Politisierung vermieden, obwohl auch in diesem Medium die
Gleichschaltung bzw. Selbstgleichschaltung, erleichtert durch die ökonomischen Probleme der
Filmwirtschaft, rasch erfolgte. Nach der Säuberung von jüdischen, sozialkritischen bzw. linken
Regisseuren und Schauspielern betrieb Goebbels, der eine besondere Vorliebe für den Film (und
seine Stars) entwickelte eine gezielte und wirkungsvolle Filmpolitik. Dies geschah mit Hilfe der
gleichgeschalteten Berufsverbände und der Reichsfilmkammer sowie einer gezielten finanziellen
Förderung der Filmwirtschaft und der Einstellung eines linientreuen "Reichsfilmdramaturgen".
Goebbels Filmpolitik wurde noch durch eine Monopolisierung der Filmproduktion unter seiner Leitung
verstärkt. Die Popularität und Wirkungskraft der Filme lag darin, daß Unterhaltungsfilme und Filme mit
etablierten nationalpolitischen Themen, die etwa den Mythos Preußens pflegten, den Vorrang vor
politischen Filmen einnahmen. Hatten in der Anfangsphase noch Filme mit Themen aus der
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nationalsozialistischen Kampfzeit ("Hitlerjunge Quex", "SA-Mann Brand" und "Hans Westmar") die
Leinwände zu beherrschen versucht, so verschwanden dezidierte Darstellungen von NS-Größen und
NS-Symbolen aus der politischen und vor allem der unpolitischen Unterhaltungsfilmproduktion.
Während des Krieges traten rassenpolitische Themen in den Vordergrund (so der antisemitische
Spielfilm "Jud Süss" und die "Rothschilds" oder der Propagandafilm "Der ewige Jude").
Große Wirkung erzielten neben den Wochenschauen, die eine sorgfältige Kontrolle durch das
Propagandaministerium erfuhren, vor allem Dokumentar- und Kulturfilme, die zum Repertoire aller
Kinos gehörten. Herausragend in diesem Genre waren wegen ihres inszenatorischen und finanziellen
Aufwandes, aber auch wegen ihrer unbestreitbaren Wirkung der Dokumentar- und Propagandafilm
von Leni Riefenstahl über den Nürnberger Reichsparteitag 1934 ("Triumph des Willens") und die
zweiteilige Olympiaproduktion von 1936 ("Fest der Völker" und "Fest der Schönheit"), die mit der
Monumentalität der Bilder und der Heroisierung des filmischen Gegenstandes Ansätze einer eigenen
nationalsozialistischen Filmästhetik entwickelten.
Mit der Lenkung und Instrumentalisierung von Rundfunk und Film knüpften die Nationalsozialisten an
die Entwicklungstendenzen der modernen Massenkultur an und perfektionierten sie für ihre Zwecke.
Sie waren damit ganz Teilhaber und Nutznießer der Moderne, so wenig sie zugleich darauf verzichten
wollten, den traditionellen Kulturbetrieb, das heißt Literatur, Musik, Bildende Kunst und Theater zu
durchdringen und ihren ambivalenten Herrschaftstechniken von Verlockung und Zwang unterzuordnen.
Gleichwohl war die Autonomie der Kunst etwa im Bereich von Theater und Musik trotz aller personellen
Säuberungen und Selbstanpassungen bzw. kulturpolitischen Eingriffe noch eher gewahrt als in den
modernen Massenmedien.
Dem nationalsozialistischen Politikverständnis und Politikstil sehr viel eigentümlicher und immanent
waren der Feierstil und der nationalsozialistische Festkalender, in denen sich Elemente einer eigenen,
pseudo-religiösen Liturgie und einer "Sakralisierung der Führerherrschaft" (Hans Günther Hockerts)
fanden. In den Ritualen und Symbolen des politischen Massenkultes, den der Nationalsozialismus in
seiner Regimephase schrittweise ausbaute und perfektionierte, zeigte sich auch sein eklektischer
Charakter.
Feierstil und Festkalender
Was immer eine emotionale Wirkung versprach, wurde von den verschiedenen Kult- und Feierformen
aufgenommen und integriert: vom christlichen Kultus über die vaterländische Feier bis zu den rituellen
Formen der Jugendbewegung, daneben aber auch Elemente des politischen Kultes des italienischen
Faschismus. Beschränkte sich jedoch der italienische Faschismus auf die pathetische
Selbstdarstellung des Staates, so suchte der NS-Kult bis in den Alltag der Menschen hinein zu wirken.
Denn die Feiern fanden nicht nur auf nationaler Ebene bei Massenveranstaltungen in Nürnberg,
München oder Berlin statt, sondern wurden auf regionaler und lokaler Ebene wiederholt und imitiert.
Ein besonderer Rhythmus des nationalsozialistischen Feierjahres wurde verordnet. Nichts
demonstriert den totalitären Anspruch des Regimes deutlicher als dieser Versuch, über Alltag und
Feste der Bevölkerung zu verfügen und damit den traditionellen Festkalender, wie er vor allem von
den Kirchen bestimmt war, zu unterlaufen und letztlich zu ersetzen.
Der nationalsozialistische Jahreslauf begann mit dem 30. Januar, an dem mit Aufmärschen an den
"Tag der Machtergreifung" erinnert wurde. Es folgte Ende Februar der Parteifeiertag, mit dem an die
Verkündigung des 25-Punkte-Programms der NSDAP erinnert werden sollte. Der "Heldengedenktag"
im März übernahm Formen der Erinnerung an die Gefallenen der Kriege und deutete den Kriegstod –
ähnlich wie im Denkmalskult – zum Heldentod um. In Anlehnung an die Tradition der Kaisergeburtstage
wurde am 20. April "Führers-Geburtstag" mit Aufmärschen und Paraden sowie mit der Aufnahme der
14jährigen in die Hitlerjugend begangen. Der Maifeiertag, seit dem 1. Mai 1933 ein arbeitsfreier Tag,
war ein Traditionselement der Arbeiterbewegung, das als Fest der Volksgemeinschaft umgedeutet und
regelmäßig begangen wurde. Höhepunkt des Festjahres waren die mehrtägigen Reichsparteitage der
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Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
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NSDAP im September in Nürnberg, die mit der Monumentalität der Parteitagsarchitektur, der Magie
der Fahnen und Fackeln, den Massenzeremonien, Todesverklärungen und Erlösungsritualen ein
politisch-ideologisches Gesamtkunstwerk boten, in dessen Mittelpunkt immer der "Führer" stand. Der
Parteitag war nicht Diskussionsforum, sondern grandiose Selbstdarstellung eines politischen Kultes,
die Emotionen wecken und alle Sinne betäuben sollte.
Auf die monumentale Machtentfaltung von Partei, SA und SS, von Arbeitsdienst sowie HJ in Nürnberg,
die durch eine Parade der Wehrmacht einen martialischen Charakter erhielt, folgte Anfang Oktober
das Erntedankfest vom Bückeberg, mit dem der nationalsozialistische "Blut und Boden"-Kult gefeiert
wurde. Den Jahreslauf schloß die Feier des 9. November in München ab, wo durch Ritus und Dekoration
die Niederlage von 1923 (Hitlerputsch in München, vgl. auch Informationen zur politischen Bildung Nr.
251, "Nationalsozialismus I", S. 18 f.) in einem Akt symbolischer Revision in einen Triumph verwandelt
werden sollte.
Über die Wirkung dieser Masseninszenierung haben wir widersprüchliche Berichte. Zwar konnte das
im Führerkult gipfelnde Massenspektakel in Nürnberg bei den Beteiligten allemal eine Art
Hochstimmung hervorrufen, die jedoch bald wieder durch Alltagsprobleme verdrängt wurde. Sie
äußerten sich etwa in der Kritik an Versorgungsengpässen sowie vor allem in der Empörung über das
protzige und herrische Auftreten sowie das korrupte Verhalten nicht weniger Politischer Leiter der
NSDAP. Es stand im allzu krassen Gegensatz zu dem Anspruch einer neuen politischen Elite.
Während die Partei mit ihren Untergliederungen ihr Image gerade während der Kriegszeit durch die
Ausweitung ihres Betreuungsanspruchs zu beheben versuchte, zeigten die Kampagnen gegen die
"Miesmacher und Kritikaster", die seit 1934 immer wieder gestartet wurden, daß die NS-Propaganda
hinter der schönen Fassade nicht ohne Überrumpelung und Zwang auskam. Da wurde die Bevölkerung
zum Ankauf von Hakenkreuzabzeichen, zur Teilnahme an Kundgebungen oder zu Spenden für das
Winterhilfswerk und zum Eintopfessen genötigt. Die Propaganda, und die als ihre Erfüllungsgehilfen
fungierenden vielen kleinen Unterführer übten einen gewissen Zwang aus, unaufhörlich "öffentliche
Bekenntnisse" zum nationalsozialistischen Staat abzulegen. Sie enthüllte damit ihren eigentlichen
Zweck, die soziale Kontrolle zu festigen. Dennoch war die Propaganda in der Regel nur dann
wirkungsvoll, wenn sie nicht durch Alltagserfahrungen widerlegt wurde, sondern diese verstärkte oder
von diesen unberührt blieb, wie das für den Führermythos galt, der sich über das Alltägliche erhob und
darum eine größere Stabilität besaß.
Auszug aus:
Informationen zur politischen Bildung (Heft 266) - Ausbau des Führerstaates
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Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
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Wirtschaft und Gesellschaft unterm Hakenkreuz
Von Hans-Ulrich Thamer
6.4.2005
geb. 1943, ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Münster. Seine Forschungsschwerpunkte sind der
Nationalsozialismus und der europäische Faschismus.
Veröffentlichungen u.a.:Verführung und Gewalt. Deutschland 1933-1945, (Die Deutschen und ihre Nation, Bd. 5), Berlin 1986; Der
Nationalsozialismus, Stuttgart 2002.
Massive Rüstungswirtschaft und vorgeschriebene Arbeitsdienste senkten die Zahl der
Erwerbslosen von sechs auf knapp eine Million 1937. Die "totale" Durchdringung von Wirtschaft
und Gesellschaft durch Wirtschaftslenkung und Zwangsorganisation der Arbeiter und
Angestellten diente noch einem anderen Zweck: Sie schuf die Voraussetzungen für den
geplanten Krieg.
Einleitung
Auch die Wirtschafts- und Sozialpolitik diente der Mobilisierung und Kontrolle der Gesellschaft. Es
galt, die gesellschaftlichen Interessen und Organisationen nach ihrer Gleichschaltung neu zu formieren.
Zugleich waren die Konsum- und Lebensansprüche der Bevölkerung zu befriedigen, von deren
Erfüllung die Wirkung der nationalsozialistischen Propaganda abhing. Neben der Stabilitätssicherung
der Diktatur sollte die Wirtschafts- und Sozialpolitik zusammen mit der Rüstungspolitik der Aufstellung
und Ausrüstung einer kriegsfähigen Wehrmacht bzw. der Kriegsvorbereitung dienen. Butter und
Kanonen sollten darum gleichzeitig produziert werden. Aus dieser Doppelaufgabe entwickelte sich
mehr und mehr ein Zielkonflikt. Denn die nationalsozialistische Führung trieb die Aufrüstung weit über
das Leistungsvermögen von Wirtschaft und Gesellschaft hinaus. Das führte immer wieder zu
Engpässen und Widersprüchen, auf die das Regime nicht etwa mit einer Drosselung des
Rüstungstempos, sondern mit dem Ausbau des staatlichen Lenkungssystemes reagierte. Mit der
Verlagerung der wirtschaftlichen Prioritäten auf die Rüstungsproduktion wurden die
industriewirtschaftlichen Strukturen wie die Lohn- und Beschäftigungssituation verzerrt und die
Marktmechanismen zunehmend außer Kraft gesetzt.
Das macht Aussagen über Produktion und Gewinne sowie über Arbeit und Lohn in besonderer Weise
branchenabhängig und verbietet Verallgemeinerungen. Zugleich tat sich eine Kluft zwischen den
Verheißungen der Propaganda und der sozial-ökonomischen Wirklichkeit auf. Die
nationalsozialistischen Ideologen hatten zum Kampf gegen die Herrschaft der Großindustrie und der
Großbanken, der Warenhäuser und der großen Gewerkschaften aufgerufen; für die Sicherheit der
Kleinhändler, Kleingewerbetreibenden und Bauern wollten der NS-Kampfbund für den gewerblichen
Mittelstand und der Agrarpolitische Apparat der NSDAP eintreten. Doch bis zum Kriegsbeginn stieg
der Anteil der Industrie am Sozialprodukt kontinuierlich, die Zahl der selbständigen Handwerker ging
hingegen zurück und auch die Frauenerwerbstätigkeit nahm zu. Ebenso ging der Anteil der
Landbevölkerung zurück; die Städte wurden nicht kleiner, sondern größer. Es gab kaum eine Großstadt,
die nicht Erweiterungs- und Urbanisierungsprogramme entwickelte. Die säkularen Entwicklungslinien
von Wirtschaft und Gesellschaft waren nicht gestoppt, sondern hatten sich beschleunigt.
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Krisenüberwindung und Aufrüstung
Hitler hatte seinen Wählerinnen und Wählern Arbeit und Brot versprochen und sehr wohl gewußt, wie
wichtig ein Erfolg der Arbeitsmarktpolitik für die Etablierung des nationalsozialistischen
Herrschaftssystems sein würde. Tatsächlich gelang es innerhalb von vier Jahren, die Arbeitslosigkeit
fast vollständig zu beseitigen. Betrug die Zahl der Arbeitslosen im Januar – auch saisonbedingt – die
Rekordziffer von sechs Millionen, so zeigte die Statistik im Jahresdurchschnitt 1933 noch 4,8 Millionen
Erwerbslose, 1934 nur noch 2,7 Millionen, 1936 dann nur noch 1,6 Millionen, und 1937 schließlich lag
ihre Zahl unter einer Million. In einigen Erwerbsbereichen gab es 1935 bereits einen Mangel an
Facharbeitern.
Der Gewinn an Zustimmung und Legitimation, den Hitler aus dieser Entwicklung von der
Massenarbeitslosigkeit zur Vollbeschäftigung ziehen konnte, sollte nicht unterschätzt werden. Er
verdeckte in der zeitgenössischen öffentlichen Wahrnehmung auch eine Reihe von Unzuträglichkeiten
wie eine sehr ungleichmäßige Lohnentwicklung und häufige Engpässe bei der Versorgung mit
Nahrungsmitteln. Die Tatsache, daß Wirtschaft und Arbeitsmärkte der übrigen Industrienationen sich
längst nicht so schnell von der schweren Depression (vgl. auch Informationen zur politischen Bildung
Nr. 261, "Weimarer Republik", S. 48 ff.) erholten, wurde vom Regime zusätzlich als Erfolg
nationalsozialistischer Sozialpolitik reklamiert.
Tatsächlich hat ein ganzes Bündel von Maßnahmen das nationalsozialistische "Wirtschaftswunder"
herbeigeführt. Daran hatten die eigentlichen sozial- und arbeitsmarktpolitischen Vorkehrungen den
geringeren, die rüstungswirtschaftlichen den größeren Anteil. Die Nationalsozialisten hatten bei ihrem
Machtantritt ein Erbe vorgefunden, das neben den katastrophalen Rekordziffern von Arbeitslosen auch
positive Ansätze erkennen ließ: Die Konjunktur hatte die Talsohle bereits durchschritten und
Aufwärtstendenzen waren erkennbar. Die Krise hatte durchaus reinigende und einem Aufschwung
förderliche Tendenzen mit sich gebracht, von denen nun die Nationalsozialisten profitieren konnten:
Die Produktionskosten hatten sich beispielsweise erheblich verringert, weil vor allem die Löhne in der
großen Krise dramatisch gesunken waren. Staatsinterventionistische Maßnahmen im Bereich der
Preis- und Beschäftigungspolitik waren schon sehr weit vorgeprägt, genauso wie einige
konjunkturpolitische Programme und Instrumente, die in Abkehr von der klassischen liberalen
Wirtschaftstheorie auch um den Preis einer zunehmenden Staatsverschuldung auf eine erhöhte
Staatsintervention zur Belebung der Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen setzten.
Diese antizyklische Politik, die von John Maynard Keynes (1883–1946) wirtschaftswissenschaftlich
begründet wurde, hatte als Forderung nach einem staatlichen Arbeitsbeschaffungsprogramm schon
1932 in das "Sofortprogramm der NSDAP" Eingang gefunden und wurde nun nach der
Machtübernahme im September 1933 weitergeführt. Weil die wirtschaftlichen Auftriebstendenzen sich
schon ankündigten, gab es unter Fachleuten starke Zweifel, ob noch zusätzliche staatliche Programme
notwendig wären. Das Regime setzte jedoch andere politische Prioritäten. Die Beschäftigungspolitik
sollte nicht länger primär wirtschaftspolitischen Zwecken dienen, sondern, so Hitler bereits am 8.
Februar 1933 im Kabinett, unter dem "Gesichtspunkt der Wiederwehrhaftmachung des deutschen
Volkes" behandelt werden. Wollte man diese Funktionsverlagerung rasch verwirklichen, dann mußte
jedoch sehr bald die kleine 100000 Mann starke Reichswehr ausgeweitet werden. Noch gab es jedoch
Begrenzungen durch die internationale Vertrags- und Machtsituation, die im Interesse der Absicherung
der Machtergreifung im Innern vorerst nicht in Frage gestellt werden konnten. Daher wirkte das Bündel
an konjunkturfördernden Maßnahmen zunächst in fast allen Wirtschaftssektoren, und die ersten
Anzeichen eines Wirtschaftsaufschwungs 1933/34 hatten äußerlich einen zivilen Charakter. Zu nennen
sind folgende Maßnahmen, die den Aufschwung begünstigten:
•
staatliche Investitionen bei Reichsbahn, Reichspost und beim Autobahnbau,
•
Steuererleichterungen für Landwirtschaft, Wohnungsbau und Automobilindustrie,
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Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
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•
staatliche Förderung von Beschäftigungsmöglichkeiten im zunächst noch freiwilligen Arbeitsdienst
und bei kommunalen Notstandsarbeiten,
•
Ehestandsdarlehen für Arbeitnehmerinnen, die heiraten und ihren Arbeitsplatz aufgeben wollten.
Infrastrukturmaßnahmen
Das Schwergewicht der staatlich finanzierten Ausgaben lag bei den Verkehrsunternehmungen (1,684
Milliarden) sowie im Wohnungsbau (1,28 Milliarden) und in öffentlichen Bauten (1 Milliarde). Der
Autobahnbau, in der Weimarer Republik bereits planerisch vorbereitet, war nicht nur der spektakulärste,
sondern auch ein besonders charakteristischer Teil der öffentlichen Infrastrukturmaßnahmen. Es waren
vorrangig die technikgläubigen, modernistischen Bestrebungen im Nationalsozialismus, die hinter den
propagandistisch ins Gigantische gesteigerten Autobahnplänen standen. Aber auch rüstungspolitische
Gesichtspunkte vor allem im Bezug auf die Streckenführung und die Vorbereitung auf den
Mobilmachungsfall, wollte Hitler nicht ausschließen, obwohl eine Mitsprache von militärischer Seite
bei der Planung nicht vorgesehen war. Zunächst hatte der Autobahnbau jedoch eine eindeutige
arbeitsmarktpolitische Bedeutung. Der geringe Einsatz von Baumaschinen hatte die nicht
unerwünschte Nebenwirkung, daß bei den stattdessen bevorzugten Gerätschaften von Hacke und
Schaufel noch mehr Arbeitskräfte zu beschäftigen waren. Seit 1936 gab es allerdings angesichts der
knapper werdenden Rohstoffe und Arbeitskräfte zunehmend Konflikte zwischen Rüstungswirtschaft
und Autobahnbau. Nicht minder wichtig für den Rückgang der Arbeitslosigkeit waren Maßnahmen, bei
denen die politisch-ideologische Absicht schon unverhüllter hervortrat: Im Juni 1935 wurde die
sechsmonatige Arbeitsdienstpflicht eingeführt und mit der Verkündung der allgemeinen Wehrpflicht
die Wehrmacht aufgebaut.
Das Volumen der verschiedenen Arbeitsbeschaffungsprogramme seit 1933 belief sich auf etwa sechs
Milliarden Reichsmark. Vergleicht man diese Summe mit den Rüstungsausgaben des NS-Regimes,
die von 720 Millionen Reichsmark im Jahre 1933 auf 10,8 Milliarden Reichsmark bereits im Jahre 1937
angestiegen waren, so wird das Übergewicht der Rüstungsförderung deutlich, die entscheidend zu
dem raschen Abbau der Arbeitslosigkeit beitrug.
Finanzierung
Finanziert wurden die gewaltigen Ausgaben längst nicht mehr aus dem Steueraufkommen und auch
bald nicht mehr aus Mitteln der Arbeitsbeschaffungsprogramme. Die Vorfinanzierung auf Wechselbasis
bot sich vielmehr als Verfahren an, um privates Kapital zu mobilisieren. Zunächst arbeitete die
Regierung noch mit dem 1932 unter den Regierungen Franz von Papen und Kurt von Schleicher
(1882–1934) entwickelten Arbeitsbeschaffungswechseln, die über Vorfinanzierungsinstitute und die
Rediskontierung der Wechsel durch die Reichsbank ähnlich funktionierten wie dann später die
sogenannten "Mefo-Wechsel". Damit entwickelte der renommierte Reichsbankpräsident Hjalmar
Schacht (1877–1970) ein System der Finanzwechsel, das eine "geräuschlose" und "verdeckte" Form
der Finanzierung im Vorgriff erlaubte. Wenn die Wirtschaftskonjunktur wieder auflebte, so Schachts
Überlegungen, dann könnten mit den entsprechend sprudelnden Steuereinnahmen die
Wechselschulden zurückgezahlt werden.
Auf Veranlassung der Reichsbank und des Reichswehrministeriums gründeten im Mai 1933 vier
bedeutende deutsche Unternehmen (Krupp, Siemens, Gutehoffnungshütte und Rheinmetall) eine
"Metallurgische Forschungsgemeinschaft" (Mefo), die mit dem Grundkapital von einer Million
Reichsmark ausgestattet wurde. Diejenigen Unternehmen, die vom Staat Rüstungsaufträge erhielten,
zogen zur Bezahlung der Aufträge auf diese Firma die sogenannten Mefo-Wechsel, für die das Reich
die Bürgschaft übernahm, ohne formell als Wechselschuldner zu erscheinen. Die Reichsbank
rediskontierte diese Wechsel und gab ihnen damit den Charakter von Zahlungsmitteln. Die Lieferanten
konnten ihre auf fünf Jahre laufenden Wechsel sofort bei den Banken einlösen. Zwischen 1934 und
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1936 ließen sich auf diese Weise etwa 50 Prozent der Wehrmachtsaufträge decken.
Politisch war dieses Verfahren dem Regime sehr willkommen, ließ sich doch auf diese Weise der
wahre Umfang der Aufrüstung verschleiern. Denn die Wechsel galten als Handelswechsel und tauchten
darum nicht unter den staatlichen Rüstungsausgaben auf. Die finanzpolitisch bedenkliche Seite war
Schacht sehr bewußt, und er hatte darum die Wechsel auf das Jahr 1938 terminiert. Denn mit dem
Verfahren der Mefo-Wechsel war die Gefahr einer großen Inflation unausweichlich. Auch schien ein
Konflikt mit Hitler für den Fall vorprogrammiert, daß er von seinen rüstungspolitischen Prioritäten nicht
ablassen und eine termingerechte Einlösung der Wechsel mit Haushaltsmitteln verweigerte. Genau
das trat 1938 ein. Das Regime tat trotz Drängen Schachts nichts, um den Bestand der Wechsel zu
begrenzen, sondern ersetzte das Instrument der Wechsel schließlich durch andere Methoden einer
noch geräuschloseren Finanzierung: durch Lieferschatzanweisungen, Steuergutscheine, erzwungene
Reichsanleihen bei Sparkassen und durch die Abschöpfung von Spar- und Versicherungsgeldern.
Dadurch wurden auch die nichtsahnenden Sparer zu mittelbaren Gläubigern des Reiches.
Das Reichsbankgesetz vom Februar 1937 bzw. vom Juni 1939 beseitigte schließlich alle Möglichkeiten
der Reichsbank, weiteren Einfluß auf die Geldversorgung des Staates zu nehmen, der seinen
Kreditbedarf nun hemmungslos zum alleinigen Maßstab für die Notenausgabe und die Kreditschöpfung
machte. Produziert wurden dafür vor allem Rüstungsgüter (zwischen 1933 und 1939 verschlang das
die Riesensumme von etwa 90 Milliarden Reichsmark), was vom "Standpunkt der volkswirtschaftlichen
Reproduktion her gesehen einen reinen Verlust bedeutete" (Willi A. Boelcke).
Wirtschaftslenkung
Es spricht vieles dafür, daß 1935 ein sich selbst tragender wirtschaftlicher Aufschwung in Gang
gekommen war, der eine weitere staatliche Ausgabenpolitik und Verschuldung zum Zwecke der
Krisenbekämpfung überflüssig gemacht hätte. Mitte 1935 hatte die Industrieproduktion wieder den
Vorkrisenstand von 1928 erreicht und auch der Beschäftigungsstand näherte sich dem Niveau von
1928. Dennoch wurde die staatliche Ausgabenpolitik nun aus eindeutig rüstungspolitischen Motiven
weitergeführt und auch die Selbstabkapselung vom Weltmarkt wurde – ebenfalls aus
rüstungswirtschaftlichen Gründen – weiter betrieben. Der Devisen- und Rohstoffmangel verhinderte,
daß die positive wirtschaftliche Konjunktur sich auch zu einer Stärkung des Massenkonsums
entwickelte. Was in dieser Situation wirtschafts- und währungspolitisch notwendig gewesen wäre,
stand den militärpolitischen Zielen Hitlers entgegen. Damit war in der Wirtschaftspolitik eine Wegmarke
erreicht, an der sich entscheiden mußte, ob die bisherigen Ansätze zu einer staatlichen
Reglementierung der Wirtschaft weiter zu einer Autarkiepolitik ausgebaut oder ob wieder eine Rückkehr
zu einer liberalen Binnen- und Außenwirtschaft angestrebt werden sollte. Einschneidender Ausdruck
dieser Richtungsentscheidung war die Verkündung des Vierjahresplanes im September 1936, der als
Folge einer erneuten und verschärften Devisenknappheit den endgültigen Übergang zur
Kommandowirtschaft und zur Autarkiepolitik brachte.
Nach einer Phase des Experimentierens und Kampfes widerstreitender Interessen, die noch eine
Mehrgleisigkeit verschiedener Wirtschaftsformen erlaubt hatte, wurden nun die Grundzüge der
nationalsozialistischen Wirtschaftspolitik erkennbar. Nicht die Formel vom Ständestaat oder dem
ständischen Aufbau der Wirtschaft, die die nationalsozialistische Propaganda eifrig verbreitet hatte,
wurde zum Maßstab, sondern die staatliche Lenkung nach wie vor privatwirtschaftlicher Unternehmen.
Die kapitalistische Wirtschaftsstruktur wurde nicht abgeschafft, sondern auf ein vorrangiges Ziel
ausgerichtet, um vor allem eine kurzfristige Leistungssteigerung zu erreichen.
Begonnen hatte der staatliche Interventionismus im landwirtschaftlichen Bereich. Fortgesetzt wurde
er mit Maßnahmen zum Aufbau einer Ersatzstoffproduktion seit 1934, um durch die Entwicklung der
Benzin- und Kautschuksynthese unabhängig von Importen zu werden. Hermann Görings
Vierjahresplanbürokratie realisierte dann in viel stärkerem Umfang die Lenkung von Teilbereichen der
Wirtschaft wie etwa der Mineralöl- und Treibstoffproduktion, der Bunaherstellung (synthetischer
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Kautschuk), der Eisen- und Stahlerzeugung, der landwirtschaftlichen Produktion sowie der Preise,
des Arbeitskräfteeinsatzes und der Devisenbewirtschaftung.
Vierjahresplan
[...] Deutschland wird wie immer als Brennpunkt der abendländischen Welt gegenüber den
bolschewistischen Angriffen anzusehen sein. Ich fasse dies nicht als eine erfreuliche Mission auf,
sondern als eine leider durch unsere unglückliche Lage in Europa bedingte Erschwerung und Belastung
unseres völkischen Lebens. Wir können uns aber diesem Schicksal nicht entziehen. [...]
Denn ein Sieg des Bolschewismus über Deutschland würde nicht zu einem Versailler Vertrag führen,
sondern zu einer endgültigen Vernichtung, ja Ausrottung des deutschen Volkes.
Das Ausmaß einer solchen Katastrophe kann nicht abgesehen werden. [...] Gegenüber der
Notwendigkeit der Abwehr dieser Gefahr haben alle anderen Erwägungen als gänzlich belanglos in
den Hintergrund zu treten!
[...] Die militärische Auswertung soll durch die neue Armee erfolgen. Das Ausmaß und das Tempo der
militärischen Auswertung unserer Kräfte können nicht groß und nicht schnell genug gewählt werden!
[...] Wenn es uns nicht gelingt, in kürzester Frist die deutsche Wehrmacht in der Ausbildung, in der
Aufstellung der Formationen, in der Ausrüstung und vor allem auch in der geistigen Erziehung zur
ersten Armee der Welt zu entwickeln, wird Deutschland verloren sein! [...]
Es haben sich daher dieser Aufgabe alle anderen Wünsche bedingungslos unterzuordnen.
[...] Wir sind übervölkert und können uns auf der eigenen Grundlage nicht ernähren.
[...] Die endgültige Lösung liegt in einer Erweiterung des Lebensraumes bzw. der Rohstoff- und
Ernährungsbasis unseres Volkes. Es ist die Aufgabe der politischen Führung, diese Frage dereinst zu
lösen.
[...] Die Erfüllung dieser Aufgaben in der Form eines Mehr-Jahres-Plans der Unabhängigmachung
unserer nationalen Wirtschaft vom Ausland wird es aber auch erst ermöglichen, vom deutschen Volk
auf wirtschaftlichem Gebiet und dem Gebiete der Ernährung Opfer zu verlangen [...].
Es sind jetzt fast vier kostbare Jahre vergangen. Es gibt keinen Zweifel, daß wir schon heute auf dem
Gebiet der Brennstoff-, der Gummi- und zum Teil auch in der Eisenerzversorgung vom Ausland restlos
unabhängig sein könnten. [...]
Ich stelle damit folgende Aufgabe: I. Die deutsche Armee muß in vier Jahren einsatzfähig sein. II. Die
deutsche Wirtschaft muß in vier Jahren kriegsfähig sein.
Hitlers geheime Denkschrift über den Vierjahresplan, August 1936, in: Wolfgang Michalka (Hg.), Das
Dritte Reich, Bd. 1, München 1985, S. 188 f.
Staat, Partei und Wirtschaft
Damit hatten sich – und das ist ebenso charakteristisch für die nationalsozialistische Wirtschaftspolitik –
auch die Gewichte zwischen Privatwirtschaft, Wirtschaftsministerium und NS-Regime verschoben.
Die Wirtschaftseliten und die staatliche Ministerialbürokratie im Wirtschaftsministerium hatten deutlich
an Gestaltungskraft verloren, während Göring als Exponent des NS-Komplexes die Rolle eines
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Wirtschaftsdiktators einnahm. Dies führte schließlich zum Ausscheiden von Schacht als
Wirtschaftsminister 1937 und als Reichsbankpräsident 1939. Görings Lenkungspolitik bediente sich
einer neuen Bürokratie, in der militärisches und industrielles Führungspersonal mit Exponenten der
NS-Bewegung in Gestalt von Gau- und Reichsleitern zusammenwirkten. So wurde etwa das
Vorstandsmitglied der IG Farben Carl Krauch zum Generalbevollmächtigten Chemie, hohe Offiziere
aus dem Reichsluftfahrtministerium wurden zuständig für die Mineralöl- und Energiewirtschaft und die
Gauleiter Walter Köhler und Adolf Wagner standen den Geschäftsgruppen Rohstoffverteilung und
Preisbildung vor.
Mit der Ernennung von Carl Krauch erreichte die Verflechtung von NS-Politik und Wirtschaft eine neue
Qualität. Durch seinen Einzug in die staatliche Wirtschaftslenkung erhielten nun ältere Konzepte der
Chemieindustrie ein bestimmendes Gewicht, die unter Umgehung des Weltmarktes und ohne
Rücksicht auf die Kosten synthetische Ersatzstoffe produzieren oder heimische Rohstoffe nutzen
wollten. Zugleich war Krauch vom privatwirtschaftlichen Berater des Luftfahrtministeriums zum
Vorsitzenden eines Quasi-Monopols mit staatlicher Lenkungs- und Kontrollkompetenz geworden. Dank
seiner Tatkraft hatte er es auch geschafft, die Wirtschaftspolitik des Regimes von einer
privatwirtschaftlichen Bürokratie organisieren zu lassen und damit ein Stück weit zu privatisieren, ohne
daß er damit über die allgemeine Zielsetzung der Rüstungs- und Wirtschaftspolitik bestimmen konnte.
Durch diese personelle Verflechtung wurde die Privatwirtschaft stärker an den NS-Staat gebunden
und erlebte in ihren rüstungswirtschaftlich relevanten Sektoren eine starke Zunahme der
Unternehmensgewinne. Für andere Unternehmen – vor allem im Konsumsektor – brachte die staatliche
Wirtschaftslenkung eine deutliche Beschränkung ihrer Produktion. Denn das Regime besaß sowohl
durch die Preis- und Lohnkontrolle sowie durch die Bewirtschaftung der Arbeitskräfte und die Verteilung
bzw. Kontingentierung von Rohstoffen und anderen Produktionsmitteln ein dirigistisches
Instrumentarium.
Scheitern der Autarkiepolitik
Anspruch und Wirklichkeit des Vierjahresplanes klafften mitunter weit auseinander. Das galt sowohl
für die Lenkungsvollmachten, von denen in bestimmten Sektoren nur zögernd Gebrauch gemacht
wurde, als auch für die Autarkieziele, die bei Kriegsbeginn auch deshalb nur annähernd erreicht wurden,
weil durch die forcierte Aufrüstung der Bedarf sprunghaft anstieg. So sank bei der Mineralölproduktion
die Auslandsabhängigkeit zwischen 1936 und 1938 nur geringfügig von 66 auf 60 Prozent, auch die
Buna-Produktion deckte trotz großer Anstrengungen bei Kriegsbeginn nur 50 Prozent des Bedarfs an
Kautschuk.
Propagandistisch besonders spektakulär und wirtschaftspolitisch umstritten waren die Bemühungen
um eine Steigerung der heimischen Eisenerzproduktion. Durch den Abbau und die Verhüttung
heimischer minderwertiger Eisenerze sollte die Abhängigkeit von Exporten reduziert werden. Da dieses
Verfahren äußerst kostspielig und wenig rentabel erschien, wollte die Schwerindustrie sich daran nicht
beteiligen. Der daraus erwachsende Konflikt führte schließlich zur Gründung der "Reichswerke
Hermann Göring für Erzbergbau und Eisenhütten", die den Abbau und die Verhüttung übernahmen
und die Privatwirtschaft zur Übernahme von Aktien zwangen. Trotz dieser Anstrengungen und trotz
der Einverleibung der österreichischen Erzproduktion (sie erreichte allein 23 Prozent des Eisenbedarfs)
ergab sich bei Kriegsbeginn ein Selbstversorgungsgrad von nur knapp über 50 Prozent. Noch größer
war und blieb die Auslandsabhängigkeit bei hochwertigen Stahlveredlern wie Mangan, Chrom und
Wolfram. Auch die Selbstversorgung bei den wichtigsten Nahrungsmitteln, die bereits 1933/34
insgesamt bei etwa 80 Prozent lag, konnte nicht wesentlich gesteigert werden. Besonders bei der
Fettversorgung klaffte eine Lücke von 40 bis 50 Prozent, während Grundnahrungsmittel wie Getreide,
Kartoffeln, Gemüse und Fleisch mit 90 bis 100 Prozent hinreichend vorhanden waren.
Die ökonomischen und sozialen Folgekosten der Autarkiepolitik waren beträchtlich. Die Verzerrung
der ökonomischen Strukturen verschärfte sich, die Handlungsspielräume der Wirtschaft wurden immer
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enger. Es entstanden vielfach unrentable Produktionsstandorte, die an anderen Orten dringend
benötigte Arbeitskräfte banden. "Die Decke wurde knapper und der Staat gezwungen, in wachsendem
Maße zu entscheiden, wer die knapper werdenden Ressourcen bekommen würde" (Ludolf Herbst).
Das verstärkte nicht nur die Tendenz zu Lenkung und Kontrolle, sondern auch zu Manipulation und
Propaganda.
So versuchte das Regime mit einigem Erfolg, die Nachfrage der Bevölkerung nach Konsumartikeln
auf solche Güter umzulenken, die reichlich vorhanden waren und im Inland produziert wurden. Das
bedeutete meist, daß man hochwertige Produkte durch solche von minderer Qualität ersetzen mußte.
Nicht Butter und Kanonen, sondern Kanonen und Vierfruchtmarmelade konnte das Regime bieten,
keine feinen englischen Tuche, sondern Anzüge mit Zellstoffzusätzen. So kam es, daß die deutschen
Ernährungs- und Konsumgewohnheiten trotz des erstaunlichen ökonomischen Aufschwunges eher
bescheiden blieben und daß der Fleischverbrauch 1938 noch unter dem Niveau von 1929 lag, während
sich der Absatz von Marmelade verdreifachte. Diesen Zustand nahm die Bevölkerung zwar nicht ohne
Murren, aber doch ohne größeren Protest nicht zuletzt deswegen hin, weil sie sich noch allzu gut an
die entbehrungsreichen Jahre der großen Krise erinnerte und die Propaganda solche Enthaltsamkeit
und Sparsamkeit zu "deutschen Tugenden" erklärte. So konnte das Regime seinen riskanten
Balanceakt zwischen der Befriedigung des privaten Konsums und der Steigerung der
Rüstungsausgaben im großen und ganzen erfolgreich durchstehen.
Arbeiter- und Volksgemeinschaft
Im Jahre 1933 hatten die Nationalsozialisten nur unbestimmte Vorstellungen davon, wie die neue
Gesellschaftsordnung unter dem Hakenkreuz beschaffen sein sollte. Eine Volksgemeinschaft wollten
sie schaffen. Eine Alternative zur pluralistisch-demokratischen Gesellschaft und zur konfliktreichen
sozialen Wirklichkeit der Weimarer Republik sollte entstehen: Nicht der offene und institutionalisierte
Konflikt sozialer Interessen, nicht Koalitionsrecht und Tarifvertrag, sondern die Versöhnung von
Individuum und Masse, von Kapital und Arbeit in einer klassenübergreifenden Gemeinschaft, die
soziale Sicherheit und Integration versprach.
Das waren soziale Verklärungen und Erwartungen, die ihre Wurzeln in den verschiedendsten
Gemeinschaftsideologien hatten, die im frühen 20. Jahrhundert in der Lebensreformbewegung und in
der Jugendbewegung verkündet wurden, die aber auch in der Agitation von völkisch-nationalistischen
Massenverbänden gegen das liberale und demokratische Gesellschaftskonzept der Weimarer
Republik ihren Platz hatten. Aber auch im katholischen und sozialistischen Sprachhaushalt fanden
sich solche Bilder von Gemeinschaft und sozialer Harmonie, die als Kontrast zu Klassenkampf und
sozialer Spaltung eingesetzt wurden. Die Burgfriedensformel von 1914, mit der das kaiserliche
Deutschland zur politischen Geschlossenheit jenseits aller Parteigrenzen aufrief, sowie das
publizistisch verklärte Erlebnis der "Frontgemeinschaft" des Ersten Weltkrieges hatten den
Gemeinschaftsparolen zusätzlichen Auftrieb gegeben. Auch die nationalsozialistische Ideologie von
der Gesellschaft als einer Gesinnungs- und Willensgemeinschaft leitete sich aus dem Mythos der
Schützengraben-Gemeinschaft ab. Daß diese Utopie durch das Zusammenbrechen der
propagandistisch überhöhten "Inneren Front" in der Revolution vom November 1918 zerstört wurde,
stellte den traumatischen Schock und das ideologische Gegenbild dar, die die nationalsozialistische
Führungsriege umtrieben. Sie glaubte deshalb, sich an denjenigen rächen zu müssen, die sie für die
Zerstörung dieser Illusion verantwortlich machte: an den "Novemberverbrechern", "Juden" und
"Marxisten". Gleichzeitig galt es, für den Fall eines zukünftigen Krieges alles zu vermeiden, was eine
erneute innere soziale Krise heraufbeschwören und die Massenloyalität gefährden könnte.
Volksgemeinschaft in diesem Sinne mußte darum das Versprechen auf Integration und die
Ausgrenzung von "Gemeinschaftsfremden" zugleich bedeuten.
Der Arbeiter- und Sozialpolitik kam in diesem Denkschema eine besondere Bedeutung zu: Sie sollte
die soziale Kontrolle sichern und durch soziale Verlockungen die Massenzustimmung gewinnen. Die
Arbeiterschaft, immerhin die größte Gruppe in der Gesellschaft, wurde deshalb von den
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Nationalsozialisten gleichermaßen gefürchtet und umworben. Sie wurde ihrer gewerkschaftlichen
Interessenvertretung beraubt und dadurch politisch entmündigt. Das Regime verlangte ihr in den
"Arbeitsschlachten" der Kriegswirtschaft immer höhere Produktionsleistungen ab, versuchte sie aber
umgekehrt durch Volksgemeinschaftsparolen propagandistisch zu ködern und durch sozialpolitische
Fürsorge und Vergünstigungen zu gewinnen. Es charakterisierte einmal mehr das NS-Regime, daß
es bei der Vernichtung des politisch-ideologischen Gegners ungleich größere Energien entfaltete als
bei der Konzeption einer in sich schlüssigen Gesellschafts-, Wirtschafts- und Arbeiterpolitik. Diese
blieb von ständigen Improvisationen und Widersprüchen begleitet, die durch Phrasen vom "Sozialismus
der Tat" und anderen verklärenden Parolen nicht ohne Erfolg verdeckt wurden. Damit wurden die
sozialen Spannungen in die Kompetenzkonflikte der vielen nationalsozialistischen Massen- und
Sonderorganisationen umgelenkt. Andererseits wurden die für alle Industriegesellschaften typischen
sozial-kulturellen Nivellierungstendenzen durch sozialegalitäre und propagandistische Versprechungen
sowie durch soziale und materielle Verbesserungen für Arbeiter beschleunigt.
Zwangsorganisation der Arbeiterschaft
Der Zweck aller nationalsozialistischen Massenorganisationen ist der gleiche. Ob man an die
Arbeitsfront denkt oder an Kraft durch Freude, an die Hitlerjugend oder an den Arbeitsdank, überall
dienen die Organisationen dem gleichen Zweck: die "Volksgenossen" zu "erfassen" oder zu "betreuen",
sie nicht sich selbst zu überlassen und sie möglichst überhaupt nicht zur Besinnung kommen zu lassen.
Wie jemand sich durch leere Geschäftigkeit um jede Möglichkeit bringt, ernsthaft zu arbeiten, so
entfalten die Nationalsozialisten überall eine übereifrige Betriebsamkeit mit der eingestandenen
Absicht, keine wirklichen Gemeinsamkeiten, keinerlei freiwillige Zusammenschlüsse aufkommen zu
lassen. Ley hat es erst kürzlich in aller Offenheit gestanden: der "Volksgenosse" soll kein Privatleben
haben und erst recht soll er seinen privaten Kegelklub aufgeben. Dieses Organisationsmonopol geht
darauf aus, den Mann im Volke völlig unselbständig zu machen, jede wie immer geartete Initiative zu
den primitivsten freiwilligen Zusammenschlüssen in ihm zu ertöten, ihn von allen Gleichgesinnten oder
auch nur Gleichgestimmten fernzuhalten, ihn zu isolieren und zugleich an die staatliche Organisation
zu binden. Die Wirkung bleibt nicht aus. Gelegentlich kann man von Arbeitern oder Arbeiterinnen über
Kraft durch Freude ein Wort der Anerkennung hören mit dem Zusatz: früher hat sich niemand um uns
gekümmert! [...]
Das Wesen faschistischer Massenbeherrschung ist Zwangsorganisierung auf der einen, Atomisierung
auf der anderen Seite.
Die Nationalsozialisten wissen sehr gut, daß das Solidaritätsgefühl die Kraftquelle der Arbeiterschaft
ist, und infolgedessen gehen alle ihre Maßnahmen für oder gegen die Arbeiter darauf aus, das Gefühl
für die Notwendigkeit solidarischen Handelns zu ertöten. Alle Verschlechterungen, die sie den Arbeitern
bei den Löhnen, den Steuern, in der Sozialversicherung aufzwingen, werden so eingerichtet, daß sie
niemals große Gruppen gleichmäßig treffen. Sonst könnten vielleicht allgemeine Verschlechterungen
allgemeine Abwehrbewegungen hervorrufen. Diese Politik der Nationalsozialisten hat bedenkliche
Erfolge gezeitigt, nicht zuletzt deshalb, weil die Zerstörung des Solidaritätsgefühls schon in der
Wirtschaftskrise begonnen hat. [...]
Deutschlandberichte der Sopade (vom Exilvorstand der SPD organisierte Widerstandsgruppen) über
die Gewinnung der Arbeiter durch Zwangsorganisation und soziale Bestechung, November 1935, in:
Wolfgang Michalka (Hg.), Das Dritte Reich, Bd. 1, München 1985, S. 95 f.
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Deutsche Arbeitsfront
Die Nationalsozialisten hatten überraschend schnell die politischen und sozialen Organisationen der
Arbeiterbewegung am 1. und 2. Mai 1933 in der für die nationalsozialistische Gleichschaltungstechnik
charakteristischen Doppelstrategie eines betäubenden Massenfestes und einer anschließenden
Gewaltaktion (vgl. Informationen zur politischen Bildung Nr. 251, "Nationalsozialismus I", S. 47 f.)
zerschlagen. Die Gründung einer nationalsozialistischen Massenorganisation, die an die Stelle der
gewerkschaftlichen Organisation der Arbeiterschaft treten und diese kontrollieren sollte, zeigte
dementsprechend alle Merkmale der Improvisation und eines internen Machtkompromisses. Der
Auftrag der neuen Organisation war rasch bestimmt: Sie sollte die Arbeiter durch eine Politik von
Zuckerbrot und Peitsche gewinnen und kontrollieren. Die Deutsche Arbeitsfront (DAF), die am 10. Mai
1933 unter der Schirmherrschaft von Adolf Hitler gegründet und durch den bisherigen
Reichsorganisationsleiter der NSDAP Robert Ley geführt wurde, erwuchs zwar bald zu einer
gigantischen bürokratischen Konstruktion und wurde innerhalb des Regimes zu einem beträchtlichen
Machtfaktor. Die Definition der sozial- und tarifpolitischen Kompetenzen der Massenorganisation blieb
jedoch lange ebenso ungeklärt wie die Ausbildung arbeits- und sozialpolitischer Konzepte. Als Ziel
seiner Massenorganisation verkündete Ley sehr vage die "Bildung einer wirklichen Volks- und
Leistungsgemeinschaft, die dem Klassenkampfgedanken abgeschworen hat". Ein "absolutes Chaos
von Gedanken", so gestand Ley später, sei ihm bei der Gründung der DAF begegnet. Er umschrieb
damit einerseits die Verworrenheit der ständischen Gesellschaftsmodelle, die in den Jahren 1933/34
von Parteiaktivisten aus dem Arsenal der Propagandaformeln hervorgeholt wurden, andererseits aber
auch die heftigen Auseinandersetzungen zwischen NSDAP, Reichsministerium und wirtschaftlichen
Interessenvertretern über die Aufgaben der Arbeitsfront. Zunächst schien es, als könnten sich die
versprengten Reste der NS-Linken, die sich in der nationalsozialistischen Gewerkschaftsbewegung,
der Nationalsozialistischen Betriebszellenorganisation (NSBO), zusammengefunden hatten, mit ihrem
Traum einer nationalsozialistisch geführten Einheitsgewerkschaft durchsetzen.
Die DAF wurde mit ihren zwei "Säulen", Arbeitern und Angestellten, als ständische Einrichtung
aufgebaut. Später sollten als dritte und vierte Säule noch industrielle Unternehmer sowie der
gewerbliche und handwerkliche Mittelstand hinzukommen. Die NSBO-Männer, die nach dem 2. Mai
1933 die provisorische Leitung der ehemaligen Gewerkschaftseinrichtungen übernommen hatten,
versuchten über ihre formale Zuständigkeit hinaus Informationen über Löhne, Arbeitsplatzkapazitäten
und Beschäftigtenzahlen zu bekommen, um arbeits- und tarifpolitische Ansprüche zu formulieren.
Daraufhin kam es bald zu Klagen der Unternehmer über den antikapitalistischen Radikalismus
einzelner NSBO- und DAF-Obmänner. Ihnen wurde vorgeworfen, sie beharrten auf der Fortführung
kollektiver Tarifverträge und hätten auch mit Gewaltmaßnahmen gedroht. Seit dem Sommer 1933
bemühte sich das Regime daraufhin schrittweise um eine "Entgewerkschaftlichung" der DAF: Im Juni
1933 wurden sogenannte "Treuhänder der Arbeit" eingesetzt, die der Dienstaufsicht des
Reichsarbeitsministeriums unterstanden. Sie sollten sowohl über die Tarifordnungen und über
Betriebsordnungen entscheiden als auch in Streitfällen schlichten. Die Treuhänder kamen in der Regel
aus der privatwirtschaftlichen und staatlichen Arbeits- und Wirtschaftsverwaltung bzw. aus den
Industrie- und Handelskammern. Die nationalsozialistische Propaganda feierte diese Einrichtung als
"Überwindung des Klassenkampfes". Jedoch gaben allein schon die Herkunft, aber auch die dienstliche
Stellung der Treuhänder die Garantie dafür, daß sie meistens den Interessen der Unternehmer bzw.
der staatlichen Arbeitsverwaltung näherstanden als denen der Arbeiterschaft.
Im November 1933 mußte Ley sich endgültig der Zähmung der DAF fügen und in einen wohltönenden
"Aufruf an alle schaffenden Deutschen" einwilligen, der außerdem von Reichsarbeitsminister Seldte,
Reichswirtschaftsminister Kurt Schmitt (1886–1950) sowie dem Parteibeauftragten für
Wirtschaftsfragen Wilhelm Keppler (1882–1960) unterzeichnet wurde. Damit wurden endgültig alle
Hoffnungen auf eine berufsständische oder gewerkschaftliche Interessenvertretung bzw.
Kompetenzen in der Arbeits- und Sozialpolitik durch die DAF begraben. Statt dessen wurde sie auf
die Erziehungs- und Betreuungsfunktion verwiesen, und es war kein Zufall, daß die NSFreizeitorganisation "Kraft durch Freude" (KdF) als Unterorganisation der DAF beinahe zur selben
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Zeit, nämlich am 27. November 1933 gegründet wurde. Damit sollte von dem gesellschaftspolitischen
Kompetenzverlust abgelenkt und mit einer umfassenden Betreuung der Arbeiter im Alltag bis in die
Freizeit hinein ein neues attraktives und populäres Betätigungsfeld eröffnet werden. Die verschiedenen
Ämter der KdF-Organisation boten ein vielfältiges Programm, das Theateraufführungen ebenso
umfaßte wie Weiterbildungskurse, Sportveranstaltungen und vor allem die sehr beliebten
Wanderfahrten und Fernreisen. Damit knüpften die Freizeitorganisatoren der KdF nicht nur an die
Tradition der Arbeiterbildungsvereine an, sondern nutzten und verstärkten auch die kulturellen
Bedürfnisse einer modernen Massenzivilisation.
Nachdem der DAF mit dem Abkommen vom November 1933 die letzten gewerkschaftlichen und
klassenkämpferischen Ansprüche genommen worden waren, gab auch der "Führer" des
"Reichsstandes der deutschen Industrie" Gustav Krupp von Bohlen und Halbach am folgenden Tag
seine Zustimmung zum Beitritt der Unternehmer zur DAF. Deren neue Organisationsstruktur vom
Frühjahr 1934 und das "Gesetz zur Ordnung der Nationalen Arbeit" besiegelten die neuen
Machtverhältnisse und Kompetenzregelungen. Die DAF wurde innerhalb der vier Säulen nach
Branchen und Produktionssparten organisiert. In ihrer Struktur war sie parallel zu den Gliederungen
der Politischen Organisation der NSDAP in einem vertikalen und zentralistischen Aufbau auf ein
Zentralbüro ausgerichtet. Unter ihm entwickelte sich eine Hierarchie von 40000 haupt- und 1,3 Millionen
ehrenamtlichen Funktionären bis hin zu den Betriebszellen-, Straßen- und Blockwarten. Zuständig
war die Großorganisation, die zuletzt etwa 25 Millionen Mitglieder zählte, für die soziale und kulturelle
Betreuung der Arbeitnehmer, ihre fachliche Berufsausbildung und -förderung einschließlich der
jährlichen "Reichsberufswettkämpfe" sowie für die politische Schulung. Auch wenn formal kein
Beitrittszwang bestand, war es schwierig, sich dem Verband zu entziehen, zumal der DAF-Beitrag (1,5
Prozent) direkt vom Lohn abgezogen wurde.
Führerprinzip im Betrieb
Die tarifliche Festlegung der Arbeitsbedingungen und -löhne war in die alleinige Zuständigkeit der
Treuhänder gefallen. Parallel dazu besiegelte die neue Arbeitsordnung das Ende der betrieblichen
Mitbestimmung, die Unternehmer waren (vorerst) wieder Herren im Haus. In einer für das Regime
charakteristischen pathetischen Sprache übertrug das "Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit"
das Führerprinzip auf die Betriebe. An der Spitze der "Betriebsgemeinschaft" stand der "Betriebsführer",
dem die "Gefolgschaft" Treue und Gehorsam zu leisten hatte. Um das "gegenseitige Vertrauen
innerhalb der Betriebsgemeinschaft" zu vertiefen, wurden die Mitbestimmung durch die "Beratung",
die Betriebsräte durch "Vertrauensräte" ersetzt. Als sich 1935 in den Wahlen zu den Vertrauensräten
eine starke Opposition in Gegenstimmen abzeichnete, ging die Berufung der "Vertrauensmänner" auf
die "Treuhänder" über. "Soziale Ehrengerichte", denen formal auch die "Betriebsführer" unterstanden,
sollten unter Vorsitz eines "Treuhänders" im Streitfall die Harmonie der "Betriebsgemeinschaft"
wiederherstellen. Die Rücknahme sozialer Rechte, wie sie der soziale Rechtsstaat der Weimarer
Republik gewährt hatte, ging noch einige Schritte weiter. 1935 wurde das "Arbeitsbuch" eingeführt,
das die freie Wahl des Arbeitsplatzes einschränkte und den Weg zur staatlichen Kontrolle des
"Arbeitseinsatzes" öffnete. Durch weitere Verordnungen war zu Kriegsbeginn die staatliche Lenkung
der Arbeitskräfte in allen kriegswichtigen Wirtschaftszweigen eingeführt.
Dieser Verlust an politischen und sozialen Rechten wurde in der mehrheitlichen Wahrnehmung der
Arbeiterschaft von dem raschen, wenn auch ungleichmäßigen Abbau der Arbeitslosigkeit und der
Sicherung einer auskömmlichen materiellen Existenz aufgewogen. Das allein erklärt aber noch nicht
die erstaunlich schnelle und weitgehend widerstandslose Unterordnung der Arbeiter unter den
Nationalsozialismus. Hinzu kam nämlich die Auflösung alter Solidaritätsmuster durch die
Wirtschaftskrise und die Erfahrung langer Arbeitslosigkeit, die viele Arbeiter von betrieblicher Solidarität
und Disziplin ebenso entfremdete wie sie ihnen die Ohnmacht von Arbeiterorganisationen
demonstrierte. Dieser Eindruck war in der autoritären Endphase der Weimarer Republik durch die
massiven Kampagnen der politischen Rechtsparteien noch verstärkt worden. Durch diese Faktoren
wurde die traditionelle Einbindung der Einzelnen in das proletarische Sozialmilieu, das aus Vereinen,
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Nachbarschaften und Selbsthilfeorganisationen bestand, zwar nicht völlig aufgelöst. Es verlor aber
seine Orientierungskraft und identitätsstiftende Wirkung, als die Organisationen der Arbeiterbewegung
in der Gleichschaltungspolitik von 1933 zerschlagen wurden. Die Folge davon war wiederum eine
weitgehende Entpolitisierung der Arbeiterschaft. Ihre zunächst nur widerwillige Hinnahme der
gewaltsam veränderten Situation verwandelte sich dann zunehmend in Zustimmung und Loyalität, als
seit 1935 die Erfahrung eines nunmehr sicheren Arbeitsplatzes und sozialpolitischer Verlockungen
auch die materielle und soziale Situation vieler Arbeiter veränderte.
Lebensstandard
Anfänglich hatte sich die Lage auf dem Arbeitsmarkt branchenspezifisch und regional sehr
unterschiedlich verbessert: Die Arbeitslosenzahlen sanken in den Produktionszentren von
Schwerindustrie und metallverarbeitender Industrie schneller als in der Textilindustrie und im übrigen
Konsumgüterbereich; überdies ging die Arbeitslosigkeit bei Facharbeitern rascher zurück als bei
Hilfsarbeitern; ältere und ganz junge Arbeitskräfte hatten es schwerer als die Generation der
Familienväter.
Als die Rüstungskonjunktur zum Tragen kam, erhöhten sich auch die Einkommen der Arbeiterschaft
und erreichten zwischen 1936 und 1939 wieder das Niveau der Jahre 1928/29. Das geschah aber
nicht durch eine Anhebung des Stundenlohnes. Vielmehr ging der Lohnzuwachs meist auf die
Überstunden zurück, die den Arbeitern bei anziehender Konjunktur aufgezwungen wurden.
Ein Teil von dem Lohnzuwachs wurde gleich wieder von scheinbar "freiwilligen" Abzügen vom
Bruttolohn für DAF, Winterhilfswerk und ähnliche Spenden- und Sparaktionen aufgebraucht, so daß
die Nettowochenverdienste erst in den Kriegsjahren 1941/42 das Vorkrisenniveau erreichten. Doch
solche Berechnungen interessieren mehr die Statistik als die Wahrnehmung der Zeitgenossen, denen
noch vor allem die Erfahrung von Massenarbeitslosigkeit und damit die Vergleichsdaten der Krisenjahre
in Erinnerung waren. Auch die Engpässe in der Versorgung und auf dem Wohnungsmarkt konnten
den Eindruck greifbarer Verbesserungen auf dem Arbeitsmarkt und die davon genährten Erwartungen
weiterer, langfristiger Aufwärtsbewegungen nicht trüben. Hinzu kamen Leistungsanreize in Form von
ausgeklügelten Staffelungen von Lohngruppen, die ebenso den Leistungswillen anspornten wie die
"Reichsberufswettkämpfe".
Landwirtschaft
Zu den Verlierern nationalsozialistischer Politik gehörten die beiden Gruppen, aus denen die NSDAP
vor der Machtergreifung die größte Unterstützung bekommen hatte: die Bauern und in noch stärkerem
Maße der gewerbliche Mittelstand. Weder konnte der Mittelstand seine protektionistischen Wünsche
wirklich realisieren, noch fand eine Reagrarisierung der deutschen Gesellschaft statt. Die industrielle
Produktion mit den politisch gesetzten Prioritäten erlangte den absoluten Vorrang vor allen anderen
Sektoren der Wirtschaft. Während der "Ackermann" neben dem "Krieger" zu den herausgehobenen
Symbolfiguren in der Propaganda des Dritten Reiches wurde und die Landwirtschaft als "Nährstand"
zur tragenden Säule neben dem Wehrstand erklärt wurde, litten die Bauern unter den Zwängen der
nationalsozialistischen Wirtschaftslenkung und Agrargesetzgebung. Doch sie blieben die
Lieblingskinder der NS-Propaganda.
Lautstärkster Propagandist der "Blut- und Bodenideologie" war der Diplomkolonialwirt Walter Darré,
der in seinen Büchern pathetisch ein neues "Adelsbauerntum" als "biologischen Kern" der künftigen
Geschichte definiert hatte. Das Bauerntum als "Hauptquell des deutschen Volkes" sollte durch seine
Verwurzelung im heimatlichen Grund und Boden ein gemeinschaftliches Bollwerk gegen die
"Wurzellosigkeit" des großstädtischen Proletariats bilden. Damit wurde der alte Gegensatz zwischen
Stadt und Land ideologisch überhöht und in der NS-Propaganda mit scharfen antimodernistischen
Ressentiments radikalisiert. Dieses ideologisch-propagandistische Gebräu zusammen mit
Verheißungen eines wirkungsvollen Bauernschutzes hatte ausgereicht, um in der Aufstiegsphase der
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NSDAP eine große Anhängerschaft unter den Bauern zu sichern.
Aufbau des Reichsnährstandes
Das NS-Regime knüpfte an traditionelle protektionistische Maßnahmen zugunsten der
Großlandwirtschaft an und versuchte überdies durch eine ausufernde Propaganda, der Landwirtschaft
das Gefühl zu vermitteln, daß ihre Nöte gesehen und ernst genommen würden. Diese auf die
Großlandwirtschaft ausgerichtete Agrarpolitik von Ernährungsminister Alfred Hugenberg (1865–1951)
bot Darré die Chance, die landwirtschaftlichen Organisationen unter seine Kontrolle zu bringen: die
berufsständischen agrarischen Interessenorganisationen, das Genossenschaftswesen und die
Landwirtschaftskammern. Nachdem bis Anfang Juni 1933 diese Gleichschaltung der
landwirtschaftlichen Verbände abgeschlossen war und Darré zum Reichsbauernführer ernannt worden
war, stand nach Hugenbergs Rücktritt Ende Juni 1933 und Darrés Ernennung zum Reichsminister für
Ernährung und Landwirtschaft der Gleichschaltung der staatlichen Landwirtschaftspolitik nichts mehr
im Wege. Dadurch konnte Darré eine im Vergleich zu anderen NS-Führern scheinbar ungewöhnliche
Machtfülle auf sich vereinigen.
Mit der Gleichschaltung der landwirtschaftlichen Organisation war die Möglichkeit zur Steuerung der
landwirtschaftlichen Erzeugung gegeben, die nicht nur alle Betriebe, sondern auch alle dort tätigen
Personen umfaßte. Sie wurden unter dem Zwangsverband des Reichsnährstandes zusammengefaßt.
Dieser zählte Mitte der dreißiger Jahre etwa 17 Millionen Mitglieder und versuchte mit einer strengen
hierarchischen Gliederung einen umfassenden Kontrollanspruch durchzusetzen. Die Organisation
umfaßte drei Hauptabteilungen, die einen allumfassenden Regulierungsanspruch anmeldeten.
Gelenkt werden sollten erstens der Mensch, zweitens der Hof und drittens der Markt. Der
Reichsnährstand gab sich nach außen weiterhin als eine Selbstverwaltungskörperschaft des
öffentlichen Rechts und eine berufsständische Einheitsorganisation, tatsächlich war er jedoch als
Ausführungsorgan der staatlichen Wirtschaftslenkung ein Instrument zur Sicherung der Ernährung
und zur Steigerung der Erzeugung.
Hauptbetätigung des Reichsnährstandes und des Reichsbauernführers waren die ideologische,
sozialpolitische und kulturelle Betreuung seiner Mitglieder. Auch wurde versucht, das Marktgefüge und
die Preisgestaltung für landwirtschaftliche Erzeugnisse durch ein dichtes Geflecht von Vorschriften
und Verboten zu regeln. Es entstand ein Mammutsyndikat von Genossenschaften,
Wirtschaftsvereinigungen und Fachämtern, die alle ernährungswirtschaftlichen Betriebe erfaßten.
Kaschiert wurde die Überbürokratisierung durch eine völkische Rhetorik, die ihren besonderen
Ausdruck im jährlichen Ritual der Reichs-Erntedankfeste auf dem Bückeberg fand. Mit solchen
Ereignissen sollte von der ständigen Ausdehnung des Festpreissystems auf Brotherstellung,
Getreidewirtschaft, Milchprodukte, Viehhaltung und Viehprodukte abgelenkt werden.
Als Krönung der agrarromantischen Ideologie galt das Reichserbhofgesetz vom September 1933. Es
sollte den landwirtschaftlichen Besitz vor dem Ausverkauf an nichtbäuerliche Kapitalbesitzer schützen
und umgekehrt den Bauern an seine Scholle binden. Es blieb auf mittelbäuerlichen Landbesitz bis zur
Größe von 125 Hektar begrenzt und nahm auch den Großgrundbesitz aus. Der erhielt dadurch zwar
weniger Schutz, aber um so mehr ökonomische Freiheiten. Bauer konnte nur sein, wer "deutschen
oder stammesgleichen Blutes" war (§ 13). Dies war durch den großen Abstammungsnachweis zu
belegen. Der Erbhof durfte nur ungeteilt auf einen Nachkommen vererbt werden. Miterben hatten nur
ein Recht auf Berufsausbildung und Aussteuer.
Die Bilanz der Agrarpolitik war widersprüchlich. Der säkulare Trend einer Entagrarisierung wurde auch
in der NS-Zeit nicht aufgehalten und hielt unvermindert an: Die dramatische Landflucht, der Rückgang
der landwirtschaftlichen Arbeitnehmer zwischen 1933 und 1939 um 440000 und der auch durch den
Wehrdienst bedingte Ausfall an Arbeitskräften ließen sich weder durch HJ-Landdienst noch durch
Arbeitsdienst, Erntehilfe oder Pflichtjahr für Mädchen wettmachen. Erst der kriegsbedingte Einsatz
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von Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen schaffte eine nennenswerte Abhilfe. Auch konnten die
sozialen Spannungen innerhalb des Dorfes und der Bauernschaft nicht überwunden werden. Für das
Regime war jedoch das ideologische Moment letztlich weniger entscheidend als das machtpolitische
Ziel der Eigenversorgung und Nahrungssicherheit. Darum wurden alle Experimente einer Bodenreform
vermieden. Der mittel- und großbäuerliche Hof und der Gutsbesitz blieben das prägende
Strukturelement.
Die Bilanz der agrarpolitischen Anstrengungen war teilweise positiv, auch wenn die hochgesteckten
Erwartungen nicht erreicht wurden. Der Anteil der Selbstversorgung konnte von 68 Prozent auf 83
Prozent erhöht werden. Steigerungen wurden bei der Produktion von Brot, Getreide, Hülsenfrüchten,
Eiern und Kartoffeln erzielt. Die Ernährungsbilanz bei Fetten, Futtermitteln und pflanzlichen Ölen blieb
defizitär. Die Abschottung vom Weltmarkt mußten die Verbraucher mit erheblich überhöhten Preisen
bezahlen.
Mittelstand
Noch größer waren die Enttäuschungen des alten Mittelstandes. Alle ständestaatlichen Träume waren
spätestens 1934 ausgeträumt und auch alle Hoffnungen, sich der verhaßten Konkurrenz der
Warenhäuser zu entledigen. Diese wurden zwar höher besteuert, blieben aber unentbehrlich. Statt
dessen kam es zur Aufgabe vieler kleingewerblicher Unternehmen, da ihnen die Arbeitskräfte fehlten
oder sie vom zunehmenden Wirtschaftsdirigismus wegrationalisiert wurden. Die schon seit
Jahrzehnten herrschende relative Konzentrationstendenz blieb ungebrochen. Nur die größeren
Geschäfte konnten von der ökonomischen Aufstiegsentwicklung der späten dreißiger Jahre profitieren.
Eine Entschädigung für manche Enttäuschung, die der alte Mittelstand in Handwerk und Einzelhandel
erleben mußte, sollte die Ausschaltung der jüdischen Konkurrenz seit 1938 bringen. So manches
ehemals jüdische Einzelhandelsgeschäft und Warenhaus wechselte auf dem widerrechtlichen Weg
von Erpressung, Ausplünderung und einem scheinlegalen Erwerb den Besitzer.
Die Kriegswirtschaft brachte neue Gefährdungen für den Mittelstand und hier insbesondere für die
leistungsschwachen Kleinbetriebe, waren doch nun vermehrt Schließungen von Geschäften und
Betrieben an der Tagesordnung. Das Regime verstärkte damit, was es zu bekämpfen versprochen
hatte: den gesellschaftlichen Wandel von einer kleingewerblich mittelständischen Ordnung zu einer
großwirtschaftlichen Struktur.
Frauen im Nationalsozialismus
Bereits wenige Monate nach der Machtübernahme waren fast alle Frauen aus der Schulbürokratie
entlassen und die Zahl der Lehrerinnen im Reich um 15 Prozent reduziert. Professorinnen,
Schulleiterinnen (selbst an Mädchenschulen) und Schulrätinnen wurden ihres Amtes enthoben. Keine
Frau konnte mehr vor ihrem 35. Lebensjahr einen Lehrstuhl oder eine Dozentur erhalten, was damit
begründet wurde, daß sie, solange sie jünger war, Kinder bekommen konnte und dann zuerst ihrer
Familie verpflichtet wäre. Ab 1934 kehrten nach und nach wieder "zuverlässige" Frauen in die
akademische Lehrtätigkeit zurück. Das Archivmaterial gibt keinen Aufschluß über die Gründe; zwei
Überlegungen dürften wohl eine Rolle gespielt haben: Zum einen bedeutete das Prinzip der "getrennten
Sphären", daß Tausende gut ausgebildeter Frauen für den rasch wachsenden bürokratischen Apparat
und die sozialen Einrichtungen im Frauenbereich gebraucht wurden; zum anderen hatten sich
inzwischen so viele Organisationen der "alten" Frauenbewegung zur Kooperation mit den Nazis bereit
erklärt, daß qualifizierte Frauen jetzt nicht mehr so bedrohlich waren. Obwohl die Zahl der Frauen an
den Universitäten zwischen 1933 und 1935 um 40 Prozent zurückging, pendelte sich der Anteil der
Studentinnen dann gegen Ende der dreißiger Jahre bei immerhin zehn Prozent ein. Die ehrgeizigen
jungen Frauen, die eine Karriere innerhalb des staatlichen Frauenbereichs anstrebten, zogen
vermutlich, ebenso wie die jungen Männer, eine Partei-Schule der Universität vor. Insgesamt fiel die
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Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
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Zahl der Studentinnen an den Universitäten von knapp 20000 im Jahr 1933 auf 5500 im Jahr 1939.
Die Pädagoginnen fragten sich, wie sie den jungen Mädchen "arischen" Stolz einimpfen sollten, wenn
sie ihnen gleichzeitig zu vermitteln hatten, daß die Frauen in allen Bereichen außer dem Haushalt
grund-sätzlich untergeordnet waren. Der Körper der Frau gehörte dem Volk, aber wer sollte diesen
Grundsatz im Bewußtsein verankern? Was sollten die Mädchen lernen? Sollten sie von Männern oder
von Frauen unterrichtet werden? [...]
Die Rechte der Frauen, so meinte Erziehungsminister Hans Schemm, bestünden vor allem im "ersten
und letzten Anrecht auf das Kind [...], [das sie] von Gott empfangen und dorthin wieder zurückgibt".
Nachdem er klargestellt hatte, daß Frauen als untergeordnete Wesen geschaffen worden seien, schloß
er die rhetorische Frage an: "Was sind alle modernen Rechte der Frau vom Stimmrecht bis zum
Männerberuf gegen das eine, heiligste Recht der Mutter auf Sorge, Arbeit, Opfer und Liebe für das
Kind? Das allein ist der Himmel, der auch dem und der Ärmsten auf Erden bereitet ist."
Claudia Koonz, Mütter im Vaterland, Reinbek 1994, S. 250ff.
Rolle der Frauen
Auch in der nationalsozialistischen Frauenpolitik gab es den tiefen Widerspruch zwischen Anspruch
und Wirklichkeit. Die NS-Führer und Ideologen waren frauenpolitisch extreme Traditionalisten und
überdies voller sozialdarwinistischer Vorurteile. Sie förderten die traditionellen Verhaltensmuster, nach
denen Frauen sich auf Familie, Kinder und Haushalt zu konzentrieren hätten. Dazu gehörte auch ein
energisches Einschreiten gegen die weibliche Erwerbsarbeit. Hinzu kamen spezifische Elemente der
nationalsozialistischen Ideologie: Die ideologiebewußte Frau habe sich dem selbstlosen Dienst für
Volk und Regime unterzuordnen. "Du gehörst dem Führer", lautete die Parole. Gewollte Kinderlosigkeit
galt als eine Art "Fahnenflucht", schrieb man doch der Frau dann die Verantwortung für den angeblich
"drohenden Volkstod" zu. Doch bald wurden die Spannungen zwischen der Ideologie und den
Anforderungen der Wirtschaft, die im Zeichen der Rüstungskonjunktur zunehmend Arbeitsplätze
benötigte, immer größer. Das von den Wirtschaftsbürokratien geforderte Instrument einer allgemeinen
Frauendienstpflicht wurde jedoch auch im Krieg nicht überall umgesetzt. Dagegen standen die
genannten ideologischen Voreingenommenheiten und die Sorge um eine allzu große Belastung der
Familien durch den Krieg, die durch eine allgemeine Frauenarbeit nicht noch erhöht werden sollten.
Trotz verschiedener familien- und arbeitsmarktpolitischer Gesetzgebungsmaßnahmen gelang es den
Nationalsozialisten jedoch nicht, den säkularen Trend zur Ein- oder Zweikinder-Familie und zu einer
zunehmenden Frauenerwerbstätigkeit zu stoppen oder umzudrehen. Die Steigerung der Geburtenrate
von 14,7 pro 1000 Einwohner im Jahre 1932 auf 18,6 im Jahre 1936 hatte keine familienpolitischen
oder ideologischen Gründe, sondern vor allem wirtschaftliche. Es bestand ein gewisser Nachholbedarf
im Bereich der Familienplanung seit der schweren ökonomischen Depression, der nun im Zeichen
des Wirtschaftsaufschwunges zur Geltung kam. Auch kam es entgegen allen Versprechungen nicht
zu einer Verringerung der Frauenerwerbstätigkeit, sondern im Zeichen der Hochkonjunktur zu einer
Steigerung um 1,3 Millionen zwischen 1933 und 1939. Die Zahl der weiblichen Beschäftigten stieg
von etwa 4,6 Millionen 1932 auf 4,75 Millionen im Jahre 1933 und betrug 1934 5,5 Millionen. Das war
trotz der Ehestandsdarlehen, die den Ausstieg aus dem Erwerbsleben fördern sollten, eine Steigerung
von knapp zehn Prozent. Tatsächlich war dieser Anstieg auf den vermehrten Einsatz von
unqualifizierten weiblichen Arbeitskräften zurückzuführen, die als Billiglohnarbeiterinnen besonders
begehrt waren. Dagegen war in qualifizierten Berufsgruppen der Trend gegenläufig. Das zeigt auch
die Statistik: Während bei weiblichen Selbständigen und Beamtinnen in den genannten Jahren ein
Rückgang um 14 Prozent bzw. 5,5 Prozent zu verzeichnen war, vergrößerte sich der Anteil der
Industriearbeiterinnen in derselben Zeit um über 20 Prozent, der Haushaltshilfen um 7,4 Prozent, der
weiblichen Angestellten um 18,9 Prozent. Ein deutlicher Rückgang von Frauenbeschäftigung trat vor
allem in den akademischen Berufen ein, nachdem Akademikerinnen per Gesetz aus ihren Berufen
verdrängt bzw. am Studium gehindert wurden. Frauen durften überdies erst nach dem 35. Lebensjahr
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Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
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verbeamtet werden. Sie durften weder Richterinnen noch Anwältinnen werden.
Mit dem kriegsbedingten wachsenden Arbeitskräftebedarf wurde das Beschäftigungsverbot für
Ehefrauen aufgehoben und das weibliche Pflichtjahr in Haus- und Landwirtschaft im Jahre 1938
eingeführt. Die "totale Mobilmachung" für Frauen blieb aus. Nur ledige Frauen wurden im Krieg
dienstverpflichtet. Es gab jedoch weiterhin über 5,4 Millionen nicht erwerbstätige, aber erwerbsfähige
verheiratete Frauen ohne Kinder. Die Zahl der erwerbstätigen Frauen nahm nach Kriegsbeginn
zunächst sogar ab und erreichte erst 1942 wieder den Vorkriegsstand. Das war in der hohen
Unterstützungsleistung für die Angehörigen der Soldaten begründet. Der wachsende Bedarf an
Arbeitskräften wurde überdies durch millionenfach zwangsverpflichtete ausländische Arbeitskräfte,
sogenannte Fremdarbeiter gedeckt. Auch die sozialen Trennlinien wurden bei der Frauenarbeit trotz
des schließlich verstärkten Kriegseinsatzes eingehalten: Die Dienstverpflichtung traf vor allem Frauen
aus dem Arbeiter- und Angestelltenmilieu, was zu einer wachsenden öffentlichen Kritik an der
Privilegierung der bürgerlichen Frauen führte. Nach der Wende des Krieges 1943 wurden nur etwa
900000 Frauen zusätzlich zur Arbeit verpflichtet. Aufgrund des Männermangels ließ man in den
Hochschulen Frauen wieder verstärkt zum Studium zu, ebenso wie sie auch im Schulbereich nun als
Lückenbüßerinnen dienen durften.
Frauen aus höheren sozialen Schichten wurden nicht selten von der allgemeinen Dienstverpflichtung
freigestellt. Die Ressentiments gegen diesen Personenkreis, der sich durch Scheinarbeitsverhältnisse,
Atteste und gute Beziehungen Vergünstigungen verschaffte, nahmen bei den weniger Priviliegierten
zu. Auch die verstärkten Kampagnen der nationalsozialistischen Frauenorganisationen gegen diese
Zwei-Klassen-Behandlung führten allenfalls zu der resignierten Feststellung, daß die
nationalsozialistische Frauenpolitik wenig Einfluß in NS-Partei und -Staat hatte.
Trotz ihrer 3,3 Millionen Mitglieder im Jahre 1939 blieben die NS-Frauenorganisationen unter der
"Reichsführerin" Gertrud Scholtz-Klink, die an der Spitze der "Nationalsozialistischen Frauenschaft"
sowie des "Deutschen Frauenwerkes" stand, ein kleines Häuflein von Ideologinnen, deren Kompetenz
auf soziale Betreuung und Propaganda beschränkt blieb. Das lag in dem grundsätzlichen Widerspruch
zwischen dem traditionellen Frauenbild begründet, das vom Nationalsozialismus vertreten wurde, und
den auch für eine Frauenorganisation geltenden Mobilisierungs- und Organisationsgesetzen, wollte
sie sich politisch-organisatorisch behaupten. Denn es war kaum miteinander vereinbar, daß nach der
NS-Ideologie einerseits die eigentliche Berufung von Frauen in der Erziehung von Kindern und im
Haushalt lag, daß andererseits aber die eigene Frauenorganisation öffentlich und politisch wirksam
werden sollte. Hinzu kamen die schweren Belastungen für die Frauen bei der Bewältigung der
alltäglichen häuslichen und familiären Probleme und Sorgen während des Krieges, die kaum Raum
für politische und soziale Aktivitäten ließen. Schließlich erwuchs noch ein weiterer Widerspruch aus
einer bürgerlichen Sexualmoral als Grundmuster der Familienpolitik und des sozialen Verhaltens
einerseits und dem vor allem in der SS propagierten rassistischen NS-Züchtungsdenken andererseits,
das zwischen ehelicher und nicht-ehelicher Mutterschaft keinen Unterschied mehr machte.
Die nationalsozialistische Frauenpolitik zeigt noch einmal die ganze Widersprüchlichkeit der
nationalsozialistischen Gesellschaftspolitik: den Widerspruch zwischen der Propaganda von der
Volksgemeinschaft und dem Fortbestand sozialer Barrieren und Ungleichheit; den Widerspruch
zwischen bürgerlich-traditionellen Leitbildern und rassistischen Ideologien; schließlich den
Widerspruch zwischen den frauenpolitischen Vorurteilen bzw. Vorgaben und der sich verändernden
sozialen Wirklichkeit. Denn nicht nur die Tatsache der politisch-organisatorischen Aktivitäten von
Repräsentantinnen der NS-Frauenorganisation war allen ideologischen Aussagen zum Trotz ein
kleines Stück sozialer und öffentlicher Existenzerweiterung und Mobilität. Auch die Kriegswirtschaft
und der Zusammenbruch brachten entgegen den ideologischen Prämissen des Regimes vor allem im
Bereich von Dienstleistungsberufen, in denen Frauen immer unentbehrlicher wurden, ein weiteres
Stück von sozialer Mobilität. Das gilt trotz der Tatsache, daß viele der Frauen Arbeit und Anerkennung
nur als Lückenbüßerinnen fanden und daß sie zunächst nur auf Zeit diese sozialen Rollen übernehmen
konnten.
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Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
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Das heißt aber nicht, daß die eindeutig rückwärtsgewandten frauen- und familienpolitischen
Maßnahmen des Regimes, die einen Rückschritt für die Frauen bedeuteten, übersehen werden
können. Das novellierte Ehe- und Scheidungsrecht, das 1938 eine eindeutige Verschlechterung des
Rechtsstatus der Frau bedeutete, ist nur ein Beispiel unter vielen für die rechtliche Entmündigung und
tatsächliche Schlechterstellung der Frauen. Hier kamen traditionelle Verhaltensmuster und Vorurteile,
die die Rolle des Mannes stärken sollten, zusammen mit bevölkerungspolitischen Ideologien des
Regimes, die zutiefst menschenverachtend und von einem rassistischen Materialismus geprägt waren.
Auszug aus:
Informationen zur politischen Bildung (Heft 266) - Wirtschaft und Gesellschaft unterm
Hakenkreuz
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Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
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Verfolgung und Widerstand
9.4.2005
Es war der größte Zivilisationsbruch in der Geschichte: Das nationalsozialistische Regime tötete
Millionen europäischer Juden, Sinti und Roma, Homosexuelle und andere Bevölkerungsgruppen. Mit
den Konzentrationslagern wurde der Massenmord industrialisiert. Aber es gab auch Widerstand gegen
die Verbrechen der Nazis. Er reichte vom bloßen Versuch, im KZ ein Stück der eigenen Kultur zu
erhalten, bis zu gewaltsamen Anschlägen gegen die Führung.
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229
Shoa und Antisemitismus
Von Deutsche Geschichten
11.4.2005
http://www.deutschegeschichten.de(http://www.deutschegeschichten.de)
Ein Internet-Angebot der Cine Plus Media Service GmbH & Co KG in Co-Produktion mit der Bundeszentrale für politsche Bildung/
bpb.
Stand April 2005.
Die kalt geplante und industriell betriebene Ermordung der europäischen Juden ist der größte
Zivilisationsbruch der Geschichte. Der Antisemitismus weist auf eine lange Tradition in
Deutschland und Europa zurück. Christliche Feindbilder prägten tiefe kollektive Vorurteile –
einige halten sich bis heute.
Wannseekonferenz – "Endlösung der Judenfrage"
Hitler hatte schon in seinem Bekenntnisbuch "Mein Kampf" seine Absicht kundgetan, im Falle einer
Machtübernahme eines Tages das Judentum aus dem deutschen Volksleben "auszumerzen". Nach
der Machtergreifung der Nationalsozialisten hatte er wiederholt diesen Plan als unverrückbares Ziel
bezeichnet. Infolge der ständigen Diffamierungen und Demütigungen nach Erlass der Nürnberger
Gesetze und schließlich nach dem Judenpogrom des 9. November 1938, der so genannten
Reichskristallnacht, war die Zahl der jüdischen Bürger in Deutschland und nach dem Anschluss auch
in Österreich schon vor dem Krieg durch Auswanderung, die sich zur Massenflucht ausweitete, um
mehr als die Hälfte vermindert worden. Mit Kriegsbeginn steigerten sich die Drangsalierungen jüdischer
Menschen zu brutalen Terrormaßnahmen - besonders in den besetzten Ostgebieten, wo Himmlers
berüchtigte Einsatzgruppen die jüdische Bevölkerung in Ghettos zusammentrieben und durch
Massenexekutionen dezimierten. Die letzte und höchste Steigerung der unmenschlichen
Barbarisierung begann mit dem Russlandfeldzug, den Hitler zum "Weltanschauungskrieg" gegen das
"jüdisch-bolschewistische Untermenschentum" erklärt hatte. Jetzt wurde auch der ursprüngliche Plan,
die europäischen Juden geschlossen nach Madagaskar umzusiedeln, zugunsten der Deportation in
den Ostraum aufgegeben.
Am 31. Juli 1941 wies Göring im Auftrage Hitlers den SS-Gruppenführer und Chef des
Reichssicherheitshauptamtes (RSHA), die rechte Hand Himmlers, Reinhard Heydrich, an, eine
Gesamtplanung für die "Endlösung der Judenfrage" zu erstellen. Heydrich erläuterte seinen Plan am
20. Januar 1942 den Vertretern derjenigen Reichsministerien und obersten Parteidienststellen, die in
irgendeiner Form mit dieser Aktion befasst waren. Das Protokoll dieser Wannseekonferenz entstammt
den Aufzeichnungen des SS-Sturmbannführers Eichmann. Heydrich entwickelte in bürokratischer
Tarnsprache sein Vorhaben. Die im Herrschaftsbereich der SS liegenden europäischen Länder sollten
systematisch "gesäubert" werden, die Juden "in geeigneter Weise im Osten zum Einsatz kommen",
wobei schon einkalkuliert wurde, dass dabei "zweifellos ein Großteil durch natürliche Verminderung
ausfallen wird". Der übrig bleibende Teil "wird entsprechend behandelt werden müssen, da dieser,
eine natürliche Auslese darstellend, bei Freilassung als Keimzelle eines neuen jüdischen Aufbaues
anzusprechen ist". Mit dieser grausam nüchternen Amtssprache war eindeutig die Ausrottung, auch
die der Kinder, vorprogrammiert. Schwerbeschädigte und Weltkriegsteilnehmer mit Auszeichnungen
sollten von diesen Deportationen ausgenommen und in Altersghettos eingewiesen werden. Diese
scheinheilige Maßnahme sollte nach Heydrichs Worten "mit einem Schlage die vielen Interventionen"
ausschalten. Eichmann erhielt den Auftrag, die bürokratisch-technischen Vorarbeiten zu leisten.
Niemand von den anwesenden Behördenvertretern erhob Widerspruch. Auf der Wannseekonferenz
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Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
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waren damit die organisatorisch-technischen Voraussetzungen für den größten Völkermord der
Weltgeschichte geschaffen worden.
Massenvernichtung
Bereits in den ersten Wochen nach der Machtübernahme waren von der SA und der SS politische
Gegner in so genannte »wilde« Konzentrationslager eingewiesen worden. Eines der ersten war das
von dem Münchener SS-Führer Heinrich Himmler eingerichtete KZ Dachau, im Bereich der Berliner
SA entstand das Lager Oranienburg. Kommunistische Funktionäre und Abgeordnete, auch
Sozialdemokraten und Publizisten waren die ersten Opfer, die »in Schutzhaft« genommen wurden,
wie es amtlich hieß. Konzentrationslager waren keine Erfindung der Deutschen, aber sie wurden von
den Nationalsozialisten zu einem mit höchster Perfektion funktionierenden System zur Ausschaltung
der Regimegegner und aller sonst wie unliebsamen Personen entwickelt – bis zur Vernichtung ganzer
Völker.
Karte: Orte des Terrors und der Vernichtung (http://www.bpb.de/system/files/dokument_pdf/
ohne_405LAGER_12_bpb_vers5_150dpi.pdf)
Nach der Liquidierung der SA-Führerschaft im angeblichen »Röhmputsch« wurden die
Konzentrationslager geschlossen, bald aber wieder unter der Regie der SS neu eingerichtet und
ausgebaut. Jetzt wurden neben den politischen Gegnern auch andere Personengruppen eingewiesen:
Angehörige religiöser Sekten, Ordensgeistliche, Pfarrer beider Konfessionen, Juden, Polen, Sinti und
Roma, Homosexuelle sowie »Arbeitsscheue«, und »Gewohnheitsverbrecher«. Mit Beginn des 2.
Weltkrieges wurde das KZ-System erheblich ausgebaut, zahlreiche neue Lager entstanden in den
eroberten polnischen Gebieten. Unter ihnen ist das im Juni 1940 eingerichtete KZ Auschwitz in seiner
räumlichen Ausdehnung wie in seiner Vernichtungskapazität das größte Todeslager der Weltgeschichte
geworden. Die Zahl der KZ wuchs während des Krieges auf 22 an mit 165 Außenstellen (=
Arbeitslagern). In den Lagern waren die Häftlinge hilflos der brutalen Willkür der Wachmannschaften
ausgesetzt. Durch die rücksichtslose Ausbeutung der Häftlinge in den den Lagern zugeordneten
Wirtschaftsbetrieben und Rüstungswerken mit elfstündiger Arbeitszeit bei völlig unzureichender
Ernährung, unter fortwährenden Schikanen, stundenlangen Ordnungsappellen und durch Seuchen
war die Sterblichkeit unter den Lagerinsassen außerordentlich hoch.
Seit Beginn des Krieges bestand die Mehrzahl der Inhaftierten aus Angehörigen der unterworfenen
Völker, der Anteil der deutschen Häftlinge betrug bei Kriegsende nur noch 5-10 %. Die Gesamtzahl
der KZ-Insassen stieg jetzt sprunghaft an, bis März 1942 waren es bereits 100.000, bis Januar 1945
sogar über 700.000, nicht mitgerechnet die unregistriert in den KZ Vergasten. In verstärktem Maße
wurden seit Beginn des Russlandfeldzuges in Konzentrationslagern Massenerschießungen
durchgeführt. Auf der Wannseekonferenz am 20. Januar 1942 wurde die Vernichtung des europäischen
Judentums organisatorisch festgelegt. Die dort beschlossenen Transporte der europäischen Juden in
den Osten gingen ausschließlich in die Vernichtungslager Belzec, Chelmno, Lublin-Majdanek, Sobibor,
Treblinka und Auschwitz-Birkenau. Tausende von Häftlingen sind durch die an ihnen vorgenommenen
medizinischen und nahrungsmittelchemischen Experimente ums Leben gekommen. Als sich die Front
den osteuropäischen KZ näherte, befahl Himmler den Abtransport der Häftlinge in Richtung Westen,
ließ die Vergasungen einstellen und ordnete zudem an, die bei früheren Massenerschießungen
verscharrten Leichen auszugraben und zu verbrennen. Auf den Rücktransporten sind in den letzten
Monaten noch einmal unzählige Häftlinge durch völlige Erschöpfung und um sich greifende Seuchen
gestorben. Man schätzt die Zahl der von den Nationalsozialisten insgesamt in den KZ Inhaftierten auf
7,2 Millionen, von denen nur etwa 500.000 überlebten.
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Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
231
Antisemitismus
Als die Überlebenden des Holocaust aus den Lagern oder den Verstecken kamen, glaubten viele,
dass das Ausmaß der Verbrechen jedem Antisemitismus den Boden entziehen und sich, wie Heinz
Galinski, bis 1992 Vorsitzender des Zentralrates der Juden in Deutschland, es formulierte, "eine Welt
auftun (würde), in der Menschenliebe und Verständnis unter den Völkern herrschen werde". Diese
Erwartung hat sich nicht erfüllt, wenngleich heute in den europäischen Ländern und in den USA im
Vergleich zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts der Antisemitismus in der Bevölkerung deutlich
abgenommen hat und es auch keine Diskriminierungen von staatlicher Seite mehr gibt. Dennoch sehen
sich Juden in vielen Ländern Vorurteilen und Übergriffen ausgesetzt. In Deutschland haben
antisemitische Straftaten in den neunziger Jahren im Vergleich zu den Jahrzehnten davor erheblich
zugenommen.
Woher kommen die Vorurteile gegen Juden? Weshalb halten sich antijüdische Stereotype so
hartnäckig, obwohl man ihnen nun jahrzehntelang in der Schule und der Öffentlichkeit
entgegengetreten ist und in vielen europäischen Ländern nur noch wenige Juden leben? Welche Rolle
spielt dabei, dass negative Äußerungen über Juden in der Öffentlichkeit tabuisiert sind, dass das
Thema "Juden" von vielen wegen des Holocaust als belastet und heikel empfunden und häufig
gemieden wird? Gerade in Deutschland, wo Schuld- und Schamgefühle begreiflicherweise einem
normalen, gelassenen Verhältnis zwischen Deutschen und Juden entgegenstehen, eignen sich
antijüdische Bemerkungen, Witze oder gar Übergriffe besonders treffsicher als Mittel der
Tabuverletzung und Provokation. Insofern gibt es in Deutschland und Österreich auch einen
spezifischen "Antisemitismus wegen Auschwitz", der sich gegen die Juden wendet, weil sie als
diejenigen gesehen werden, die die Deutschen permanent schmerzlich an die NS-Verbrechen erinnern.
Dieser "sekundäre Antisemitismus" greift auf alte antijüdische Vorurteile und Stereotypen zurück und
aktualisiert sie. Deshalb muss man, um den heutigen Antisemitismus in seinen verschiedenen
Ausprägungen zu verstehen, auf die Geschichte der Judenfeindschaft zurückkommen, in der ein
negatives Bild des Juden geprägt wurde, das ein zäher Bestandteil unserer kulturellen Überlieferung
geworden ist. Hier liegt die große Gefahr bei der Weitergabe von Stereotypen, denn auch wenn man
sie nicht teilt, kennt man die negativen Urteile über die Juden. Die Judenfeindschaft besitzt mehrere
historische Schichten, wobei die älteren Vorurteilsschichten in der nächsten Phase nicht "vergessen",
sondern nur von neuen überlagert wurden.
Christlicher Antijudaismus
Die erste Schicht ist die religiös motivierte Ablehnung der Juden durch die Christen, die als abgespaltene
jüdische Sekte seit dem ersten Jahrhundert n. Chr. in Konkurrenz zum Judentum standen, das in
seiner Mehrheit die christliche Lehre ablehnte. Aus dieser Situation von Nachfolge und Konkurrenz
entstand eine bereits im Neuen Testament spürbare antijüdische Tradition, die die Juden als "Volk des
alten Bundes" aus dem neuen Gottesbund ausschloss. Im Zentrum der judenfeindlichen Vorwürfe
stand die Überbetonung des Anteils der Juden an der Leidensgeschichte Jesu in den Evangelien
(Matthäus 27,25: "Sein Blut komme über uns und unsere Kinder"; Markus 15,6–15; Lukas 23,13–25),
die im Vorwurf des Christusmordes gipfelte: "Welche auch den Herrn Jesum getötet haben, und ihre
eigenen Propheten, und haben uns verfolgt" (1 Thessalonicher 2,15). Weiter findet sich eine negative
Zeichnung der jüdischen Pharisäer und Schriftgelehrten als Heuchler (Matthäus 23,13–29) und
Verfechter einer nur äußerlichen Frömmigkeit (Lukas 16,15). Im Johannes-Evangelium werden die
Juden schlechthin zu Feinden der Christen erklärt und beschuldigt, sie hätten "den Teufel zum Vater"
(8,23 und 8,40–44). Damit haben wir zentrale Bestandteile des religiösen Vorurteils beisammen:
Verwerfung der Juden durch Gott, Vorwurf des Christusmordes und der Christenfeindlichkeit. Negative
Stereotype aus dem neuen Testament reichen bis in den heutigen Sprachgebrauch hinein: Wir nennen
einen Heuchler immer noch "Pharisäer". Judas ist bis heute die Symbolfigur des Verräters, und Juden
wurden in der Geschichte häufig des Verrats an ihren "Gastvölkern" bezichtigt.
Der Abschluss der Christianisierung Europas, die innerkirchlichen Reformbewegungen, insbesondere
die Missionsbestrebungen der Bettelorden und die Wendung gegen abweichende christliche "Irrlehren"
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Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
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(so genannte Ketzer) und Feinde des Christentums (Kreuzzüge), verbreiteten die Judenfeindschaft
über den Kreis der Theologen hinaus unter den Laien, sodass Vorurteile gegen Juden zum festen
Bestandteil der erstarkenden Volksfrömmigkeit wurden. Im 13. Jahrhundert gewannen mit der
Verkündigung der Transsubstantiationslehre, die annahm, dass sich beim Abendmahl Brot und Wein
real in den Leib und das Blut Christi verwandelten, die geweihte Hostie und das Blut zentrale religiöse
Bedeutung. Christen fürchteten nun, Juden würden als "Feinde Christi" die Hostie durchbohren, um
damit den Leib Jesu erneut zu verletzen. Dieser Vorwurf der Hostienschändung hat häufig zu
antijüdischer Gewalt geführt. Damals kam auch die Befürchtung auf, die Juden würden das Blut von
Christen zu rituellen Zwecken benötigen und deshalb Christenknaben rauben oder kaufen, um sie
dann zu ermorden. Obwohl diese Vorstellung im Widerspruch zur ausgeprägten Abneigung gegen den
Genuss von Blut im Judentum stand (Das Schächtungsgebot sieht beispielsweise das völlige Ausbluten
des geschlachteten Tieres vor. Blutig wird das Fleisch als unrein angesehen.) und auch die
Kirchenführer ihr widersprachen, verbreitete sich diese so genannte Ritualmordlegende in ganz Europa
und hat bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein immer wieder Anlass zu antijüdischen Übergriffen gegeben.
Die Vorstellung, dass Andersgläubige Kinder misshandeln und zu rituellen Zwecken opfern, ist
historisch und geographisch weit verbreitet. Diese Bedrohungsängste, zu denen – etwa angesichts
der sich rasch ausbreitenden Pest in der Mitte des 14. Jahrhunderts – auch die Angst vor
Brunnenvergiftungen gehört, machten die Juden zu einer dämonisierten Minderheit, die sich angeblich
gegen die Christen verschworen hatte.
Soziale Stereotype
Die geschilderte Entwicklung seit dem 13. Jahrhundert führte zu einer deutlichen Verschlechterung
der gesellschaftlichen Stellung der Juden. Kirchlicherseits wurden sie durch die Bestimmungen des
IV. Laterankonzils von 1215 zu einer sozial ausgegrenzten Gruppe (Kennzeichnung der Kleidung,
Ausschluss von öffentlichen Ämtern). Ihnen wurde die Zulassung zu den sich als christliche
Bruderschaften verstehenden Zünften versperrt. Dies zwang die Juden zu einer ökonomischen
Spezialisierung auf Handel und Geldleihe, die den Christen aus religiösen Gründen verboten war. Als
Finanziers der Feudalherren und der Städte und als Großkaufleute galten sie als "reiche Wucherer",
was sie zu einer lohnenden Beute in politischen Konflikten und zum Ziel von Übergriffen machte. Vor
allem ihre Schuldner hatten ein Interesse, mit den Juden auch zugleich ihre Schulden loszuwerden.
Mit der Lockerung des kirchlichen Wucherverbots (das heißt für die Bereitstellung von Kapital Zinsen
zu erheben) wurden Juden durch ihre christlichen Konkurrenten auf die Geldleihe für die ärmeren
Schichten und die Hehlerei abgedrängt und damit selbst zu verarmten und verfemten Außenseitern.
Auch wenn keineswegs alle Juden zur reichen Schicht der Finanziers gehörten und die Juden später
überwiegend eine verarmte Gruppe darstellten, blieb das Bild des "reichen Juden" als Stereotyp haften.
Die berufliche Spezialisierung hielt sich teilweise bis ins 20. Jahrhundert hinein, so dass sich das
Vorurteil festigte, das die Juden mit Geld(-gier), Kapitalismus und Ausbeutung verband. Man sprach
Ende des 19. Jahrhunderts von der "Goldenen Internationale" und verknüpfte dabei die Vorstellung
einer großen Finanzmacht der Juden mit dem altbekannten Vorwurf der Weltverschwörung. Bis ins
19. Jahrhundert hinein bildeten die Juden eine von der Mehrheitsgesellschaft verachtete, randständig
lebende Gruppe mit einem hohen Grad an Selbstverwaltung und einer sehr kleinen und reichen
Oberschicht von Hofjuden, die primär mit wirtschaftlichen Aufgaben betraut waren (zum Beispiel
Hofbankiers).
Im Laufe der Judenemanzipation, das heißt ihrer allmählichen rechtlichen und sozialen Integration in
die christliche Gesellschaft im Zuge der Aufklärungsbewegung, engagierten sich Juden besonders in
den politisch fortschrittlichen Bewegungen und Parteien (Liberalismus, später Sozialismus und
Kommunismus), die sich für die Gleichstellung der Juden einsetzten und weniger antijüdisch waren
als christlich-konservative und völkisch-nationalistische Parteien und Organisationen. Aus diesem
politischen Engagement einer intellektuellen Minderheit entwickelte sich das Stereotyp des zu
Radikalismus und Umsturz neigenden Juden. Dieser Vorwurf traf besonders die linken und liberalen
Parteien der Weimarer Republik, die von ihren Gegnern als "Judenrepublik" verunglimpft wurde. Die
Nationalsozialisten sprachen dann vom "jüdischen Bolschewismus", um damit nach der russischen
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Oktoberrevolution die in der deutschen Bevölkerung verbreitete Furcht vor einem kommunistischen
Umsturz für ihren Antisemitismus zu instrumentalisieren.
Rassebegriff
Der Begriff "Rasse" wurde in der Anthropologie seit Ende des 17. Jahrhunderts beschreibend als
naturgeschichtlicher Begriff verwendet, um Gruppen von Tieren und Menschen mit gemeinsamen
äußeren Merkmalen zu kategorisieren; doch stuften bereits die frühen Klassifikationsschemata
Menschen in höhere und niedere Arten ein. An diese Rassentypologien knüpfte der französische Graf
Joseph Arthur de Gobineau (1816–1882) in seinem geschichtsphilosophischen "Essai sur l'inégalité
des races humaines" (1853/55) an, in dem er die Ungleichheit von Menschenrassen postulierte und
soziale Schichtung auf Rassenunterschiede und den angeblichen neuzeitlichen "Kulturverfall"" auf die
fortschreitende Rassenmischung zurückführte. Die "arische weiße Rasse" verkörperte für ihn den
Gipfel kultureller und moralischer Entwicklung, doch sah er ihre Überlegenheit durch Rassenmischung
bedroht. Mit diesem Ariermythos, der Betonung des Blutes und der Unterscheidung in niedere und
edlere Rassen hatte Gobineau ein Denkmodell für den rassistischen Antisemitismus vorgegeben.
Einen neuen Gedanken führte der Sozialdarwinismus, eine im Anschluss an Charles Darwin (1809–
1882) entstandene sozialphilosophische Strömung ein, indem er dessen Entwicklungstheorie der
natürlichen Zuchtwahl von der Pflanzen- und Tierwelt auf die menschliche Gesellschaft übertrug. Die
Darwinsche Anpassungstheorie vom "survival of the fittest" wurde zum "Kampf ums Dasein" zwischen
"höheren" und "niederen" Rassen umgedeutet.
Houston Stewart Chamberlain verband in seinem weit verbreiteten Buch "Die Grundlagen des 19.
Jahrhunderts" (1899) den Mythos vom reinrassigen "Arier" als Kulturträger mit dem Gedanken des
Rassenkampfes, wonach die "Arier" der minderwertigen "Mischlingsrasse" der Juden in einem
historischen Endkampf gegenüberstünden, in dem es nur Sieg oder Vernichtung geben könnte. Seit
den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts wurde so der vorher religiös oder ökonomisch begründete
Antisemitismus zur "Rassenfrage" erklärt, wobei der vage Rassenbegriff eine Reihe anderer Begriffe
wie Volk, Nation, Arier, Deutsch- und Germanentum umschloß. Die nationalsozialistische
Rassentheorie setzte diese Tradition fort. Sie lehnte eine Vermischung der Rassen ab. Entsprechend
wurden sexuelle Kontakte von "Ariern" und Juden ab 1935 als "Blutschande" strafrechtlich verfolgt.
Das vulgärantisemitische NS-Blatt "Der Stürmer" charakterisierte die Juden als zersetzende Elemente
und als sexuelle Bedrohung und stufte sie rassentypologisch als "niedere Rasse" ein. Andererseits
galten die Juden als gefährlichster Gegner im weltgeschichtlichen Endkampf ("Gegenrasse"), wurden
sie doch – unlogischerweise – als die "Drahtzieher" sowohl hinter dem amerikanischen Kapitalismus
("Wall Street") wie auch hinter dem sowjetischen Kommunismus ("jüdischer Bolschewismus") vermutet.
In der Geschichte sind also negative Einstellungen zu Juden aus ganz unterschiedlichen Gründen
entstanden und weiter vermittelt worden: Die früheste Schicht bildet die religiöse Feindschaft des
Christentums gegenüber dem Judentum. Die (von der christlichen Gesellschaft erzwungene)
besondere Berufsstruktur der Juden seit dem Mittelalter führt auf eine zweite Schicht: Die ökonomisch
begründete Judenfeindschaft, in der die Juden als Wucherer, Betrüger, später als ausbeuterische
Kapitalisten und Spekulanten gebrandmarkt wurden. Damit eng verbunden ist eine weitere Dimension,
nämlich die Vorstellung von den Juden als einer mächtigen Gruppe, die mit ihrem Geld weltweit die
Politik bestimmt. Hierher gehört das Stereotyp des "Drahtziehers", der Glaube an eine jüdische
Weltverschwörung und Pressemacht. Eine weitere Schicht bilden rassistische Vorstellungen über den
jüdischen Körper, also die vom schwachen, unsoldatischen (Stereotyp des "Drückebergers"),
hässlichen, gebückten und hakennasigen Juden (was die jüdischen Frauen angeht, so dominierte das
exotische Bild der "schönen Jüdin"), zum anderen die Fantasien vom sexuell bedrohlichen Juden. Alle
diese Dimensionen des antijüdischen Vorurteils sind bis in die Gegenwart mehr oder weniger wirksam
geblieben und finden sich heute in aktualisierter Form wieder.
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Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
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Wandel des Judenbildes
Trotz des Holocaust änderte sich das antijüdische Stereotyp zunächst wenig. Als im Jahre 1951
Studenten der Freien Universität Berlin in einer Studie zu "Nationalen Vorurteilen" Völkern
Eigenschaften aus einer Liste von über 300 Merkmalen zuordnen sollten, fanden sich die genannten
Stereotype wieder: Es dominierten abwertende Kennzeichnungen des ökonomischen und
sozialethischen Verhaltens (Handelsvolk, materiell eingestellt, Schacherer, scheut körperliche Arbeit,
raffgierig, Ausbeuter), gefolgt von Begabungen (gute Ärzte, Wissenschaftler, intelligent, redegewandt,
sprachbegabt, musikalisch). Diese positiven Stereotype sind allerdings als ambivalent anzusehen, da
positive Eigenschaften bei einem "Feind" natürlich gefährlich sind: Dies ist zum Beispiel daran zu
erkennen, dass Juden einerseits als intelligent (wie die Deutschen sich selbst sehen), andererseits
als raffiniert und schlau charakterisiert wurden. Das rassistische Körperbild lebte in dieser Zeit ebenfalls
fort (krumme Nase, unsoldatisch), ebenso wie die Vorstellung eines engen Zusammenhalts der Gruppe
("rassebewusst, Zusammengehörigkeitsgefühl, familiengebunden"). Vom historisch überlieferten Bild
fehlten die Dimensionen des religiösen Konflikts und der Politik (radikal, kommunistisch).
Eigenschaften, die exklusiv nur einem Volk zugeschrieben werden, spiegeln besonders gut das
Stereotyp dieser Gruppe. Demnach werden die Juden als "krummnasig, raffiniert, schlau, raffgierig
und heimatlos" bezeichnet, als "Schacherer und Ausbeuter mit einem großen Zusammengehörigkeitsgefühl".
Es wird damit ein deutlich negativ akzentuiertes Bild einer Gruppe entworfen, die nicht zur
Mehrheitsgesellschaft dazugehört (heimatlos), aber untereinander eng zusammenhält, und die andere
Nationen ausbeutet. Zur Einschätzung der Beziehung zwischen zwei Gruppen ist der Vergleich
zwischen dem Selbst- und dem Fremdbild aufschlussreich. Die deutschen Studenten des Jahres 1951
schrieben Deutschen und Juden zwar bestimmte Begabungen ("Intelligenz, sprachbegabt,
Wissenschaftler") gleichermaßen zu, aber wesentliche Züge des deutschen Selbstbildes
("pflichtbewusst, sauber, fleißig, gründlich, zuverlässig, anständig, gemütlich, aber auch tapfer, guter
Soldat") fehlten bei den Angaben zu den Juden, manche Eigenschaften, die beide Gruppen
charakterisieren sollten, standen sogar in Opposition: "heimatliebend – heimatlos; militaristisch/der
beste Soldat – unsoldatisch; Idealist – materiell eingestellt; Arbeitstier – scheut körperliche Arbeit".
Vergleichen wir nun diese frühen Ergebnisse mit der Eigenschaftsliste einer repräsentativen
Meinungsumfrage aus dem Jahre 1987 (wiederholt 1993; ermittelt mit dem Verfahren der
Faktorenanalyse), zeigen sich gegenüber 1951 sowohl Konstanz wie Veränderungen, die sich in sechs
Dimensionen zusammenfassen lassen.
•
In dem Vorstellungskomplex der "jüdischen Weltverschwörung" werden die Juden als
"machthungrig, verschwörerisch, unheimlich, rücksichtslos, hinterhältig und politisch radikal"
betrachtet. Im Durchschnitt schreiben allerdings nur circa 15 Prozent der Befragten den Juden
diese Eigenschaften zu. Diese Verschwörungstheorie ist heute vor allem in der arabischen Welt
verbreitet. Die Antisemiten in Deutschland machen "jüdischen Einfluss" dafür verantwortlich, dass
es nicht gelingt, "einen Schlussstrich unter die Vergangenheit zu ziehen". Hier werden
gesellschaftlich nicht zu steuernde Prozesse öffentlicher Diskussion und Erinnerung auf die
vermeintliche (Presse-)Macht einer Gruppe zurückgeführt. Diese Personalisierung von sozialen
Prozessen ist typisch für vorurteilshaftes Denken.
•
In der deutschen Bevölkerung werden die Juden am häufigsten als fest zusammenhaltende
religiöse Gruppe gesehen (70 Prozent). Ähnlich wie 1951 wird dieses Festhalten an Tradition und
Religion nicht (mehr) negativ bewertet, der alte christlich-jüdische Gegensatz scheint an
Bedeutung verloren zu haben. Dies liegt an dem relativen Bedeutungsverlust von Religion
(Säkularisierung), an der veränderten Haltung der Kirchen zum Judentum sowie daran, dass mit
dem Islam (in seiner fundamentalistischen Variante) ein neues Feindbild entstanden ist.
•
Sozialethische Verhaltensstandards wie "Ehrlichkeit, Bescheidenheit, Treue" und so genannte
Sekundärtugenden wie "Ordnung, Sauberkeit, Fleiß" bewerten im Durchschnitt nur 20 Prozent
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Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
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der Deutschen als typische Eigenschaften von Juden. Vor allem Ehrlichkeit und Treue werden mit
elf Prozent nur selten zugeschrieben.
•
Das traditionelle Bild vom "hässlichen und feigen" Juden, der "schwächlich und unsoldatisch" ist,
hat sich fast völlig verloren: Nur vier Prozent schreiben Juden diese Eigenschaften zu. Dies zeigt,
dass es durchaus Veränderungen in der Vorurteilsstruktur gibt, wenn Zuschreibungen keinerlei
empirischen Anhaltspunkt mehr haben und das Urteil der Wahrnehmung zu krass widerspricht.
Das Bild der israelischen Kibbuzim und der erfolgreichen israelischen Armee dürfte das alte Bild
überlagert haben. Ein weiterer Grund dürfte sein, dass die mittelalterliche religiöse Dämonisierung
des Juden, dessen Bosheit sich in einem abstoßenden Äußeren zeigen musste, in der modernen
Welt ihre Funktion verloren hat.
•
Das traditionell dominante ökonomische Stereotyp des geschäftstüchtigen Juden bildet bis heute
den Kern des antijüdischen Vorurteils: 43 Prozent der befragten Deutschen stimmen diesem
negativen Bild zu. Der Grund dürfte darin liegen, dass gerade in den deutsch-jüdischen
Beziehungen nach 1945 die Frage der Entschädigung für verfolgungsbedingte gesundheitliche
Schäden und materielle Verluste (so genannte Wiedergutmachung) eine zentrale Rolle gespielt
hat. Dies hat bei nicht wenigen Deutschen das Vorurteil "bestätigt", es ginge "den Juden" bei der
Erinnerung an den Nationalsozialismus und den Holocaust vorrangig um ökonomische Vorteile.
•
Neu gegenüber 1951 hinzugekommen ist das Vorurteil vom nachtragenden Juden. Es spiegelt
eine wichtige Facette im deutsch-jüdischen Verhältnis wider, nämlich die Tatsache, dass die Juden
als Mahner an die Verbrechen der NS-Vergangenheit gesehen werden, die angeblich nicht
vergessen und vergeben wollen. Fast ein Drittel der befragten Deutschen (29 Prozent) hielt die
Juden für "empfindlich, nachtragend und unversöhnlich". Dieses neue Bild kann allerdings auf
einem älteren und immer noch wirksamen religiösen Stereotyp aufbauen, nämlich dem des
"rachsüchtigen" jüdischen Gottes ("Rache bis ins siebte Glied"), dem der christliche Gott der Liebe
und Vergebung entgegengesetzt wird.
Antisemitismus heute
Wie ist es nun zu erklären, dass bestimmte Dimensionen des antijüdischen Vorurteils noch von
vielen Deutschen geteilt werden und andere nicht mehr, obwohl nichtjüdische Deutsche mit Juden
im Alltagsleben kaum je zusammentreffen? Die Erklärung liegt darin, dass sich vor allem die
Vorurteile gehalten haben, die sich mit neuen Inhalten haben füllen lassen, die also die alten
Vorurteile scheinbar "bestätigen". Diese Inhalte ergeben sich primär aus den Problemen, die die
Deutschen mit der nationalsozialistischen Vergangenheit haben. Anders als bei den Vorbehalten
gegen Ausländer gibt es gegenüber den Juden in Deutschland kaum Gefühle einer ökonomischen
Konkurrenz oder einer kulturellen Bedrohung durch eine große Zahl von Zuwanderern; auch
Rassismus ist hier ohne Bedeutung. Umfragen zeigen, dass die soziale Distanz zu Juden heute
sehr gering ist. Auch der religiöse Gegensatz zwischen Judentum und Christentum spielt weder
in den Kirchen noch in der Bevölkerung eine wesentliche Rolle. Die Motive des Antisemitismus
liegen vorwiegend in dem Schuldgefühl gegenüber den Juden, das in verschiedener Weise
abgewehrt wird:
•
Man schreibt den Juden eine Mitschuld an ihrer Verfolgung zu: Dies tun seit fünf Jahrzehnten
circa 20 Prozent der deutschen Bevölkerung, die glauben, "dass die Juden mitschuldig sind, wenn
sie gehasst und verfolgt werden". Hier haben wir es mit der Denkweise "Wo Rauch ist, ist auch
Feuer" zu tun, die aus der Tatsache, dass Juden in der europäischen Geschichte häufig verfolgt
wurden, schließt, dafür müsse es Gründe im Verhalten der Juden gegeben haben. Es ist deshalb
für die Entkräftung von Vorurteilen wichtig, sich historisch die gesamte Breite der christlichjüdischen Beziehungen zu vergegenwärtigen und diese nicht auf eine reine Konflikt- und
Verfolgungsgeschichte zu reduzieren.
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•
Man unterstellt den Juden, dass sie ihre Leiden unter der NS-Verfolgung heute dazu benutzen,
um möglichst hohe Summen an "Wiedergutmachungs"-Geldern zu kassieren. Dieses Vorurteil
verbindet sich mit dem traditionellen Bild des "geldgierigen, betrügerischen und ausbeuterischen
Juden". Eng verbunden damit ist die Vorstellung vom großen Einfluss, den Juden ausüben, um
die Deutschen zu weiteren Zahlungen zu zwingen. Auch hier kann sich das neue Motiv mit dem
alten Vorurteil von der "jüdischen Weltmacht" verbinden, das heute ebenfalls noch von vielen
Deutschen vertreten wird. Der Vorwurf, die Juden würden ihren Einfluss geltend machen, um die
Deutschen auszubeuten, ist ein klassisches Beispiel für die im Antisemitismus generell zu
beobachtende Täter-Opfer-Umkehr.
•
Die Juden werden als "Störenfriede" gesehen, die durch ihr Beharren auf der Erinnerung an den
Holocaust – der Schriftsteller Martin Walser sprach 1998 öffentlich von der "Moralkeule
Auschwitz" – permanent an eine Periode deutscher Geschichte gemahnen, die viele gern
vergessen würden: Jeweils zwei Drittel der Deutschen würden am liebsten "einen Schlussstrich
unter die NS-Vergangenheit" ziehen. Auch hier verbindet sich ein aktuelles Unbehagen mit alten,
aus dem Antijudaismus stammenden Negativurteilen über die "alttestamentarische
Vergeltungssucht" der Juden.
•
Durch die Gründung des jüdischen Staates ist eine neue Vorurteilsdimension hinzugekommen,
indem man nun die einheimischen Juden, die deutsche Staatsbürger sind, für die Politik Israels
verantwortlich macht. Hier treffen wir auf ein weiteres wichtiges Motiv des heutigen Antisemitismus
unter Deutschen: Die eigene Schuld an der Verfolgung der Juden soll verkleinert werden, indem
man sie gegen Menschenrechtsverletzungen der Israelis im Nahostkonflikt aufrechnet. 17 Prozent
waren 1987 der Meinung, dass das, "was der Staat Israel heute mit den Palästinensern macht,
im Prinzip auch nichts anderes ist als das, was die Nazis im Dritten Reich mit den Juden gemacht
haben" (33 Prozent unentschieden, 50 Prozent stimmten nicht zu).
•
Mit der Zuwanderung von Aussiedlern, Osteuropäern und Muslimen kommen allerdings auch
andere "Spielarten" des Antisemitismus nach Deutschland, sodass auch religiöse Formen des
Vorurteils (Antijudaismus) und vor allem ein antizionistisches Feindbild, gespeist durch den
arabisch-israelischen Konflikt, anzutreffen sind.
"Zigeuner" und Juden in der Literatur nach 1945
Die Nachkriegsliteratur hat nur wenige "Zigeuner"- und Judenfiguren hervorgebracht; erkennbar
sind sie an ihren meist stereotypen und grob vereinfachenden Charakterisierungen. Der "Zigeuner"
und der Jude sind gängige Projektionsfiguren für das "Andere" oder das unverstandene "Fremde"
einer Gesellschaft, wobei die ihnen zugeschriebenen Merkmale zu den typischen Eigenschaften
ihres ganzen Volkes stilisiert werden. Ungleich dem Bild des "Zigeuners", dessen Legendenvorrat
in der Literatur nach 1945 unverändert geblieben ist, existieren nach dem Holocaust neben den
alten Stereotypen der "schönen Jüdin" und dem "gewissenlosen und geizigen Juden" auch neue.
Neu an den zunächst wenigen literarischen Judenbildern seit 1945 ist die Reduktion des Juden
auf ein schutz- und wehrloses Opfer, wofür Bruno Apitz' erfolgreicher Roman "Nackt unter Wölfen"
(1958) steht. Im Mittelpunkt des Romans steht ein kleiner jüdischer Junge, der von Auschwitz
nach Buchenwald geschmuggelt und dort von kommunistischen Häftlingen versteckt und gerettet
wird. Die Konzentration auf ein Kinderschicksal ist ein beliebter Kunstgriff, bei dem, weil das
Grauen "verkleinert" wird, die Sympathie und die Identifikation der Lesenden gewiss scheint. Nicht
das Ausmaß der Vernichtung ist zentral und drängt ins Bewusstsein, sondern die Tatsache, dass
ein Kind leiden muss. Schwieriger ist das Werk von Alfred Andersch zu bewerten, der wie kein
anderer Nachkriegsautor Judenfiguren zum Thema gemacht hat. In seinem Roman "Efraim" (1967)
führt er einen deutsch-jüdischen Intellektuellen als Ich-Erzähler ein, der – vom frühen Exil und der
Ermordung der Eltern in Auschwitz geprägt – nach Berlin kommt, um nach seiner Kinderfreundin
Esther zu suchen. Während Efraim zu Beginn von Esthers Tod nahezu überzeugt ist, hat er am
Ende Grund zur Annahme, dass sie bei Nonnen überlebt hat. Einerseits zeigt sich in Anderschs
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jüdischer Figur ein Hang zur Bagatellisierung der Ereignisse – als jüdische Figur darf Efraim
ungestraft über die Zufälligkeit des Holocaust räsonieren –; auch lässt sein Buch eine Faszination
an der fragwürdigen Verbindung von "Kitsch und Tod" (Saul Friedländer) erkennen. Andererseits
beschwört er die antisemitische Legendenfigur des "ewigen Juden", um dessen mythisches
Schicksal als unzeitgemäßes Gegenmodell zu seinem differenziert dargestellten und sehr
lebendigen Ich-Erzähler darzustellen.
Assoziative Wirkungen
Im Hinblick auf Stereotype in der Literatur ist zu unterscheiden zwischen der Intention des Autors
und dem von ihm ungewollt zum Ausdruck kommenden Vorrat unreflektierter Bilder. Durch die
blinde Übernahme von Legenden und Vorurteilen hat die Belletristik mit dazu beigetragen, dass
aus Sinti und Roma "Zigeuner" und dass Juden holzschnittartig dargestellt wurden. Stereotype
"Zigeuner" bilder treten in zwei mitunter auch zusammenwirkenden Varianten auf:
1. Das negative Klischee, das dem "Zigeuner", wie in Schnurres Erzählung "Jenö war mein Freund",
in der Kriminalisierung eine fundamentale Andersartigkeit unterstellt. Das traditionelle Bild des
zwanghaft stehlenden Zigeuners ohne Unrechtsbewusstsein löst die Assoziationskette aggressiv,
dreckig, asozial, arbeitsscheu, betrügerisch, gefährlich, kriminell aus.
2. Das überwiegend in Schauerromanen und Abenteuergeschichten, aber auch in Jugendbüchern
nach 1945 ("Mond, Mond, Mond" von Ursula Wölfel) greifende positive Klischee, das romantischverklärend mit der Vorurteilsstruktur der "Zigeuner" als freien, stolzen, wilden, lebensfrohen,
sinnlichen Genüssen ergebenen Menschen operiert. Die "positive" Kennzeichnung ist ebenso wie
die negative ein Indiz für das Fehlen jeder Selbstverständlichkeit im Umgang mit den Figuren und
birgt durch den Abbau an Komplexität die Gefahr einer Verklärung der Umstände zum Sozial- oder
Milieukitsch.
Obwohl "Zigeuner-" und Judenbildern unterschiedliche Feindvorstellungen zugrunde liegen – der
"Zigeuner" hat in der Personifikation von "Natur" keinen Anteil am Prozess der Zivilisation, während
der Jude eben diesen Prozess, Modernität und Modernisierung, verkörpert – gilt das negative wie
das positive Klischee vom Zigeuner gleichermaßen für stereotype Judenfiguren.
Jenseits von Typisierungen
Eine wichtige Voraussetzung zur Vermeidung von Stereotypen ist die Einsicht, dass von außen
herangetragene Typisierungen sehr viel mehr über die Mehrheitsgesellschaft als über leibhaftige
"Zigeuner" und Juden aussagen. Bei Autoren wie Johannes Bobrowski ("Levins Mühle", 1964),
Erich Hackl ("Abschied von Sidonie", 1989) und Winfried Georg Sebald ("Die Ausgewanderten",
1992) bildet diese Einsicht einen Teil ihres Selbstverständnisses. In ihrer literarischen Annäherung
an "Zigeuner" und Juden hinterfragen sie das Arsenal der Mythen und Stereotype, indem sie der
heiklen Tradition an Vorurteilen den Spiegel vorhalten. Diese Beispiele erschöpfen sich nicht in
der Aufhebung eines Informationsdefizits im Hinblick auf Sinti, Roma und Juden, sondern bieten
in ihrer Darstellung und Bewertung von Problemen, Konflikten und Auswegen auch eine Form der
Informationsverarbeitung jenseits traditioneller Stereotype an. Daneben können literarische
Selbstentwürfe der Betroffenen hartnäckige Legenden korrigieren. Erinnerungen wie Ceija Stojkas
"Wir leben im Verborgenen: Erinnerungen einer Rom-Zigeunerin" (1988) und Marcel ReichRanickis "Mein Leben" (1999) halten dem Stereotyp die Vielfalt individueller Erfahrungen entgegen
und verhindern, indem die eigene Geschichte selbst erzählt wird, die Degradierung zum Objekt.
Eine Vorstellung darüber, was eine jüdische Familie zur Zeit des dritten Reiches mitmachen musste
und wie ihre Mitglieder systematisch dezimiert wurden, zeigt das Beispiel der Familie Chotzen
http://www.chotzen.de (http://www.chotzen.de)
Quelle: Deutsche Geschichten
http://www.deutschegeschichten.de (http://www.deutschegeschichten.de)
Ein Internet-Angebot der Cine Plus Media Service GmbH & Co KG in Co-Produktion mit der
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Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
Bundeszentrale für politsche Bildung/bpb.
Stand April 2005.
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Ein Tag in meinem Leben
Von Marcel Reich-Ranicki
12.9.2013
Geb. 1920; Literaturkritiker.
Am 27. Januar 2012 hielt Marcel Reich-Ranicki eine Rede zum Gedenktag für die Opfer des
Nationalsozialismus. Doch nicht als Historiker sprach er, sondern als ein Zeitzeuge: als
Überlebender des Warschauer Gettos.
Marcel Reich-Ranicki (© picture-alliance/dpa)
Ich soll heute hier die Rede halten zum jährlichen Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus.
Doch nicht als Historiker spreche ich, sondern als ein Zeitzeuge, genauer: als Überlebender des
Warschauer Gettos. 1938 war ich aus Berlin nach Polen deportiert worden. Bis 1940 machten die
Nationalsozialisten aus einem Warschauer Stadtteil den von ihnen später sogenannten "jüdischen
Wohnbezirk". Dort lebten meine Eltern, mein Bruder und schließlich ich selbst. Dort habe ich meine
Frau kennengelernt.
Seit dem Frühjahr 1942 hatten sich Vorfälle, Maßnahmen und Gerüchte gehäuft, die von einer
geplanten generellen Veränderung der Verhältnisse im Getto zeugten. Am 20. und 21. Juli war dann
für jedermann klar, dass dem Getto Schlimmstes bevorstand: Zahlreiche Menschen wurden auf der
Straße erschossen, viele als Geiseln verhaftet, darunter mehrere Mitglieder und Abteilungsleiter des
"Judenrates". Beliebt waren die Mitglieder des "Judenrates", also die höchsten Amtspersonen im Getto,
keineswegs. Gleichwohl war die Bevölkerung erschüttert: Die brutale Verhaftung hat man als ein
düsteres Zeichen verstanden, das für alle galt, die hinter den Mauern lebten.
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Am 22. Juli fuhren vor das Hauptgebäude des "Judenrates" einige Personenautos vor und zwei
Lastwagen mit Soldaten. Das Haus wurde umstellt. Den Personenwagen entstiegen etwa fünfzehn
SS-Männer, darunter einige höhere Offiziere. Einige blieben unten, die anderen begaben sich forsch
und zügig ins erste Stockwerk zum Amtszimmer des Obmanns, Adam Czerniaków.
Im ganzen Gebäude wurde es schlagartig still, beklemmend still. Es sollten wohl, vermuteten wir,
weitere Geiseln verhaftet werden. In der Tat erschien auch gleich Czerniakóws Adjutant, der von
Zimmer zu Zimmer lief und dessen Anordnung mitteilte: Alle anwesenden Mitglieder des "Judenrates"
hätten sofort zum Obmann zu kommen. Wenig später kehrte der Adjutant wieder: Auch alle
Abteilungsleiter sollten sich im Amtszimmer des Obmanns melden. Wir nahmen an, dass für die offenbar
geforderte Zahl von Geiseln nicht mehr genug Mitglieder des "Judenrates" (die meisten waren ja schon
am Vortag verhaftet worden) im Haus waren.
Kurz darauf kam der Adjutant zum dritten Mal: Jetzt wurde ich zum Obmann gerufen, jetzt bin wohl
ich an der Reihe, dachte ich mir, die Zahl der Geiseln zu vervollständigen. Aber ich hatte mich geirrt.
Auf jeden Fall nahm ich, wie üblich, wenn ich zu Czerniaków ging, einen Schreibblock mit und zwei
Bleistifte. In den Korridoren sah ich starkbewaffnete Posten. Die Tür zum Amtszimmer Czerniakóws
war, anders als sonst, offen.
Er stand, umgeben von einigen höheren SS-Offizieren, hinter seinem Schreibtisch. War er etwa
verhaftet? Als er mich sah, wandte er sich an einen der SS-Offiziere, einen wohlbeleibten, glatzköpfigen
Mann – es war der Leiter der allgemein "Ausrottungskommando" genannten Hauptabteilung Reinhard
beim SS- und Polizeiführer, der SS-Sturmbannführer Höfle. Ihm wurde ich von Czerniaków vorgestellt,
und zwar mit den Worten: "Das ist mein bester Korrespondent, mein bester Übersetzer." Also war ich
nicht als Geisel gerufen.
Höfle wollte wissen, ob ich stenographieren könne. Da ich verneinte, fragte er mich, ob ich imstande
sei, schnell genug zu schreiben, um die Sitzung, die gleich stattfinden werde, zu protokollieren. Ich
bejahte knapp. Daraufhin befahl er, das benachbarte Konferenzzimmer vorzubereiten. Auf der einen
Seite des langen, rechteckigen Tisches nahmen acht SS-Offiziere Platz, unter ihnen Höfle, der den
Vorsitz hatte. Auf der anderen saßen die Juden: neben Czerniaków die noch nicht verhafteten fünf
oder sechs Mitglieder des "Judenrates", ferner der Kommandant des Jüdischen Ordnungsdienstes,
der Generalsekretär des "Judenrates" und ich als Protokollant.
An den beiden zum Konferenzraum führenden Türen waren Wachtposten aufgestellt. Sie hatten, glaube
ich, nur eine einzige Aufgabe: Furcht und Schrecken zu verbreiten. Die auf die Straße hinausgehenden
Fenster standen an diesem warmen und besonders schönen Tag weit offen.
So konnte ich genau hören, womit sich die vor dem Haus in ihren Autos wartenden SS-Männer die
Zeit vertrieben: Sie hatten wohl ein Grammophon im Wagen, einen Kofferapparat wahrscheinlich, und
hörten Musik und nicht einmal schlechte. Es waren Walzer von Johann Strauß, der freilich auch kein
richtiger Arier war. Das konnten die SS-Leute nicht wissen, weil Goebbels die nicht ganz rassereine
Herkunft des von ihm geschätzten Komponisten verheimlichen ließ.
Höfle eröffnete die Sitzung mit den Worten: "Am heutigen Tag beginnt die Umsiedlung der Juden aus
Warschau. Es ist euch ja bekannt, dass es hier zu viel Juden gibt. Euch, den 'Judenrat', beauftrage
ich mit dieser Aktion. Wird sie genau durchgeführt, dann werden auch die Geiseln wieder freigelassen,
andernfalls werdet ihr alle aufgeknüpft, dort drüben." Er zeigte mit der Hand auf den Kinderspielplatz
auf der gegenüberliegenden Seite der Straße. Es war eine für die Verhältnisse im Getto recht hübsche
Anlage, die erst vor wenigen Wochen feierlich eingeweiht worden war: Eine Kapelle hatte aufgespielt,
Kinder hatten getanzt und geturnt, es waren, wie üblich, Reden gehalten worden.
Jetzt also drohte Höfle, den ganzen "Judenrat" und die im Konferenzraum anwesenden Juden auf
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diesem Kinderspielplatz aufzuhängen. Wir spürten, dass der vierschrötige Mann, dessen Alter ich auf
mindestens vierzig schätzte – in Wirklichkeit war er erst 31 Jahre alt –, nicht die geringsten Bedenken
hätte, uns sofort erschießen oder eben "aufknüpfen" zu lassen.
Schon das (übrigens unverkennbar österreichisch gefärbte) Deutsch zeugte von der Primitivität und
Vulgarität dieses SS-Offiziers.
So schnoddrig und sadistisch Höfle die Sitzung eingeleitet hatte, so sachlich diktierte er einen
mitgebrachten Text, betitelt "Eröffnungen und Auflagen für den 'Judenrat'". Freilich verlas er ihn etwas
mühselig und schwerfällig, mitunter stockend: Er hatte dieses Dokument weder geschrieben noch
redigiert, er kannte es nur flüchtig. Die Stille im Raum war unheimlich, und sie wurde noch intensiver
durch die fortwährenden Geräusche: das Klappern meiner alten Schreibmaschine, das Klicken der
Kameras einiger SS-Führer, die immer wieder fotografierten, und die aus der Ferne kommende, leise
und sanfte Weise von der schönen, blauen Donau. Haben diese eifrig fotografierenden SS-Führer
gewusst, dass sie an einem historischen Vorgang teilnahmen?
Von Zeit zu Zeit warf mir Höfle einen Blick zu, um sich zu vergewissern, dass ich auch mitkäme. Ja,
ich kam schon mit, ich schrieb, dass "alle jüdischen Personen", die in Warschau wohnten, "gleichgültig
welchen Alters und Geschlechts", nach Osten umgesiedelt würden. Was bedeutete hier das Wort
"Umsiedlung"? Was war mit dem Wort "Osten" gemeint, zu welchem Zweck sollten die Warschauer
Juden dorthin gebracht werden? Darüber war in Höfles "Eröffnungen und Auflagen für den 'Judenrat'"
nichts gesagt.
Wohl aber wurden sechs Personenkreise aufgezählt, die von der Umsiedlung ausgenommen seien –
darunter alle arbeitsfähigen Juden, die kaserniert werden sollten, alle Personen, die bei deutschen
Behörden oder Betriebsstellen beschäftigt waren oder die zum Personal des "Judenrats" und der
jüdischen Krankenhäuser gehörten. Ein Satz ließ mich plötzlich aufhorchen: Die Ehefrauen und Kinder
dieser Personen würden ebenfalls nicht "umgesiedelt".
Unten hatte man inzwischen eine andere Platte aufgelegt: Nicht laut zwar, doch ganz deutlich konnte
man den frohen Walzer hören, der von "Wein, Weib und Gesang" erzählte. Ich dachte mir: Das Leben
geht weiter, das Leben der Nichtjuden. Und ich dachte an sie, die jetzt in der kleinen Wohnung mit
einer graphischen Arbeit beschäftigt war, ich dachte an Tosia, die nirgends angestellt und also von der
"Umsiedlung" nicht ausgenommen war.
Höfle diktierte weiter. Jetzt war davon die Rede, dass die "Umsiedler" fünfzehn Kilogramm als
Reisegepäck mitnehmen dürften sowie "sämtliche Wertsachen, Geld, Schmuck, Gold usw.".
Mitnehmen durften oder mitnehmen sollten? – fiel mir ein. Noch am selben Tag, am 22. Juli 1942,
sollte der Jüdische Ordnungsdienst, der die Umsiedlungsaktion unter Aufsicht des "Judenrates"
durchführen musste, 6000 Juden zu einem an einer Bahnlinie gelegenen Platz bringen, dem
Umschlagplatz. Von dort fuhren die Züge in Richtung Osten ab. Aber noch wusste niemand, wohin die
Transporte gingen, was den "Umsiedlern" bevorstand.
Im letzten Abschnitt der "Eröffnungen und Auflagen" wurde mitgeteilt, was jenen drohte, die etwa
versuchen sollten, "die Umsiedlungsmaßnahmen zu umgehen oder zu stören". Nur eine einzige Strafe
gab es, sie wurde am Ende eines jeden Satzes refrainartig wiederholt: "… wird erschossen".
Wenige Augenblicke später verließen die SS-Führer mit ihren Begleitern das Haus. Kaum waren sie
verschwunden, da verwandelte sich die tödliche Stille nahezu blitzartig in Lärm und Tumult: Noch
kannten die vielen Angestellten des "Judenrates" und die zahlreichen wartenden Bittsteller die neuen
Anordnungen nicht. Doch schien es, als wüssten oder spürten sie schon, was sich eben ereignet
hatte – dass über die größte jüdische Stadt Europas das Urteil gefällt worden war, das Todesurteil.
Ich begab mich schleunigst in mein Büro, denn ein Teil der von Höfle diktierten "Eröffnungen und
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Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
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Auflagen" sollte innerhalb von wenigen Stunden im ganzen Getto plakatiert werden. Ich musste mich
sofort um die polnische Übersetzung kümmern. Langsam diktierte ich den deutschen Text, den meine
Mitarbeiterin Gustawa Jarecka sofort polnisch in die Maschine schrieb.
Ihr also, Gustawa Jarecka, diktierte ich am 22. Juli 1942 das Todesurteil, das die SS über die Juden
von Warschau gefällt hatte.
Als ich bei der Aufzählung der Personengruppen angelangt war, die von der "Umsiedlung"
ausgenommen sein sollten, und dann der Satz folgte, dass sich diese Regelung auch auf die Ehefrauen
beziehe, unterbrach Gustawa das Tippen des polnischen Textes und sagte, ohne von der Maschine
aufzusehen, schnell und leise: "Du solltest Tosia noch heute heiraten."
Sofort nach diesem Diktat schickte ich einen Boten zu Tosia: Ich bat sie, gleich zu mir zu kommen und
ihr Geburtszeugnis mitzubringen. Sie kam auch sofort und war ziemlich aufgeregt, denn die Panik in
den Straßen wirkte ansteckend. Ich ging mit ihr schnell ins Erdgeschoss, wo in der Historischen
Abteilung des "Judenrates" ein Theologe arbeitete, mit dem ich die Sache schon besprochen hatte.
Als ich Tosia sagte, wir würden jetzt heiraten, war sie nur mäßig überrascht und nickte zustimmend.
Der Theologe, der berechtigt war, die Pflichten eines Rabbiners auszuüben, machte keine
Schwierigkeiten, zwei Beamte, die im benachbarten Zimmer tätig waren, fungierten als Zeugen, die
Zeremonie dauerte nur kurz, und bald hatten wir eine Bescheinigung in Händen, der zufolge wir bereits
am 7. März getraut worden waren. Ob ich in der Eile und Aufregung Tosia geküsst habe, ich weiß es
nicht mehr. Aber ich weiß sehr wohl, welches Gefühl uns überkam: Angst – Angst vor dem, was sich
in den nächsten Tagen ereignen werde. Und ich kann mich noch an das Shakespeare-Wort erinnern,
das mir damals einfiel: "Ward je in dieser Laun’ ein Weib gefreit?"
Am selben Tag, am 22. Juli, habe ich Adam Czerniaków zum letzten Mal gesehen: Ich war in sein
Arbeitszimmer gekommen, um ihm den polnischen Text der Bekanntmachung vorzulegen, die im Sinne
der deutschen Anordnung die Bevölkerung des Gettos über die vor wenigen Stunden begonnene
"Umsiedlung" informieren sollte. Auch jetzt war er ernst und beherrscht wie immer.
Nachdem er den Text überflogen hatte, tat er etwas ganz Ungewöhnliches: Er korrigierte die
Unterschrift. Wie üblich hatte sie gelautet: "Der Obmann des Judenrates in Warschau – Dipl. Ing. A.
Czerniaków". Er strich sie durch und schrieb stattdessen: "Der Judenrat in Warschau". Er wollte nicht
allein die Verantwortung für das auf dem Plakat übermittelte Todesurteil tragen.
Schon am ersten Tag der "Umsiedlung" war es für Czerniaków klar, dass er buchstäblich nichts mehr
zu sagen hatte. In den frühen Nachmittagsstunden sah man, dass die Miliz, so eifrig sie sich darum
bemühte, nicht imstande war, die von der SS für diesen Tag geforderte Zahl von Juden zum
"Umschlagplatz" zu bringen. Daher drangen ins Getto schwerbewaffnete Kampfgruppen in SSUniformen – keine Deutschen, vielmehr Letten, Litauer und Ukrainer. Sie eröffneten sogleich das Feuer
aus Maschinengewehren und trieben ausnahmslos alle Bewohner der in der Nähe des
"Umschlagplatzes" gelegenen Mietskasernen zusammen.
In den späteren Nachmittagsstunden des 23. Juli war die Zahl der für diesen Tag vom Stab "Einsatz
Reinhard" für den "Umschlagplatz" angeforderten 6000 Juden erreicht. Gleichwohl erschienen kurz
nach 18 Uhr im Haus des "Judenrates" zwei Offiziere von diesem "Einsatz Reinhard". Sie wollten
Czerniaków sprechen. Er war nicht anwesend, er war schon in seiner Wohnung. Enttäuscht schlugen
sie den diensttuenden Angestellten des "Judenrates" mit einer Reitpeitsche, die sie stets zur Hand
hatten. Sie brüllten, der Obmann habe sofort zu kommen. Czerniaków war bald zur Stelle.
Das Gespräch mit den beiden SS-Offizieren war kurz, es dauerte nur einige Minuten. Sein Inhalt ist
einer Notiz zu entnehmen, die auf Czerniakóws Schreibtisch gefunden wurde: Die SS verlangte von
ihm, dass die Zahl der zum "Umschlagplatz" zu bringenden Juden für den nächsten Tag auf 10000
bpb.de
Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
243
erhöht werde – und dann auf 7000 täglich. Es handelte sich hierbei keineswegs um willkürlich genannte
Ziffern. Vielmehr hingen sie allem Anschein nach von der Anzahl der jeweils zur Verfügung stehenden
Viehwaggons ab; sie sollten unbedingt ganz gefüllt werden.
Kurz nachdem die beiden SS-Offiziere sein Zimmer verlassen hatten, rief Czerniaków eine
Bürodienerin: Er bat sie, ihm ein Glas Wasser zu bringen.
Wenig später hörte der Kassierer des "Judenrates", der sich zufällig in der Nähe von Czerniakóws
Amtszimmer aufhielt, dass dort wiederholt das Telefon läutete und niemand den Hörer abnahm. Er
öffnete die Tür und sah die Leiche des Obmanns des "Judenrates" in Warschau. Auf seinem
Schreibtisch standen: ein leeres Zyankali-Fläschchen und ein halbvolles Glas Wasser.
Auf dem Tisch fanden sich auch zwei kurze Briefe. Der eine, für Czerniakóws Frau bestimmt, lautet:
"Sie verlangen von mir, mit eigenen Händen die Kinder meines Volkes umzubringen. Es bleibt mir
nichts anderes übrig, als zu sterben." Der andere Brief ist an den Judenrat in Warschau gerichtet. In
ihm heißt es: "Ich habe beschlossen abzutreten. Betrachtet dies nicht als einen Akt der Feigheit oder
eine Flucht. Ich bin machtlos, mir bricht das Herz vor Trauer und Mitleid, länger kann ich das nicht
ertragen. Meine Tat wird alle die Wahrheit erkennen lassen und vielleicht auf den rechten Weg des
Handelns bringen …".
Von Czerniakóws Selbstmord erfuhr das Getto am nächsten Tag – schon am frühen Morgen. Alle
waren erschüttert, auch seine Kritiker, seine Gegner und Feinde. Man verstand seine Tat, wie sie von
ihm gemeint war: als Zeichen, als Signal, dass die Lage der Juden Warschaus hoffnungslos sei.
Still und schlicht war er abgetreten. Nicht imstande, gegen die Deutschen zu kämpfen, weigerte er
sich, ihr Werkzeug zu sein. Er war ein Mann mit Grundsätzen, ein Intellektueller, der an hohe Ideale
glaubte. Diesen Grundsätzen und Idealen wollte er auch noch in unmenschlicher Zeit und unter kaum
vorstellbaren Umständen treu bleiben.
Die in den Vormittagsstunden des 22. Juli 1942 begonnene Deportation der Juden aus Warschau nach
Treblinka dauerte bis Mitte September. Was die "Umsiedlung" der Juden genannt wurde, war bloß
eine Aussiedlung – die Aussiedlung aus Warschau. Sie hatte nur ein Ziel, sie hatte nur einen Zweck:
den Tod.
Ungekürzte Rede vor dem Deutschen Bundestag zum Tag des Gedenkens an die Opfer des
Nationalsozialismus am 27. Januar 2012, wie abgedruckt in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 28.
Januar 2012, S. 29.
Aus: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ 32–34/2012)
bpb.de
Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
244
Selbstbehauptung und Gegenwehr von Verfolgten
Von Prof. Dr. Wolfgang Benz
10.4.2005
Geb. 1941, Studium der Geschichte, Politischen Wissenschaft und Kunstgeschichte. Seit 1990 Professor an der Technischen
Universität Berlin und Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung. Vorsitzender der Gesellschaft für Exilforschung.
Mitherausgeber der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft.
Trotz der Todesgefahr oder Todesgewissheit leisteten selbst KZ-Häftlinge Widerstand: Sie
wahrten die eigenen religiösen Feiertage, verbargen andere Häftlinge oder versuchten
Nachrichten aus den Lagern zu schmuggeln. 1943 kam es im Warschauer Ghetto sogar zu
einem bewaffneten Aufstand.
Einleitung
Auch die Menschen, die wegen ihrer religiösen Überzeugung oder wegen ihrer Abstammung verfolgt
waren, die in der Illegalität leben mußten oder in Haftanstalten und Konzentrationslagern verschleppt
waren, haben Widerstand geleistet. Für Juden und Zeugen Jehovas, Sinti und Roma und andere
gejagte Minderheiten bedeuteten "Widerstand" etwas anderes als für konservative Beamte und adelige
Offiziere, die nicht von vornherein als Gruppe bedroht waren. Selbstbehauptung und Solidarität waren
in der Situation der Verfolgten schon Leistungen des Widerstandes gegen ein System, das erst
Selbstbewußtsein und Kameradschaft seiner Gegner zerstörte, um sie schließlich physisch zu
vernichten.
Wer im Konzentrationslager saß, hatte wenig Möglichkeit, die Nationalsozialisten an der Ausübung
und Ausbreitung ihrer Macht zu hindern. Die Zwangsarbeiter im Konzentrationslager konnten allenfalls
- unter großer Lebensgefahr - die Rüstungsfabrikation durch Sabotage und Produktionsverzögerungen
ein wenig stören. Durch kulturelle Aktivitäten wie Theaterspielen, Vorträge oder Musizieren konnten
Häftlinge ihre Selbstachtung bewahren, durch heimliche Gottesdienste die Moral stärken, durch den
Austausch von Informationen den Durchhaltewillen am Leben erhalten. Dazu dienten, immer unter
Anführung der aus politischen und religiösen Gründen Inhaftierten, Veranstaltungen in den Lagern,
die von der SS genehmigt waren. Es kam darauf an, nicht merken zu lassen, daß mit den klassischen
Theaterstükken Botschaften vermittelt wurden, die nur die Häftlinge verstanden und ermutigten.
In fast allen Konzentrationslagern gab es irgendwo ein verborgenes Radio, mit dem Nachrichten aus
der Außenwelt aufgefangen wurden. Es gab geheime Informationsnetze von Häftlingen, die sich für
den Tag der Befreiung vorbereiteten und deshalb, wie in Dachau, Buchenwald und Mauthausen,
unmittelbar nach der Flucht der SS die Organisation des Lagers in die Hand nehmen konnten. Am
Anfang stand immer die Solidarität mit schwächeren Mitgefangenen: ein Stück Brot, ein organisiertes
Kleidungsstück oder ein Versteck im Krankenbau halfen dem bedürftigen Häftling nicht nur unmittelbar,
sondern stärkte auch seinen Durchhaltewillen und zeigte ihm, daß die SS nicht allmächtig war. Die
"Funktionshäftlinge" in der Lagerschreibstube, die "Kapos" (Häftlinge, die den Befehl über die
Arbeitskommandos hatten) konnten, wenn sie sich nicht von der SS korrumpieren ließen, für die
Organisation von Widerstand im Lager hilfreich sein. Rückschläge waren unvermeidlich. Im KZ
Sachsenhausen wurde eine Hilfsaktion im Lager verraten. 27 Häftlinge wurden erschossen.
Aufstände in Konzentrationslagern waren wegen der scharfen Bewachung und wegen des von
Entkräftung, Hunger und Krankheit bestimmten physischen Zustands der Häftlinge kaum denkbar.
Trotzdem hat es im Warschauer Ghetto 1943 einen fast vierwöchigen Aufstand, im August 1943 im
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Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
245
Ghetto Bialystok und im Vernichtungslager Treblinka Revolten gegeben, eine weitere im Oktober 1943
in Sobibor. Sie wurden rasch niedergeschlagen, immerhin glückte einigen wenigen dabei die Flucht.
In Auschwitz existierte seit 1943 eine "Kampfgruppe Auschwitz", die Verbindung zu polnischen
Widerstandskämpfern außerhalb des Lagers hatte und die Flucht einzelner Häftlinge organisieren
sowie Nachrichten und Medikamente ins KZ einschmuggeln konnte. Der bewaffnete Aufstand des
"Sonderkommandos" der Häftlinge, die an den Krematorien arbeiteten, wurde rasch niedergeschlagen
und hatte den Tod aller zur Folge. Zum Widerstand im KZ gehörten auch die Versuche, Nachrichten
aus dem Lager über die Verwirklichung des Völkermords hinauszuschmuggeln, um die
Weltöffentlichkeit aufzurütteln. In Auschwitz gelang dies im Sommer 1944 mit Hilfe der polnischen
Widerstandsbewegung.
Alltägliches Widerstehen
Das alltägliche Widerstehen im KZ, die Behauptung von Humanität und Menschenwürde, hat nicht
nur Leben gerettet, sondern auch dem psychologischen Vernichtungswillen des Nationalsozialismus
Grenzen gesetzt. Werner Krumme in Auschwitz und Karl Wagner in Dachau sind dafür zwei Beispiele.
Werner Krumme war nach Auschwitz eingeliefert worden, weil er sich von seiner jüdischen Frau nicht
trennen wollte. Das Ehepaar wurde 1942 von der Gestapo verhaftet, weil es vergeblich versucht hatte,
zwei jüdischen Mädchen aus Breslau zur Flucht zu verhelfen. Ruth Krumme wurde bald nach der
Ankunft in Auschwitz-Birkenau ermordet. Werner Krumme wurde Funktionshäftling beim "SSArbeitsdienstführer" im Stammlager Auschwitz. Dort hatte er die Möglichkeit, Häftlinge für bestimmte
Arbeitskommandos auszusuchen. Eine solche Funktion konnte lebensrettend sein, nicht nur wegen
möglicher Verbesserungen der Essensrationen; die Überlebenschancen waren für Facharbeiter
größer. Werner Krumme gehörte zu denen, die ihre Stellung nutzten, um anderen zu helfen. Ihre Zahl
ist unbekannt, sie gab es in allen Lagern, ihnen verdanken weniger Privilegierte ihr Leben.
Die Solidarität mit Mithäftlingen war im Rahmen der geringen Möglichkeiten der Verfolgten ein Akt
bewußten Widerstehens. Werner Krumme erinnert sich stellvertretend für viele: "Es gab in Auschwitz
in meiner Position viele Möglichkeiten zu helfen und den Mithäftlingen Chancen zu bieten, das Lager
doch noch zu überleben. Natürlich war es immer nur eine begrenzte Anzahl von Menschen, auf die
sich meine Hilfeleistungen erstrecken konnten. Das System an sich konnte ich nicht ändern. Ich konnte
es nur im Rahmen meiner Möglichkeiten an einigen Stellen unterhöhlen."
Der Stuttgarter Arbeitersohn Karl Wagner (1909-1983) hatte sich als überzeugter Gegner der
Nationalsozialisten der KPD angeschlossen. Nach mehrfacher Verhaftung wurde er kurz vor
Weihnachten 1936 in das KZ Dachau eingeliefert. Wagner kam zunächst in die Strafkompanie, bemühte
sich dann erfolgreich um eine Funktion in der "Häftlingsselbstverwaltung". So nannte die SS ihr System,
KZ- Häftlinge als Hilfskräfte im Lageralltag zu verwenden. Die Arbeitskommandos wurden (unter Befehl
und Aufsicht der SS) von "Kapos" geführt. Wagner war zunächst "Baukapo" und stieg auf bis zum
"Lagerkapo". Er erstrebte und nützte das "Amt", um Mithäftlingen zu helfen. Im April 1943 wurde
Wagner Lagerältester (das war die höchste Häftlingsfunktion) im Außenlager Allach. Im Juli desselben
Jahres demonstrierte er in einem beispiellosen Akt des Widerstandes Solidarität mit den
Mitgefangenen. Sein Verhalten stärkte ebenso das Selbstbewußtsein der Häftlinge, wie es die Autorität
des SS-Personals untergrub. Der Lagerführer, SS-Untersturmführer Jarolin, hatte nach Feierabend
alle Arbeitskommmandos auf dem Appellplatz versammelt. Ein sowjetischer Gefangener sollte
ausgepeitscht werden. Jarolin hatte, um das Selbstwertgefühl der Häftlinge zu zerstören, den
Lagerältesten Karl Wagner ausersehen, die Prügelstrafe zu vollziehen.
Wagner berichtet über seine Reaktion: "Jarolin gab mir den Befehl: 'Schlagen!' Ich antwortete: 'Ich
schlage nicht!' Jarolin: 'Warum schlägst Du nicht?' Meine Antwort: 'Ich kann nicht schlagen!' Nun
probierte es Jarolin mit dem Zuckerbrot: 'Versuch's,' befahl er. Meine Antwort: 'Ich schlage nicht!'' Jetzt
spielte Jarolin den wilden Mann, zog die Pistole und brüllte: 'Du Kommunistenschwein, das habe ich
doch gewußt!' In diesem Moment rechnete ich damit, abgeknallt zu werden. Ich riß meine
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Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
246
Lagerältestenbinde vom Arm und warf sie auf den Bock. Jarolin aber drückte nicht ab, er gab lediglich
den Befehl, mich abzuführen. Ich wurde in den Arrestbau gebracht. Fünf Tage lang saß ich im Allacher
Bunker. Danach wurde ich nach Dachau gebracht und mit sechs Wochen Dunkelarrest bestraft.
Anschließend erhielt ich 25 Stockhiebe."
Im KZ ist auch ein Programm zur demokratischen Neugestaltung Deutschlands nach Hitler entstanden.
Das "Buchenwalder Manifest", niedergeschrieben im April 1945, war hervorgegangen aus
Diskussionen politischer Häftlinge sozialistischer, kommunistischer und christlicher Gesinnung im KZ
Buchenwald, unter ihnen der Sozialdemokrat Hermann Brill und der spätere hessische CDUVorsitzende Werner Hilpert.
Widerstand durch Solidarität leisteten auch Gruppen junger Menschen im Untergrund und in der
Illegalität, wie in Berlin der Chug Chaluzi (Kreis der Pioniere) bestehend aus elf jungen Juden, die sich
Ende Februar 1943 um den Lehrer Jizchak Schwersenz und um Edith Wolf geschart hatten. Sie wollten
sich vor der Deportation retten und hofften auf ein Leben in Palästina nach der NS-Zeit.
Kontakt bestand über Edith Wolf zu einer anderen Gruppe - ebenfalls in Berlin - um Franz Kaufmann,
der als getaufter Jude seine Stellung als Beamter verloren hatte. Er war mit einer Nichtjüdin verheiratet
und in der Bekennenden Kirche engagiert. Seit Herbst 1941 bemühte er sich, die Deportation von
Juden zu verhindern, indem er ihnen Arbeitsplätze, gefälschte Papiere, Lebensmittel verschaffte, was
ihnen die Existenz in der Illegalität ermöglichte. Durch Denunziation wurde die Kaufmann-Gruppe im
August 1943 entdeckt und mehr als 50 Personen verhaftet. Die jüdischen Mitglieder kamen ins KZ,
andere wurden zu Zuchthausstrafen verurteilt, Franz Kaufmann wurde im Februar 1944 im KZ
Sachsenhausen ermordet.
Aus dem gleichen Grund hatte sich im Herbst 1943 eine Gruppe von Juden und Nichtjuden in der
Umgebung Berlins zusammengefunden, die bis Oktober 1944 aktiv war. Hans Winkler,
Justizangestellter in Luckenwalde und sein jüdischer Freund, der Elektrotechniker Werner Scharff,
wollten sich aber noch stärker engagieren als "nur" durch die Hilfe für Juden. Sie gründeten die
"Gemeinschaft für Frieden und Aufbau", die etwa 30 Mitglieder hatte. Sie verbreitete u. a. drei Flugblätter
(in Form von Kettenbriefen) in einer Größenordnung von insgesamt 3500 Stück, in denen die
Bevölkerung gegen den Krieg aufgerufen wurde. 1944 wurden die meisten Mitglieder der Gruppe
verhaftet. Werner Scharff wurde im März 1945 erschossen; die meisten nichtjüdischen Angehörigen
überlebten in Haft.
Auszug aus:
Informationen zur politischen Bildung (Heft 243) - Selbstbehauptung und Gegenwehr von
Verfolgten
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Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
247
Jugend- und Studentenopposition
Von Prof. Dr. Wolfgang Benz
9.4.2005
Geb. 1941, Studium der Geschichte, Politischen Wissenschaft und Kunstgeschichte. Seit 1990 Professor an der Technischen
Universität Berlin und Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung. Vorsitzender der Gesellschaft für Exilforschung.
Mitherausgeber der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft.
Jugendlicher Widerstand kam vor allem aus kirchlichen oder politischen Gruppen. Die
katholischen oder kommunistischen Jugendverbände wehrten sich gegen ihre
Zwangsauflösung in der Hitlerjugend. Nicht so in der Studentenschaft: Widerstandsgruppen
wie die "Weiße Rose" in München waren hier die Ausnahme.
Einleitung
Nach der Machtübernahme der NSDAP wurde die Hitlerjugend (HJ), unter deren Dach auch der Bund
Deutscher Mädel (BDM) organisiert war, zum alleinigen Staatsjugendverband ausgebaut. Dazu
mußten zunächst alle anderen Jugendverbände, von den Pfadfindern und der Sozialistischen
Arbeiterjugend über die Bündischen Organisationen in der Tradition des "Wandervogel" bis zu
Sportverbänden und christlichen Jugendbünden (wie z. B. "Neudeutschland"), verboten, aufgelöst und
"gleichgeschaltet" werden. Das bedeutete, die Jugendlichen wurden zum Übertritt gezwungen. Dies
erfolgte bis Sommer 1933, zum Teil gegen heftiges Widerstreben der Betroffenen. Aus den Reihen
der katholischen Jugendverbände (etwa 1,5 Millionen Mitglieder) war der nachdrücklichste Protest zu
vernehmen.
Der kommunistische Jugendverband mit 55000 Mitgliedern (1932) leistete analog der Taktik der KPD
politisch motivierten Widerstand. So erschienen in Berlin und Essen kommunistische Jugendliche, die
als erste in die Illegalität gedrängt waren, auf öffentlichen Plätzen zu "Blitzdemonstrationen". Sie warfen
Flugblätter von Dächern in belebte Einkaufsstraßen, malten nachts antinationalsozialistische Parolen
an Wände. Überzeugt von der Überlegenheit der eigenen Ideologie, getrieben von einer offensiv
taktierenden Parteileitung und von jugendlichem Heroismus, wollten die Jungkommunisten
demonstrieren, daß sie sich nicht unterkriegen lassen wollten. Die Verluste waren beträchtlich. Die
Gestapo brauchte kaum zwei Jahre, um diese Aktionen zu unterbinden. Soweit sie nicht ins Ausland
fliehen konnten, kamen die jungen Widerständler in Gefängnis und KZ. Das gleiche galt für Mitglieder
sozialistischer Jugendorganisationen, wie die Sozialistische Arbeiterjugend oder die Naturfreunde,
soweit sie sich radikalisierten und Widerstand zu leisten versuchten. Die Mehrheit zog sich zurück und
beschränkte sich darauf, das politische Milieu unauffällig zu bewahren.
Konfessionelle Selbstbehauptung
Die oppositionelle Haltung der konfessionellen Jugendorganisationen entsprang dem Willen zur
Selbstbehauptung. Die 400000 Mitglieder des Katholischen Jungmännerverbandes hatten sich zwar
im März 1933 demonstrativ für die Zentrumspartei und gegen die NSDAP engagiert. Weiteren
politischen Bekenntnissen dieser Art war durch den Vertrag zwischen der Katholischen Kirche und
dem Deutschen Reich (Konkordat vom 20. Juli 1933) der Boden entzogen. Immerhin blieben die
katholischen Vereine und Verbände von der Auflösung verschont. In der Praxis wurden allerdings die
Bestimmungen, daß sie nur rein religiösen, kulturellen und karitativen Zwecken dienen dürften, immer
enger und schikanöser ausgelegt.
bpb.de
Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
248
Die Behinderungen der kirchlichen Jugendarbeit und des Gruppenlebens stärkten den
Selbstbehauptungswillen der jungen Katholiken. Es kam häufig zu Zusammenstößen zwischen
katholischen Jugendlichen und der HJ. Kirchliche Proteste gegen die Übergriffe wurden regelmäßig
erhoben, blieben aber wirkungslos. Ab Juli 1935 waren alle nicht-religiösen und nicht-kirchlichen
Aktivitäten verboten. Oppositionelle Haltung demonstrierten viele durch die Teilnahme an religiösen
Anlässen wie Fronleichnamsprozessionen, Festgottesdiensten oder Wallfahrten. Ostern 1935 brachen
die Katholischen Sturmscharen mit 50 Omnibussen zu einer Wallfahrt nach Rom auf. Ihr Erscheinen
auf dem Petersplatz zur Papstaudienz war eine regimekritische Demonstration.
Die HJ hatte ab Ende 1936 endgültig die Stellung einer Staatsjugendorganisation mit dem Zweck, die
gesamte Erziehung der Jugend außerhalb des (und im Zweifelsfall gegen) Elternhauses und der Schule
zu lenken. Im Frühjahr 1939 wurde der Zwangscharakter der HJ durch die Einführung einer
"Jugenddienstpflicht" noch deutlicher. Die Teilnahme an den Veranstaltungen der HJ konnte durch die
Polizei erzwungen werden. Das galt für die gesamte deutsche Jugend zwischen 10 und 18 Jahren,
Jungen wie Mädchen. Neben Geländespielen und Sport stand vor allem "Weltanschauliche Schulung"
auf dem Dienstplan der HJ; militärischer Drill, Befehl und Gehorsam bildeten Rahmen wie Inhalt des
Dienstes.
Für viele Jugendliche war das Grund genug zur stillen Verweigerung bis zur offenen Auflehnung gegen
das totale Erfaßtwerden durch den Staat. Die Formen des Jugendprotestes waren so vielfältig wie die
Anlässe und Motive. Wenn sich Berliner sozialdemokratische Jugendliche aus dem verbotenen
Sozialistischen Jugendverband (SJV) als "Freie Faltbootfahrer" neu gruppierten, so wollten sie damit
auch ihre politische Tradition in Opposition zum Regime fortsetzen. Wenn der Leiter der evangelischen
Schülerbibelkreise Udo Schmidt 1934 die Selbstauflösung des Bundes durchführte, so tat er es mit
dem Auftrag an die jungen Christen, "daß Ihr in Schule und Elternhaus den heimlichen Kampf um
Wahrheit und Reinheit zu kämpfen habt". Andere blieben ihren Pfadfinderidealen treu oder versuchten
im Freundeskreis Ideen und Formen der bündischen Jugendbewegung - jugendgemäße Lebensform,
Kritik der Erwachsenenwelt, Unabhängigkeit in Kleidung und Freizeitverhalten - zu bewahren. Das
alles brachte die Jugendlichen in Gegensatz zur offiziellen HJ, dem autoritären und militantbürokratischen Werkzeug des NS-Staats.
So vielfältig die Formen des Jugendprotestes waren, so wenig lassen sich Zahlen nennen. Aus
Gestapoberichten geht allerdings hervor, daß die Opposition von Jugendlichen - durch Verweigerung
oder durch Auflehnung bis hin zu Widerstandsformen, in denen mit Flugblättern oder Wandparolen
der Sturz des Regimes verlangt wurde - insgesamt eine beträchtliche Größenordnung hatte.
Verweigerung und Auflehnung
Drei Grundformen und zwei zeitliche Phasen (die erste 1933 bis 1939, die zweite in den Kriegsjahren)
sind zu unterscheiden. Es gab erstens Gruppen, die unter politischen, religiösen oder anderen
weltanschaulichen Vorzeichen schon vor 1933 existiert hatten und die versuchten, ihre Traditionen im
NS-Staat weiterzuleben. Es entstanden zweitens neue Gruppierungen, deren Motiv die Gegnerschaft
zum Nationalsozialismus bildete. Dazu gehörte z. B. der Freundeskreis um Walter Klingenbeck, eine
Gruppe katholischer Jugendlicher in München, die 1941/42 mit selbstgebauten Rundfunksendern
regimefeindliche Nachrichten verbreitete und zum Kampf gegen Hitler aufrief. Klingenbeck wurde im
August 1943 von der NS-Justiz hingerichtet, zwei Freunde wurden zu Zuchthausstrafen verurteilt. Eine
andere Gruppe scharte sich um Hanno Günther in Berlin; die Mitglieder kamen aus der Rütli-Schule
in Neukölln und verteilten ab 1939 Zettel und selbstgefertigte Flugschriften gegen den Krieg und den
NS-Staat. Wieder andere junge Menschen machten das gleiche in Hamburg. Sie bildeten den
Freundeskreis von Helmuth Hübener und gehörten der Religionsgemeinschaft der Mormonen an.
Drittens bildeten sich, vor allem in den Kriegsjahren, an vielen Orten Cliquen und Banden, deren
Opposition zunächst in der Ablehnung der HJ bestand. Sie wurden bekannt unter Namen wie
"Edelweißpiraten", "Swing-Jugend", "Meuten". Durch ihre bloße Existenz bereiteten sie den Behörden
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Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
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viel Verdruß. Im Herbst 1944 gab der "Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei", Heinrich
Himmler, einen Erlaß heraus, in dem es hieß: "In allen Teilen des Reiches, insbesondere in größeren
Städten haben sich seit einigen Jahren - und in letzter Zeit in verstärktem Maße - Zusammenschlüsse
Jugendlicher (Cliquen) gebildet. Diese zeigen z. T. kriminell-asoziale oder politisch-oppositionelle
Bestrebungen und bedürfen deshalb, vor allem in Hinblick auf die kriegsbedingte Abwesenheit vieler
Väter, Hitler-Jugend-Führer und Erzieher, einer verstärkten Überwachung."
Der pauschale Vorwurf "asozialen Verhaltens" war im NS-Staat gegen unangepaßte Personen und
Gruppen schnell zur Hand. Er brauchte auch nicht bewiesen zu werden, wenn man als "Asozialer" ins
KZ eingeliefert wurde. Bei den einige tausend Jugendliche umfassenden Gruppen, die unter dem
Sammelnamen "Edelweißpiraten" verfolgt wurden, waren die Grenzen zwischen provokativ zur Schau
getragenem selbstbestimmten Jugendleben ("Herumlungern", Ablehnung bürgerlicher Ordnungsvorstellungen)
und tatsächlicher Kriminalität fließend. Außer wegen Prügeleien mit HJ-Streifen wurden
"Edelweißpiraten" auch wegen strafrechtlicher Delikte wie Schwarzhandel oder Einbruch verurteilt.
Entwurzelung und Großstadtkriminalität unter extremen Lebensumständen am Ende des Krieges
waren in der Regel stärkere Bewegkräfte als politische Motive. Die Verfolgung jugendlicher Cliquen
förderte wiederum deren Abneigung gegen den Staat. So mischten sich auch die Beweggründe im
berühmtesten Fall: In Köln Ehrenfeld versuchten Jugendliche nach einer Reihe von Gewalttaten das
Gestapo-Gebäude in die Luft zu sprengen. Nach einer anschließenden Schießerei wurden die
Mitglieder einer Gruppe von "Edelweißpiraten" ohne Gerichtsurteil öffentlich erhängt.
Im Rheinland und im Ruhrgebiet, namentlich in Großstädten wie Köln, Düsseldorf und Essen, gab es
etliche dieser nach ihrem Erkennungszeichen "Edelweißpiraten" genannten Jugendliche. Sie
demonstrierten in Auftreten und Kleidung einen Lebensstil, der mit bündischen und proletarischen
Elementen deutlich von der Staatslinie abwich. Ähnliches nonkonformes Verhalten zeigten "die
Schlurfs" in Wien und Gruppen in anderen Regionen, wie in Sachsen oder in Frankfurt am Main.
Ebenso der oppositionellen jugendlichen Subkultur zuzurechnen sind die Leipziger oder Erfurter
"Meuten", die "Proletengefolgschaften" in Halle und andere Gruppen. Gemeinsam war ihnen die
Herkunft aus dem Arbeitermilieu.
Aus anderer Wurzel, nämlich der großstädtisch-bürgerlichen Kultur, entstand etwa ab 1939 eine eigene
jugendliche Subkultur, die "Swing-Jugend" mit Schwerpunkt in Hamburg. Durch betont lässiges
Auftreten, langes Haar und unmilitärische Kleidung, durch forciert angelsächsisches Gehabe und die
Bevorzugung ausländischer, in Deutschland verpönter Musikstile (Swing und Jazz), provozierten diese
Jugendlichen die NS-Behörden. Die Reaktion war Verfolgung und Einweisung von "SwingJugendlichen" ins KZ. Ohne daß eine ausdrückliche politische Betätigung vorlag, betrachtete das
Regime diese Art der Verweigerung als Widerstand und reagierte entsprechend.
Aus der Ablehnung der Staatsjugend entstand (insbesondere nach staatlichen Repressalien) vielfach
grundsätzliche Opposition gegen den NS-Staat. Die Jugendlichen wollten sich der Bevormundung und
Indoktrination durch die Nationalsozialisten entziehen, ohne daß sie deshalb politische Konzepte
entwickelten. Viele wollten einfach ihre oppositionelle Haltung zur Schau tragen. Unter den Historikern
ist umstritten, ob sie zum Widerstand gegen den Nationalsozialismus zu rechnen sind.
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Anpassung und Protest von Studenten
Als Widerstand der jungen Generation wurde nach 1945 lange Zeit fast ausschließlich das Engagement
der Studenten der Weißen Rose in München oder der Kampf der jungen Arbeiter um Herbert Baum
in Berlin wahrgenommen. Beide Gruppen gehörten, weil es sich um junge Erwachsene handelte, wohl
weniger zum Jugendprotest. Beide Gruppen hatten weit über die Verweigerung hinausgehende
politische Absichten.
An den Universitäten gab es nur wenig Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Die
Studentenschaft hatte die Hitler-Bewegung weithin begeistert begrüßt und ihr schon vor 1933 die
Wege in den Universitäten geebnet. Gegen die Reglementierung des studentischen Lebens und die
weltanschauliche Schulung äußerten später dann viele Widerwillen, der aber nicht grundsätzliche
Ablehnung des NS-Staats bedeutete. Neben individueller Verweigerung aus ethischen Gründen gab
es eine andere Form der Abwehr. Sie nährte sich aus Gefühlen der Überlegenheit sowohl im
gesellschaftlichen als auch im Bildungsbereich und drückte sich in Kritik am proletenhaften Auftreten
der NS-Führer und in der Ablehnung des gleichmacherischen Anspruchs der VolksgemeinschaftsIdeologie aus. Man hielt die Nazis für primitiv und blieb unter sich, ohne diese sozial motivierte
oppositionelle Haltung nach außen zu demonstrieren.
Grundsätzliche, weltanschaulich oder politisch begründete Ablehnung zeigten in den Jahren 1933 bis
1939 christlich engagierte (insbesondere in den theologischen Fakultäten) und linke Studenten, die
bis 1933 in Organisationen der KPD oder in sozialistischen Vereinigungen agiert hatten ("Rote
Studentengruppen"). Weitgehend isoliert und zahlenmäßig äußerst gering waren die "Zellen" eher
Diskussionszirkel, die von vornherein auf oppositionelle Aktivitäten verzichteten. Der Medizinstudent
Wolf Zuelzer war im Frühjahr 1933 kurze Zeit Mitglied einer solchen Gruppe in Berlin: "Wir waren zu
fünft, kannten einander nur beim Vornamen und trafen uns in abgelegenen Stadtteilen. Aber statt
praktische Möglichkeiten aktiven Widerstands zu besprechen, drehte sich die Diskussion um
marxistische Dialektik: War der Nationalsozialismus eine notwendige Phase der Weltgeschichte? War
es richtig gewesen, daß die Kommunisten den Nazis im Reichstag Hilfestellung geleistet hatten bei
der Zerstörung der Weimarer Republik? War das kapitalistische System am Ende seiner Kräfte?... und
so weiter. Für derlei Spekulationen wollte ich meine Haut nicht zu Markte tragen. Nach etwa drei
Monaten trat ich aus."
Versuche, organisierten Widerstand zu leisten - durch Verteilung von Flugblättern vor allem -, gab es
an wenigen Hochschulen, z. B. in Berlin, Hamburg, Marburg und Leipzig. Zu den spektakulären
Aktionen gehörte die Papierbombe, die am 1. August 1934 im Lesesaal der Berliner
Universitätsbibliothek explodierte und kleine Zettel mit der Botschaft "Brandstifter am Werk" streute.
Solche Manifestationen dienten allerdings mehr der Selbstbetätigung als der Werbung von
Regimegegnern. Immerhin machten solche Aktionen die Behörden so nervös, daß die Fahndung nach
den Regimegegnern mit äußerster Kraft und entsprechendem Erfolg betrieben wurde.
Die Weiße Rose
Im Zweiten Weltkrieg regte sich ebenfalls studentischer Protest. Es waren andere Motive als in den
Jahren bis 1939 und auch eine andere Studentengeneration, die den Protest formulierte. Die wichtigste
Widerstandsgruppe, die am meisten beachtet wurde, war die Weiße Rose in München. Den Kern
dieser Gruppe bildeten fünf Studenten, zwischen 21 und 25 Jahren alt: Hans und Sophie Scholl, Willi
Graf, Christoph Probst und Alexander Schmorell. Ihr Mentor war Professor Kurt Huber, der schon
vorher mit den Nationalsozialisten in Konflikt geraten war. Zur Weißen Rose gehörten noch etwa ein
Dutzend Studenten, Intellektuelle, Künstler, es war ein nicht organisierter Freundeskreis.
Im Juni und Juli 1942 tauchten in München insgesamt vier Flugblätter auf, verfaßt im wesentlichen
von den beiden Medizinstudenten Hans Scholl und Alexander Schmorell. Diese Flugblätter richteten
sich an das gebildete Bürgertum, aus dem die Verfasser stammten. In pathetischer Sprache, mit vielen
Zitaten aus der klassischen Literatur und christlich-moralischen Appellen wurde zum passiven
bpb.de
Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
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Widerstand gegen den verbrecherischen Krieg des Hitler-Regimes aufgerufen. Die christlich-humane
Prägung der Studenten aus konservativem Elternhaus war unverkennbar. Ebenso der aus der
bündischen Jugendbewegung stammende moralische Rigorismus. Ihr Idealismus und ihr unbedingtes
Bekenntnis zur Humanität machten den Widerstand der Münchner Studenten überzeugend.
Gespräche mit den katholischen Publizisten Carl Muth und Theodor Haecker und vor allem der Einfluß
ihres akademischen Lehrers, Professor Kurt Huber, legten den Grund für die oppositionelle Haltung
der Studenten. Kriegsdienst in einer Studentenkompanie an der Ostfront führten Willi Graf, Alexander
Schmorell und Hans Scholl im Sommer 1942 die Sinnlosigkeit und Grausamkeit des Krieges vor Augen
und bestärkten sie in der Absicht, nach ihrer Rückkehr im November 1942 Widerstand durch politische
Aufklärung der Öffentlichkeit zu leisten.
Die beiden letzten Flugblätter der Weißen Rose unterschieden sich stilistisch und im Inhalt deutlich
von den schöngeistigen und literarischen ersten vier Botschaften. Präzise und politisch
unmißverständlich verwiesen die Verfasser im Januar und im
Februar 1943 auf die aussichtlose Kriegslage nach der Katastrophe von Stalingrad und riefen zum
aktiven Kampf gegen den NS-Staat auf, dessen Verbrechen sie beim Namen nannten.
Beim Verteilen von Flugblättern im Lichthof der Münchener Universität wurden die Geschwister Scholl
von einem Hausmeister festgehalten und einer Gestapo-Sonderkommission übergeben. Vier Tage
später standen sie zusammen mit Christoph Probst vor dem Volksgerichtshof. Die Todesurteile wurden
noch am gleichen Tag vollstreckt. Im April 1943 gab es einen zweiten Prozeß gegen vierzehn weitere
Mitglieder der Weißen Rose. Willi Graf, Kurt Huber und Alexander Schmorell wurden zum Tode
verurteilt, die anderen zu Haftstrafen.
In etwas anderer Form lebte die Weiße Rose an der Hamburger Universität weiter. Die Medizinstudentin
Traute Lafrenz hatte Ende 1942 Flugblätter aus München nach Hamburg mitgebracht. Ihr Schulfreund
Heinz Kucharski, Student der Philosophie und Orientalistik, verteilte sie mit Hilfe einer Gruppe
oppositioneller Studenten. Die Gestapo kam ihnen Ende 1944 auf die Spur. Am 17. April 1945 standen
Mitglieder der Hamburger Weißen Rose vor dem Volksgerichtshof. Heinz Kucharski wurde zum Tode
verurteilt, konnte aber auf dem Weg zur Hinrichtung fliehen. Die anderen Mitglieder starben während
der Haft entweder im Gefängnis oder im KZ.
Die Herbert-Baum-Gruppe
Von ganz anderer Herkunft waren die Mitglieder des Widerstandskreises, den der gelernte Elektriker
Herbert Baum zusammen mit seinem Freund Martin Kochmann (er war gelernter Kaufmann, aber als
Arbeiter beschäftigt) und ihren Frauen Sala und Marianne in Berlin um sich geschart hatten. Diese
vier führenden Personen kannten sich seit der Schulzeit, sie waren gleichaltrig, 1912 geboren und
damit etwas älter als die Studenten der Weißen Rose. Aber die anderen Mitglieder der Herbert-BaumGruppe, etwa einhundert Menschen überwiegend jüdischer Herkunft, waren erheblich jünger. Sie
kamen meist aus der jüdischen Jugendbewegung. Bemerkenswert war auch, daß in dieser Berliner
Widerstandsgruppe des Arbeiter- und Kleinbürgermilieus, die durch ihre ideologische Nähe zu
Sozialisten und Kommunisten eine besondere Stellung hatte, der Anteil von Mädchen und Frauen
groß war.
Das Ehepaar Baum und die Kochmanns hatten bis 1933 offiziell im kommunistischen Jugendverband
Deutschlands gearbeitet. Die illegale Fortsetzung dieser Tätigkeit und ihr Engagement in der jüdischen
Jugendbewegung leitete über zu den Widerstandsaktivitäten, die sie mit doppelter Motivation als linke
politische Gegner der Nationalsozialisten und als diskriminierte und verfolgte Juden betrieben. Nach
außen betätigte sich die Gruppe durch das Malen von regimefeindlichen Parolen, durch Streuzettel
und Flugschriften, von denen sich manche an ganz bestimmte Berufsgruppen (z. B. Ärzte) richteten.
Innerhalb der Gruppe wurden kulturelle Arbeit und politische Diskussionen gepflegt. Der ganz auf sich
gestellte Freundeskreis suchte Verbindung zu anderen oppositionellen Gruppen, blieb aber schon
durch die jüdische Identität vieler Mitglieder weitgehend auf sich selbst angewiesen.
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Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
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Mit der Einführung des Judensterns im September 1941 zur öffentlichen Kennzeichnung der Juden
veränderte sich für die Herbert-Baum-Gruppe die Situation noch einmal. Zum Kampf gegen den
Nationalsozialismus kam die Notwendigkeit, sich auf ein Leben in der Illegalität vorzubereiten, um den
Deportationen in die Vernichtungslager zu entgehen. Anfang 1941 hatte sich die Gruppe vergrößert,
etwa zehn Jugendliche, die als jüdische Zwangsarbeiter in den Elektromotorenwerken bei SiemensSchuckert eingesetzt waren, stießen zu Herbert Baum.
Brandanschlag
Höhepunkt und Ende des Widerstandes der Herbert-Baum-Gruppe war ein Brandanschlag auf die
von den Nationalsozialisten inszenierte antikommunistische Propagandaausstellung "Das
Sowjetparadies". Sie war am 8. Mai 1942 am Berliner Lustgarten eröffnet worden. Zehn Tage später
versuchten Herbert Baum und seine Freunde, die Ausstellung, die rassistische, kulturelle und politische
Vorurteile zu einem primitiven Bild der Sowjetunion zusammenfügte, in Brand zu setzen. Eine
gleichzeitige Flugblattaktion, an der auch Mitglieder anderer Widerstandsgruppen (Rote Kapelle)
beteiligt waren, sollte zusammen mit dem Brand ein Zeichen
setzen, daß es Widerstand gegen den Nationalsozialismus gab. Auf den Zetteln stand: "Ständige
Ausstellung - das NAZI-PARADIES - Krieg. Hunger. Lüge. Gestapo. Wie lange noch?" Der Brand
richtete nur geringen Schaden an und war rasch gelöscht, gegen die Täter schlug die Gestapo wenige
Tage später zu. Möglicherweise wurden Baum und andere Beteiligte denunziert. In mehreren
Prozessen wurden über zwanzig Mitglieder der Gruppe zum Tode verurteilt. Herbert Baum kam nach
schweren Folterungen in der Haft ums Leben, wahrscheinlich durch Freitod.
Die Nationalsozialisten hielten die Widerstandsaktionen geheim, was zeigte, wie verunsichert sie
dadurch waren. Zu den Wirkungen des Brandanschlags gehörte auch das Gerücht, die Nazis hätten
aus Rache spontan fünfhundert Berliner Juden festgenommen und 250 sofort erschossen. Diese
Nachricht verbreitete sich auch im Ausland. Damit war, auch wenn es so nicht den Tatsachen entsprach,
eine Wirkung erzielt, die von der Baum-Gruppe erhofft war, nämlich die Verbreitung der Kunde, daß
es Widerstand in Deutschland gab. Die Ermordung der 250 Juden war eine Repressalie auf das etwa
zeitgleiche Attentat gegen Reinhard Heydrich, den Stellvertreter des "Reichsprotektors" in Prag
gewesen.
Der Nachruhm der Gruppe Herbert Baum war gering, gemessen an der Anteilnahme, die der
akademische Protest der Weißen Rose schon früher gefunden hatte. Die Motive der jungen Arbeiter
in Berlin waren jedoch in dem entscheidenden Punkt dieselben wie die der Studenten in München und
Hamburg: Es ging ihnen um die Überwindung eines verbrecherischen Systems, das die Welt mit Krieg
überzog im Namen einer Ideologie, die Rassenhaß und Herrenmenschentum zum Dogma erhob.
Auszug aus:
Informationen zur politischen Bildung (Heft 243) - Jugend- und Studentenopposition
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Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
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Verweigerung im Alltag und Widerstand im Krieg
Von Prof. Dr. Wolfgang Benz
9.4.2005
Geb. 1941, Studium der Geschichte, Politischen Wissenschaft und Kunstgeschichte. Seit 1990 Professor an der Technischen
Universität Berlin und Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung. Vorsitzender der Gesellschaft für Exilforschung.
Mitherausgeber der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft.
Seit 1934 erlaubte das "Gesetz gegen heimtückische Angriffe auf Partei und Staat und zum
Schutz der Parteiuniformen" der NS-Justiz jegliche Systemkritik mit harten Strafen zu ahnden.
Dennoch regte sich sowohl ziviler als auch militärischer Widerstand, wovon alleine 35000
Verurteilungen wegen Fahnenflucht während des Krieges zeugen.
Greta Kuckoff (rechts im Bild als Zuschauerin beim Globke-Prozess in der DDR 1963) war während des
Nationalsozialismus Mitglied der Widerstandgruppe "Rote Kapelle". Als Gefangene im Zuchthaus Waldheim konnte
sie von der Roten Armee befreit werden. 1945 trat sie in die KPD, lebte in der DDR und war Vizepräsidentin des
Friedensrates der DDR. Lizenz: cc by-sa/3.0/de (Bundesarchiv, 183-B0708-0014-004, Foto: Brüggmann, Eva; Stöhr)
bpb.de
Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
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Einleitung
Die nationalsozialistische Herrschaft gründete sich auf Zustimmung, Verführung und Gewalt, auf
völkische Gemeinschaftsideologie, betreuende Gleichmacherei und große außenpolitische Erfolge bis
1940. Die Zustimmung der Bevölkerung wurde zudem durch Propaganda und Inszenierungen des
Hitler-Kultes aufrecht-erhalten und immer wieder neu angefacht. Zum Herrschaftssystem gehörte aber
auch der Druck der Massenorganisationen auf jeden einzelnen; damit wurde die Illusion der
nationalsozialistischen "Volksgemeinschaft" erzeugt und am Leben gehalten. Für diejenigen, bei denen
diese Mischung aus Propaganda, Lockung und Zwang nicht ausreichte, gab es ein weiteres System
von Verboten, Strafen und Terror, das bis zum Ende der NS-Herrschaft immer wieder erweitert wurde.
Kritik am Regime, öffentliche Verweigerung und ziviler Ungehorsam waren Straftatbestände, gegen
die der NS-Staat mit unerbittlicher Härte vorging. Zu den Instrumenten gehörte das "Heimtückegesetz"
vom Dezember 1934 ("Gesetz gegen heimtückische Angriffe auf Partei und Staat und zum Schutz der
Parteiuniformen"). Diente gegen politische Gegner die Einweisung ins KZ (wo sie der Willkür der SS
preisgegeben waren, ohne daß die Justiz sich darum kümmerte), so war das "Heimtückegesetz" der
Maulkorb gegen damals so genannte "Meckerer" und "Miesmacher". Von diesem Gesetz machte die
NS-Justiz reichlichen Gebrauch.
Wer sich durch Verstoß gegen diese Gesetze und Verordnungen als Unzufriedener, als Regimekritiker,
Oppositioneller oder Widerständler zu erkennen gab, fand sich nicht vor den Schranken der
ordentlichen Justiz wieder. Schon im März 1933 waren Sondergerichte eingerichtet worden (als
besondere Strafgerichte bei den Oberlandesgerichten), für die die normale Prozeßordnung nicht galt.
Es waren auch keine Rechtsmittel zulässig. Die Sondergerichte verurteilten insgesamt etwa 11000
Menschen zum Tode. Auch wenn man berücksichtigt, daß die Sondergerichte ab Herbst 1939 auch
für bestimmte Eigentums-, Gewalt- und Wirtschaftsvergehen zuständig waren (sie reichten von
Schwarzschlachtung über Lebensmittelkartenbetrug bis zu Diebstahl "unter Ausnutzung des
Kriegszustandes"), so übertraf die Zahl der Verurteilungen bei weitem die des berüchtigten
"Volksgerichtshofs", der seit 1934 für Hoch- und Landesverrat zuständig war. Die Beschreibung eines
Rechtsanwalts aus dem Jahre 1938 traf vollkommen zu: "Seine Aufgabe ist nicht die, Recht zu
sprechen, sondern die, die Gegner des Nationalsozialismus zu vernichten." Die insgesamt 5000
Todesurteile des Volksgerichtshofs trafen Widerstand Leistende aus allen Kreisen und Schichten.
Mit Kriegsbeginn wurden Verbote erlassen, die neue Straftatbestände schufen und damit
Zehntausende von Deutschen zu "Straftätern" machten. Die "Verordnung über außerordentliche
Rundfunkmaßnahmen" stellte das Hören ausländischer Rundfunksender unter hohe Strafen, sogar
Todesurteile waren möglich. Trotzdem haben während des Krieges etwa zwei Millionen Deutsche mehr
oder weniger regelmäßig "Feindsender" gehört, darunter die Ansprachen des Schriftstellers Thomas
Mann, in dem er "Deutsche Hörer" beschwor, der Welt ein Zeichen des Widerstandes und damit der
Existenz des besseren Deutschlands zu geben. Ab 1939 war auch "Wehrkraftzersetzung" ein Delikt.
Bestraft wurden Äußerungen, die geeignet waren, die "Wehrkraft des deutschen Volkes" zu schwächen.
Dazu gehörten auch Zweifel am häufig propagierten siegreichen Ausgang des Krieges. Verboten waren
persönliche Kontakte mit Kriegsgefangenen und "Fremdarbeitern". Wer also Angehörigen dieser elend
behandelten Gruppen von Ausländern Mitleid und Barmherzigkeit erwies, ihnen z. B. Brot schenkte,
machte sich strafbar.
Die Handlungsmöglichkeiten der Opposition gegen das Regime ohne das Risiko unverhältnismäßiger
Strafen waren im nationalsozialistischen Deutschland also sehr beschränkt. Es blieb die stille
Verweigerung, das Festhalten an religiösen oder politischen Überzeugungen, die im geschlossenen
Kreis gepflegt wurden. Man konnte seinem Unmut durch Witze über das Regime und die "Bonzen"
Luft machen, solange man nicht denunziert wurde. Man konnte statt "Heil Hitler" mit "Grüß Gott"
grüßen; das war in katholischen Gegenden beliebt. Dies waren verbreitete Gesten der Abwehr und
der Behauptung gegenüber dem Verfügungsanspruch von Staat und NSDAP.
Hilfe und Solidarität für Verfolgte waren dagegen weitaus gefährlicher. Sie wurden trotzdem vielfach
geleistet, insbesondere ab 1941, als es darum ging, Juden vor der Deportation und Vernichtung zu
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Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
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bewahren. Das konnte durch Hilfe zur Flucht ins Ausland geschehen oder durch die Gewährung von
Verstecken, Arbeitsplätzen oder das Beschaffen einer neuen Identität für Untergetauchte, die in die
Illegalität geflüchtet waren.
Mindestens 10000 Juden lebten in vielfach bedrohter Existenz im Untergrund, vor allem in Berlin und
anderen großen Städten. Das Organisieren von Essen, der Diebstahl von Lebensmittelkarten, der
Handel mit gefälschten Dokumenten, das Erschleichen von Bescheinigungen gehörten zum Alltag der
Helfer, die damit Widerstand gegen den NS-Staat leisteten. Sie riskierten tagtäglich ihren Kopf, indem
sie das rettende Netz für die Illegalen immer wieder neu zuknüpften.
Wieder eine andere Form von Widerstand bildeten die Versuche, mit alltäglichen Mitteln den Opfern
des Krieges - ausländischen Zwangsarbeitern, Kriegsgefangenen oder Verfolgten - zu helfen. Das
höchste Risiko gingen diejenigen ein, die durch schleppende Arbeit in der Rüstungsindustrie
(Sabotage) oder durch die Übermittlung von Nachrichten an die Kriegsgegner ein Ende des Krieges
erzwingen wollten. Für die Nationalsozialisten waren das Straftaten wie "Feindbegünstigung" oder
Hochverrat.
Die Rote Kapelle
Der Name dieses Widerstandsnetzes, dem über 150 Menschen unterschiedlicher politischer und
weltanschaulicher Herkunft angehörten, stammt von der deutschen militärischen Abwehr. Er wurde
ursprünglich für verschiedene Gruppen gebraucht, die zu Beginn des Zweiten Weltkrieges in
Westeuropa für den sowjetischen Nachrichtendienst arbeiteten, dann auch als Pauschalbezeichnung
für vorwiegend linksintellektuelle Widerstandsgruppen in Berlin. Sie wurden wegen ihrer
Kontaktaufnahme mit der Sowjetunion von den Nationalsozialisten dem westeuropäischen Netz der
Roten Kapelle zugeordnet.
Nach jüngsten Forschungsergebnissen handelte es sich ursprünglich um mehrere Gesprächskreise,
die sich zum Teil schon seit 1933 in der Opposition gegen den Nationalsozialismus zusammengefunden
hatten. Bei Arvid Harnack (er war Oberregierungsrat im Reichswirtschaftsministerium) und seiner Frau
Mildred trafen sich Intellektuelle und Wissenschaftler. Um Harro Schulze-Boysen, der seit 1934 als
Oberleutnant im Reichsluftfahrtministerium arbeitete, scharte sich ein Freundeskreis sehr
unterschiedlicher gesellschaftlicher Herkunft, zu dem der Bildhauer Kurt Schumacher ebenso gehörte
wie der Schriftsteller Günther Weisenborn, die Tänzerin Oda Schottmüller oder der
nichtparteigebundene Kommunist Walter Küchenmeister. Seit 1940 standen Schulze-Boysen und
Harnack in Verbindung. Hinzu kamen ein Kreis junger Kommunisten, dessen Mittelpunkt der Arbeiter
Hans Coppi bildete, eine Gruppe um den Schweizer Psychoanalytiker John Rittmeister und andere,
die sich in Diskussionen um Kunst, Kultur und Politik zu Gegnern der nationalsozialistischen Diktatur
entwickelt hatten.
Ab Herbst 1940 hatte Arvid Harnack Kontakt zu einem Mitarbeiter des sowjetischen
Nachrichtendienstes in Berlin, ab März 1941 nahm auch Schulze-Boysen an den Treffen teil. Sie
beabsichtigten, mit der sowjetischen Seite eine Gesprächs- und Vertrauensbasis zu schaffen, die eine
Beendigung des Krieges und dann die außenpolitische Verständigung mit Ost und West ermöglichen
sollte. Es gelang der Harnack/Schulze-Boysen-Gruppe jedoch nur in Ansätzen, eine Kommunikation
mit Moskau aufzubauen. Sie hatte wohl nicht die Möglichkeit, umfassende militärische Pläne der
Wehrmacht an die Sowjetunion zu übermitteln. Was und wieviel der sowjetischen Seite berichtet wurde,
ist bislang unter Historikern umstritten. Allerdings wurde schon im Sommer 1942 der sowjetische
Versuch, über Fallschirmspringer Nachrichtenverbindungen zu deutschen Widerstandskreisen
herzustellen, der Roten Kapelle zum Verhängnis.
Mehr als 150 Personen waren beteiligt an der Widerstandsorganisation, die sich vor allem durch
Flugschriften und Klebezettel in Berlin bemerkbar gemacht hatte. 126 von ihnen wurden zwischen
Herbst 1942 und Frühjahr 1943 verhaftet und wegen "Spionage", "Vorbereitung zum Hochverrat" oder
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Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
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"Feindbegünstigung" vom Reichskriegsgericht oder dem Volksgerichtshof zu Todes- und
Zuchthausstrafen verurteilt. Einige wurden ohne Verfahren ermordet.
Aus ganz verschiedenen gesellschaftlichen Schichten kommend, mit unterschiedlicher Bildung und
von ganz abweichenden politischen Überzeugungen hatten die Träger dieses Widerstandes die
Beendigung des Krieges erstrebt. Sie hofften auf eine Vertrauensbasis mit der Sowjetunion, die eine
außenpolitische Verständigung mit Mos-kau ermöglicht hätte. Dadurch sollte Deutschland eine
Mittlerrolle zwischen Ost- und Westeuropa in einer neuen Friedensordnung zufallen. Grundgedanken
im Konzept der Roten Kapelle war die Sicherung der Eigenständigkeit Deutschlands als Nationalstaat.
Die Rote Kapelle war weder die straff organisierte kommunistische Kadergruppe, die Moskaus Befehle
ausführte (so lautete die offizielle Version der DDR-Geschichtsschreibung), noch die
landesverräterische Spionageorganisation im Dienste des Feindes (als die sie viele westdeutsche
Historiker lange Zeit einordneten). Daher sind Rolle und Bedeutung der Roten Kapelle in und für den
Widerstand gegen den Nationalsozialismus in der Geschichtswissenschaft bis heute umstritten.
Das Nationalkomitee "Freies Deutschland"
Unter dem Makel des Verrats standen auch die deutschen Soldaten, die sich in sowjetischer
Kriegsgefangenschaft zur Opposition gegen den NS-Staat entschlossen. In Krasnogorsk bei Moskau
war im Juli 1943 von deutschen Kriegsgefangenen der bei Stalingrad vernichteten 6. Armee und von
kommunistischen Emigranten ein "Nationalkomitee" mit dem programmatischen Titel "Freies
Deutschland" (NKFD) gegründet worden. An der Gründungsversammlung nahmen etwa 300 Personen
teil. Der Schriftsteller Erich Weinert hielt das Grundsatzreferat, in dem er die Rettung des deutschen
Vaterlandes durch den Sturz Hitlers propagierte und an die deutsch-russische Waffenbrüderschaft in
den Befreiungskriegen gegen Napoleon erinnerte. Er appellierte zudem an den Patriotismus der
Deutschen im Zeichen der schwarz-weiß-roten Fahnen des Kaiserreichs, mit denen auch der Saal
geschmückt war.
Das Gründungsmanifest wurde in der ersten Nummer der Zeitung "Freies Deutschland" publiziert, die
ebenfalls durch schwarz-weiß-rote Aufmachung deutschnationale Gefühle bei Offizieren und Soldaten
der Wehrmacht anrühren wollte. Zu den Unterzeichnern des Manifests gehörten u. a. der Schriftsteller
und spätere Kulturminister der DDR Johannes R. Becher, Willi Bredel sowie die nach Moskau
emigrierten ehemaligen Reichstagsabgeordneten der KPD Wilhelm Pieck und Walter Ulbricht. Die
beiden machten nach dem Krieg Karriere als Staatspräsident der DDR und als Generalsekretär der
SED.
Das Manifest "An die Wehrmacht und an das deutsche Volk" enthielt das politische Programm des
NKFD. Ausgehend von der Einsicht in das Unrecht und die Aussichtslosigkeit des Krieges wurde zum
Sturz des Hitlerregimes aufgerufen, um Deutschland als Staat und in seinem territorialen Bestand zu
retten. Da niemand mit Hitler Frieden schließen werde, müsse eine neue Regierung, gestützt auf
antinationalsozialistische Truppen, sofort den Krieg beenden, die Wehrmacht an Deutschlands
Grenzen zurückführen und Friedensverhandlungen unter Verzicht auf alle Eroberungen beginnen. Die
Verurteilung aller Kriegsverbrecher und führenden Nationalsozialisten sollte am Beginn eines freien
Deutschlands stehen, in dem die demokratischen Rechte garantiert werden sollten.
Der Aufruf gipfelte in der Forderung, bewaffnet "den Weg zur Heimat, zum Frieden" zu suchen: "Die
Opfer im Kampf um Deutschlands Befreiung werden tausendfach geringer sein als die sinnlosen Opfer,
die eine Fortsetzung des Krieges erfordert." Die Idee zur Gründung einer Sammlungsbewegung, in
der kommunistische Emigranten Arm in Arm mit gefangenen nationalbewußten Wehrmachtsoffizieren
und Soldaten gegen den Natonalsozialismus agieren sollten, war in der politischen Abteilung der Roten
Armee entstanden.
Die Voraussetzungen schienen in der Niederlage von Stalingrad und weiteren militärischen Erfolgen
der Sowjetunion gegeben; die Politik der Kommunistischen Internationale (Komintern) stand längst im
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Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
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Zeichen der Volksfronttaktik, die anstelle der Klassenkampfparolen nationales Bewußtsein propagierte,
um alle politischen Richtungen im Kampf gegen Hitlerdeutschland zu vereinigen. Stalin selbst setzte
Hoffnungen auf die Sammlung aller "antifaschistischen Deutschen", um den Krieg schneller beenden
zu können.
"Bund deutscher Offiziere"
Sowjetische Offiziere und deutsche kommunistische Emigranten warben im Sommer 1943 unter den
gefangenen deutschen Offizieren für die Ziele des NKFD. Die Offiziere hatten gezögert, sich der
kommunistisch dominierten Organisation anzuschließen. Sie fühlten sich aber auch von Hitler verraten,
der durch sinnlose Durchhaltebefehle den Tod von mindestens 100000 Soldaten bei Stalingrad
verursacht hatte. Im September 1943 fanden sich schließlich einige deutsche Generale bereit, aus
der Gefangenschaft heraus sich gegen Hitler zu wenden. Auf sowjetischen Vorschlag gründeten sie
den "Bund Deutscher Offiziere". Die Mitglieder waren u. a. mit dem Versprechen geködert worden, die
Sowjetunion setze sich für den territorialen Fortbestand Deutschlands in den Grenzen von 1937 ein,
wenn der Offiziersbund einen Staatsstreich gegen Hitler bewirken könne. Generale, aber auch
niedrigere Ränge, ließen sich für den Offiziersbund (der gleich nach der Gründung mit dem NKFD
zusammengeschlossen wurde) gewinnen, sahen aber ihre Erwartungen in zweifacher Hinsicht
enttäuscht: Zum einen blieben die Appelle des NKFD, durch Flugblätter und über
Lautsprecherdurchsagen an die deutschen Truppen der Ostfront, durch den in Moskau stationierten
Rundfunksender "Freies Deutschland" (der in ganz Deutschland zu empfangen war) und durch eine
Wochenzeitung (Auflage 50000 Stück) verbreitet, wirkungslos. Zum anderen gingen die Hoffnungen
des NKFD auf die Überwindung der Kluft zwischen der kommunistischen Ideologie und dem
bürgerlichen Nationalbewußtsein der Soldaten nicht in Erfüllung. Die antifaschistische Schulung in
den sowjetischen Kriegsgefangenenlagern erwies sich weithin als marxistisch-leninistische
Indoktrination.
Aus diesem Grunde, aber auch wegen des Vorwurfs, Landesverrat begangen zu haben, wurde das
NKFD in Westdeutschland lange Zeit nicht als Widerstandsorganisation anerkannt. In Ostdeutschland
hingegen ist es als Inbegriff des "klassenübergreifenden" Widerstandes gegen den "Hitlerfaschismus"
verherrlicht worden.
Beide Wertungen werden der Wirklichkeit wohl nicht gerecht. Die Propagandatätigkeit des NKFD hatte
nicht den politischen und sozialen Stellenwert, den ihr Historiker und Politiker in der DDR zumaßen,
weil sie praktisch kaum etwas bewirkte und das NKFD im Dienste der sowjetischen Kriegsführung
schon 1944 kaum noch eine Rolle spielte. Es war aber wohl auch nicht nur als Landesverrat zu
bewerten, aus der Kriegsgefangenschaft heraus für den Sturz des NS-Regimes zu arbeiten, um
weiteren Hunderttausenden das sinnlose Hingeschlachtetwerden wie in Stalingrad zu ersparen.
Kriegsdienstverweigerung und Fahnenflucht
In der historischen und politischen Diskussion um Verweigerung und Widerstand gegen das NSRegime sind Bedeutung und Einordnung von Kriegsdienstverweigerung und Fahnenflucht bis heute
umstritten. Während sie einerseits als Zeichen von Angst, Feigheit und Verrat gewertet werden, spricht
die andere Seite von einer Schwächung des Regimes durch individuelle Unterlassung, von
Verweigerung der Unterstützung eines Eroberungskrieges und von einem individuellen Akt des
Widerstandes.
Die Motive für diese höchst risikoreichen, individuellen Entscheidungen lassen sich sicher nicht bis
ins einzelne und bei jedem einzelnen ausloten und entziehen sich einem pauschalen Zugriff ebenso
wie einer detaillierten Darstellung. Man wird wohl in den meisten Fällen von einem Motivbündel
ausgehen müssen, das sich von Außenstehenden kaum entwirren läßt. Insofern sind eindeutige Urteile
über diese Gewissensentscheidungen nur schwer möglich. Auf jeden Fall aber wurden
Kriegsdienstverweigerung und Fahnenflucht vom nationalsozialistischen Regime als Auflehnung und
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Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
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verbrecherische Widerstandshandlungen empfunden. Entsprechend waren die Strafen.
Motivbündel
Tausende von Soldaten haben im Zweiten Weltkrieg durch Kriegsdienstverweigerung versucht, sich
dem Dienst mit der Waffe zu entziehen. Dafür gab es zum einen religiöse und ethische Gründe, wie
etwa bei den Zeugen Jehovas, aber auch bei evangelischen und katholischen Christen, die nicht an
kriegerischem Unrecht beteiligt sein wollten. Seit August 1939 war im Deutschen Reich die
"Kriegssonderstrafrechtsverordnung" in Kraft, mit der jede Art von "Wehrkraftzersetzung" unterbunden
werden sollte. Defätistische Äußerungen, Anstiftung zur Fahnenflucht, alle Arten von
Wehrdienstentziehung standen unter Strafandrohung. Etwa 30000mal waren Kriegsgerichte,
Sondergerichte und der Volksgerichtshof deswegen tätig. 5000 Todesurteile wurden gefällt.
Wegen Fahnenflucht ergingen im Laufe des Krieges 35000 Urteile der Militärgerichtsbarkeit, darunter
22000 Todesurteile, von denen 15000 vollstreckt wurden. Selbstverständlich waren viele Fälle von
Fahnenflucht keine Akte des Widerstandes oder der Demonstration gegen den Nationalsozialismus.
Zu den Motiven gehörten sicher auch Heimweh oder Feigheit und Verrat, ebenso wie das Entsetzen
über den Krieg, über die Verbrechen an der Zivilbevölkerung und über die Judenmorde, deren
unfreiwillige Zeugen viele Wehrmachtsoldaten im Osten wurden. Psychische Probleme konnten
Fahnenflucht auslösen oder ein Übermaß an Schikanen durch Vorgesetzte.
Bei vielen Deserteuren hat aber wohl das politische Motiv eine wichtige Rolle gespielt: Zu ihnen kann
man auch die rechnen, die schließlich von der Sinnlosigkeit des Krieges überzeugt waren und ihn nicht
mehr verlängern wollten. Sie legten es darauf an, in Gefangenschaft zu geraten. In der letzten Phase
des Krieges geschah dies mit steigender Tendenz. Andere, insbesondere Angehörige von Straf- oder
"Bewährungs"-Einheiten, liefen in Kompaniestärke zum Gegner über oder schlossen sich dem
Widerstandskampf nationaler Befreiungsbewegungen an.
So machte es etwa Ludwig Gehm, der als Mitglied des Internationalen Sozialistischen Kampfbundes
(ISK) ab 1933 vier Jahre lang politischen Widerstand geleistet hatte. Deshalb kam er ins Zuchthaus
und dann ins KZ. 1943 wurde er von Buchenwald aus für das berüchtigte Strafbataillon 999 rekrutiert.
In Griechenland desertierte er - wie viele seiner Kameraden - und schloß sich griechischen Partisanen
an, mit denen er gegen die Wehrmacht kämpfte. Britische Kriegsgefangenschaft bis 1947 blieb ihm
deswegen nicht erspart.
Ludwig Gehm, Arbeitersohn aus Frankfurt und gelernter Dreher, war politisch aktiv von Jugend an.
Später, von 1958 bis 1972, war er Stadtrat in seiner Heimatstadt. Er hat sich nicht nur dem
Unrechtsregime verweigert, sondern ihm allen Widerstand entgegengesetzt, der ihm möglich war. Er
hat versucht in die Tat umzusetzen, was Thomas Mann von den Deutschen in seinen
Rundfunkansprachen immer wieder verlangte: "Wenn ihr es nicht im letzten Augenblick fertigbringt,
euch des Gesindels zu entledigen, das euch und der Menschheit so Schandbares angetan hat, so ist
alles verloren, Leben und Ehre." (27. Juli 1943)
Auszug aus:
Informationen zur politischen Bildung (Heft 243) - Verweigerung im Alltag und Widerstand im
Krieg
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Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
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Der militärische Widerstand
Von Prof. Dr. Wolfgang Benz
11.4.2005
Geb. 1941, Studium der Geschichte, Politischen Wissenschaft und Kunstgeschichte. Seit 1990 Professor an der Technischen
Universität Berlin und Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung. Vorsitzender der Gesellschaft für Exilforschung.
Mitherausgeber der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft.
Das missglückte Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 ist heute der wohl bekannteste Widerstand
gegen den Nationalsozialismus aus dem Militär. Mit einer Bombe hofften Claus Graf
Stauffenberg und andere den Zweiten Weltkrieg zu beenden. Der Umsturzversuch endete noch
in derselben Nacht mit ihrer Hinrichtung.
Einleitung
Die Reichswehr hatte die Machtübernahme Hitlers mehrheitlich begrüßt. Die Militärs hofften auf die
Überwindung der Hemmnisse des Versailler Vertrags, auf Wiedereinführung der Wehrpflicht und
bessere Karrierechancen durch die Vergrößerung der Streitkräfte. Viele begrüßten die Beseitigung
der parlamentarischen Demokratie und standen der angekündigten autoritären Staatsordnung
überwiegend erwartungsvoll gegenüber. Die Militärs hatten nichts dagegen, daß die Hitlerregierung
die politische Linke ausschaltete, verfolgte und die NSDAP ein Einparteien-Regime errichtete. Die
Reichswehr unterstützte die Mordaktion des 30. Juni 1934 ("Röhmputsch"), bei der die Spitze der SA
liquidiert wurde, weil damit eine gefährliche und zugleich verachtete Konkurrenz ausgeschaltet wurde.
Im August 1934 gab es auch keine Einwände seitens der militärischen Führung dagegen, daß Hitler
nach dem Tod des Reichspräsidenten von Hindenburg die Ämter des Reichskanzlers und des
Staatsoberhaupts vereinigte und damit auch Oberbefehlshaber der Streitkräfte wurde.
Reichswehrminister von Blomberg führte sogar eine neue Eidesformel ein, mit der die Soldaten Hitler
persönlich Treue gelobten.
Empörung über die Morde des 30. Juni 1934, denen auch zwei ehemalige Generale (unter ihnen Kurt
von Schleicher, Hitlers Vorgänger als Reichskanzler) zum Opfer fielen, war Sache weniger Offiziere.
Zu ihnen gehörte der damalige Major Hans Oster von der Abwehrabteilung des
Reichswehrministeriums. Er und einige Gleichgesinnte mißbilligten die Zerstörung des Rechtsstaates
und verabscheuten die Methoden des NS-Regimes, dessen Antisemitismus und Kirchenfeindschaft.
Aber Opposition im Militär regte sich erst um die Jahreswende 1937/38, als manche Offiziere die
Gefahren der aggressiven Außenpolitik Hitlers zu erkennen begannen. Zu ihnen gehörte auch der
Oberbefehlshaber des Heeres, Generaloberst Werner Freiherr von Fritsch, der Hitlers
Annexionsabsichten gegen die Tschechoslowakei und Österreich kritisch gegenüberstand. Eine
Intrige, die von der SS angezettelt war, um ihn und andere konservative Generale loszuwerden, drängte
ihn Anfang 1938 aus dem Amt. Diese Intrige, die auch Kriegsminister von Blomberg zu Fall brachte,
machte es Hitler möglich, die Spitze der militärischen Organisation so umzubauen, daß er nicht nur
formell, sondern auch tatsächlich Oberbefehlshaber der Wehrmacht wurde. Die Armee war nunmehr
praktisch gleichgeschaltet und nicht mehr in der Lage, Einfluß auf den politischen Entscheidungsprozeß
zu nehmen.
Hitler hatte im November 1937 den Wehrmachtsspitzen mitgeteilt, daß er Österreich und die
Tschechoslowakei annektieren wolle, als erste Etappen zur Erweiterung des deutschen
"Lebensraumes" durch Krieg. Der Chef des Generalstabs des Heeres, Generaloberst Ludwig Beck,
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Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
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versuchte, sich dieser Entwicklung entgegenzustemmen. Nach der Annexion Österreichs im März
1938 hoffte Beck, erst mit Denkschriften den Gang der Dinge zu beeinflussen und suchte dann
vergeblich die Generale zur Gehorsamsverweigerung zu bewegen. Im August 1938 trat er zurück.
Ähnlich wie Beck dachten andere hochrangige Offiziere, etwa der Leiter der militärischen Abwehr,
Admiral Wilhelm Canaris, und dessen Stabschef Oster sowie Becks Nachfolger Franz Halder. Auch
der Kommandierende General des III. Armeekorps, Erwin von Witzleben, gehörte zu den Militärs, die
Überlegungen anstellten, wie man Hitler an der Fortsetzung seiner aggressiven Politik hindern könnte.
Zwei Strömungen standen bei den zum Staatsstreich bereiten Offizieren einander gegenüber. Die
eine, vertreten durch die Männer der Abwehr, zielte dahin, Hitler festzunehmen und zu töten; die andere
beabsichtigte lediglich, den "Führer" zu zwingen, seine Kriegspläne aufzugeben. Zu letzteren gehörten
der Generalstabschef des Heeres Halder und der Oberbefehlshaber Walther von Brauchitsch.
Der verschobene Putsch
Als Hitler im September 1938 die Tschechoslowakei durch Kriegsandrohung zur Abtretung des
Sudetengebietes zu zwingen suchte, war der Kreis um Oberstleutnant Hans Oster zu einer
gewaltsamen Aktion gegen die Reichskanzlei entschlossen. Hitler sollte getötet werden, um den
Frieden zu retten. Absicht der oppositionellen Offiziere um Beck und den Goerdeler-Kreis war es
hingegen, unmittelbar nach der Kriegserklärung, mit der Hitler die Zerstörung der Tschechoslowakei
beginnen würde, ihn durch einen Staatsstreich zu stürzen. Diese Absicht war auch in London bekannt.
Goerdeler hatte über einen Mittelsmann das Foreign Office ins Bild gesetzt. Der Gutsbesitzer Ewald
von Kleist-Schmenzin war im August 1938 auf Wunsch Osters und mit Billigung Becks nach London
gereist, wo er die Pläne sogar Winston Churchill vortragen konnte. Mit dem "Münchener Abkommen",
das mit britischer und französischer Billigung zustande kam, in dem am 29./30. September 1938 Prag
der Annexion der Sudetengebiete durch das Deutsche Reich zustimmen mußte, entfielen die
Voraussetzungen für den geplanten Putsch.
Die Militäropposition resignierte für längere Zeit und blieb auch nach dem Überfall auf Polen am 1.
September 1939 passiv. Skeptisch beurteilten die Führer der Wehrmacht den Ausgang des Krieges
gegen Frankreich und Großbritannien, weil die Wehrmacht noch nicht hinlänglich gerüstet und
ausgebildet sei. Die Mißachtung der Neutralität Belgiens, Hollands und Luxemburgs mißbilligten viele.
Die Nachrichten von dem Schreckensregiment in Polen taten ein übriges, um das Offizierskorps an
der Westfront gegen Hitler einzunehmen. Alle Vorbereitungen zu einem Staatsstreich wurden jedoch
Anfang November 1939 von General Halder abgebrochen, weil er glaubte, Hitler sei über diese
Aktivitäten informiert. Oster, einem der engagiertesten Regimegegner, blieb nichts anderes übrig als
der Versuch, Holland, Dänemark und Norwegen vor dem deutschen Überfall zu warnen.
Mit dem "Blitzkrieg" gegen Frankreich und der Besetzung großer Teile Westeuropas 1940 wuchs das
Ansehen Hitlers noch einmal. Die Begeisterung erfaßte Soldaten und Zivilisten in gleicher Weise.
Zustimmung fand auch noch der Angriff auf die Sowjetunion im Juni 1941 und hielt mindestens bis zur
Niederlage in Stalingrad Anfang 1943 an. Die Mehrheit der Deutschen ließ sich von Hitlers Erfolgen
blenden und glaubte allzulange daran, für eine gute
Sache, für ein größeres und besseres Deutschland und gegen den Bolschewismus zu kämpfen. Viele
hohe Militärs sahen, wie von Goebbels propagiert, den Überfall auf die Sowjetunion als berechtigten
und notwendigen "Kreuzzug" gegen den Bolschewismus.
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Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
261
Kontakte zu zivilen Kreisen
Die Männer der Militäropposition hielten Distanz zum NS-Regime. Ludwig Beck stand schon vor seinem
Rücktritt in Kontakt mit Goerdeler. Offiziere wie die Generale Halder, von Witzleben oder Georg Thomas
hatten ebenfalls Verbindung zum zivilen Widerstandskreis um den ehemaligen Leipziger
Oberbürgermeister aufgenommen. Die engagiertesten Hitlergegner im militärischen Bereich waren
immer noch die Männer im "Amt Ausland/Abwehr" des Oberkommandos der Wehrmacht (OKW) unter
Admiral Canaris. Bis April 1943 war die Dienststelle ein Zentrum des Widerstandes mit engen Kontakten
zum Kreisauer Kreis. Versuche, im Ausland für einen Frieden zu wirken (u. a. durch Kontakte zum
Vatikan) und die Westoffensive im Frühjahr zum Scheitern zu bringen, blieben erfolglos. 1943 wurde
nach der Verhaftung einiger Mitarbeiter (Dohnanyi, Bonhoeffer) und der Kaltstellung Osters das "Amt
Abwehr" als Ort des Widerstandes lahmgelegt. Im Februar 1944 wurde auch Canaris abgelöst, etwas
später unter Hausarrest gestellt, dann ins KZ eingeliefert und im April 1945 hingerichtet.
In drei wichtigen militärischen Dienststellen entstanden ab Ende 1941 oppositionelle Gruppen, die
auch Verbindung untereinander aufnahmen: Im "Allgemeinen Heeresamt beim Befehlshaber des
Ersatzheeres", geleitet von General Friedrich Olbricht, beim Militärbefehlshaber in Frankreich (General
Carl-Heinrich von Stülpnagel) und an der Ostfront in der Heeresgruppe Mitte, dessen Erster
Generalstabsoffizier Henning von Tresckow Mittelpunkt einer Gruppe von Regimegegnern war. Die
Greuel der deutschen Besatzungspolitik im Osten und der Massenmord an den Juden durch die
Einsatzgruppen der SS und ab Ende 1941 in den Vernichtungslagern blieben den Soldaten der
Wehrmacht nicht verborgen. Offiziere, die Rechtsempfinden und Moral über soldatisch-militärische
Pflichterfüllung stellten, waren in der Minderheit; aber es gab sie, wie Claus Schenk Graf von
Stauffenberg, der nach schwerer Verwundung in Afrika 1944 Chef des Stabes beim Oberbefehlshaber
des Ersatzheeres in Berlin wurde. Graf Stauffenberg drängte seit Frühjahr 1942 auf einen Staatsstreich,
um Hitler auszuschalten und die Verbrechen des Regimes zu beenden.
Es war schwer, einen populären Frontgeneral zu finden, der sich an die Spitze der Erhebung stellen
würde. Unterdessen scheiterten auf geradezu groteske Weise alle Attentatsversuche gegen Hitler.
Nachdem schon etliche Pläne fehlgeschlagen waren, sollte Hitler bei einem Besuch der Heeresgruppe
Mitte in Smolensk erschossen werden. Aus Rücksicht auf unbeteiligte Offiziere unterblieb der Anschlag
jedoch; Oberst Tresckow ließ dann im Flugzeug Hitlers eine Bombe verstecken, die ihn auf dem
Rückflug in die Luft sprengen sollte. Aber der Zünder versagte.
Im März 1944 schmuggelte der Abwehroffizier Oberst Rudolf-Christoph von Gersdorff eine Bombe ins
Berliner Zeughaus, wo Hitler erbeutetes Kriegsmaterial besichtigen wollte, aber - wie beim
Bürgerbräuattentat Georg Elsers 1939 - verließ Hitler die Ausstellung unerwartet früh. Zwei junge
Offiziere, Axel von dem Bussche und Ewald von Kleist, wollten Anfang 1944 anläßlich der Vorführung
neuer Uniformen Hitler beseitigen. Da er nicht erschien, war auch dieser Plan gescheitert. Auch die
Absicht des Rittmeisters Breitenbuch, als Ordonnanzoffizier des Generalfeldmarschalls Busch Zugang zu Hitler zu finden und ihn bei einer Besprechung am 11. März 1944 zu erschießen, schlug fehl,
weil die SS-Wachen den Ordonnanzen den Zutritt verweigerten.
Im Sommer 1944 war die militärische Lage längst aussichtslos. In der Normandie waren die Alliierten
gelandet, die Ostfront war in der Mitte zusammengebrochen, die deutsche Niederlage war nur noch
eine Frage der Zeit. Die oppositionellen Offiziere standen vor der Frage, ob ein gewaltsamer Umsturz
noch Sinn habe, da absehbar war, daß die Geschicke der Deutschen nach Kriegsende von den Siegern
bestimmt würden.
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20. Juli 1944
Oberst von Stauffenberg, der entschlossen war, das Attentat auf Hitler unter allen Umständen zu
begehen, um wenigstens ein moralisches Zeichen zu setzen, wurde dazu auch ermuntert von
Generalmajor Henning von Tresckow, der die Meinung vertrat, es komme gar nicht mehr auf einen
praktischen Zweck an, "sondern darauf, daß die deutsche Widerstandsbewegung vor der Welt und
vor der Geschichte den entscheidenden Wurf gewagt hat".
Der Umsturz war längst vorbereitet. Der Entwurf einer Regierungserklärung, die von Beck als
provisorischem Oberhaupt und Goerdeler als Kanzler unterzeichnet werden sollte, war bereits
ausgearbeitet. Sie sollte gleich nach dem gewaltsamen Sturz des Hitler-Regimes veröffentlicht werden.
Um das Land unter Kontrolle zu bekommen, entwarfen General Olbricht mit Stauffenberg und dessen
Freund Mertz von Quirnheim den Operationsplan "Walküre". Er basierte auf einem bereits vorhandenen
Plan zur Niederwerfung eines etwaigen Aufstandes ausländischer Zwangsarbeiter. Ein Netz aus
vertrauenswürdigen Offizieren in den wichtigen militärischen Schaltstellen wurde geknüpft.
Das Attentat auf Hitler wurde dreimal verschoben, weil Himmler und Göring bei den
Lagebesprechungen auf dem Berghof bei Berchtesgaden am 6., 11. und 15. Juli nicht anwesend
waren; sie sollten als gefährlichste und wichtigste Gefolgsleute Hitlers und als Inhaber der höchsten
Ämter im Staat zusammen mit Hitler beseitigt werden. Obwohl sie auch am 20. Juli nicht dabei waren,
zögerten Stauffenberg und sein Adjutant Oberleutnant Werner von Haeften nicht länger. Sie waren
frühmorgens vom Flugplatz Rangsdorf bei Berlin zum Führerhauptquartier "Wolfsschanze" bei
Rastenburg in Ostpreußen geflogen.
Kurz vor 12.30 Uhr setzte Stauffenberg den Zeitzünder der Bombe in Gang und begab sich zu der
Baracke, in der Hitler die Lagebesprechung abhielt. Stauffenberg stellte seine Aktentasche mit der
Bombe in der Nähe Hitlers ab und verließ unter einem Vorwand den Raum. Gegen 12.45 Uhr explodierte
die Bombe, fünf der vierundzwanzig Anwesenden wurden getötet. Hitler wurde nur leicht verletzt.
Stauffenberg, der die Detonation beobachtet hatte, war überzeugt vom Erfolg des Attentats und flog
nach Berlin zurück. Dort hatten die Mitverschwörer in den Diensträumen des Oberkommandos des
Heeres (OKH) in der Bendlerstraße stundenlang gewartet, ehe sie den Alarm nach dem Plan "Walküre"
auslösten, um die Wehrkreise zu verständigen. Generaloberst Fromm, der Befehlshaber des
Ersatzheeres, war nicht zu bewegen, sich auf die Seite des Widerstandes zu stellen. Stauffenberg
verhaftete ihn. An seine Stelle trat Generaloberst Hoepner, den Hitler 1942 entlassen hatte. Das Zögern
der Wehrkreisbefehlshaber, sich den Verschwörern anzuschließen, und die schnelle Rundfunkmeldung
von Hitlers Überleben ließen den Staatsstreich scheitern.
In Prag, Paris und Wien waren die Gesinnungsgenossen der Verschwörer für kurze Zeit erfolgreicher.
Sie waren Herren der Lage und setzten SS-Führer fest. In Berlin brach der Widerstand [Zentrum waren
die Diensträume des Oberkommandos der Wehrmacht (OKH) im Bendlerblock] noch am Abend des
20. Juli zusammen. Kurz vor Mitternacht verhaftete Generaloberst Fromm, den hitlertreue Offiziere
inzwischen wieder befreit hatten, die Spitzen des Widerstandes. Den Generälen Beck und Hoepner
gab er die Möglichkeit zum Freitod (Hoepner lehnte ab), Olbricht, Stauffenberg, Mertz von Quirnheim
und von Haeften wurden nach Mitternacht im Hof des OKH-Gebäudes erschossen.
Die Gestapo nahm in den folgenden Tagen in einer großen Verhaftungsaktion Tausende von
Regimegegnern fest, Anfang August begannen die Prozesse vor dem "Volksgerichtshof". Sie dauerten
bis zum Zusammenbruch des NS-Regimes im Mai 1945. Die genaue Zahl der Verurteilten ist nicht
bekannt, Hunderte wurden Opfer der Rache Hitlers, sie sind auf grausame Weise hingerichtet worden.
Viele ihrer Angehörigen, die nichts mit dem Umsturzversuch zu tun hatten, wurden in "Sippenhaft"
genommen und kamen ins Gefängnis oder ins Konzentrationslager.
Auszug aus:
Informationen zur politischen Bildung (Heft 243) - Der militärische Widerstand
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Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
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Stille Helden
Von Beate Kosmala
23.3.2007
Dr. phil., geb. 1949; wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Gedenkstätte Deutscher
Widerstand, Stauffenbergstraße 13-14, 10785 Berlin.
E-Mail: [email protected]
Auch während der Zeit des Nationalsozialismus gab es Handlungsalternativen. Sie waren zwar
riskant, verlangten aber nicht von vornherein todesbereiten Widerstand. Welche Möglichkeiten
hatten Helfer und Verfolgte der NS-Dikatur?
Einleitung
Erst in den vergangenen Jahren ist das öffentliche Interesse an Lebensgeschichten von Menschen
gewachsen, die während der nationalsozialistischen Diktatur verfolgten Juden halfen. Auch die
wissenschaftliche Erforschung dieses Themas begann spät: Zwischen 1997 und 2002 gab es am
Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin ein Forschungsprojekt zur
"Rettung von Juden im nationalsozialistischen Deutschland 1933 - 1945".[1] Kurz darauf setzte um
den Freiburger Militärhistoriker Wolfram Wette die Erforschung einzelner Rettungsaktionen von
Wehrmachtsangehörigen und anderen Deutschen in den besetzten Ländern ein.
Die Frage nach der Rettung ist untrennbar mit der Dimension der Vernichtung verbunden. Um das
Phänomen von Hilfe und Rettung in seiner historischen Bedeutung rekonstruieren zu können, bedurfte
es der Holocaustforschung, die erst in den 1980er Jahren zu einer historischen Teildisziplin wurde.
Erst die Forschung der vergangenen Jahre vermittelt ein vollständigeres Bild von den Deportationen
aus Deutschland,[2] eine deutlichere Vorstellung von der Wahrnehmung der Deportationen in der
deutschen Bevölkerung und ihren Reaktionen, vom Wissen über den Genozid. Diese Bereiche der
NS- und Holocaustforschung stehen in engem Zusammenhang mit der Frage, ob und wie sich die
Gruppe der Helfer von der Bevölkerungsmehrheit unterschied und was die spezifische Qualität ihres
Handelns ausmacht.
Die Forschung über die Rettung von Juden kann sich nicht auf das Verhalten der deutschen
Bevölkerung bzw. der Gruppe der Helfer beschränken, sondern muss die Deutung des Geschehens
durch die Betroffenen einbeziehen. Die 164 000 als Juden Verfolgten, die Anfang Oktober 1941 noch
in Deutschland lebten, waren eine isolierte und statistisch gesehen verarmte und überalterte Gruppe;
ein großer Teil stand im Zwangsarbeitseinsatz.[3] Als am 15. Oktober 1941 die "Evakuierungen"
begannen, waren deren tödliche Folgen für die Betroffenen nicht absehbar. Dass sich viele schon im
Herbst und Winter 1941 verzweifelt bemühten, der Deportation zu entkommen, zeigen zahlreiche
Versuche, über bezahlte "Mittler" die Zurückstellung von der "Evakuierung" zu erreichen.[4] Im
Folgenden wird die Darstellung der Hilfeleistungen für Juden auf den Zeitraum vom Oktober 1941 bis
1945 fokussiert.
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Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
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Die Verfolgten
Zeitgenössische Quellen - Tagebücher bzw. Briefe - stehen kaum zur Verfügung, da die
Untergetauchten jeglichen Hinweis auf ihre Identität vermeiden mussten. Doch auch
Nachkriegsberichte lassen Rückschlüsse auf die Reaktionen der Opfer zu.[5] Anna Drach, als
Krankenpflegerin im Jüdischen Krankenhaus in Berlin an den Deportationsvorbereitungen beteiligt,
schreibt über die frühen Transporte: "Damals glaubten noch alle an die Umsiedlung'."[6] Dies galt auch
für den Anwalt Alfred Cassierer: "Wir dachten, es wird in Polen nicht so gemütlich sein, aber man wird
leben können."[7] Die Tatsache, dass die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland zur Mitwirkung
an den Deportationen gezwungen wurde, machte es für die jüdische Bevölkerung noch schwerer,
frühzeitig einen Ausweg zu suchen.[8] Nach einigen Monaten zogen die Zurückgebliebenen
Schlussfolgerungen aus dem Verschwinden ihrer Angehörigen. Lotte Themal, die sich Ende Februar
1943 in Berlin versteckte, musste feststellen, dass von ihrer im November 1941 nach Lodz deportierten
Schwester seit April 1942 kein Lebenszeichen mehr kam.[9]
Im Sommer 1942 zeichnete sich für viele die Absicht der Deportation immer deutlicher ab. Ruth Abraham
äußert über den Abschied von ihren Eltern: "Sie wussten, dass es ihr Ende war, sie trösteten mich und
prophezeiten, das Kind, das ich unter meinem Herzen trage, wird mich vor dem Untergang retten."
[10] Andere glaubten den Informationen nicht, etwa Ruth Abrahams Angehörige: "Mein Schwager (...)
hatte die Illusion, dass er im KZ weiter arbeiten werde, wie er das bisher getan hatte und es so überleben
werde, und meine Schwester und die Kinder mussten sich ihm fügen."[11] Selly Dyck, die am 8. Januar
1943 ihren Eltern vor der Deportation beim Packen half, berichtet: "Während sich die Gestapoleute
und ihre jüdischen Begleiter zum Essen setzten, verschwand ich aus der Wohnung. Diesen Schritt
hatte ich mit meiner Mutter verabredet (...). Wie uns allen dabei ums Herz war, kann man sich schwer
vorstellen."[12]
1942 waren die Massenverbrechen an den Juden in Osteuropa ein "offenes Geheimnis".[13] Soldaten,
die von der Ostfront Briefe schrieben oder während ihres Heimaturlaubs über ihre Erlebnisse sprachen,
waren eine wichtige Quelle. Die Juden lebten nicht abgeschottet von Kontakten zur nichtjüdischen
Bevölkerung.[14] "Bei dem verbotenen Besuch von Bars, Theatern usw. geschah es nun manchmal,
dass man mit Soldaten oder Zivilpersonen zusammentraf, die ohne zu wissen, wen sie vor sich hatten,
berichteten, dass sie bei Reisen durch besetzte Gebiete im Osten gesehen hatten, wie deportierte
Juden auf teils grausame, teils raffinierte Weise ermordet worden waren", schreibt der junge Kurt
Lindenberg. Er habe sich gesagt, es sei besser, im Tiergarten zu erfrieren, "als in Polen an Cholera
oder Flecktyphus zu krepieren oder dort abgeschlachtet zu werden".[15] In manchen
Zeitzeugenberichten wird darauf hingewiesen, dass die Verfolgten von nichtjüdischen Deutschen vor
der Deportation gewarnt worden seien. Im November 1942 appellierte die Berliner Wäschereiinhaberin
Emma Gumz an Ella und Inge Deutschkron, sich nicht deportieren zu lassen. Sie habe vom
Nachbarssohn, einem Soldaten, erfahren, was er gesehen habe.[16]
Das neu bearbeitete Gedenkbuch enthält die Namen aller Deportierten, informiert aber nicht über
untergetauchte Juden.[17] Die bei der Arbeit am Berliner Gedenkbuch[18] entstandene Datenbank
enthält Angaben zu rund 3 500 jüdischen Personen, die "illegal" gelebt haben, auch solchen, die
schließlich doch verhaftet und deportiert wurden. Bis zu 12 000 als Juden Verfolgte tauchten im
Deutschen Reich unter,[19] davon bis zu 7 000 in Berlin. Wie viele in der "Illegalität" überlebten, ist
allenfalls für die Reichshauptstadt annähernd feststellbar. Die Liste der Alliierten über in Berlin
registrierte Juden vom August 1945 enthält die Namen von 1 314 Personen.[20] Durch die Bearbeitung
neuer Aktenbestände wird die Zahl von mehr als 1 500 Berliner Untergetauchten nach oben korrigiert
werden können.[21]
Zwischen der zunehmenden Gewissheit der Betroffenen über die geplante Ermordung und der
allmählich steigenden Zahl derer, die in den Untergrund flüchteten, besteht ein deutlicher
Zusammenhang. Von rund 1 000 registrierten Fällen, in denen der genaue Zeitpunkt des Untertauchens
bekannt ist, flüchteten 52 Prozent erst 1943 in den Untergrund, die meisten im Zusammenhang mit
der so genannten Fabrik-Aktion.[22] Trotz dieser reichsweiten Großrazzia auf jüdische Zwangsarbeiter
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und ihre Angehörigen am 27. Februar 1943 konnten in Berlin mindestens 4 000 Zwangsarbeiter
untertauchen, weil sie zufällig dem Arbeitsplatz fern geblieben waren, in letzter Sekunde hatten flüchten
können oder gewarnt worden waren: Die Razzia war den Firmen vorher bekannt gewesen. Anfang
März wurden fast 8 000 Berliner Juden nach Auschwitz deportiert, etwa zwei Drittel der Opfer der
Fabrik-Aktion.[23] Geht man von 73 000 Juden aus, die vor Beginn der Deportationen noch in Berlin
lebten, und nimmt einen Mittelwert von 6 000 Untergetauchten an, haben etwa acht Prozent versucht,
sich durch die Flucht zu entziehen. Nur etwa ein Viertel von ihnen hat die Befreiung erlebt. Eine
unbekannte Zahl kam durch die Bombardierungen ums Leben, andere fielen Straßenkontrollen zum
Opfer oder wurden verraten. Eine besondere Gefahr waren die etwa 30 jüdischen Fahnder ("Greifer"),
die von der Gestapo angesetzt wurden, "Illegale" aufzuspüren.[24]
Schlussfolgerungen aus eigenen Beobachtungen aus dem nichtjüdischen Umfeld zu ziehen, war fast
nur Berliner Juden möglich. In anderen Großstädten war die Deportation der "Volljuden" im Herbst
1942 nahezu abgeschlossen.[25] Allerdings waren 1944 und 1945 auch zahlreiche jüdische Partner
und Kinder aus "Mischehen" von Deportation bedroht und verbargen sich bei "arischen" Verwandten
oder anderen Helfern.[26] Die Unterstützung von Nichtjuden war unabdingbar.[27]
Die Helfer
In der Inlandspropaganda wurde zu den Deportationen geschwiegen; die Zeitungsleser erhielten nach
dem 15. Oktober 1941 zumindest Hinweise auf das Schicksal der Juden.[28] Auch gingen die
Deportationen "vor aller Augen" vor sich. Da in Teilen der Bevölkerung Bedenken spürbar wurden
(Goebbels: "Humanitätsgefühl der intellektuellen und gesellschaftlichen Schichten"), brach der
Propagandaminister Ende Oktober 1941 eine antisemitische Kampagne vom Zaun, die den Juden die
Schuld am Krieg aufbürdete: Man werde diejenigen, die sich zu Juden freundlich verhielten, wie Juden
behandeln.[29] Vielerorts machte die Gestapo ernst: Frauen, die jüdischen Bekannten Lebensmittel
brachten, wurden mit der Begründung in "Schutzhaft" genommen, sie hätten "die Maßnahmen der
Reichsregierung zur Ausschaltung der Juden aus der Volksgemeinschaft" sabotiert.[30]
Gehen wir von 6 000 Untergetauchten in der Vier-Millionen-Metropole Berlin aus und veranschlagen
durchschnittlich sieben helfende Personen für einen Verfolgten, kann man eine Zahl von über 30 000
Helfern annehmen. Sie gehören zu dem kleinen Teil der deutschen Bevölkerung, der sich nicht in die
Triade aktiver Zustimmung, Zurückhaltung und kritischer Distanz einfügten. Die Frage nach den
Motiven derer, die sich über die Einschüchterungsversuche des Regimes hinwegsetzten, ist schwierig
zu beantworten. Nur wenige schriftliche Selbstzeugnisse liegen vor.[31] Da ihr Durchschnittsalter zur
Zeit der Hilfeleistung zwischen 40 und 50 Jahren lag, lebten 1990 nur noch wenige. Ein Glücksfall für
die Forschung ist die Ehrungsinitiative "Unbesungene Helden" von 1958 bis 1966, die Innensenator
Joachim Lippschitz ins Leben rief, um (West-) Berliner Bürger, die Verfolgte (in den meisten Fällen
Juden) unterstützt und versteckt hatten, zu würdigen. In rund 1 500 Akten finden sich Personalien und
Äußerungen von Helfern und Verfolgten, welche die Rekonstruktion von Rettungsgeschichten
ermöglichen.[32] Dies gilt auch für die rund 250 einschlägigen Bundesverdienstkreuz-Akten und die
Files der "Gerechten unter den Völkern" der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem.
Anders, als es sich Goebbels vorgestellt hatte, kamen die Helfer aus allen sozialen Schichten, gehörten
unterschiedlichen Konfessionen und politischen Richtungen an oder waren nichtreligiös und
unpolitisch. Viele verfügten weder über bedeutende finanzielle Mittel oder große Wohnungen, noch
waren sie besonders gebildet oder hatten wichtige Kontakte. Die meisten waren wohl das, was man
als "gewöhnliche" Deutsche bezeichnet. Nicht alle handelten uneigennützig. Einige nutzten die Notlage
der Verfolgten aus, indem sie Gegenleistungen forderten, auch sexuelle. Herbert Strauss, der in Berlin
"illegal" lebte: "Wer daher die Motive erforscht`, die diese Menschen dazu bewegen, uns gejagten
Juden zu helfen, wird allzu leicht ein liebenswertes, aber arg vereinfachtes Bild von ihnen zeichnen
(...)."[33] Drei der wichtigsten Motive sollen im Folgenden skizziert werden.
Solidarisches Handeln: Ein kleinerer, aber herausragender Teil der Helfer hegte von Anfang an keine
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Zweifel am verbrecherischen Charakter des Regimes. Oft konnten sie aufgrund ihrer beruflichen und
sozialen Situation Hilfe leisten. Meist agierten sie in Netzwerken, die sich entweder auf frühere
Zusammenhänge stützten (Kirchen, Sozialdemokraten, Kommunisten, Nationalkonservative) oder die
sie neu zu knüpfen wussten.[34] Gertrud Luckner, Fürsorgerin beim Deutschen Caritasverband
Freiburg, setzte sich 1940 für die aus Wien in den Distrikt Lublin Deportierten ebenso ein wie für die
aus Baden nach Gurs verschleppten Juden. In ihrer Position als Beauftragte des Freiburger Erzbischofs
suchte sie Kontakte zur Bekennenden Kirche, den Quäkern und zu katholischen Kreisen; sie ließ
Pässe fälschen und verhalf Verfolgten zur Flucht. Zunächst setzte sie sich für katholische "Nichtarier",
ab 1942 auch für untergetauchte "Glaubensjuden" ein, bis sie im März 1943 verhaftet und wegen
"projüdischer Betätigung und Verbindung mit staatsfeindlichen Kreisen" ins KZ Ravensbrück
eingewiesen wurde.
Harald Poelchau, Gefängnispfarrer in Berlin-Tegel, gehört als Mitglied des Kreisauer Kreises zu den
herausragenden Gestalten des deutschen Widerstands. Lange Zeit kaum bekannt war sein Einsatz
zur Rettung von Juden. Auch Poelchau schuf sich ein Netz von Helfern.[35] Er stand mit der Dahlemer
Bekenntnisgemeinde in Verbindung und arbeitete mit der Widerstandsgruppe "Onkel Emil" um Ruth
Andreas Friedrich zusammen, deren Mitglieder aus ethisch-humanitären Motiven Verfolgte
unterstützten. Poelchaus Verbindungen reichten weit über Berlin hinaus.[36] Weniger bekannt ist
Elisabeth Abegg mit ihrem Helfernetz, das Verstecke in Berlin, Brandenburg, Ostpreußen und im Elsass
vermittelte. Auch sie war sozial engagiert und rettete zahlreiche Untergetauchte, ohne dass die Hilfe
entdeckt wurde. Ihr Netz bestand aus NS-Gegnern verschiedener konfessioneller und politischer
Orientierung. Die 1933 zwangspensionierte Studienrätin stand der Sozialdemokratie und der
Frauenbewegung nahe und trat 1940 den Quäkern bei.[37] Eine Studie rekonstruiert die Struktur des
Berliner Retternetzes um Helene Jacobs und den "Nichtarier" Franz Kaufmann mit vier
Helferbündnissen, die in der Bekennenden Kirche verwurzelt waren.[38] Eine Verbindung von
politischem Widerstand gegen das Regime und Hilfe für Juden stellt die aus Juden und Nichtjuden
bestehende Gemeinschaft für Frieden und Aufbau in Berlin und in Luckenwalde dar. Der als Jude
Verfolgte Werner Scharff und der "arische" Justizangestellte Hans Winkler mobilisierten Ressourcen
für die Unterbringung von Juden und verteilten Flugblätter. Zur Gruppe gehörten NSDAP-Mitglieder,
Kommunisten, Soldaten und Unpolitische.[39]
Hilfsangebote in bestimmten Situationen: Personen, die vor und nach ihren Hilfeleistungen nie öffentlich
in Erscheinung traten, ergriffen in einer bestimmten Situation die Initiative. Der Berliner Herrenschneider
Richard Gustke gehörte dazu. Der jüdische Zwangsarbeiter Fritz Pagel kannte ihn aus der Vorkriegszeit
und beschreibt ihn als Nazi-Gegner, der sich durch ausländische Rundfunksendungen über den
Kriegsverlauf informierte. Gustke bot Pagel Ende 1942 an, die vierköpfige Familie in seinem
Wochenendhaus in Brandenburg unterzubringen. Im Januar 1943 kam der Familienvater auf das
Angebot zurück. Nach einem halben Jahr wurden Nachbarn auf die unbekannten Bewohner
aufmerksam. Die Polizei verlangte von Gustke, die Arbeitsbücher seines "Mieters" und dessen 18jährigen Sohnes vorzulegen. Die Untergetauchten mussten fliehen, wurden bei einer Straßenkontrolle
aufgegriffen und deportiert. Nur Fritz Pagel überlebte Auschwitz.
Maria Nickel, Ehefrau eines Lkw-Fahrers und Mutter von zwei kleinen Kindern, gehört zu den
zahlreichen "einfachen" Berlinerinnen, die Leben retteten. Im November 1942 beobachtete die
katholische Hausfrau in ihrer Nachbarschaft jüdische Zwangsarbeiterinnen auf dem Weg zur Fabrik
in Kreuzberg und beschloss, einer von ihnen, einer schwangeren Frau, zu helfen. Im Januar 1943 ließ
sie für Ruth Abraham einen Postausweis auf ihren Namen ausstellen und überließ Walter Abraham
den Führerschein ihres Mannes. Mit diesen Ausweisen tauchten die Abrahams nach der Geburt ihrer
Tochter unter. Bei einer Polizeikontrolle wurden die Dokumente eingezogen, die Abrahams konnten
jedoch entkommen. Die Gestapo drohte Nickel, ihr die Kinder wegzunehmen und sie in ein
Arbeitserziehungslager einzuweisen, wenn man ihr "Judenbegünstigung" nachweisen könne. Die Frau
ließ sich nicht beirren und unterstützte die Verfolgten weiter.[40]
Reaktives Handeln: Ein Großteil der Hilfeleistungen kam zustande, weil zum Untertauchen
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entschlossene Juden nichtjüdische Bekannte, ehemalige Patienten, Kunden, Kollegen oder sogar
Unbekannte direkt um Hilfe baten. Alice Löwenthal: "Tagelang bat ich abwechselnd bei verschiedenen
christlichen Freunden um eine Unterkunft wenigstens für eine Nacht. Ich habe sie bei Menschen
gefunden, an deren Hilfsbereitschaft ich früher nie gedacht hatte. Ich habe aber auch Ablehnung jeder
nur kleinsten Hilfe erfahren bei Menschen, die sich früher in guten Zeiten als meine besten Freunde
bezeichnet hatten."[41] Wanda Feuerherm, eine Näherin aus Berlin-Lichtenberg, gehört zu denen, die
eine solche Bitte nicht abschlug. Als sie Ende 1942 von Erna Segal, der Frau eines ihr bekannten
jüdischen Pelzhändlers, gebeten wurde, die 18-jährige Tochter zu verstecken, willigte sie ein.[42] An
diesem Beispiel lassen sich zentrale Aspekte der Hilfe zeigen: Helferin und Verfolgte kannten sich
schon vor dem Krieg; die Initiative ging von den Verfolgten aus; Feuerherm gehört zu den zahlreichen
Frauen, die Juden versteckten, während der Ehemann als Soldat an der Front war. Weit mehr als die
Hälfte der bekannt gewordenen Hilfeleistenden waren Frauen.
Die Untersuchung missglückter Hilfeleistungen vermittelt den Eindruck, dass das Risiko kaum
kalkulierbar war: Einweisung in ein Konzentrationslager (in einigen Fällen mit Todesfolge), Gefängnisund Zuchthausstrafen, relativ kurze Haft im Gestapo-Gefängnis, Verwarnungen und
Einschüchterungen oder auch nur geringfügige Geldbußen. Zuweilen geschah es, dass untergetauchte
Juden aus der Wohnung ihrer Helfer heraus verhaftet wurden, ohne dass die Helfer belangt wurden.
Die Gedenkstätte "Stille Helden"
Durch den Aufbau der Gedenkstätte "Stille Helden" in der Rosenthaler Straße in Berlin entsteht in
enger räumlicher und inhaltlicher Nähe zum Museum Blindenwerkstatt Otto Weidt ein Gedächtnisort
für die jahrzehntelang sowohl in der öffentlichen Wahrnehmung als auch in der Widerstandsgeschichte
kaum beachteten Helfer[43] wie für die Verfolgten. Dies geschieht im Auftrag des Bundesbeauftragen
für Kultur und Medien und wird gefördert mit Mitteln des Europäischen Fonds für Regionale Entwicklung
(EFRE). Ziel der Dauerausstellung ist es, die Hilfe für Juden in der NS-Zeit möglichst in allen
Ausprägungen darzustellen, auch mit ihren problematischen Seiten. Natürlich gibt es wichtige
Parallelen zwischen den Hilfeleistungen für Juden und denen für andere verfolgte Gruppen, doch hat
die Hilfe für Juden paradigmatischen Charakter: Sie standen in der NS-Ideologie auf der untersten
Stufe der "Rassenhierarchie", und seit 1939, verstärkt seit 1941, wurden sie als die Schuldigen am
Krieg und als Feinde des deutschen Volkes par excellence gebrandmarkt.
Die Bezeichnung "Stille Helden" entspricht dem Wunsch ehemaliger Verfolgter, die dank mutiger Helfer
die "Illegalität" überstanden haben. Inzwischen wird dieser Ausdruck in der Literatur und den Medien
verwendet, löst aber auch Abwehr aus, oft gerade bei den so bezeichneten Helfern, die sich nicht als
Helden stilisiert sehen wollen. Auf jeden Fall fordert diese Bezeichnung zur Diskussion heraus.
Von der Gedenkstätte könnte man erwarten, insbesondere jugendlichen Besuchern
Identifikationsmöglichkeiten oder gar Vorbilder anbieten zu können, doch in einer direkten Übertragung
wird dies nicht funktionieren. Die Geschichten der Verfolgten und ihrer Helfer können aber wichtige
Erkenntnisse zur NS-Diktatur vermitteln: Die Helfer, eine kleine Minderheit, die ihr Handeln meist nicht
als Widerstand, sondern als selbstverständlich und "normal" definierten, widerlegen die Entschuldigung
vieler Deutscher nach dem Krieg, gegen den Terror habe man nichts tun können. Ihre Geschichten
zeigen, dass es Handlungsalternativen gab, die zwar riskant waren, aber nicht von vornherein
todesbereiten Widerstand verlangten. Es gilt, die Handlungsmöglichkeiten und Zwangslagen von
Helfern und Verfolgten in der Diktatur auszuloten.
Die Auseinandersetzung mit dem Handeln der Helfer, das immer wieder als Zivilcourage charakterisiert
wird, wirft Fragen auf: Werden die Hilfeleistungen für Juden in der NS-Zeit mit der Bezeichnung
"zivilcouragiertes Handeln", das eher ein Element demokratischer Alltagspraxis ist, hinreichend
erfasst? Solche Überlegungen können zum Überdenken des eigenen Handelns im sozialen und
politischen Alltag der Gegenwart und zu Solidarität und Zivilcourage in der Demokratie ermutigen.
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Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
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Text aus: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ 14-15/2007) (http://www.bpb.de/apuz/30545/stillehelden)
Fußnoten
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Die Forschung des TU-Projektes bezog sich auf das Gebiet des Deutschen Reiches in den Grenzen
von 1937. Es entstand eine Datenbank mit 3 000 Datensätzen von Helfern bzw. 2 600 von
Verfolgten. Vgl. Wolfgang Benz (Hrsg.), Überleben im Dritten Reich. Juden im Untergrund und
ihre Helfer, München 2003; Beate Kosmala/Claudia Schoppmann, Überleben im Untergrund. Hilfe
für Juden in Deutschland 1941 - 1945, Berlin 2002. Seit 2005 wird diese Datenbank an der
Gedenkstätte Deutscher Widerstand auf der Basis neuer Aktenbestände ergänzt. Dort wird eine
ständige Ausstellung für die zentrale Gedenkstätte "Stille Helden" vorbereitet; die Eröffnung ist für
2008 geplant. Künftig werden auch Rettungsaktionen von Deutschen in den besetzten Ländern
einbezogen. Vgl. Wolfram Wette (Hrsg.), Retter in Uniform, Frankfurt/M. 2002; ders. (Hrsg.),
Zivilcourage. Empörte, Helfer und Retter aus Wehrmacht, Polizei und SS, Frankfurt/M. 2004.
Vgl. Alfred Gottwald/Diana Schulle, Die "Judendeportationen" aus dem Deutschen Reich 1941 1945, Wiesbaden 2005; Wolf Gruner, Von der Kollektivausweisung zur Deportation der Juden aus
Deutschland (1938 - 1939), in: Birthe Kundrus/Beate Meyer, Die Deportation der Juden aus
Deutschland. Pläne-Praxis-Reaktionen 1938 - 1945, Göttingen 2004, S. 21 - 62.
Vgl. Wolf Gruner, Der geschlossene Arbeitseinsatz deutscher Juden, Berlin 1997.
Vgl. Susanne Willems, Der entsiedelte Jude. Albert Speers Wohnungsmarktpolitik für den Berliner
Hauptstadtbau, Berlin 2002, S. 327 - 355.
Vgl. Beate Kosmala, Zwischen Ahnen und Wissen. Die Flucht vor der Deportation (1941 - 1945),
in: B.Kundrus/B. Meyer (Anm. 2), S. 135 - 159. Die Zeitzeugenberichte stammen aus der Wiener
Library, der Sammlung von Dr. Ball-Kaduri und dem Archiv des Leo Baeck Instituts (LBI) New
York; Signaturen nach Yad Vashem Archives (YVA), Jerusalem.
YVA 02/417, S. 1.
YVA 01/198, S. 1.
Vgl. Beate Meyer, Das unausweichliche Dilemma: Die Reichsvereinigung der Juden in
Deutschland, die Deportationen und die untergetauchten Juden, in: B.Kosmala/C. Schoppmann
(Anm. 1), S. 273 - 298.
YVA 02/346, S. 2.
LBI New York, M.E. 564, S. 6. Siehe auch: Reha und Al Sokolow, Ruth und Maria. Eine Freundschaft
auf Leben und Tod, Berlin 2006.
LBI New York, M.E. 564, S. 8.
YVA 02/754, S. 5.
Frank Bajohr/Dieter Pohl, Der Holocaust als offenes Geheimnis. Die Deutschen, die NS-Führung
und die Alliierten, München 2006; vgl. auch Peter Longerich, "Davon haben wir nichts gewusst!"
Die Deutschen und die Judenverfolgung 1933 - 1945, München 2006.
Vgl. Marion Kaplan, Der Mut zum Überleben. Jüdische Frauen und ihre Familien in
Nazideutschland, Berlin 2003, S. 207.
YVA 02/33, S. 5.
Vgl. Inge Deutschkron, Ich trug den gelben Stern, München 2001(18), S. 193f.
Vgl. Gedenkbuch. Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen
Gewaltherrschaft in Deutschland 1933 - 1945, Bde. I-IV, hrsg. vom Bundesarchiv, Koblenz 2006.
Gedenkbuch Berlins der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus, FU Berlin 1995.
Bei Wolfgang Benz, Überleben im Untergrund 1943 - 1945, in: ders. (Hrsg.), Die Juden in
Deutschland1933 - 1945, München 1988(2), S. 660: "annähernd 10.000"; Konrad Kwiet/Helmut
Eschwege, Selbstbehauptung und Widerstand. Deutsche Juden im Kampf um die Existenz und
Menschenwürde 1933 - 1945, Hamburg 1984, S. 150, nennen 10 000 bis 12 000 (inkl. besetzte
Gebiete); Gerald Reitlinger, Die Endlösung, Berlin 1961(4), S. 180 nennt für Berlin (Mitte 1943)
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etwa 9 000 Untergetauchte.
Vgl. Verzeichnis der nach der Befreiung durch die Alliierten in Berlin registrierten Juden, August
1945, in: Jüdische Gemeinde zu Berlin (Bibliothek). Das Mitgliederverzeichnis der Jüdischen
Gemeinde vom Juli 1947 bestätigt diese Größenordnung in etwa mit der Zahl 1 379.
Die systematische Erhebung der OdF-Akten im Landesarchiv Berlin und im Archiv des Centrums
Judaicum Berlin; Bestände in der Behörde der BStU über Juden in der DDR.
Vgl. Claudia Schoppmann, Die "Fabrikaktion" in Berlin: Hilfe für untergetauchte Juden als Form
humanitären Widerstands, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, (2005) 2, S. 138 - 148, hier
S. 141f.
Vgl. Wolf Gruner, Widerstand in der Rosenstraße. Die Fabrik-Aktion und die Verfolgung der
"Mischehen" 1943, Frankfurt/M. 2005.
Zum "jüdischen Fahndungsdienst" vgl. Doris Tausenfreund, Erzwungener Verrat. Jüdische
"Greifer" im Dienst der Gestapo 1943 - 1945, Berlin 2006.
Dies gilt für Frankfurt/M., Hamburg und München. Beate Meyer weist für Hamburg nach, dass nur
wenig mehr als 50 Verfolgte, die überwiegend nach den Luftangriffen im Sommer 1943 flüchteten,
unter falscher Identität überlebten: "A conto Zukunft". Hilfe und Rettung für untergetauchte
Hamburger Juden, in: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte, 88 (2002), S. 205 233. In Frankfurt/M. konnten bis zu 20 als "Volljuden" klassifizierte Personen ermittelt werden, die
vor der Deportation flüchteten. Vgl. dazu Monica Kingreen, Verfolgung und Rettung in Frankfurt
am Main und der Rhein-Main-Region, in: B. Kosmala/C. Schoppmann (Anm. 1), S. 167 - 190.
Vgl. Wolfram Wette (Hrsg.), Stille Helden. Judenretter im Dreiländereck während des Zweiten
Weltkriegs, Freiburg 2005.
Vgl. Wolfgang Benz, Juden im Untergrund und ihre Helfer, in: ders. (Anm. 1), S. 11 - 48.
Vgl. P. Longerich (Anm. 13), S. 182ff.
Vgl. ebd., S. 193.
Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden, Abt. 518, Nr. 6713. Vgl. Beate Kosmala, Missglückte
Hilfe und ihre Folgen, in: dies./C. Schoppmann (Anm. 1), S. 205 - 222.
Vgl. Ruth-Andreas Friedrich, Der Schattenmann, Frankfurt/M. 1947; Harald Poelchau, Die
Ordnung der Bedrängten, Berlin 1963; Maria Gräfin von Maltzan, Schlage die Trommel und fürchte
dich nicht, Frankfurt/M.-Berlin 1988.
Vgl. Dennis Riffel, Unbesungene Helden. Die Ehrungsinitiative des Berliner Senats 1958 bis 1966,
Berlin 2007.
Herbert A. Strauss, Über dem Abgrund. Eine jüdische Jugend in Deutschland 1918 - 1943, Berlin
1999, S. 294.
Die Gruppen werden ausführlicher dargestellt in: Beate Kosmala, Zivilcourage in extremer
Situation. Retterinnen und Retter von Juden im "Dritten Reich", in: Zivilcourage lernen, hrsg. von
der Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2004, S. 106 - 116.
Vgl. Beate Kosmala, Zuflucht in Potsdam bei Christen der Bekennenden Kirche, in: W. Benz (Anm.
1), S. 113 - 130.
Vgl. Klaus Harpprecht/Harald Poelchau, Ein Leben im Widerstand, Reinbek 2004; Henriette
Schuppener, "Nichts war umsonst" - Harald Poelchau und der deutsche Widerstand, hrsg. von
Joachim Scholtyseck und Fritz Delp, Berlin 2006.
Vgl. Martina Voigt, Grüße von "Ferdinand". Elisabeth Abeggs vielfältiger Einsatz für Verfolgte, in:
Beate Kosmala/Claudia Schoppmann (Hrsg.) für den Förderverein Blindes Vertrauen e.V. des
Museums Blindenwerkstatt Otto Weidt, Sie blieben unsichtbar. Zeugnisse aus den Jahren 1941
bis 1945, Berlin 2006, S. 104 - 116.
Vgl. Katrin Rudolph, Hilfe beim Sprung ins Nichts, Berlin 2005.
Vgl. Barbara Schieb, Die Gemeinschaft Frieden und Aufbau, in: Johannes Tuchel (Hrsg.), Der
vergessene Widerstand, Göttingen 2005, S. 97 - 113.
Sokolow, Ruth und Maria; Landesarchiv Berlin, Akte Unbesungene Helden, Nr. 599.
YVA 02/622, S.4.
Yad Vashem Jerusalem, Department of the Righteous Among the Nations, ger 3782.
Vgl. Peter Steinbach, "Unbesungene Helden", in: Günther B. Ginzel (Hrsg.), Mut zur
Menschlichkeit, Köln-Bonn 1993, S. 183 - 203.
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Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
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Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
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Kommunen und NS-Verfolgungspolitik
Von Rüdiger Fleiter
30.3.2007
Dr. phil., geb. 1974; Redakteur beim Ernst Klett Schulbuchverlag Leipzig, Braunstraße 12, 04347 Leipzig.
Lange Zeit wurde die Rolle der Kommunen bei der Verfolgungspolitik unterschätzt. Dabei
führten die Rathäuser nicht nur Weisungen aus, sondern gingen immer wieder über zentrale
Vorgaben hinaus.
Einleitung
Die Städte und Gemeinden spielten im Dritten Reich eine wichtige Rolle, hatten sie doch als untere
Verwaltungsbehörden die NS-Politik auf kommunaler Ebene umzusetzen. Die Kommunalverwaltungen
standen in engem Kontakt mit der Bevölkerung und erfuhren deren Reaktionen - zustimmender wie
ablehnender Art - unmittelbarer als jede andere Behörde. Aus Sicht des Regimes erfüllten sie eine
wichtige Funktion: Für den Durchhaltewillen und die Moral der Bevölkerung ist zum Beispiel die
Bedeutung des kommunalen Krisenmanagements nach Bombenangriffen kaum zu überschätzen.
Aufgrund ihrer integrativen Funktion waren die Kommunen auch in die NS-Verfolgungspolitik involviert
- sonst wäre diese nicht so "effektiv" durchzusetzen gewesen. Es gibt wohl kaum eine
Verfolgungsmaßnahme, bei der kommunale Stellen nicht einbezogen oder wenigstens darüber
unterrichtet gewesen wären. Umso erstaunlicher ist die Tatsache, dass die Mitwirkung der Kommunen
an der NS-Verfolgungspolitik lange Zeit wenig beachtet wurde. Lokalgeschichtliche Abhandlungen
beschränken sich häufig auf die "Gleichschaltung" der Rathäuser und brechen danach ab. Im
vergangenen Jahr ist die erste Untersuchung erschienen, die am Beispiel Hannovers die Beteiligung
einer Kommune an der NS-Verfolgungspolitik von 1933 bis 1945 umfassend untersucht.[1] Die Studie
wird gestützt durch eine Reihe neuer Arbeiten aus anderen Städten, die ebenfalls die
systemstabilisierenden Dimensionen kommunaler Herrschaft betonen.[2]
Die Ergebnisse zeigen: Die Städte und Gemeinden waren stärker in die Verfolgungspolitik einbezogen
als bislang angenommen. Sie entließen Mitarbeiter aus rassischen und politischen Gründen. Sie
wirkten an der Judenverfolgung und an Deportationen mit, "arisierten" Kunstgegenstände, private
Bibliotheken, Gold- und Silbergegenstände sowie Immobilien. Die kommunalen Gesundheitsämter
sorgten für die massenhafte Sterilisierung von "Erbkranken". Die Stadtverwaltungen vertrieben Sinti
und Roma aus ihren Wohnungen und verfolgten sie. Die städtischen Bauämter beschäftigten in großer
Zahl Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter. Besonders bemerkenswert ist, dass die kommunalen
Beamten und Angestellten ihre Handlungsspielräume häufig nicht im Sinne der Opfer nutzten, sondern
immer wieder über Direktiven "von oben" hinausgingen bzw. sogar Verfolgungsmaßnahmen aus
eigenem Antrieb ersannen. Auf dem Gebiet der Verfolgungspolitik lassen sich keine nennenswerten
Gegensätze zwischen den Kommunen und den örtlichen Parteistellen ausmachen, die sich ansonsten
heftige Konflikte lieferten. Daher muss das Bild von einem Gegensatz zwischen der "alten Bürokratie"
und der neuen NSDAP-Bürokratie, wie es in der älteren Literatur entwickelt wurde, in Frage gestellt
werden.
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Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
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Gegensatz von Staat und Partei?
Die Rolle der Beamtenschaft im Dritten Reich wurde Mitte der 1960er Jahre von Hans Mommsen
erstmals systematisch untersucht. Mommsen zeigte in seinem Standardwerk, dass es sich beim NSStaat um "kein monolithisch strukturiertes, von einheitlichem politischen Wollen durchströmtes
Herrschaftsgebilde" handelte.[3] Aus diesen Überlegungen wurde später von Mommsen und anderen
Historikern die Polykratie-Theorie entwickelt, nach der der NS-Staat eine "Herrschaft der Vielen"
gewesen sei. Mommsen lenkte die Aufmerksamkeit weg vom vermeintlich starken, alle Geschicke
bestimmenden Führer auf andere gesellschaftliche Akteure, in diesem Fall das Berufsbeamtentum.
Das war ein wichtiger Schritt für die historische Forschung, denn es gab in den 1950er und 1960er
Jahren in Justiz und Gesellschaft der Bundesrepublik die Tendenz, die Verantwortung für die NSVerbrechen auf einen engen Kreis hoher Parteifunktionäre zu beschränken, um von der Mitwirkung
der Funktionseliten und breiter Teile der Bevölkerung abzulenken.[4]
Mommsen wies nach, dass der Beamtenapparat - trotz Durchführung des Berufsbeamtengesetzes im Kern unangetastet geblieben war, und verwies auf die gemeinsamen Interessen, die Hitler und das
traditionelle Beamtentum verbunden hatten.[5] Im Zentrum seiner Analyse stand die innere Struktur
des NS-Systems, die er durch einen Dualismus zwischen Partei und Staat bestimmt sah. Hitler habe
das Verhältnis zwischen Partei und Staat nie grundsätzlich geklärt, sondern in der Schwebe gehalten.
Obwohl sich das Regime nach der Machtübertragung grundsätzlich zum Berufsbeamtentum bekannt
habe, sei parallel zum traditionellen Verwaltungsapparat eine Parteibürokratie aufgebaut worden. Das
konkurrierende Nebeneinander von Partei- und Staatsstellen habe während der gesamten Zeit des
Dritten Reichs zu schweren inneren Spannungen geführt und sei von "tiefe(r) Gegensätzlichkeit"
geprägt gewesen. Die NSDAP habe gegenüber den Beamten ein "ausgeprägt feindseliges, politisch
motiviertes Misstrauen" an den Tag gelegt, wie umgekehrt die Fachbeamten die Arbeit der oft
dilettantisch vorgehenden Parteifunktionäre gering geschätzt hätten.[6]
Die Fokussierung auf die Auseinandersetzungen zwischen Partei und Staat brachte jedoch das
Problem mit sich, dass die traditionelle Bürokratie stets als gemäßigteres Element gegenüber einer
vermeintlich radikaleren Parteibürokratie erschien. Die Beamtenschaft wurde bei Mommsen als
passives Element beschrieben, dessen Kompetenzen durch den Parteiapparat "ausgehöhlt" worden
seien und das sich einer "fortschreitenden Zersetzung des Staatsapparates" ausgesetzt gesehen
habe. So erschien das Beamtentum ganz überwiegend als Opfer der Nationalsozialisten. Indem
Mommsen die Geschichte des Beamtentums im Dritten Reich als "Geschichte seiner inneren und
äußeren Selbstbehauptung" charakterisierte, reproduzierte er letztlich die Selbstsicht der
Beamtenschaft auf das Regime.[7]
Unbeachtet blieb das eigentliche Handeln von Verwaltungsbeamten, die bei der Durchführung
zahlreicher Verbrechen mitgewirkt hatten. Zwar war nach dem damaligen Forschungsstand die
Beteiligung der Beamtenschaft noch nicht im vollen Ausmaß bekannt, doch erste Untersuchungen
waren bereits veröffentlicht.[8] Zu Recht ist in der neueren Forschung darauf verwiesen worden, dass
"die Verfolgungsmaßnahmen auch und gerade von denjenigen Behörden formuliert und exekutiert
wurden, die lange im Gegensatz zur NSDAP und als konservative Beharrungskräfte galten".[9]
Analysiert man die Rolle der Beamtenschaft im Nationalsozialismus daher auf der Handlungsebene,
erscheint die Beamtenschaft neben anderen (Partei-)Akteuren als Vollstreckerin der NS-Politik - von
einem Gegensatz zwischen Partei und Staat kann unter diesem Gesichtspunkt keine Rede sein.
Die Studien zur Kommunalverwaltung im Dritten Reich orientierten sich fortan in Anlehnung an
Mommsens Beamtenstudie am Dualismus-Paradigma. Horst Matzerath ging 1970 der Frage nach, ob
die kommunale Selbstverwaltung im Nationalsozialismus Bestand gehabt habe.[10] Aus dieser
Perspektive erschienen die Vorgänge nach 1933 als "Zerstörungsprozess" der kommunalen
Selbstverwaltung: "Die Gemeinde als örtliche politische Ebene war in der Hand der Partei."[11]
Matzerath schlussfolgerte, Mommsen zitierend: "Die kommunale Selbstverwaltung war eines der
traditionellen Elemente, die der Nationalsozialismus parasitär ausnutzte und zersetzte`."[12] Abermals
erschien die staatliche bzw. kommunale Verwaltung durch ihre Gegenüberstellung mit der
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Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
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Parteibürokratie als gemäßigteres Element. So untersuchte Matzerath das Verhältnis der beiden
kommunalpolitischen Institutionen von Staat und Partei, dem Deutschen Gemeindetag (Staat) und
dem Hauptamt für Kommunalpolitik (Partei). Durch den Ämter-Dualismus habe sich eine "immer
stärkere Zuordnung von Politik einerseits [Hauptamt für Kommunalpolitik, R.F.] und sachgebundener
Aufgabenerfüllung andererseits [Deutscher Gemeindetag, R.F.]" vollzogen.[13]
Nach dem heutigen Forschungsstand erscheint diese Gegenüberstellung als zu stark, denn zur
"sachgebundenen Aufgabenerfüllung" des Deutschen Gemeindetages gehörte unter anderem die
Koordinierung des staatlichen Raubes von Schmuck, Gold und Silber aus jüdischem Eigentum im
Frühjahr 1939.[14] Einmal mehr muss - von der Handlungsebene aus betrachtet - die These vom
Dualismus zwischen Staat und Partei relativiert werden.
Radikalisierung von unten: das Beispiel Hannover
Neue Anstöße für die Forschung hat Wolf Gruner Ende der 1990er Jahre gegeben.[15] Während große
Arbeiten wie Raul Hilbergs "Vernichtung der europäischen Juden" die Judenverfolgung eher als zentral
initiierten Prozess darstellten, hat Gruner erstmals die lokale Ebene als Faktor im Verfolgungsprozess
in den Blick genommen.[16] Für den Aspekt der Judenverfolgung nahm er 1998 einen entscheidenden
Paradigmenwechsel vor, indem er von einer "wechselseitigen Dynamisierung" der lokalen und
zentralen Politik sprach.[17] Gruner wies nach, dass die Dynamik der NS-Politik nicht nur von oben
nach unten verlief, sondern Anstöße zur Radikalisierung der Judendiskriminierung in bestimmten
Phasen des Dritten Reiches von der lokalen Ebene ausgingen. Immer wieder hat er Vorstöße der
örtlichen Partei- und Kommunalverwaltungen beobachtet, die nicht auf Reichsgesetze warteten,
sondern aus eigenem Antrieb auf eine Radikalisierung der Judenverfolgung drängten.
Die Fallstudie aus Hannover bestätigt Gruners Thesen auf ganzer Linie. Bei dieser Stadtverwaltung
handelte es sich um eine traditionelle Verwaltung, in der bis 1937 der konservative Oberbürgermeister
Arthur Menge das Selbstverständnis der meisten Beamten prägte. Er war seit 1925 im Amt und trat
nie in die NSDAP ein. Während in den meisten Kommunen die Oberbürgermeister rasch ausgetauscht
wurden, stand Menge in Hannover - ähnlich wie Carl Friedrich Goerdeler in Leipzig - auch nach 1933
für Kontinuität. Das Verhältnis der Kommunalverwaltung zur NSDAP war denkbar schlecht, so dass
Menge 1937 als Oberbürgermeister nicht wieder antreten durfte. Doch auch mit seinem Nachfolger,
einem Parteimitglied, war die NSDAP unzufrieden, so dass er vorzeitig gehen musste. Im November
1941 schrieb die Gauleitung an das Hauptamt für Kommunalpolitik: "Ich hoffe zuversichtlich, dass die
vom Gauleiter eingeleiteten Schritte eine Erneuerung der Stadtverwaltung an Haupt und Gliedern und
damit auch die Schaffung eines Vertrauensverhältnisses zwischen Partei und Stadtverwaltung zur
Folge haben werden, das hier leider noch niemals bestanden hat."[18]
Trotz habitueller Distanz zur NSDAP und konservativem Selbstverständnis - auf dem Feld der
Verfolgungspolitik war die Stadtverwaltung Hannover kein Sonderfall. Sie gleicht einem Mikrokosmos
des Regimes, in dem beobachtet werden kann, wie sich das Deutsche Reich nach 1933 vom
Rechtsstaat zu einem "Doppelstaat" (Ernst Fraenkel) veränderte.[19] Grundsätzlich handelten die
städtischen Mitarbeiter nach 1933 auf der Basis des überkommenen Normenstaates weiter: Sie führten
Grundbücher, erhoben Steuern, schlossen Verträge ab und beachteten das gültige
Verwaltungsregelwerk. Daneben setzten sie aber auch Maßnahmen um, die das traditionelle
Regelwerk und den Gleichheitssatz der Weimarer Reichsverfassung außer Kraft setzten. Dazu drei
Beispiele.
Erb- und Rassenpflege: Auf der Basis der zentralen, reichsweit gültigen Erb- und Rassengesetzgebung
gründete die Stadtverwaltung Hannover 1935 ein Gesundheitsamt und eröffnete dort eine Abteilung
Erb- und Rassenpflege.[20] Das Gesundheitsamt richtete seine Tätigkeit nach erb- und
rassepflegerischen Gesichtspunkten aus, stellte über 2 100 Sterilisationsanträge, nahm tausende von
Ehegesundheitsuntersuchungen vor und erfasste über ein Viertel der Stadtbevölkerung in einer
Erbkartei. Das Amt setzte die vorgegebenen Unrechtsnormen unnachgiebig um. Der verantwortliche
bpb.de
Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
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"Erbarzt" ging dabei so radikal vor, dass er vom Regierungspräsidenten strafversetzt wurde. Die
NSDAP-Gauleitung erwog sogar, die Geheime Staatspolizei auf den Mediziner anzusetzen wohlgemerkt: nicht wegen regimekritischen Verhaltens, sondern wegen Übererfüllung auf dem Gebiet
der Eugenik. Dabei stand das Personal der Abteilung Erb- und Rassenpflege mit wenigen Ausnahmen
der NSDAP mit formaler Distanz gegenüber. Trotzdem wurde die Erb- und Rassengesetzgebung in
Hannover von allen Beteiligten im einvernehmlichen Handeln umgesetzt. Auf der Handlungsebene
gab es keine dualistischen Tendenzen zwischen Parteimitgliedern und Nicht-Nationalsozialisten. Der
Großteil der Sterilisierungen wurde während der Amtszeit des nicht-nationalsozialistischen
Oberbürgermeisters Menge vorgenommen - es gibt keine Hinweise, dass Menge den eugenischen
Maßnahmen kritisch gegenüberstand.
Judenverfolgung: In allen Phasen des Dritten Reichs spielte die Stadtverwaltung Hannover bei der
Judenverfolgung eine aktive Rolle.[21] Die Diskriminierungen betrafen immer weitere Lebensbereiche
der jüdischen Einwohner und reichten vom Verbot des Betretens der Markthalle bis hin zu separaten
Öffnungszeiten für Juden in städtischen Ämtern. Bereits kurz nach der Machtübertragung stieß die
Kommune Aktionen an, die durch keine zentralen Vorgaben gedeckt waren: Sie änderte
Straßennamen, verbannte Bücher jüdischer Autoren aus der Stadtbibliothek und verlieh jüdischen
Unternehmern keine öffentlichen Aufträge mehr. Um jüdische Händler von Märkten und jüdische
Sportler aus den Vereinen auszuschließen, nahm die Kommune sogar Konflikte mit den
Aufsichtsbehörden in Kauf, die eine Radikalisierung untersagten. Oft genügten einzelne Beschwerden
aus der Bevölkerung, um eine neue Diskriminierungsmaßnahme anzustoßen. Zunehmend koordinierte
der Deutsche Gemeindetag die Judenpolitik in allen Kommunen des Reiches.[22]
Nach dem Judenpogrom im November 1938 separierten die Kommunen die Juden in der Fürsorge
und im Wohnbereich von der übrigen Bevölkerung. Außerdem wurden sie zur Abgabe sämtlicher Goldund Silbergegenstände gezwungen. Wie überall im Reich war es auch in Hannover die Stadtverwaltung,
die die Juden dazu ins städtische Leihamt bestellte. Doch sie beließ es nicht bei der Durchführung
des staatlichen Raubes, sondern versuchte darüber hinaus, zu profitieren: Oberbürgermeister Henricus
Haltenhoff, Menges Nachfolger, kaufte 1940 zu günstigen Preisen Gegenstände aus dem
beschlagnahmten Gut an, um das Ratssilber um 142 Stücke zu ergänzen. Die Kommune betrieb eine
eigenständige "Arisierungspolitik": Sie erwarb zwischen 1933 und 1945 zu unlauteren Bedingungen
über hundert bebaute und unbebaute Grundstücke von Juden, wofür sie knapp drei Millionen RM
ausgab. Sie nutzte die Notlage wohlhabender jüdischer Einwohner aus, um Kunstsammlungen in
städtische Museen zu überführen und eine Privatbibliothek in das Magazin der Stadtbibliothek
einzugliedern. Mit den freiwilligen Kaufgeschäften dokumentierte sie indirekt ihre zustimmende Haltung
zur Verfolgungspolitik. Die spektakulärste Radikalisierung durch die Stadtverwaltung geschah im
September 1941, als die Kommune auf Druck der NSDAP-Gauleitung die noch nicht
zusammengefassten Juden gewaltsam aus ihren Häusern trieb und in "Judenhäusern" einquartierte:
Ohne rechtstechnische Grundlage "verwertete" die Stadtverwaltung das beschlagnahmte Mobiliar und
wurde dafür von der zuständigen Oberfinanzdirektion gerügt.
Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene: Zur Aufrechterhaltung der Infrastruktur während des
Bombenkrieges nutzten die Stadtverwaltungen die Möglichkeit, Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene
einzusetzen. Allein die Stadtverwaltung Hannover betrieb zeitweise 22 Lager und beschäftigte zu
Spitzenzeiten bis zu 9 000 Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter.[23] Annette Schäfer kommt zu dem
Ergebnis, dass die Kommunen bei der Zwangsarbeiterbeschäftigung "in der Regel nüchternem
Interessenkalkül" folgten, auch wenn Entscheidungen "im Einzelfall auf der Grundlage
rassenideologischer Kriterien" gefällt wurden.[24] Das gilt auch für Hannover: Der Wunsch nach
Beschäftigung von Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern entsprang dem städtischen Interesse, die
umfangreichen Arbeiten trotz Personalmangels zu bewältigen. Aus diesem Grund drang die
Stadtverwaltung bei übergeordneten Stellen auf die Zuweisung neuer Arbeiter und verschärfte dadurch
das System der Zwangsarbeit. Die Kommunen wirkten als dynamisierende Kraft bei der
Zwangsarbeiterbeschäftigung und befürworteten von Anfang an den Arbeitseinsatz sowjetischer
Kriegsgefangener, obwohl er innerhalb der NS-Führung aus ideologischen Erwägungen umstritten
bpb.de
Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
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war.[25]
Für das Funktionieren des lokalen Systems der Zwangsarbeit waren die Stadtverwaltungen
unverzichtbar: Sie beschäftigten nicht nur eigene Zwangsarbeiter, sondern die kommunalen
Wirtschafts- und Ernährungsämter und die Gesundheitsämter waren für alle Arbeiter und Gefangenen
im Stadtgebiet zuständig, also auch für die in der Industrie eingesetzten Kräfte. Die städtischen
Desinfektionsanstalten entlausten in großer Zahl Gefangene, die sich "auf Transport" befanden. Die
Stadtbauräte waren als "Leiter der Sofortmaßnahmen" nach Bombenangriffen zentrale Figuren beim
Kriegsgefangeneneinsatz, ihre Kompetenzen reichten weit über den Bereich der Stadtverwaltungen
hinaus. Solange ihre Interessen gewahrt blieben, übernahmen die Stadtverwaltungen diese Tätigkeiten
ohne Protest. Allerdings zeigten sie kein Interesse an Maßnahmen, die sich für sie nicht auszahlten.
So wehrte sich die Stadtverwaltung Hannover dagegen, tausende von Gefangenen aus den
Durchgangslagern zu entlausen, die nicht im Stadtgebiet verblieben. Sie hatte auch kein Interesse
daran, zur langfristigen Eindämmung "volksbiologischer Gefahren" Bordelle für Ausländer einzurichten.
Die Behandlung der Ausländer folgte einem rassenideologisch ausgerichteten Regelwerk, das von
unterschiedlichen Verpflegungs- und Versorgungssätzenbis zur Separierung von Kranken nach
Rassenzugehörigkeit reichte. Die städtischen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter wurden zu
gefährlichen Arbeiten, etwa zur Entschärfung von Bomben, eingeteilt. Stadtverwaltungen wie Köln
kooperierten zu diesem Zweck sogar mit der SS, um KZ-Häftlinge dafür zu rekrutieren.[26]
Bilanz und Forschungsdesiderate
Die Ergebnisse der Fallstudie bestätigen Gruners These von der "wechselseitigen Dynamisierung von
zentraler und lokaler Ebene". Dass sein Befund am Beispiel von Hannover verifiziert werden konnte,
ist besonders aussagekräftig, weil die dortige Kommunalverwaltung im Vergleich mit anderen Städten
weniger nazifiziert war. Doch selbst diese Verwaltung mit konservativem Selbstverständnis und mit
Distanz zur NSDAP radikalisierte die Politik der NS-Regierung, auch wenn Städte wie Frankfurt am
Main oder München etwa bei der "Arisierung" noch schärfer vorgingen.[27]
Die NS-Verfolgungspolitik durch die Kommunen ist noch immer nur unzureichend erforscht. Für die
Lokalgeschichtsschreibung tut sich hier ein weites Forschungsfeld auf, wie allein am Beispiel der
Edelmetallabgabe für Juden gezeigt werden kann: Diese zentrale, organisatorisch aufwändige
Verfolgungsmaßnahme wurde nicht von der Partei oder der Gestapo, sondern von den Kommunen
ausgeführt. In rund 60 kommunalen Pfandleihanstalten im Reich wurden so genannte öffentliche
Ankaufstellen eingerichtet, in denen Verwaltungsmitarbeiter die abgegebenen Gegenstände
registrierten, ihren Wert abschätzten, den Juden eine geringe Entschädigung dafür auszahlten, die
Gegenstände einschmelzen ließen, versteigerten oder an eine zentrale Stelle nach Berlin
weiterleiteten. Die Leihämter schickten insgesamt 135 Tonnen Silber und 1,3 Tonnen Gold an die
Schmelzanstalten.[28] Die Gesamteinnahmen der öffentlichen Ankaufstellen für Wertsachen von
Juden beziffert Stefan Mehl reichsweit mit rund 54 Millionen RM.[29] Trotz dieser Dimensionen fehlt
die Aktion insämtlichen bisher vorliegenden Stadtgeschichten. Außer in Hannover ist sie lediglich in
Frankfurt am Main näher untersucht.[30]
Auch andere Verfolgungsfelder fehlen in vielen lokalgeschichtlichen Darstellungen. Letztlich ließe sich
über die erwähnten Beispiele hinaus anhand jedes beliebigen kommunalen Amtes die Mitwirkung der
Städte an der NS-Verfolgungspolitik dokumentieren:
•
Die Personalämter entließen nach dem Berufsbeamtengesetz Mitarbeiter aus politischen und
rassischen Gründen.
•
Die Sportämter beschlagnahmten die Sportanlagen von jüdischen Vereinen und der
Arbeiterbewegung.
bpb.de
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•
Die Gartenverwaltungen vertrieben Juden aus den öffentlichen Grünanlagen.
•
Die Statistischen Ämter ermittelten die Anzahl von Juden und "Mischlingen" im Stadtgebiet in
Zusammenarbeit mit der Geheimen Staatspolizei.
•
Die Einwohnerämter führten Suchkarten des Gesundheitsamtes für Geschlechtskranke.
•
Die Wohlfahrtsämter lieferten Informationen in Sterilisations- sowie Ehegesetzgebungsverfahren
und waren an der Verfolgung von "Asozialen" beteiligt.
•
Die Standesämter arbeiteten bei
Gesundheitsämtern Hand in Hand.
•
Die Stadtarchive lieferten Material zur "Sippenforschung".
•
Die Schulämter gaben Beurteilungen von Hilfsschülern zur Verwendung in Sterilisationsverfahren
weiter und schlossen jüdische Kinder vom Unterricht aus.
•
Die Wohnungsämter vertrieben Juden, Sinti und Roma aus ihren Wohnungen und bereiteten
Deportationen vor.
•
Die Fürsorgebehörden schlossen Juden von Sozialleistungen aus.
•
Die Oberbürgermeister genehmigten
Einzelhandelsgeschäften.
•
Die Grundstücksämter kauften Immobilien von jüdischen Eigentümern, die auswandern mussten
oder deportiert wurden.
•
Die Kämmereien verbuchten das "arisierte" Vermögen in den städtischen Haushalten.
•
Die Bauämter organisierten die städtischen Kriegsgefangeneneinsätze.
•
Die Wirtschafts- und Ernährungsämter waren für die Lebensmittelrationierung für sämtliche
Einwohner zuständig - inklusive der Juden sowie der Insassen in Gefängnissen, Gefangenenund Konzentrationslagern. Kaum eine Behörde verfügte über einen solch umfassenden Überblick
über das NS-Lagersystem.
der
in
Umsetzung
vielen
der
Ehegesetzgebung
Kommunen
die
mit
"Arisierungen"
den
von
Die Liste ließe sich fortsetzen. Den Kommunen bleibt viel Arbeit, wenn sie ihre Mitwirkung an der NSVerfolgungspolitik aufarbeiten wollen.
Auszug aus:
Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ 14-15/2007) - Kommunen und NS-Verfolgungspolitik
(http://www.bpb.de/apuz/30547/kommunen-und-ns-verfolgungspolitik)
Fußnoten
1.
Vgl. Rüdiger Fleiter, Stadtverwaltung im Dritten Reich. Verfolgungspolitik auf kommunaler Ebene
am Beispiel Hannovers, 2., korr. Aufl., Hannover 2007.
bpb.de
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Vgl. Sabine Mecking/Andreas Wirsching (Hrsg.), Stadtverwaltung im Nationalsozialismus.
Systemstabilisierende Dimensionen kommunaler Herrschaft, Paderborn 2005; Bernhard Gotto,
Nationalsozialistische Kommunalpolitik. Administrative Normalität und Systemstabilisierung durch
die Augsburger Stadtverwaltung 1933 - 1945, München 2006; Detlef Schmiechen-Ackermann/
Steffie Kaltenborn (Hrsg.), Stadtgeschichte in der NS-Zeit. Fallstudien aus Sachsen-Anhalt und
vergleichende Perspektiven, Münster 2005.
Vgl. Hans Mommsen, Beamtentum im Dritten Reich, Stuttgart 1966, S. 18.
Vgl. dazu z.B. Rüdiger Fleiter, Die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung
von NS-Verbrechen und ihr gesellschaftliches und justizielles Umfeld, in: Geschichte in
Wissenschaft und Unterricht (GWU), 53 (2002), S. 32 - 50.
Vgl. H. Mommsen (Anm. 3), S. 14.
Vgl. ebd., S. 23.
Vgl. ebd., S. 15. Vgl. die Kritik von Mommsens Ansatz bei Nicolas Berg, Der Holocaust und die
westdeutschen Historiker. Erforschung und Erinnerung, Göttingen 2004(3), S. 564.
Vgl. Léon Poliakov/Josef Wulf, Das Dritte Reich und seine Diener. Dokumente, Berlin 1956. Zur
Nicht-Rezeption dieses Werks durch die westdeutschen Historiker vgl. N. Berg (Anm. 7), S. 337 370.
Wolf Gruner/Armin Nolzen (Hrsg.), "Bürokratien". Initiative und Effizienz, Berlin 2001, S. 7 - 15.
Vgl. Horst Matzerath, Nationalsozialismus und kommunale Selbstverwaltung, Stuttgart 1970.
Ebd., S. 434.
Ebd. Vgl. auch H. Mommsen (Anm. 3), S. 18.
Ebd., S. 227.
Vgl. Wolf Gruner, Öffentliche Wohlfahrt und Judenverfolgung. Wechselwirkung lokaler und
zentraler Politik im NS-Staat (1933 - 1942), München 2002, bes.S. 291 - 293; ders., Der Deutsche
Gemeindetag und die Koordinierung antijüdischer Kommunalpolitik. Zum Marktverbot für jüdische
Händler und zur "Verwertung" jüdischen Eigentums, in: Archiv für Kommunalwissenschaften, 37
(1998), S. 261 - 291.
Vgl. Wolf Gruner, Die NS-Judenverfolgung und die Kommunen: Zur wechselseitigen
Dynamisierung von zentraler und lokaler Politik 1933 - 1941, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte
(VfZ), 48 (2000), S. 75 - 126.
Die Radikalisierung durch die lokale Ebene wird auch thematisiert bei Michael Wildt, Gewaltpolitik.
Volksgemeinschaft und Judenverfolgung in der deutschen Provinz 1932 bis 1935, in: Werkstatt
Geschichte, 35 (2004), S. 23 - 43; Peter Longerich, Politik der Vernichtung. Eine Gesamtdarstellung
der nationalsozialistischen Judenverfolgung, München 1998.
Vgl. W. Gruner (Anm. 15).
Stellv. Gauleiter an Hauptamt für Kommunalpolitik, 24.11. 1941, Bundesarchiv Berlin, NS 25/798.
Ernst Fraenkel, The Dual State, A Contribution to the Theory of Dictatorship, New York 1941.
Vgl. R. Fleiter (Anm. 1), S. 57 - 121.
Vgl. ebd., S. 123 - 276.
Vgl. W. Gruner, Der Deutsche Gemeindetag (Anm. 14), S. 261 - 291.
Vgl. R. Fleiter (Anm. 1), S. 301 - 339.
Vgl. Annette Schäfer, Zwangsarbeit in den Kommunen. "Ausländereinsatz" in Württemberg 1939 1945, in: VfZ, 49 (2001), S. 70.
Vgl. ebd., S. 55.
Vgl. Karola Fings, Messelager Köln. Ein KZ-Außenlager im Zentrum der Stadt, Köln 1996.
Vgl. Doris Eizenhöfer, Die Stadtverwaltung Frankfurt am Main und die "Arisierung" von
Grundbesitz, in: S. Mecking/A. Wirsching (Anm. 2), S. 299 - 324; Ulrike Haerendel, Kommunale
Wohnungspolitik im Dritten Reich. Siedlungsideologie, Kleinhausbau und "Wohnraumarisierung"
am Beispiel Münchens, München 1999.
Vgl. Ralf Banken, Der Edelmetallsektor und die Verwertung konfiszierten jüdischen Vermögens
im "Dritten Reich". Ein Werkstattbericht über das Untersuchungsprojekt "Degussa AG" aus dem
Forschungsinstitut für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte an der Universität zu Köln, in: Jahrbuch
für Wirtschaftsgeschichte, (1999) 1, S. 171, Fn. 246.
Vgl. Stefan Mehl, Das Reichsfinanzministerium und die Verfolgung der deutschen Juden 1933 -
bpb.de
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1943, Berlin 1990, S. 85.
30. Vgl. Monica Kingreen, Raubzüge einer Stadtverwaltung. Frankfurt am Main und die Aneignung
"jüdischen Besitzes", in: Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus, 17 (2001), S. 17 - 50.
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Auf dem Weg zum 20. Juli 1944
Von Gerd R. Ueberschär
9.4.2005
Dr. phil., geb. 1943; 1976-1996 wiss. Mitarbeiter am Militärgeschichtlichen Forschungsamt Freiburg i. Br. und Potsdam; seit 1996
Historiker am Bundesarchiv-Militärarchiv Freiburg und Lehrbeauftragter an der Universität Freiburg.
Anschrift: Haierweg 21, 79114 Freiburg i. Br.
E-Mail: [email protected]
Veröffentlichungen u.a.:(Hrsg.) Hitlers militärische Elite. 2Bde., Darmstadt 1998; Die Deutsche Reichspost 1939-1945, Berlin 1999;
(Hrsg.) Der deutsche Widerstand gegen Hitler. Wahrnehmung und Wertung in Europa und den USA, Darmstadt 2002; Stauffenberg.
Der 20. Juli 1944, Frankfurt/M. 2004.
Bereits 1938, nachdem die Forderung Hitlers nach dem Sudetenland zur außenpolitischen Krise
geführt hatte, gab es erste konkrete Umsturzpläne der militärischen Opposition. Doch erst die
Schrecken des Krieges, die Verbrechen in Polen und der Vernichtungskrieg gegen die
Sowjetunion, beeinflussten die Militärs in ihrer Entscheidung maßgeblich.
Einleitung
Sowohl unmittelbar nach dem gescheiterten Attentatsversuch auf Adolf Hitler am 20. Juli 1944 als
auch nach Kriegsende im Mai 1945 war die Frage nach den Motiven der Verschwörer gegen den
Diktator umstritten. Viele Deutsche hatten nach dem 20. Juli angesichts der schwierigen militärischen
Situation Deutschlands ihr Unverständnis über den Anschlag auf den "Führer" geäußert, da sich das
Reich in ihren Augen in einem erbitterten Kampf befand und sie noch immer ein siegreiches Kriegsende
erhofften, wie verschiedene Berichte überliefern.[1] Für die NS-Propagandisten waren die Erklärungen
Hitlers und Goebbels' zum Attentat verbindlich; demnach waren die Attentäter "vom Ehrgeiz
zerfressene, ehrlose, feige Verräter", wie es der Präsident des "Volksgerichtshofs", Roland Freisler,
mehrfach in den Urteilen der auf Weisung Hitlers veranstalteten Prozesse gegen die Verschwörer
formulierte.[2] Erklärungen der Verurteilten fanden sich in der gleichgeschalteten und zensierten Presse
des NS-Staates nicht. In den Schauprozessen war es ihnen fast unmöglich, ihre Motive darzulegen.
Nur selten gelang es den Angeklagten, diese kurz zur Sprache zu bringen, wie beispielsweise UlrichWilhelm Graf Schwerin von Schwanenfeld, als er während der Verhandlung trotz Gebrüll und
Unterbrechung durch Freisler auf die "vielen Morde" an den Juden im besetzten Polen 1939 hinwies,
die für ihn besonderer Anstoß zum Widerstand gegen Hitler gewesen seien.[3]
Nach dem Ende des Krieges und dem Untergang des NS-Regimes bestimmten zunächst alliierte
Erklärungen die Sichtweise über den Widerstand gegen Hitler. Danach habe es sich bei dem
Umsturzplan "Walküre" am 20. Juli 1944 um einen späten Versuch militärisch-konservativer Kreise
gehandelt, durch die Ausschaltung des Diktators das Deutsche Reich vor der militärischen Niederlage
zu bewahren. Die Verschwörer galten als preußische Militaristen und Junker, deren Vorstellungen man
beim Aufbau einer politischen Nachkriegsordnung in Deutschland auf keinen Fall berücksichtigen
wollte.
In der deutschen Zeitgeschichtsforschung nach 1945 bemühte man sich um eine Rehabilitierung des
Widerstandes gegen Hitler als das "andere, bessere Deutschland". Um diese Intention zu erreichen,
haben viele Studien die breite Motivlage der Hitlergegner untersucht und das weite gesellschaftliche
Spektrum der Opposition dargelegt.[4] Undokumentiert ist allerdings die dem britischen
Premierminister Winston Churchill zugeschriebene Ehrenerklärung für den deutschen Widerstand aus
dem Jahr 1946, mit der eine Wende der alliierten Betrachtung konstatiert wird: Die deutschen NS-
bpb.de
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Gegner seien "allein angetrieben von ihren Gewissensnöten zu dem Kampf gegen Hitler bewogen
worden; ihr Widerstandskampf zähle deshalb zu den größten und vornehmsten Taten der
Weltgeschichte"[5].
Mehrere Untersuchungen nach 1945 haben ein Motivbündel der militärischen Verschwörer erkennen
lassen,[6] das schon vor dem Krieg bestand und schließlich am 20. Juli 1944 zur Tat Graf Stauffenbergs
führte. Nicht selten kamen Motive hinzu oder bestehende wurden verstärkt, wenn das Regime seine
politischen Ziele durch rücksichtslose Kriegführung und Vernichtungspolitik zu erreichen suchte.
Frühe militärische Widerstandspläne
Bereits während der außenpolitischen Krise um den Anspruch auf das Sudetenland im Sommer und
Herbst 1938 hatten militärisch-konservative Widerstandskreise einen Staatsstreich in Form eines
konkreten Umsturzplanes entworfen, dessen Erörterung bis in die höchsten Stellen im Oberkommando
des Heeres (OKH) reichte. In ihm waren unterschiedliche Gruppierungen mit verschiedenen Zielen,
Motiven und Methoden zusammengeführt.[7] Bei diesen frühen militärischen Widerstandsplänen muss
sowohl die innenpolitische Situation in der Zeit der Gleichschaltung staatlicher und gesellschaftlicher
Strukturen bei der Errichtung des NS-Herrschaftssystems ab 1933 als auch jenes in der historischen
Forschung als "Bündnis" oder "Entente" bezeichnete besondere Verhältnis zwischen Wehrmacht und
Nationalsozialismus ab 1933/34 berücksichtigt werden. Dieses "Bündnis der Eliten" war Ursache jener
"seltsamen, oft tragisch anmutenden Zwiespältigkeit der Haltung der deutschen Generalität und weiter
Kreise des Offizierkorps" gegenüber Hitlers Kriegspolitik,[8] welche die Bildung einer entschlossenen
Opposition unter Offizieren erheblich erschwerte.
Für die militärische Elite hatte die Zeit nach dem Regierungsantritt Hitlers im Januar 1933 einen
beeindruckenden Machtzuwachs gebracht. Schon Jahre zuvor insgeheim entworfene Pläne für eine
Aufrüstung wurden nun in die Tat umgesetzt; sie eröffneten den Offizieren durch personelle
Vergrößerung des bisherigen 100 000-Mann-Heeres große Aufstiegschancen. Die Heeresführung
suchte einen herausgehobenen Platz im Gefüge des NS-Staates zu erlangen und gegenüber
Bestrebungen von SA und SS zu wahren. Vereinzelte distanzierte Stimmen über "Auswüchse" und
erste Verbrechen fanden nur ein geringes Echo. Während der "Blomberg-Fritsch-Affäre" 1938
zeichnete sich allerdings eine kritische Haltung mehrerer höherer Offiziere ab, welche die
nationalsozialistischen Machenschaften gegenüber der bisherigen Wehrmacht- und Heeresführung
ablehnten.[9] Einige waren über den Umgang der Staatsführung mit Generaloberst Freiherr von Fritsch
als Oberbefehlshaber des Heeres entsetzt; sie fanden sich schließlich in einer oppositionellen Gruppe
zusammen, die den Bruch mit der NS-Politik vollzog.
Nur wenige Offiziere erkannten damals die verbrecherischen Ziele des Diktators. Es kam zu Kontakten
zwischen dem Chef des Generalstabes des Heeres, General Ludwig Beck, dem ehemaligen Leipziger
Oberbürgermeister Carl Friedrich Goerdeler, Reichsminister Hjalmar Schacht, Admiral Wilhelm Canaris
und Oberstleutnant Hans Oster aus der Abwehrabteilung im Oberkommando der Wehrmacht (OKW).
Vergeblich forderte Beck im Juli 1938 die Generalität auf, mit ihm gemeinsam den Rücktritt für den
Fall anzudrohen, dass Hitler nicht von seinen Kriegsplänen lasse; Ziel war es, ein "finis Germaniae"
zu verhindern.[10] Für Beck standen "letzte Entscheidungen für den Bestand der Nation auf dem Spiel";
die militärischen Führer hätten in dieser Situation "das Recht und die Pflicht vor dem Volk und vor der
Geschichte, von ihren Ämtern abzutreten".[11] Beck musste jedoch erkennen, dass man ihm auf dem
Weg des kollektiven Rücktritts nicht folgte, so dass er am 18. August 1938 seine Dienstentlassung
beantragte.
Als im September 1938 die Gefahr eines Krieges um das Sudetenland wuchs, plante Becks Nachfolger
General Franz Halder[12] mit dem im April neu ernannten Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Ernst
Freiherr von Weizsäcker, dem Befehlshaber des Berliner Wehrkreises, General Erwin von Witzleben,
dem Oberquartiermeister I im Generalstab, General Carl-Heinrich von Stülpnagel, sowie mit Admiral
Canaris und Oberstleutnant Oster einen Staatsstreich, um den befürchteten "großen Krieg"
bpb.de
Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (Erstellt am 30.03.2017)
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abzuwenden.[13] Halder wollte den Putsch auslösen, sobald Hitler den Krieg beginnen würde, um ihn
so als Bankrotteur deutscher Außenpolitik entlarven zu können. Bei Kontakten mit der britischen
Regierung gelang es jedoch nicht, die Briten unter Neville Chamberlain von der Ernsthaftigkeit der
Oppositionsbemühungen zu überzeugen.[14] London vereinbarte stattdessen mit Hitler am 29.
September 1938 politische Regelungen, um durch Überlassung der Sudetengebiete an das "Dritte
Reich" die von Hitler provozierte Kriegsgefahr zu beseitigen. Der Staatsstreichplan vom September
1938 kam nicht zur Ausführung, da die von den Verschwörern gesetzte Prämisse, Hitler der
Bevölkerung als Kriegstreiber präsentieren zu können, aufgrund des Münchener Abkommens und des
dadurch unterbliebenen Angriffsbefehls gegen die Tschechoslowakei nicht eingetreten war.
Einerseits hat man nachträglich in Literatur und Forschung die Feststellung getroffen, der
Putschversuch vom September 1938 sei ein Erfolg versprechender Plan gewesen.[15] Andererseits
mussten mancherlei Unsicherheitsfaktoren in der Umsturzplanung konstatiert werden. So wurden
selbst im Lager der Verschwörer skeptische Überlegungen darüber angestellt, ob es gelingen könne,
Hitler gegenüber den Soldaten und vor allem dem jüngeren Offizierkorps als Verbrecher und Zerstörer
des Reiches darzustellen.[16] Zu einer vorbehaltlos bejahenden Antwort ist man innerhalb der
Militäropposition nicht gelangt.
Unterschiedlich waren Motive und politische Ziele. Für Halder stellte der Coup d'Etat ein letztes Mittel
dar, um den Krieg abzuwenden. Für Oster dagegen war bereits die Hitler'sche Kriegspolitik ein
ausreichender Anlass zum Sturz des NS-Systems. In der Abwehrabteilung gab es zudem eine Gruppe
von Offizieren, die vom verbrecherischen Charakter des nationalsozialistischen Staates moralisch
betroffen waren und deshalb die sofortige Tötung Hitlers bei einem Staatsstreich im Zuge eines
Stoßtruppunternehmens in der Reichskanzlei beabsichtigten.[17] Nach dem Münchener Abkommen
kam es angesichts der unbestreitbaren außenpolitischen Erfolge Hitlers zur Resignation in militärischen
Widerstandskreisen.[18] Es schien fraglich zu sein, ob es gelingen würde, im Falle eines Umsturzes
große Teile der Bevölkerung gegen Hitler zu mobilisieren. Folglich wurden dann weder der JudenPogrom vom 9./10. November 1938 noch die vertragswidrige militärische Besetzung der "RestTschechei" am 15. März 1939 als psychologisch günstige Ausgangspunkte neuer
Staatsstreichversuche angesehen.
Eingeschränkte Möglichkeiten nach Kriegsbeginn
Die Erfahrungen des Jahres 1938 behinderten im Sommer 1939 vereinzelte Bemühungen, die von
Hitler erneut heraufbeschworene Kriegsgefahr gegenüber Polen für eine Aktion gegen den Diktator
zu nutzen.[19] Man wollte erst einen Prestigeverlust Hitlers in Form einer schweren militärischen
Niederlage abwarten. Den Kriegsbeginn sah man deshalb nicht mehr als unmittelbaren Anlass für
einen Umsturzversuch an. Die "Kraftprobe auf Biegen und Brechen" gegen Hitler - wie es von
Weizsäcker rückblickend formulierte - ist im Sommer 1939 nicht gewagt worden.[20]
Es darf nicht übersehen werden, dass der Angriff auf Polen auch in oppositionellen Kreisen prinzipielle
Zustimmung fand. Die Lösung der Danzig-, Korridor- und Polenfrage, wie sie durch die Grenzziehung
des Versailler Friedensvertrages von 1919 entstanden waren, wurde in der militärischen Führungselite
für richtig gehalten. Wie Halder waren auch andere Generale der Ansicht, dass die Grenzziehung im
Osten mit dem "Danzig-" und "Nord-Ost-Problem" Polen korrigiert werden müsse.[21] Allerdings gab
es auch einzelne Offiziere, die - wie beispielsweise Admiral Canaris - über Hitlers Kriegsabsichten
empört waren und "jede sittliche Grundlage"[22] dafür vermissten. Eine übergreifende grundsätzliche
Gegenposition zur Politik des Diktators kam jedoch nicht zustande.
Nach Kriegsbeginn waren die oppositionellen Möglichkeiten von Offizieren erheblich eingeschränkt,
da man es nun als patriotische Pflicht ansah, sich für den Sieg der eigenen Waffen einzusetze
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